Oscar Wilde

Das Bildnis des Dorian Gray

 

Vorrede

Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge.

Kunst offenbaren, den Künstler verbergen, ist das Ziel der Kunst.

Kritiker ist, wer seinen Eindruck von schönen Dingen in einer anderen Form oder in einem anderen Stoff wiederzugeben vermag.

Die höchste wie die niedrigste Form der Kritik ist eine Art Selbstbekenntnis.

Wer in schönen Dingen einen häßlichen Sinn entdeckt, ist verderbt, ohne liebenswürdig zu sein, was ein Fehler ist.

Wer in schönen Dingen einen schönen Sinn entdeckt, hat Kultur. Aus ihm kann noch etwas werden.

Das sind die Auserwählten, denen schöne Dinge einzig Schönheit bedeuten.

Es gibt weder moralische noch unmoralische Bücher. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben. Sonst nichts.

Die Abneigung des 19. Jahrhunderts gegen den Realismus ist die Wut Kalibans, der seine eigene Fratze im Spiegel sieht.

Die Abneigung des 19. Jahrhunderts gegen die Romantik ist die Wut Kalibans, der sein Gesicht nicht im Spiegel sieht.

Das sittliche Dasein des Menschen gibt dem Künstler einen Stoff neben vielen anderen; die Sittlichkeit in der Kunst besteht jedoch im vollendeten Gebrauch unvollkommener Mittel.

Der Künstler hat niemals das Bedürfnis, etwas zu beweisen. Sogar das Wahre kann bewiesen werden.

Der Künstler hat keinerlei ethische Neigungen. Ethische Neigungen beim Künstler sind unverzeihliche Manieriertheit.

Es gibt nichts Krankhaftes in der Kunst. Der Künstler vermag alles auszudrücken.

Gedanken und Sprache sind für den Künstler Werkzeuge.

Laster und Tugend sind für den Künstler Stoffe.

Vom Gesichtspunkt der Form aus ist die Musik die höchste aller Künste. Vom Gesichtspunkt des Gefühls ist die Kunst des Schauspielers die höchste.

Alle Kunst ist zugleich Oberfläche und Symbol.

Wer unter die Oberfläche gräbt, tut es auf eigene Gefahr.

Wer das Symbol herausliest, tut es auf eigene Gefahr.

In Wahrheit ist der Betrachter, nicht aber das Leben ein Spiegel.

Gegensätze in den Urteilen über ein Kunstwerk beweisen seine Neuheit, Vielfältigkeit und Lebenskraft.

Wenn die Kritiker untereinander uneinig sind, ist der Künstler mit sich einig gewesen.

Man kann einem Menschen verzeihen, daß er etwas Nützliches schafft, solange er nicht verlangt, daß man seine Arbeit bewundert. Die einzige Entschuldigung für den, der etwas Nutzloses tut, liegt darin, daß man seine Schöpfung inbrünstig bewundert.

Alle Kunst ist gänzlich nutzlos.

Oscar Wilde

 

Erstes Kapitel

Das Atelier war erfüllt von starkem Rosenduft. Wenn der leichte Sommerwind die Bäume im Garten draußen bewegte, drang durch die offene Tür der schwere Geruch des Flieders oder der zartere Duft der Rotdornblüten.

Lord Henry Wotton lag auf einem Diwan mit persischen Satteltaschen und rauchte, wie gewöhnlich, unzählige Zigaretten. Von seiner Ecke aus konnte er gerade noch den Schimmer der honigsüßen und honigfarbenen Goldregenblüten sehen, deren zitternde Zweige kaum noch die Last ihrer flammenden Schönheit zu tragen schienen; dann und wann grüßten auch durch die langen Seidenvorhänge, die vor das große Fenster gezogen waren, phantastische Schatten vorbeifliegender Vögel. Das gab einen Augenblick eine japanische Stimmung und ließ den Liegenden an die Maler von Tokio denken mit den wie aus blassem Bernstein geschnitzten Gesichtern, die mit den Mitteln einer Kunst, die nur unbeweglich sein kann, die Empfindung von Schnelligkeit und Bewegung hervorzubringen suchen. Das dumpfe Summen der Bienen, die ihren Weg durch das hohe, ungemähte Gras suchten oder mit zäher Beharrlichkeit um die goldbestäubten Trichter des wuchernden Geißblatts kreisten, ließ die Stille noch drückender erscheinen. Das dumpfe Brausen Londons wirkte wie die Baßtöne einer fernen Orgel.

In der Mitte des Raumes lehnte auf einer aufrechten Staffelei das lebensgroße Bild eines ganz außerordentlich schönen Jünglings. Vor der Staffelei saß, ein paar Schritte weit entfernt der Maler Basil Hallward, dessen plötzliches Verschwinden vor einigen Jahren so viel Aufsehen gemacht und zu so vielen merkwürdigen Vermutungen Anlaß gegeben hatte.

Während der Maler die graziöse und anmutige Gestalt betrachtete, schien ein heiteres Lächeln über sein Gesicht zu gehen und dort zu verweilen. Plötzlich aber fuhr er auf, schloß die Augen und preßte die Finger auf die Lider, als fürchte er, aus einem seltsamen Traume zu erwachen und suche, ihn im Gehirn festzuhalten.

"Es ist Ihr bestes Werk, Basil, das beste, das Sie je gemacht haben", sagte Lord Henry matt. "Sie müssen es nächstes Jahr unbedingt in die Grosvenor-Galerie schicken. Die Academy ist zu groß und zu gewöhnlich. Immer, wenn ich hingegangen bin, waren entweder so viele Leute da, daß ich die Bilder nicht sehen konnte, was schlimm, oder so viele Bilder, daß ich die Leute nicht sehen konnte, was noch schlimmer war. Die Grosvenor-Galerie ist der einzig richtige Platz."

"Ich glaube nicht, daß ich es überhaupt ausstellen werde", antwortete der Maler und warf den Kopf in jener merkwürdigen Weise zurück, über die schon seine Freunde in Oxford gelacht hatten. "Nein, ich will es nicht ausstellen."

Lord Henry zog die Augenbrauen hoch und sah den anderen durch die dünnen, blauen Rauchwolken, die in phantastischen Wirbeln von der starken, opiumhaltigen Zigarette aufstiegen, erstaunt an.

"Überhaupt nicht ausstellen? Ja warum, mein Lieber? Haben Sie irgendeinen Grund dafür? Was für Käuze ihr Maler doch seid! Ihr tut alles Erdenkliche, euch einen Namen zu machen, habt ihr ihn dann endlich, scheint ihr nur das eine Bedürfnis zu haben, ihn wieder loszuwerden. Das ist sehr dumm von Ihnen, denn es gibt nur eine Sache auf der Welt, die peinlicher ist als in aller Mund zu sein; und das ist: in niemandes Mund zu sein. Ein Bild wie dieses gäbe Ihnen eine Stellung weit über allen jungen Leuten in England und würde die Alten rasend machen, soweit alte Leute überhaupt noch einer Empfindung fähig sind."

"Ich weiß, daß Sie über mich lachen werden, aber ich kann es nicht ausstellen. Wirklich nicht. Es ist zuviel von mir selbst darin."

Lord Henry streckte sich auf dem Diwan und lachte.

"Ich habe ja gewußt, daß Sie lachen würden; es bleibt aber doch wahr."

"Zuviel von Ihnen selbst? Auf mein Wort, Basil, ich hätte nie gedacht, daß Sie so eitel sind! Ich kann wirklich keine Ähnlichkeit entdecken zwischen Ihnen mit Ihrem rauhen, strengen Gesicht und dem kohlschwarzen Haar und diesem jungen Adonis, der aussieht, als wäre er aus Elfenbein und Rosenblättern erschaffen. Mein lieber Basil, er ist ein Narziß, während Sie... Natürlich haben Sie ein geistvolles Gesicht und so weiter. Aber die Schönheit, die wirkliche Schönheit hört da auf, wo der geistvolle Ausdruck anfängt. Geist ist an sich eine Art Übermaß und zerstört die Harmonie jedes Gesichts. Sobald man sich hinsetzt, um zu denken, wird man nur Nase oder nur Stirn oder sonst etwas Greuliches. Sehen Sie sich doch einmal alle die Leute an, die in gelehrten Berufen etwas geleistet haben. Sie sind alle ausgesprochen häßlich. Natürlich mit Ausnahme der Geistlichen. Aber die Geistlichen denken eben nicht. Ein Bischof sagt mit achtzig Jahren noch dasselbe, was er als achtzehnjähriger Bursch gesagt hat, und infolgedessen sieht er entzückend aus. Ihr geheimnisvoller junger Freund, dessen Namen Sie mir nie verraten haben, dessen Bild mich aber bezaubert, denkt niemals. Davon bin ich ganz überzeugt. Er ist so ein hirnloses, schönes Geschöpf, wie wir sie im Winter immer um uns haben sollten, wenn es keine Blumen zum Ansehen gibt, und im Sommer, wenn wir etwas brauchen, um unseren Geist abzukühlen. Geben Sie sich keinen Illusionen hin, Basil: Sie sehen ihm ganz und gar nicht ähnlich."

"Sie haben mich nicht verstanden, Henry", antwortete der Künstler. "Natürlich sehe ich ihm nicht ähnlich, das weiß ich selbst. In Wirklichkeit wäre es mir gar nicht recht, wenn ich ihm ähnlich sähe. Sie brauchen gar nicht die Schultern zu zucken. Es gibt eine besondere Tragik der physischen und geistigen Vornehmheit, die dem Schicksal der Könige gleicht, deren Irrwegen in der Weltgeschichte man immer wieder nachspürt. Es ist besser, sich von seinen Nebenmenschen nicht allzu sehr zu unterscheiden. Die Häßlichen und die Dummen haben es am besten in dieser Welt. Sie können ruhig dasitzen und das Spiel begaffen. Sie wissen nichts von Siegen, aber auch Niederlagen bleiben ihnen erspart. Sie leben dahin, wie wir alle es sollten: ungestört, gleichgültig und ohne Mißbehagen. Sie bringen anderen kein Unheil und empfangen kein Unheil von fremder Hand. Wir anderen müssen alle bezahlen: Sie für Ihren Stand und Reichtum, ich für meinen Geist, so viel ich davon habe, für meine Kunst, soviel sie wert ist und Dorian Gray für seine schöne Erscheinung. Wir alle müssen für die Geschenke der Götter leiden, furchtbar leiden . . ."

"Dorian Gray? Heißt er so?" fragte Lord Henry, durch das Atelier auf Basil Hallward zugehend.

"Ja, so heißt er. Ich wollte Ihnen eigentlich seinen Namen nicht nennen..."

"Aber warum nicht?"

"Ich kann Ihnen das nicht so genau erklären. Wenn ich einen Menschen sehr, sehr lieb habe, verrate ich seinen Namen keiner Seele. Das käme mir vor, als lieferte ich einen Teil von ihm aus. Ich sage auch nie, wohin ich reise, wenn ich einmal wegfahre. Wenn ich's täte, wäre mein ganzes Vergnügen hin. Das mag eine alberne Gewohnheit sein, aber sie bringt doch ein wenig Romantik ins Leben. Sie halten mich jetzt wohl für sehr töricht?"

"Nicht im geringsten", antwortete Lord Henry. "Nicht im mindesten, mein lieber Basil. Sie scheinen zu vergessen, daß ich verheiratet bin und daß der Hauptreiz der Ehe ja darin liegt, daß beide Teile gezwungen sind, ein Leben der Täuschung und Verstellung zu führen. Ich weiß nie, wo meine Frau ist; meine Frau weiß nie, was ich mache. Wenn wir uns treffen - und wir treffen uns gelegentlich, wenn wir zu demselben Diner geladen sind oder einmal gleichzeitig zum Herzog aufs Land fahren -, erzählen wir uns die albernsten Geschichten mit dem ernsthaftesten Gesicht. Meine Frau kann das glänzend, ohne Frage weit besser als ich. Sie verwickelt sich nie in Widersprüche, was bei mir ständig vorkommt. Wenn sie mich aber dabei ertappt, macht sie mir nie eine Szene. Manchmal wünsche ich, sie täte es, aber sie lacht mich nur aus."

"Ich hasse die Art, wie Sie über Ihre Ehe sprechen, Henry", sagte Basil und ging auf die Türe zu, die in den Garten führte. "Ich glaube, Sie sind in Wirklichkeit ein sehr guter Ehemann und schämen sich dessen bloß. Sie sind überhaupt ein absonderlicher Mensch: Sie sagen nie etwas Moralisches und tun nie etwas Unmoralisches. Ihr Zynismus ist nichts als Pose."

,.Natürlichkeit ist nichts als eine Pose, und zwar die ärgerlichste, die ich kenne", rief Lord Henry lachend aus. Die beiden jungen Männer gingen nun zusammen in den Garten hinaus und ließen sich auf einer langen Bambusbank nieder, die im Schatten eines hohen Lorbeerbusches stand. Die Sonnenlichter tanzten über die glatten Blätter. Im Grase zitterten weiße Gänseblümchen.

Nach einer Weile zog Lord Henry die Uhr und sagte leise: "Ich muß leider fort, Basil. Aber bevor ich gehe, müssen Sie mir noch die Frage beantworten, die ich vorhin an Sie gerichtet habe."

"Welche Frage war das?" sagte der Maler, die Augen fest zur Erde gerichtet.

Sie wissen es sehr gut."

"Ich weiß es nicht, Henry."

"Gut, ich will also nochmals fragen: erklären Sie mir, warum Sie Dorian Grays Bild nicht ausstellen wollen. Ich möchte aber den wirklichen Grund wissen."

"Ich habe Ihnen den wirklichen Grund gesagt."

"Nein, das haben Sie nicht getan! Sie haben gesagt, weil zuviel von Ihnen selbst darin ist. Das ist kindisch."

"Henry', sagte Basil Hallward und sah Lord Henry gerade in die Augen. "Jedes Porträt, das mit Empfindung gemalt ist, ist ein Bildnis des Künstlers, nicht der Person, die es darstellt. Diese ist nur der Anlaß, die Gelegenheit. Nicht sie wird vom Maler enthüllt, der Maler offenbart auf der farbigen Leinwand sich selbst. Ich will also dies Bild nicht ausstellen, weil ich fürchte, ich habe darin das Geheimnis meiner eigenen Seele gezeigt."

Lord Henry lachte. "Und was ist das?" fragte er.

"Ich will es Ihnen sagen", antwortete Hallward; in sein Gesicht aber trat ein Ausdruck peinlicher Verlegenheit.

"Ich bin gespannt, Basil", fuhr sein Begleiter fort und sah ihn dabei an.

"Es ist nicht viel, Henry, und Sie verstehen es wohl kaum. Vielleicht glauben Sie mir nicht einmal."

Lord Henry lächelte und betrachtete ein Gänseblümchen mit rosa angehauchten Blättern, das er, sich zum Grase bückend, gepflückt hatte. "Ich werde Sie gewiß verstehen", erwiderte er, den Blick aufmerksam auf das kleine, goldene, weißgefiederte Rund der Blume gerichtet. "Und glauben? - Ich kann alles glauben, vorausgesetzt, daß es nicht unwahrscheinlich ist."

Der Wind schüttelte ein paar Blüten von den Bäumen und die schweren, vielgesternten Trauben der Fliederbüsche bewegten sich hin und her in der schwülen Luft. Eine Grille begann an der Gartenmauer zu zirpen und wie ein blauer Faden huschte eine lange, dünne Libelle auf ihren braunen Schleierflügeln vorbei. Lord Henry glaubte Basil Hallwards Herz pochen zu hören und war neugierig, was wohl kommen mochte.

"Die Geschichte ist sehr einfach", sagte der Maler nach einer Weile. "Vor zwei Monaten war ich auf einem der Massenempfänge bei Lady Brandon. Sie wissen, wir armen Künstler müssen uns von Zeit zu Zeit in der Gesellschaft zeigen, um das Publikum daran zu erinnern, daß wir keine Wilden sind. Sie haben einmal zu mir gesagt: Im schwarzen Frack und weißer Krawatte kann selbst ein Börsenmensch zivilisiert aussehen. Nun denn, ich war etwa zehn Minuten dort und sprach mit pompösen, aufgeputzten Witwen und langweiligen Mitgliedern der Academy, da merkte ich plötzlich, daß jemand mich anblickte. Ich wendete mich halb um und sah Dorian Gray zum ersten Male. Ich spürte, daß ich blaß wurde, als sich unsere Blicke begegneten. Ein merkwürdiges Angstgefühl überkam mich. Ich wußte, ich stand einem Menschen Aug in Auge gegenüber, dessen Persönlichkeit so stark auf mich wirkte, daß sie, wenn ich sie gewähren ließe, mich völlig in Besitz nehmen würde, mein ganzes Wesen, meine Seele, ja selbst meine Kunst. Ich hatte keinerlei Bedürfnis nach äußeren Einflüssen auf mein Leben. Sie wissen ja selbst, Henry, wie eigenwillig ich von Haus aus bin. Ich bin immer mein eigener Herr gewesen, war es wenigstens, bis ich Dorian Gray traf. Dann - aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen das begreiflich machen soll. Irgend etwas schien mir zu sagen, daß ich an einem bedeutsamen Wendepunkt meines Lebens stand. Ich hatte das sonderbare Empfinden, daß das Schicksal die ausgesuchtesten Freuden und die ausgesuchtesten Schmerzen für mich bereithalte. Mich schauderte und ich wollte hinausgehen. Nicht das Gewissen hat mich dazu getrieben, sondern eine Art Feigheit. Ich bilde mir nichts darauf ein, diese Flucht versucht zu haben."

"In Wirklichkeit sind Gewissen und Feigheit dieselbe Sache. Gewissen ist der Name, unter dem die Firma eingetragen ist, sonst gar nichts."

"Ich glaube das nicht, Henry, und Sie glauben es auch nicht!... Einerlei nun, aus welchem Grund es geschah - es mag auch Stolz dabei gewesen sein, denn ich war früher sehr stolz. Ich eilte der Tür zu. Natürlich rannte ich Lady Brandon direkt in die Arme. ‘Sie wollen doch nicht schon gehen, Mr. Hallward?' kreischte sie auf. Sie erinnern sich ihrer schrillen Stimme."

"Ja, sie ist ein Pfau in allem, bis auf ihre Schönheit", sagte Lord Henry, das Gänseblümchen mit seinen langen nervösen Fingern zerpflückend.

"Ich konnte sie nicht loswerden. Sie schleifte mich zu den königlichen Hoheiten hin, zu Leuten mit den höchsten Orden und zu ältlichen Damen mit gigantischen Diademen und Papageiennasen. Sie nannte mich ihren teuersten Freund. Ich hatte sie vorher nur ein einziges Mal gesehen, aber sie hatte sich in den Kopf gesetzt, aus mir den Löwen der Saison zu machen. Ich glaube, damals hatte gerade ein Bild von mir Erfolg gehabt; wenigstens hatten die Zeitungen allerhand Geschwätz darüber gemacht, und das ist ja im neunzehnten Jahrhundert der Maßstab für unsere Unsterblichkeit... Plötzlich fand ich mich dem jungen Manne gegenüber, dessen Äußeres mich so sonderbar erregt hatte. Wir standen ganz nahe beieinander, berührten uns förmlich. Unsere Blicke trafen sich wiederum. Es war leichtsinnig von mir, aber ich bat Lady Brandon, mich ihm vorzustellen. Vielleicht war es doch nicht leichtsinnig, sondern einfach unvermeidlich. Wir hätten, auch ohne uns zu kennen, miteinander gesprochen. Gewiß. Dorian hat es mir nachher gesagt. Auch er fühlte, daß unsere Bekanntschaft Schicksalsbestimmung war."

"Und wie hat Lady Brandon Ihnen den wunderbaren Jüngling beschrieben?" fragte der Freund. "Ich weiß, es ist ihre Eigenart, von jedem ihrer Gäste eine kleine Charakteristik zu geben. Ich erinnere mich, wie sie mich einmal zu einem wildaussehenden alten Herrn mit hochrotem Gesicht brachte, dessen Brust mit Orden und Bändern behängt war und mir in einem tragischen Flüsterton, der für alle Anwesenden hörbar war, die erstaunlichsten Einzelheiten über ihn ins Ohr zischelte. Ich lief einfach davon, denn ich entdecke meine Leute gerne selbst. Lady Brandon behandelt ihre Gäste genau wie ein Auktionator seine Waren. Sie erklärt sie einem so lange, bis nichts mehr von ihnen übrigbleibt oder sie sagt alles - bis auf das, was man wissen will."

"Die arme Lady Brandon! Sie urteilen sehr hart über sie, Henry", sagte Hallward zerstreut.

"Mein lieber Freund, sie wollte einen Salon gründen und hat es nur zu einem Restaurant gebracht. Wie könnte ich sie da bewundern? Aber sagen Sie endlich, was sie über Dorian Gray erzählt hat."

"Ach, irgendwas wie ‘Entzückender Junge - seine arme Mutter und ich waren unzertrennlich, kann mich absolut nicht erinnern, was er treibt - fürchte fast, gar nichts - o, doch, er spielt Klavier - oder ist es Violine, lieber Mr. Gray?' Wir mußten beide lachen und wurden sogleich Freunde.

"Lachen ist kein schlechter Anfang für eine Freundschaft und es ist gewiß ihr schönstes Ende", sagte der junge Lord und pflückte noch ein Gänseblümchen.

Hallward schüttelte den Kopf. "Sie haben keine Ahnung, was Freundschaft ist, Henry", sagte er ganz leise. "Ebensowenig, was Feindschaft ist. Sie haben jedermann gerne; mit anderen Worten: wir sind Ihnen alle gleichgültig."

"Wie furchtbar ungerecht von Ihnen!" rief Lord Henry, schob seinen Hut zurück und sah zu den kleinen Wolken hinauf, die wie wirre Knäuel glänzend weißer Seide über die türkisblaue Halbkugel des Himmels zogen. "Ja, furchtbar ungerecht ist das von Ihnen. Ich mache große Unterschiede zwischen Menschen; zu Freunden wähle ich hübsche, zu Bekannten gutmütige, anständige und zu Feinden kluge. Man kann nämlich nicht vorsichtig genug in der Wahl seiner Feinde sein. Ich habe keinen einzigen, der ein Narr ist. Es sind nämlich Leute von einer gewissen geistigen Höhe und darum schätzen sie mich auch alle. Bin ich sehr eingebildet? Ich glaube ja."

"Ich glaube auch, Henry. Aber nach Ihrer Einteilung käme ich lediglich unter die Bekanntschaften?"

"Mein lieber, alter Basil, Sie sind sicher mehr, weit mehr als eine Bekanntschaft."

"Und weit weniger als ein Freund! Wohl eine Art Bruder?"

"Ach, Bruder! Bleiben Sie mir mit Brüdern gewogen! Mein ältester will nicht sterben, und meine jüngeren tun offenbar auch nichts anderes."

"Henry!" rief Basil mit gerunzelter Stirne.

"Mein lieber Freund, ich meine das natürlich nicht ganz so ernst. Aber ich kann mir nicht helfen, ich verabscheue meine Verwandten. Ich vermute, das kommt daher, daß keiner von uns seine eigenen Fehler bei einem anderen vertragen kann. Ich halte es da durchaus mit den englischen Demokraten und ihrer Wut auf das, was sie die Laster der herrschenden Stände nennen. Die Massen fühlen, daß Trunksucht, Stumpfsinn und Unsittlichkeit ihre Spezialität sein sollten und daß ihre Vorrechte verletzt werden, wenn sich einer von uns blamiert. Als der arme Southwark damals seinen Scheidungsprozeß hatte, war ihre Entrüstung geradezu prachtvoll. Und trotzdem lebt meiner Meinung nach nicht der zehnte Teil des Proletariats anständig."

"Ich stimme nicht einer einzigen Ihrer Bemerkungen bei, und, was mehr ist, Henry, ich fühle, daß Sie selbst an sie nicht glauben!"

Lord Henry strich sich den spitzen braunen Bart und stieß mit dem Ebenholzstock, an dem eine kleine Quaste hing, gegen die Kappe seines Lackstiefels.

"Wie englisch Sie sind, Basil! Sie machen heute zum zweitenmal diesen Einwurf. Wenn man einem richtigen Engländer eine Idee mitteilt, was ja immer unbesonnen ist, fällt es ihm nicht im Traum ein, zu überlegen, ob die Idee richtig oder falsch ist. Das einzige, was ihm von Belang scheint, ist, ob der Sprecher glaubt, was er sagt oder nicht. Aber der Wert eines Gedankens hat nicht das geringste mit der Ehrlichkeit dessen, der ihn ausspricht, zu schaffen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Idee umso geistreicher sein, je unaufrichtiger der Mann ist. Dann haben nämlich weder seine Mängel, noch seine Wünsche, noch seine Vorurteile auf sie abgefärbt. Indes, ich habe nicht die Absicht, politische, soziale oder philosophische Diskussionen mit Ihnen zu führen. Mir sind Menschen lieber als Grundsätze und grundsatzlose Menschen überhaupt das Liebste auf der Welt. Erzählen Sie mir mehr von Dorian Gray. Wie oft sehen Sie ihn?"

"Jeden Tag. Ich wäre unglücklich, wenn ich ihn einen Tag nicht sähe. Er ist für mich einfach notwendig."

"Merkwürdig! ... Ich habe immer geglaubt. Sie kümmerten sich nie um etwas anderes als um Ihre Kunst."

"Meine Kunst und er - das ist jetzt nur eins", sagte der Maler ernsthaft. "Manchmal glaube ich, Henry, daß es nur zwei wichtige Epochen in der Weltgeschichte gibt. Die erste ist die Einführung einer neuen künstlerischen Technik und die zweite die Erscheinung eines neuen Kunsttypus. Was die Erfindung der Ölmalerei für die Venezianer war, das war das Gesicht des Antinous für die spätgriechische Plastik, und das wird das Gesicht Dorian Grays eines Tages für mich sein. Das, worauf es ankommt, ist nicht, daß ich ihn male, zeichne, skizziere. Natürlich habe ich das alles getan, aber er ist weit mehr für mich als ein Modell oder ein Mensch, der mir sitzt. Ich will gewiß nicht behaupten, daß ich mit dem unzufrieden bin, was ich nach ihm gemacht habe, oder daß seine Schönheit von einer Art ist, die die Kunst nicht ausdrücken kann. Es gibt überhaupt nichts, das die Kunst nicht ausdrücken kann, und ich weiß, was ich geschaffen habe, seitdem ich Dorian Gray kenne, ist gut, ja, das Beste, das mir je gelungen ist. Aber auf irgend eine sonderbare Weise - ich glaube nicht, daß Sie das verstehen werden - hat mir seine Persönlichkeit eine vollständig neue Art der Kunst, einen durchaus neuen Stil offenbart. Ich sehe jetzt die Dinge wirklich ganz anders, ich empfinde sie auch ganz anders, ich kann das Leben auf eine Art neu schaffen, die mir früher verschlossen war. ‘Ein Traum von Form in den Tagen des Denkens’,- wer hat das doch gesagt? Ich weiß nicht mehr, aber es ist genau das, was Dorian Gray für mich bedeutet. Was die bloße Anwesenheit dieses Knaben -denn für mich ist er kaum mehr als ein Knabe, wenn er auch schon über die Zwanzig hinaus ist - für mich bedeutet, können Sie sich gar nicht vorstellen. Ohne selbst eine Ahnung davon zu haben, enthüllt er mir die Linien einer neuen Schule, einer Schule, in der die ganze Leidenschaft der Romantik enthalten ist und die ganze Vollkommenheit des griechischen Geistes. Die Harmonie von Seele und Leib, wieviel ist das doch! Wir in unserem Wahnsinn haben die beiden voneinander getrennt und haben einen Realismus erfunden, der gemein, und einen Idealismus, der leer ist. Henry, wenn Sie wüßten, was mir Dorian Gray ist! Erinnern Sie sich der Landschaft, die ich einmal gemalt habe und für die mir Agnew eine so ungeheure Summe angeboten hat, und die ich doch nie weggeben wollte? Es ist sicher eine der besten Sachen, die ich je gemacht habe. Und warum ist sie das? Weil, während ich sie gemalt habe, Dorian Gray neben mir saß. Irgendein feiner Strom ging von ihm zu mir und zum erstenmal in meinem Leben entdeckte ich in dem simplen Hügelland, das ich malte, das Wunder, nach dem ich immer gesucht hatte und das ich nie herausbringen konnte."

"Basil, das ist ja eine ganz außerordentliche Geschichte! Ich muß Dorian Gray kennenlernen.

Hallward sprang von der Bank auf und ging im Garten hin und her. Erst nach einer Weile kam er zurück.

"Henry", sagte er, "Dorian Gray ist für mich einfach ein künstlerisches Motiv. Möglich, daß Sie gar nichts an ihm finden, ich finde alles an ihm. Er ist nie mehr in meiner Arbeit gegenwärtig, als wenn sie in Wirklichkeit auch nicht einen Schatten von ihm enthält. Er ist für mich, wie ich Ihnen schon gesagt habe, die Anregung zu einem neuen Stil. Ich finde ihn in gewissen Linien wieder, in der Lieblichkeit und Zartheit gewisser Farben. Das ist alles."

"Wenn das alles ist, warum wollen Sie dann sein Bild nicht ausstellen?" fragte Lord Henry.

"Weil ich, ohne es zu wollen, den Ausdruck all dieser ganz merkwürdigen Künstlervergötterung hineingelegt habe. Natürlich habe ich Dorian nie etwas davon gesagt. Er hat von alledem keine Ahnung und soll auch nie etwas davon erfahren. Aber die Welt könnte es erraten; und ich will meine Seele ihren oberflächlichen, gierigen Blicken nicht entblößen. Mein Herz sollen sie nie unter ihr Mikroskop legen dürfen... Es ist zu viel von mir selbst in dem Bild, Henry - zu viel von mir selbst."

"Dichter nehmen es nicht so genau wie Sie. Die wissen, daß Leidenschaft für den Absatz ihrer Bücher sehr günstig ist. Ein gebrochenes Herz verhilft heutzutage zu einer ganzen Reihe von Auflagen."

"Ich finde das abscheulich von Ihren Dichtern!" rief Hallward aus. "Ein Künstler soll Schönes schaffen, aber er soll nichts von seinem eigenen Leben hineinbringen. Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen aus der Kunst eine Art Autobiographie machen wollen. Wir haben einfach den klaren Begriff der Schönheit verloren. Später einmal will ich der Welt zeigen, was sie ist, und deshalb soll sie mein Bild des Dorian Gray niemals sehen."

ªIch glaube, Sie haben unrecht, Basil, aber ich will mit Ihnen nicht streiten. Nur die geistig leeren Menschen streiten überhaupt! ... Sagen Sie, liebt Dorian Gray Sie sehr?"

Der Maler dachte einige Augenblicke nach, dann, nach einer Weile, sagte er: "Er hat mich gern. Ja, sicher, er hat mich gern. Natürlich schmeichle ich ihm fürchterlich. Ich empfinde eine ganz sonderbare Lust, ihm Dinge zu sagen, die mir später leid tun. In der Regel ist er auch entzückend zu mir und wir sitzen im Atelier und plaudern von tausend Dingen. Dann und wann ist er allerdings greulich rücksichtslos und scheint große Freude daran zu finden, mich zu kränken. Dann, Henry, habe ich das Gefühl, daß ich meine Seele jemandem ausgeliefert habe, der sie behandelt wie eine Blume, die man ins Knopfloch steckt, ein Schmuckstück, mit dem man seine Eitelkeit befriedigt, einen Zierat für einen kurzen Sommertag."

"Sommertage, Basil, dauern im Gegenteil lange", murmelte Lord Henry. "Aber vielleicht werden Sie seiner früher müde, als er Ihrer. Es ist sehr traurig, doch ohne Zweifel: das Genie überdauert die Schönheit. Das erklärt auch, warum wir uns so viel Mühe geben, uns zu überbilden. In dem wilden Existenzkampf, den wir führen, wollen wir etwas Dauerhaftes haben, und so füllen wir unser Gehirn mit Plunder und Tatsachen an, in der dummen Hoffnung, auf diese Art unseren Platz zu behaupten. Der durch und durch gebildete Mann, das ist das moderne Ideal. Und das Gehirn dieses durch und durch gebildeten Mannes ist etwas Fürchterliches. Es gleicht einem Kuriositätenladen voll lauter absonderlicher, verstaubter Gegenstände, die alle über ihren wahren Wert geschätzt worden... Immerhin, ich glaube, Sie werden früher müde werden als er. Eines Tages werden Sie Ihren Freund anschauen und finden, daß er etwas verzeichnet ist oder Sie werden seine Farbe nicht mögen oder irgend etwas Ähnliches. Sie werden ihm dann in Ihrem Herzen bittere Vorwürfe machen und ganz ernsthaft davon überzeugt sein, daß er sich sehr schlecht gegen Sie benommen hat. Wenn er Sie dann das nächstemal besucht, werden Sie völlig kühl und gleichgültig gegen ihn sein. Aber das wird sehr schade sein, denn es wird Sie selbst sehr verändern. Was Sie mir da erzählt haben, ist ein richtiger Roman. Man könnte es einen Kunstroman nennen. Das Schlimme beim Erleben von Romanen ist nur, daß man nachher so ganz unromantisch zurückbleibt."

"Henry, bitte, sprechen Sie nicht so. Solange ich lebe, wird mich die Persönlichkeit Dorian Grays beherrschen. Sie können nicht empfinden, was ich empfinde, Sie verändern sich zu oft."

"Ja, mein lieber Basil, das ist aber gerade der Grund, warum ich es empfinden kann. Treue Menschen kennen nur die alltägliche Seite der Liebe, die Treulosen allein begreifen die Tragödien der Liebe." Bei diesen Worten zündete Lord Henry an einem zierlichen silbernen Büchschen ein Wachskerzchen an und begann eine Zigarette zu rauchen, mit selbstbewußter, zufriedener Art, als hätte er den Sinn der ganzen Welt in einem Satze zusammengefaßt.

Man hörte ein leises Rascheln, das von den zwitschernden Sperlingen in den grünen, wie lackiert aussehenden Efeublättern kam, und blaue Wolkenschatten jagten einander über das Gras wie Schwalben. Wie hübsch war es doch in dem Garten! Und wie entzückend waren doch die Gefühlsregungen anderer Leute, viel entzückender als ihre Gedanken wie es Lord Henry schien. Die eigene Seele und die Leidenschaften eines Freundes - das waren eigentlich die fesselnden Dinge des Lebens. Er stellte sich mit geheimem Vergnügen das langweilige Frühstück vor, das er durch seinen langen Besuch bei Basil Hallward versäumt hatte. Wenn er zu seiner Tante gegangen wäre, hätte er dort sicherlich Lord Goodbody getroffen und das ganze Gespräch hätte von Volksernährung und der Notwendigkeit von Musterwohnungen gehandelt. Jeder Stand hätte die Wichtigkeit gerade jener Tugenden gepredigt, die auszuüben, in seinem eigenen Leben keine Notwendigkeit vorlag. Der Reiche hätte vom Werte der Sparsamkeit gesprochen und der Mäßige mit ungemeiner Beredsamkeit über die Würde der Arbeit. Es war reizend, all dem entgangen zu sein.

Als Lord Henry an seine Tante dachte, fiel ihm etwas ein. Er wendete sich Basil zu und sagte: "Lieber Freund, eben erinnere ich mich."

"Woran erinnern Sie sich, Henry?"

"Wo ich den Namen Dorian Grays schon gehört habe."

"Wo war das?" fragte Hallward, die Stirn leicht runzelnd.

"Sehen Sie mich nicht so böse an, Basil. Es war bei meiner Tante, Lady Agatha. Sie erzählte mir, sie habe einen wundervollen jungen Menschen entdeckt, der ihr im East-End helfen wolle und er heiße Dorian Gray. Ich muß zugeben, sie hat mir nie etwas darüber gesagt, daß er so hübsch ist. Frauen haben kein Verständnis für Schönheit; wenigstens anständige Frauen nicht. Sie sagte mir, daß er ein sehr, sehr wertvoller Mensch sei und einen prachtvollen Charakter habe. Ich stellte mir sofort ein Wesen mit Brille, dünnem Haar und gräßlichen Sommersprossen vor, das auf ungeheuren Füßen herumstapft. Ich wünschte jetzt, ich hätte damals gewußt, daß es Ihr Freund ist."

"Ich bin froh, daß Sie es nicht gewußt haben, Henry."

"Warum?"

ªIch will nicht, daß Sie ihm kennenlernen."

"Sie wollen nicht, daß ich ihn kennenlerne?"

"Nein!"

"Mr. Dorian Gray ist im Atelier, gnädiger Herr", meldete der Diener, der eben in den Garten heraustrat.

"Jetzt müssen Sie mich vorstellen!" rief Lord Henry lächelnd. Der Maler wendete sich seinem Diener zu, der blinzelnd in der Sonne dastand: "Bitten Sie Mr. Gray, zu warten, Parker, ich komme sofort." Der Mann verbeugte sich und ging in das Haus zurück.

Dann sah Basil Lord Henry ins Gesicht.

"Dorian Gray ist mein teuerster Freund", sagte er. "Er hat eine schlichte, schöne Seele. Ihre Tante hatte durchaus recht mit dem, was sie über ihn gesagt hat... Verderben Sie ihn mir nicht. Bemühen Sie sich nicht, Einfluß auf ihn zu bekommen, denn Ihr Einfluß wäre verderblich für ihn. Die Welt ist groß und es gibt eine Menge köstlicher Geschöpfe auf ihr - nehmen Sie mir nicht den einzigen Menschen, der meiner Kunst ihren besonderen Reiz bietet. Mein künstlerisches Dasein hängt von ihm ab. Denken Sie daran, Henry, ich vertraue Ihnen." Er sprach sehr langsam, die Worte schienen wie gegen seinen Willen aus ihm zu kommen.

"Was für Unsinn Sie reden!", sagte Lord Henry lächelnd, nahm Hallward beim Arm und zog ihn fast ins Haus hinein.

 

Zweites Kapitel

 

Als sie eintraten, sahen sie Dorian Gray. Er saß am Klavier, den Rücken ihnen zugekehrt und blätterte in einem Bande von Schumanns "Waldszenen".

"Sie müssen mir die Noten leihen, Basil", rief er aus. Ich muß diese Musik lernen, sie ist einfach entzückend."

"Dorian, das hängt ganz davon ab, wie Sie mir heute sitzen."

"Es langweilt mich aber, Ihnen zu sitzen und ich will gar kein lebensgroßes Bild von mir haben, antwortete der Jüngling und schwang sich in dem Klaviersessel auf eine eigensinnige, ausgelassene Weise herum. Als er aber Lord Henry erblickte, stieg ein schwaches Rot einen Augenblick in seine Wangen und er fuhr auf. "Ich bitte um Entschuldigung, Basil, ich wußte nicht, daß Sie Besuch haben."

"Das ist Lord Henry Wotton, Dorian, ein alter Freund von Oxford her. Ich habe ihm gerade erzählt, wie wunderbar Sie sitzen und jetzt haben Sie mir alles verdorben."

"Mir haben Sie das Vergnügen, Sie kennenzulernen, nicht verdorben, Mr. Gray", sagte Lord Henry, ging auf ihn zu und gab ihm die Hand. "Meine Tante hat oft von Ihnen gesprochen. Sie sind einer ihrer Lieblinge und, wie ich fürchte, eines ihrer Opfer."

"Ich stehe jetzt auf Lady Agathas schwarzer Liste", antwortete Dorian mit einem komisch reuigen Blick. "Ich hatte ihr versprochen, sie letzten Dienstag nach einem Klub in Whitechapel zu begleiten und habe dann die ganze Geschichte vergessen. Wir sollten dort miteinander vierhändig spielen, drei Stücke, wenn ich mich recht erinnere. Sie wird mir sicher schwere Vorwürfe machen, wenn sie mich das nächstemal sieht. Ich habe direkt Angst, sie zu besuchen!"

"Ich werde Sie schon mit meiner Tante versöhnen. Sie ist Ihnen sehr zugetan und ich glaube auch, es schadet nichts, daß Sie nicht dort waren. Das Publikum hat vermutlich trotzdem gemeint, es sei vierhändig gespielt worden. Wenn sich Tante Agatha ans Klavier setzt, macht sie Lärm für zwei Personen."

"Sie sprechen sehr schlecht von ihr und machen mir auch gerade kein Kompliment", antwortete Dorian lachend.

Lord Henry sah ihn an. Ja, er war wirklich wunderbar schön, mit seinen feingeschwungenen dunkelroten Lippen, den offenen blauen Augen und dem welligen goldblonden Haar. In seinem Gesicht war ein Ausdruck, der sofort Vertrauen erweckte. Alle Aufrichtigkeit der Jugend lag darin und alle leidenschaftslose Reinheit der Jugend. Man fühlte, daß er bisher von der Welt noch unberührt war. Es war kein Wunder, daß ihn Basil Hallward anbetete.

"Sie sind viel zu reizend, um sich der Wohltätigkeit zu widmen, Mr. Gray, viel zu reizend" sagte Lord Henry, warf sich auf den Diwan und öffnete seine Zigarettendose.

Der Maler hatte inzwischen eifrig seine Farben gemischt und seine Pinsel zurechtgelegt. Er sah verärgert aus, und als er die letzte Bemerkung Lord Henrys hörte, blickte er zu ihm hin, zögerte einen Augenblick und sagte dann: "Henry, ich möchte das Bild heute fertig malen. Werden Sie es sehr grob von mir finden, wenn ich Sie bitte, uns jetzt allein zu lassen?"

Lord Henry lächelte und sah Dorian Gray an. "Soll ich gehen, Mr. Gray?"

"Bitte, bleiben Sie, Lord Henry, Basil hat heute einen schlechten Tag und ich kann ihn nicht leiden, wenn er so ist. Außerdem möchte ich von Ihnen erfahren, warum ich mich nicht der Wohltätigkeit widmen soll."

"Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen soll, Mr. Gray. Es ist eine oft langweilige Sache, daß man nur ernsthaft darüber reden könnte. Aber jetzt, nachdem Sie mich gebeten haben, dazubleiben, gehe ich auf keinen Fall. Sie haben doch nichts dagegen, Basil? Sie haben mir so oft gesagt, daß es Ihnen angenehm ist, wenn die, die Ihnen sitzen, mit jemand plaudern könnten."

Hallward biß sich auf die Lippen. "Wenn Dorian es wünscht, müssen Sie natürlich dableiben. Dorians Launen sind Gesetze für jedermann, außer für ihn selbst."

"Weil jemanden beeinflussen so viel ist wie anderen die eigene Seele leihen. Er denkt dann nicht mehr seine eigenen Gedanken, verzehrt sich nicht mehr an seinen eigenen Leidenschaften. Seine Tugenden sind gar nicht seine Tugenden. Seine Sünden - wenn es überhaupt so etwas wie Sünden gibt - sind nur geborgt. Er wird ein Echo für die Töne des anderen, ein Schauspieler, der eine Rolle spielt, die nicht für ihn geschrieben ist. Der Sinn des Daseins ist: Selbstentwicklung. Die eigene Persönlichkeit voll zum Ausdruck zu bringen, das ist die Aufgabe, die jeder von uns hier zu lösen hat. Heutzutage hat jeder Angst vor sich. Die Menschen haben ihre heiligste Pflicht vergessen, die Pflicht gegen sich selbst. Natürlich sind sie mildtätig. Sie nähren den Hungernden, bekleiden den Bettler - ihre eigenen Seelen aber darben und sind entblößt. Der Mut ist unserem Geschlecht abhanden gekommen. Vielleicht haben wir auch nie einen besessen. Die Angst vor der Gesellschaft, die Grundlage jeder Sittlichkeit und die Furcht vor Gott, das Geheimnis jeder Religion - das sind die zwei Kräfte, die uns beherrschen. Und doch -"

"Dorian, seien Sie, bitte, einmal brav und drehen Sie den Kopf eine Spur nach rechts", sagte der Maler, in sein Werk vertieft; doch er hatte bemerkt, daß in des Jünglings Gesicht ein Ausdruck getreten war, den er vordem nie darin gesehen hatte.

"Und doch", fuhr Lord Henry mit seiner tiefen musikalischen Stimme fort, während er die Hand in einer anmutigen Art, die er schon in der Schule gehabt hatte, bewegte. "Wenn nur die Menschen ihr eigenes Leben voll bis auf den letzten Rest leben würden, jedem Gefühl Gestalt, jedem Gedanken Ausdruck, jedem Traum Wirklichkeit geben wollten - ich bin überzeugt davon, dann käme in die Welt eine solche Summe von neuer Freude und Lust, daß wir alle die seelischen Krankheiten des Mittelalters vergäßen und zum hellenischen Ideal zurückkehrten. Ja, wir kämen vielleicht zu etwas Feinerem, Reicherem als dem Griechentum. Aber selbst der Tapferste unter uns hat Angst - vor sich selbst. Die Selbstverleugnung, die unser Leben zerstört, ist ein tragischer Überrest der Selbstverstümmelung der Wilden. Wir büßen für unsere Entsagungen. Jeder Trieb, den wir zu unterdrücken suchen, schwelt im Innern weiter und vergiftet uns. Der Körper sündigt nur einmal und ist dann mit der Sünde fertig, denn Tat ist immer Reinigung. Nichts bleibt dann zurück als die Erinnerung an eine Lust oder die Wollust der Reue. Die einzige Art, eine Versuchung zu bestehen, ist, ihr nachzugeben. Widerstehen Sie ihr, so erkrankt Ihre Seele vor Sehnsucht nach der Erfüllung, die sie sich selber verweigert hat, vor Gier nach dem, was nur die ungeheuerlichen Gesetze der Seele ungeheuerlich und ungesetzmäßig gemacht haben. Es ist gesagt worden, daß die großen Ereignisse der Welt im Gehirn vor sich gehen. Im Gehirn und nur im Gehirn werden auch die großen Sünden der Welt begangen. Sie, Mr. Gray, selbst Sie, in Ihrer rosenroten Jugend, in ihrer Jugendblüte, die wie weiße Rosen ist, selbst Sie haben schon Leidenschaften erlebt, die Ihnen Angst eingejagt haben, Gedanken gedacht, die Sie mit Schrecken erfüllt haben, wachend und schlafend Träume geträumt, deren bloße Erinnerung Ihre Wangen schamrot werden ließe. . .´

"Hören Sie auf!" stammelte Dorian Gray. "Hören Sie auf, Sie machen mich ganz wirr. Ich weiß nicht, was ich zu alldem sagen soll. Es gibt eine Antwort, aber ich kann sie nicht finden. Sagen Sie nichts mehr! Lassen Sie mich nachdenken. Oder vielmehr, lassen Sie mich versuchen, nicht nachzudenken."

Etwa zehn Minuten stand er bewegungslos, mit halboffenen Lippen und seltsam leuchtenden Augen da. Er war sich dumpf bewußt, daß ganz neue Einflüsse ihn ihm arbeiteten. Und doch schien es, als kämen sie in Wirklichkeit aus seinem eigenen Innern. Die wenigen Sätze, die Basils Freund zu ihm gesprochen hatte - ohne Zweifel zufällig hingeworfene Worte voll eigenwilliger Paradoxie - hatten eine geheime Saite seiner Seele berührt, die vordem nie getönt hatte, die er aber nun zittern, in seltsamen Schwingungen schwingen fühlte.

Bisher hatte ihn nur die Musik so aufgewühlt. Die Musik hatte ihn schon oft in Aufruhr gebracht. Aber Musik konnte man nicht mit dem Verstand erfassen... Sie schafft keine neue Welt, schafft eher ein neues Chaos in uns. Wie schrecklich die Worte sind! Wie klar, wie wirklich, wie grausam! Man kann ihnen nicht entrinnen. Und doch, welch tiefer Zauber steckt in ihnen! Sie scheinen die Kraft zu haben, formlosen Dingen plastische Gestalt zu geben, und sie besitzen eine eigene Musik, so süß wie die der Geige oder der Flöte. Einfache Worte vermögen das! Aber gibt es irgend etwas so Wirkliches wie Worte?

Es hatte in seiner Knabenzeit Dinge gegeben, die unbegreiflich gewesen waren. Jetzt erst verstand er sie. Plötzlich bekam das Leben lodernde Farben. Nun schien es ihm, als sei er mitten durch Flammen gewandert. Warum hatte er es bisher nie gewußt?

Lord Henry beobachtete ihn mit einem feinen Lächeln. Er kannte genau den psychologischen Moment, in dem man kein Wort sagen durfte. Dieser junge Mensch interessierte ihn sehr. Die schnelle Wirkung seiner Worte hatte ihn in Erstaunen gesetzt; nun entsann er sich eines Buches, das er mit sechzehn Jahren gelesen und das ihm viel bis dahin Unbekanntes enthüllt hatte und fragte ,sich, ob Dorian Gray wohl eine ähnliche Erfahrung erlebe. Er hatte auf gut Glück einen Pfeil abgeschossen. Hatte er ins Ziel getroffen? ... Wie bezaubernd war doch dieser Jüngling!

Inzwischen malte Hallward mit jenem wunderbar breiten Strich weiter, der das Zeichen aller wahren Feinheit und Vollkommenheit ist. Er merkte die wortlose Stille gar nicht.

"Basil, das Stehen macht mich müde!" rief Dorian plötzlich aus. "Ich muß hinaus in den Garten und mich hinsetzen. Die Luft hier ist unerträglich drückend."

"Lieber, es tut mir wirklich leid, daß ich Sie so plage. Wenn ich male, kann ich an sonst nichts denken. Aber Sie haben nie besser gesessen, Sie waren ganz ruhig. Und ich habe endlich den Ausdruck herausgebracht, den ich gesucht habe; die halb offenen Lippen und den Glanz in den Augen. Ich weiß nicht, was Ihnen Henry erzählt hat, aber sicher hat er Ihnen einen prachtvollen Ausdruck gegeben. Ich vermute, er hat ihnen Komplimente gemacht. Sie dürfen ihm aber kein Wort glauben."

"Nein, er hat mir nicht das geringste Kompliment gemacht. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich wirklich kein Wort von dem glaube, was er gesagt hat."

"Sie wissen selbst, daß Sie jedes Wort davon glauben", erwiderte Lord Henry, der ihn mit seinen weichen, träumerischen Augen ansah. "Wir wollen zusammen in den Garten gehen, es ist furchtbar heiß hier im Atelier. Basil, lassen Sie uns irgend etwas recht Kaltes zu trinken geben, irgendwas mit Erdbeeren."

"Sofort, Henry. Bitte, klingeln Sie doch, und wenn Parker kommt, will ich ihm sagen, was Sie wünschen. Ich muß den Hintergrund hier noch fertig machen; ich komme später nach. Halten Sie mir aber Dorian nicht zu lange fest. Ich war nie in besserer Stimmung zum Malen als heute. Dieses Porträt wird ein Meisterwerk. Schon jetzt, wie es da steht, ist es mein Meisterwerk.

Lord Henry ging in den Garten hinaus und fand Dorian Gray, wie er sein Gesicht in die großen, kühlen Fliederdolden vergrub und fieberhaft ihren Duft einsog, als tränke er Wein. Er trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. "Sie haben ganz recht mit dem, was Sie da tun!' sagte er leise. "Nichts hilft der Seele besser als die Sinne, wie auch den Sinnen nur die Seele helfen kann."

Der Jüngling schreckte auf und trat einen Schritt zurück. Er war ohne Hut und die Blätter hatten seine wilden Locken aufgewühlt und all ihre großen Fäden verwirrt. In seinen Augen lag ein Schimmer von Furcht, wie ihn Menschen haben, die man jäh aus dem Schlafe weckt. Seine feingeschnittenen Nasenflügel zitterten und eine versteckte Erschütterung ließ die scharlachroten Lippen erbeben.

"Ja", fuhr Lord Henry fort, "das ist eines der großen Geheimnisse unseres Daseins: die Seele durch die Sinne heilen können und die Sinne durch die Seele. .. Sie sind ein wunderbares Geschöpf. Sie wissen von mehr Dingen, als Ihnen bewußt ist und doch wissen Sie weniger, als Sie wissen sollten."

Dorian Gray runzelte die Stirn, wandte den Kopf ab.

Ein unwiderstehlicher Reiz zog ihn zu diesem großen, anmutigen jungen Mann hin, der da neben ihm stand. Sein romantisches, olivenfarbiges Gesicht, der müde Ausdruck interessierte ihn. In seiner tiefen, schwermütigen Stimme lag etwas, das unbedingt gefangen nahm. Auch seine kühlen, weißen, blumengleichen Hände zogen ihn an. Sie bewegten sich bei seinen Worten, begleiteten sie wie Musik und schienen eine eigene Sprache zu sprechen. Aber er hatte auch Angst vor ihm und schämte sich seiner Furcht. Warum hatte ein Fremder kommen müssen, ihm die eigene Seele zu offenbaren? Er kannte Basil Hallward nun seit Monaten, aber diese Freundschaft hatte ihn nicht verändert. Jetzt war plötzlich jemand in sein Leben getreten, der ihm das Mysterium des Daseins zu enthüllen schien. Aber schließlich - wovor sollte er sich fürchten? Er war doch kein Schuljunge mehr, kein kleines Mädchen. Es war albern, Angst zu haben.

"Kommen Sie, setzen wir uns in den Schatten", sagte Lord Henry. "Parker hat uns da etwas zum Trinken gebracht, und wenn Sie noch länger in der prallen Sonne stehen, werden Sie sich Ihren Teint verderben und Basil wird Sie nie mehr malen. Sie dürfen sich wirklich nicht von der Sonne braunbrennen lassen, das würde Ihnen schlecht stehen."

"Was läge dran?" rief Dorian Gray und setzte sich lachend auf eine Bank am Ende des Gartens.

"Alles läge dran, - bei Ihnen, Mr. Gray."

"Wieso?"

"Weil Sie so wundervoll jung sind und Jugend das einzige ist, was im Leben einen Wert hat."

"Ich empfinde das nicht so, Lord Henry."

"Nein, jetzt empfinden Sie es noch nicht. Später einmal, wenn Sie alt, runzelig und häßlich sind, wenn die Gedanken Furchen in Ihre Stirne gegraben haben, die Leidenschaft Ihre Lippen mit ihren schrecklichen Feuern verbrannt hat, dann werden Sie es empfinden, furchtbar empfinden. Jetzt bezaubern Sie alle Welt, Sie können hinkommen, wohin Sie wollen. Wird das aber immer so sein?... Sie haben ein wundervoll schönes Gesicht, Mr. Gray. Runzeln Sie nicht die Stirn. Es ist so. Und Schönheit ist eine Form des Genies, steht in Wahrheit noch höher als Genie, weil sie keinerlei Erläuterung bedarf. Sie ist eine der großen Wirklichkeiten der Welt, wie der Sonnenschein oder der Frühling oder der Abglanz jener silbernen Scheibe, die wir den Mond nennen, in dunklen Wässern. Man kann sie nicht bestreiten. Sie hat ein göttliches, über alles erhabenes Recht. Wer sie hat, ist ein Fürst. Sie lächeln? Ach, wenn Sie sie verloren haben, werden Sie nicht mehr lächeln... Die Leute sagen manchmal, Schönheit sei etwas Äußerlich es. Vielleicht ist sie das. Aber zumindest ist sie nicht so äußerlich wie das Denken. Für mich ist Schönheit das Wunder der Natur. Nur die oberflächlichen Menschen urteilen nicht nach dem Äußeren. Das wahre Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare. . . Ja, Mr. Gray, die Götter haben es mit Ihnen gut gemeint. Aber was sie einem schenken, das rauben sie auch bald wieder. Sie haben nur ein paar Jahre, in denen Sie sich wirklich und vollkommen ausleben können. Wenn Ihre Jugend Sie verläßt, nimmt sie die Schönheit mit und dann werden Sie plötzlich entdecken, daß keine Siege mehr auf Sie warten, oder Sie werden sich mit jenen traurigen Siegen begnügen müssen, die Ihnen die Erinnerung an die Vergangenheit bitterer als Niederlagen machen wird. Jeder Monat, der dahingeht, bringt Sie einem schrecklicheren Ziele näher. Die Zeit ist eifersüchtig auf Sie und kämpft gegen die Lilien und Rosen Ihrer Haut. Allmählich werden Sie fahl und hohlwangig, Ihre Augen werden stumpf blicken und Sie werden unsäglich leiden... Leben Sie Ihrer Jugend, solange sie da ist. Vergeuden Sie das Gold Ihrer Tage nicht, hören Sie nicht auf die Philister, mühen Sie sich nicht, hoffnungslosen Verfall zu verbessern oder Ihr Leben den Unwissenden, Niedrigen, den gemeinen Leuten hinzugeben! Das sind die kranken Ziele, die falschen Ideale unserer Zeit. Leben Sie! Leben Sie das wunderbare Leben, das in Ihnen ist! Versagen Sie sich nichts! Suchen Sie nach immer neuen Empfindungen! Fürchten Sie nichts. . . Ein neuer Hedonismus täte unserem Jahrhundert not. Sie könnten sein lebendiges Symbol sein. Mit Ihrer Persönlichkeit können Sie alles wagen. Die Welt gehört Ihnen - eine kurze Spanne lang... In dem Augenblick, da ich Sie sah, merkte ich, daß Sie keine Ahnung davon haben, was Sie sind, was Sie sein könnten. Aber so viel in Ihnen entzückte mich, daß ich Ihnen etwas über Ihre Natur sagen mußte. Ich würde es als Tragik empfinden, wenn Sie sich wegwerfen wollten. Ihre Jugend währt ja nur so kurze Zeit, so unglaublich kurze Zeit. Die Wald- und Wiesenblumen welken, aber sie blühen wieder. Der Goldregen wird im nächsten Juni genau so gelb sein wie jetzt; in einem Monat hat der wilde Wein purpurne Sterne und Jahr für Jahr umschließt die grüne Nacht ihrer Blätter solche Purpursterne. Aber wir Menschen bekommen unsere Jugend nie wieder. Der Puls der Freude, der in dem Zwanzigjährigen schlägt, wird schlaff. Unsere Glieder versagen, die Sinne werden stumpf. Wir verfallen zu grauslichen Fratzen, werden gequält von der Erinnerung an Leidenschaften, vor denen wir zurückgescheut sind, und köstlichen Versuchungen, denen zu erliegen wir den Mut nicht hatten. Jugend, Jugend Es gibt nichts in der Welt als Jugend!"

Dorian Gray hörte zu, mit aufgerissenen Augen, staunend. Der Fliederzweig fiel aus seiner Hand auf den Kies. Eine Biene in ihrem Pelzkleid kam und umsummte einen Augenblick die Blüten. Dann kletterte sie eifrig auf den kleinen, schmal gesternten Blumen herum. Er beobachtete sie mit jenem sonderbaren Interesse an gewöhnlichen Dingen, das wir zu zeigen suchen, wenn wir uns vor Dingen von hoher Bedeutung fürchten oder wenn wir durch ein neues Gefühl erschüttert werden, für das wir die Formel noch nicht gefunden haben. Oder wenn ein schrecklicher Gedanke unser Hirn bedrängt und Einlaß begehrt... Nach einer Weile flog die Biene weg. Er sah sie in die bunte Trompete eines Windröschens kriechen. Die Blume schien zu erbeben, dann schwankte sie sanft hin und her.

Plötzlich erschien der Maler in der Tür des Ateliers und forderte sie durch kurze, wiederholte Zeichen auf, hineinzukommen. Sie wendeten sich rasch einander zu und lächelten

"Ich warte!" rief er. "Kommt! Das Licht ist wundervoll. Ihr könnt eure Gläser ja mitbringen."

Sie standen auf und schlenderten zusammen den Gartenpfad hinab. Zwei weißgrüne Schmetterlinge flogen hinter ihnen her und in dem Birnbaum an der Gartenecke begann eine Drossel zu singen.

"Freut es Sie, mich kennengelernt zu haben, Mr. Gray?" fragte Lord Henry und sah ihn an.

"Ja, jetzt bin ich froh darüber. Ich weiß nicht, ob ich's immer sein werde."

"Immer - das ist ein unerträgliches Wort. Ich schaudere, wenn ich es höre. Die Frauen gebrauchen es so gern. Sie richten alle Abenteuer zugrunde, indem sie ihnen ewige Dauer geben wollen. Außerdem: es ist ein sinnloses Wort.

Der einzige Unterschied zwischen einer Laune und einer Leidenschaft, die ein Leben lang währt, ist - daß die Laune ein Weilchen länger dauert."

Als sie ins Atelier traten, legte Dorian Gray seine Hand auf Lord Henrys Arm. "Lassen Sie also unsere Freundschaft eine Laune sein", sagte er leise und errötete über seine eigene Kühnheit. Dann stieg er auf das Podium und nahm seine Stellung wieder ein.

Lord Henry warf sich in einen bequemen Rohrsessel und beobachtete ihn. Das Hin- und Herfahren des Pinsels auf der Leinwand gab den einzigen Ton, der die Stille unterbrach. Nur manchmal hörte man den Schritt Hallwards, wenn er zurücktrat, um sein Bild aus der Entfernung zu prüfen. In den schrägen Sonnenstrahlen, die durch die offene Tür einfielen, tanzte der Staub in goldenem Schimmer. Über dem ganzen Raume brütete der schwere Duft der Rosen.

Als etwa eine Viertelstunde vergangen war, hörte Hallward auf, zu malen, betrachtete Dorian eine lange Zeit, sah dann lange auf das Bildnis, während er fest in den Stiel seines großen Pinsels biß und die Stirne runzelte. "Es ist vollkommen fertig", rief er endlich, bückte sich und schrieb in großen roten Lettern seinen Namen in die linke Ecke der Leinwand. Lord Henry ging hinüber und betrachtete das Bild genau. Ja, es war ein wunderbares Kunstwerk und auch wunderbar ähnlich.

"Lieber Freund", sagte er. "Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen Glück. Es ist das beste Porträt der modernen Zeit. Mr. Gray, kommen Sie und sehen Sie sich selbst an!"

Der Jüngling schrak auf, wie aus einem Traum erweckt. "Ist es wirklich fertig?" murmelte er, als er vom Podium herabstieg.

"Ganz fertig", antwortete der Maler. "Sie haben heute prachtvoll gesessen. Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar."

"Das ist nur mein Verdienst", warf Lord Henry ein. "Nicht wahr, Mr. Gray?"

Dorian gab keine Antwort, sondern trat nur nachlässig vor sein Bild und wandte sich ihm zu. Als er es sah, zuckte er zusammen und seine Wangen röteten sich einen Augenblick. Ein Ausdruck der Freude trat in seinen Blick, als erkenne er sich selbst jetzt erst zum ersten Male. Bewegungslos stand er da, in Staunen versunken. Er wurde sich dunkel bewußt, daß Hallward zu ihm sprach, aber er faßte den Sinn seiner Worte nicht. Der Eindruck der eigenen Schönheit überkam ihn wie eine Offenbarung. Er hatte sie nie vorher empfunden. Basil Hallwards Komplimente hatte er nur für liebenswürdig übertriebene Freundschaftsbeteuerungen gehalten. Er hatte sie angehört, über sie gelacht, sie vergessen. Sein Wesen hatten sie nicht beeinflußt. Dann war Lord Henry Wotton gekommen mit seinem sonderbaren Hymnus auf die Jugend, seiner schrecklichen Warnung vor ihrer Kürze. Das hatte ihn aufgerüttelt und jetzt, als er dastand und das Abbild der eigenen Lieblichkeit anschaute, blitzte in ihm die Erkenntnis auf, wie wahr diese Schilderung gewesen. Ja, der Tag mußte kommen, da sein Gesicht faltig und verwittert, die Augen trüb und glanzlos, die Anmut seiner Gestalt gebrochen, entstellt sein würde. Das Scharlachrot seiner Lippen würde verfallen, das Gold des Haares sich wegstehlen. Er würde häßlich, grauenerregend, plump werden.

Als er daran dachte, durchdrang ihn ein scharfer Schmerz wie ein Messerstich und ließ jede Faser seines Wesens erbeben. Seine Augen wurden dunkel wie Amethyste, und ein Tränenschimmer stieg in ihnen auf. Es war, als hätte sich ihm eine eiskalte Hand aufs Herz gelegt.

"Finden Sie es nicht gut?" rief schließlich Hallward, ein wenig gereizt durch das Schweigen des Jünglings, dessen Sinn er nicht begriff.

"Natürlich findet er es gut", sagte Lord Henry. "Wer würde das nicht? Es ist eines der größten Werke der modernen Kunst. Ich gebe Ihnen jeden Betrag dafür, den Sie verlangen. Ich muß es haben."

"Es gehört nicht mir, Henry."

"Wem gehört es denn?"

"Dorian natürlich", entgegnete der Maler.

"Er hat wirklich Glück..."

"Wie traurig das ist", flüsterte Dorian, der die Augen noch immer fest auf das Bild gerichtet hatte. "Wie traurig! Ich werde alt werden, häßlich, widerlich, aber dies Bild wird immer jung bleiben. Es wird nie über den heutigen Junitag hinaus altern . . . Wenn es doch umgekehrt sein könnte! Wenn ich es wäre, der ewig jung bliebe und das Bild altern könnte! Dafür, dafür gäbe ich alles. Ja, nichts in der Welt wäre mir dafür zuviel. Meine Seele gäbe ich dafür als Preis!"

"Dieser Tausch würde Ihnen wohl kaum passen, Basil", rief Lord Henry lachend. "Das wäre hart für Ihr Werk."

"Ja, ich würde mich ernstlich dagegen wehren, Henry", sagte Hallward.

Dorian Gray wandte sich ihm zu und sah ihn an. "Ich bin überzeugt, das würden Sie tun, Basil, denn die Kunst ist Ihnen mehr als Ihre Freunde. Ich bedeute für Sie nicht mehr, als eine grünschimmernde Bronzefigur. Kaum soviel vielleicht."

Der Maler war starr vor Verwunderung. So zu sprechen war gar nicht Dorians Art. Was war geschehen? Er schien ganz zornig. Sein Gesicht hatte sich gerötet, die Wangen brannten.

"Ja", fuhr er fort, "ich bedeute für Sie weniger als dieser Hermes aus Elfenbein oder der silberne Faun da. Die werden Sie immer schätzen. Wie lang aber werden Sie mich schätzen? Bis die erste Runzel mein Gesicht entstellt, vermutlich. Ich weiß es jetzt: Wenn man seine Schönheit, von welcher Art sie auch sei, verliert, hat man alles verloren. Ihr eigenes Gemälde da hat mich diese Weisheit gelehrt. Lord Henry Wotton hat ganz recht. Jugend ist das einzige auf der Welt, das einen Wert hat. Wenn ich einmal merke, daß ich alt werde, bringe ich mich um."

Hallward wurde bleich und griff nach seiner Hand. "Dorian, Dorian!" rief er. "Sagen Sie so etwas nicht. Ich habe nie einen Freund gehabt, der mir so viel war wie Sie und werde nie einen haben. Sie können doch nicht auf leblose Dinge eifersüchtig sein, Sie, der Sie edler sind als irgend wer."

"Ich bin eifersüchtig auf jedes Ding, dessen Schönheit nicht stirbt. Ich bin eifersüchtig auf das Bild, das Sie von mir gemalt haben. Warum darf es behalten, was ich hergeben muß? Jeder Augenblick, der verstreicht, nimmt mir etwas und schenkt ihm etwas. Wenn es doch umgekehrt wäre! Wenn sich das Bild veränderte, und ich immer bleiben könnte, wie ich bin! Warum haben Sie es gemalt? Es wird mich einst verhöhnen, furchtbar verhöhnen."

Heiße Tränen traten ihm in die Augen. Er riß seine Hand zurück und warf sich auf den Diwan. Dort vergrub er sein Gesicht in die Kissen, als bete er.

"Das ist Ihr Werk, Henry, sagte der Maler bitter.

Lord Henry zuckte die Achseln. "Es ist nur der wirkliche Dorian Gray!"

"Das ist er nicht."

"Wenn er es nicht ist, was habe ich mit alledem zu schaffen?"

"Sie hätten weggehen sollen, als ich Sie darum bat", murmelte er.

"Ich blieb, weil Sie mich darum baten", war Lord Henrys Erwiderung.

"Henry, ich kann nicht mit meinen beiden besten Freunden auf einmal Streit anfangen, aber ihr beide habt es so weit gebracht, daß ich das beste Stück Arbeit, das mir je gelungen ist, hasse, und ich werde es vernichten. Es ist schließlich nur Leinwand und Farbe. Ich will es nicht in drei Leben eingreifen und sie zerstören lassen."

Dorian Gray hob sein goldenes Haupt von den Kissen und blickte ihn mit bleichem Gesicht und tränenfeuchten Augen an, als Basil zu dem niederen Tischchen trat, das unter dem hohen, verhängten Fenster stand. Was wollte er dort? Seine Finger fuhren zwischen dem Wust von Blechtuben und trockenen Pinseln herum und suchten etwas. Ja, sie suchten die lange Spachtel mit der dünnen Klinge aus geschmeidigem Stahl. Endlich hatte er sie gefunden. Er wollte die Leinwand zerschneiden.

Mit einem erstickten Schluchzen flog der Jüngling von dem Sofa auf, sprang zu Hallward hinüber, riß ihm die Spachtel aus der Hand und schleuderte sie in den entferntesten Winkel des Ateliers. "Tun Sie es nicht, Basil, tun Sie es nicht", schrie er. "Es wäre Mord."

"Ich freue mich, daß Sie schließlich meine Arbeit doch schätzen, Dorian", sagte der Maler kühl, als er sich von seinem Erstaunen erholt hatte. "Ich habe es nicht geglaubt."

"Schätzen? Ich bin verliebt in das Bild, Basil. Es ist ein Teil von mir selbst, das fühle ich!"

"Schön, sobald Sie trocken sind, sollen Sie gefirnißt, gerahmt und nach Hause geschickt werden. Da können Sie mit sich anfangen, was Ihnen beliebt." Er schritt durch den Raum und klingelte nach Tee. "Sie trinken doch Tee, Dorian? Sie auch, Henry? Oder haben Sie etwas gegen so einfache Genüsse?

"Ich bete einfache Genüsse an", sagte Lord Henry. "Sie sind die letzte Zuflucht komplizierter Menschen. Aber für Szenen schwärme ich nicht, außer im Theater. Was für tolle Menschen seid ihr doch beide! Wer war es doch, der den Menschen als das vernünftige Tier definiert hat? Das war eine der unbedachtesten Definitionen. Der Mensch hat eine ganze Menge Eigenschaften, Vernunft aber gewiß nicht. Gott sei Dank, übrigens. Ihr beide solltet euch aber wirklich nicht um das Bild zanken, sondern Sie sollten es lieber mir geben, Basil. Dieser dumme Bub will es eigentlich gar nicht, aber ich um so mehr!"

"Wenn Sie es einem anderen geben, Basil, verzeihe ich es Ihnen nie", rief Dorian Gray. "Und ich gestatte niemand, mich einen dummen Buben zu nennen."

"Sie wissen, Dorian, daß das Bild Ihnen gehört. Ich habe es Ihnen geschenkt, noch bevor es gemalt war."

"Und Sie wissen, Mr. Gray, daß Sie ein wenig dumm waren, und daß Sie in Wahrheit gar nichts dagegen haben, an Ihre Jugend erinnert zu werden."

Heute früh hatte ich sehr viel dagegen gehabt."

"Ja, heute früh. Seitdem haben Sie aber gelebt!"

Es klopfte an die Tür; der Diener trat mit einem besetzten Teebrett ein und stellte es auf einen kleinen japanischen Tisch. Man hörte ein Klappern von Tassen und Löffeln und das Summen eines ziselierten georgischen Teekessels. Zwei kugelige Porzellanschüsseln wurden von einem Lakai gebracht. Dorian Gray ging hin und schenkte den Tee ein. Die beiden Männer schlenderten langsam zum Tisch und sahen nach, was unter den Deckeln der Schüsseln war.

"Wir wollen heute abend ins Theater gehen", sagte Lord Henry. "Irgendwo muß doch noch was los sein. Ich habe zwar zugesagt, bei White zu dinieren, aber es ist nur ein alter Freund, der mich erwartet und dem ich also ein Telegramm schicken kann, daß ich krank bin oder durch eine spätere Verabredung verhindert bin. Das würde ich für eine entzückende Entschuldigung halten, sie ist überraschend und aufrichtig!

"Es ist so langweilig, sich den Gesellschaftsanzug anzuziehen", murmelte Hallward. "Und wenn man ihn anhat, sieht man so greulich aus."

"Ja", antwortete Lord Henry träumerisch. "Die Kleidung des neunzehnten Jahrhunderts ist abscheulich. Sie ist so düster, so deprimierend. Die Sünde ist noch das einzige Farbige im modernen Leben."

"Sie sollten solche Dinge wirklich nicht vor Dorian sagen, Henry!"

"Vor welchem Dorian nicht? Vor dem, der uns Tee einschenkt oder vor dem auf dem Bild?"

Vor keinem von beiden."

"Ich möchte gerne mit Ihnen ins Theater gehen, Lord Henry", sagte der Jüngling.

"Dann kommen Sie doch. Und Sie auch Basil, nicht wahr?"

"Ich kann wirklich nicht, ich habe eine Menge zu tun."

"Dann müssen wir beide also allein gehen, Mr. Gray.

"Ich freue mich riesig."

Der Maler biß sich auf die Lippen und schritt, die Teetasse in der Hand, zu dem Bilde hinüber. "Ich bleibe bei dem wirklichen Dorian hier", sagte er traurig.

"Ist das der wirkliche?" rief das Original und ging hin. Bin ich wirklich so?"

"Ja, genau so sind Sie."

"Wie wunderbar, Basil!"

"Sie sehen wenigstens jetzt so aus. Aber das Bild wird sich nie ändern", seufzte Hallward. "Das ist sehr viel."

"Was man heute für Wesen aus der Treue macht!" rief Lord Henry aus. "Und dabei ist sie selbst in der Liebe eine rein physiologische Frage. Sie hat nicht das mindeste mit unserem Willen zu tun. Junge Leute wären gerne treu und sind es nicht; alte wären gerne treulos und können es nicht. Das ist alles, was sich über dieses Problem sagen läßt.

"Gehen Sie heute abend nicht ins Theater, Dorian", bat Hallward. "Bleiben Sie hier und speisen Sie mit mir."

"Ich kann nicht, Basil."

"Warum?"

"Weil ich Lord Henry zugesagt habe, mit ihm zu gehen."

"Es wird Sie bei ihm nicht fördern, wenn Sie Ihre Versprechen halten. Er bricht seine immer. Ich bitte Sie, nicht zu gehen."

Dorian Gray schüttelte lachend den Kopf.

"Ich beschwöre Sie."

Der junge Mann schwankte und sah zu Lord Henry hinüber, der mit einem vergnügten Lächeln die beiden vom Teetische aus beobachtete.

"Ich muß fort, Basil", antwortete er.

"Schön", sagte Hallward und ging zum Tische hinüber, um seine Tasse wegzustellen. "Es ist schon ziemlich spät und da Sie sich noch umziehen müssen, haben Sie keine Zeit zu verlieren. Adieu, Henry. Adieu, Dorian. Kommen sie bald wieder. Kommen Sie morgen."

"Bestimmt."

"Aber nicht vergessen!"

"Nein, natürlich nicht!" rief Dorian.

"Und . . . Henry!"

"Ja, Basil?"

"Denken Sie an das, was ich Ihnen sagte, als wir am Vormittag im Garten saßen."

"Das hab' ich vergessen."

"Ich vertraue Ihnen."

"Ich wollte, ich könnte mir selbst vertrauen", sagte Lord Henry lachend. "Kommen Sie, Mr. Gray. Mein Wagen steht unten, ich kann Sie an Ihrer Wohnung absetzen. Adieu, Basil. Es war ein sehr interessanter Nachmittag."

Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, warf sich der Maler auf den Diwan, und ein schmerzlicher Zug trat in sein Gesicht.

 

Drittes Kapitel

Um halb eins am nächsten Tage schlenderte Lord Henry Wotton von der Curzon-Straße nach dem Albany hinüber, um seinem Onkel einen Besuch zu machen. Lord Fermor war trotz seiner etwas rauhen Art ein heiterer alter Junggeselle, den die Welt einen Egoisten nannte, weil sie keinen besonderen Nutzen aus ihm ziehen konnte, den man aber in der Gesellschaft freigebig nannte, weil er den Leuten, die ihn amüsierten, zu essen gab. Sein Vater war Gesandter in Madrid gewesen, als die Königin Isabella noch jung war und man vom General Prim noch nichts wußte. Er hatte sich aber in einem Augenblick der Verärgerung aus dem diplomatischen Dienst zurückgezogen, weil man ihm den Botschafterposten in Paris nicht angeboten hatte, den zu fordern er sich durch seine Geburt, seine Trägheit, das gute Englisch seiner Berichte und seine ausschweifende Vergnügungssucht berechtigt glaubte. Der Sohn, der des Vaters Sekretär gewesen war, hatte mit ihm zugleich den Abschied genommen, was man damals für etwas töricht hielt. Als er ihm dann einige Monate später im Majorat nachfolgte, hatte er sich ernstlich der großen aristokratischen Kunst, absolut nichts zu tun, gewidmet. Er besaß zwei große Häuser in der Stadt, zog es aber vor, in einer Junggesellenwohnung zu wohnen, weil das weniger Umstände machte und speiste meistens in seinem Klub. Er gab ein wenig auf die Ausbeutung seiner Kohlenminen im Midland-Bezirk acht und entschuldigte diese industrielle Tätigkeit mit dem Hinweis darauf, der einzige Vorteil, selbst Kohlenwerke zu besitzen, sei der, daß es durch sie einem Gentlemen möglich wurde, im eigenen Kamin Holz zu brennen. Politisch war er ein Tory, außer wenn die Tories an der Regierung waren; in diesem Falle schalt er sie unverhohlen radikales Gesindel. Er war der sprichwörtliche Held für seinen Kammerdiener, der ihn drangsalierte, und ein Schrecken für die meisten seiner Verwandten, die er drangsalierte. Nur England hätte ihn hervorbringen können und er sagte immer, daß das Land mehr und mehr auf den Hund komme. Seine Grundsätze waren veraltet, aber für seine Vorurteile ließ sich manches sagen.

Als Lord Henry ins Zimmer trat, fand er seinen Onkel in einem rauhen Jagdrock, eine Zigarre im Munde, mürrisch über der "Times" sitzen.

"Nun, Henry, sagte der alte Herr, "was führt dich so früh her? Ich habe immer geglaubt, daß ihr Dandies nie vor zwei Uhr aufsteht und nie vor fünf Uhr sichtbar werdet."

"Reine Familienliebe, auf Wort, Onkel George; ich brauche etwas von dir."

"Geld vermutlich!" sagte Lord Fermor und zog ein saures Gesicht. "Also gut, setz dich und sag mir das Nötige. Ihr jungen Leute bildet euch heutzutage ein, daß Geld alles ist."

"Ja", murmelte Lord Henry, während er seine Blume im Knopfloch zurechtrückte. "Und wenn die jungen Leute älter werden, dann wissen sie, daß es so ist. Aber ich brauche kein Geld. Nur Leute, die ihre Rechnungen bezahlen, brauchen Geld, Onkel George. Ich zahle meine nie. Kredit ist das Vermögen eines jüngeren Sohnes, und man kann glänzend davon leben. Was ich brauche, ist eine Auskunft, keine nützliche Auskunft natürlich, eine ganz wertlose Auskunft."

"Ich kann dir alles sagen, was je in einem englischen Blaubuche gestanden ist, obwohl die Burschen heutzutag einen Haufen Unsinn zusammenschreiben. Als ich noch Diplomat war, lagen die Dinge besser. Aber ich höre, daß man jetzt auf Grund einer Prüfung Diplomat wird, was kann man da noch erwarten! Prüfungen sind der reine Humbug von Anfang bis zu Ende. Wenn ein Mensch ein Gentleman ist, weiß er genug; wenn er kein Gentleman ist, so mag er wissen, was er will, es hilft ihm nichts."

"Mr. Dorian Gray hat nichts mit Blaubüchern zu schaffen", sagte Lord Henry lässig.

"Mr. Dorian Gray, wer ist das?" fragte Lord Fermor, seine buschigen weißen Augenbrauen zusammenziehend.

"Das will ich gerade von dir erfahren, Onkel George. Oder genauer gesagt, wer er ist, weiß ich. Er ist der Enkel des letzten Lord Kelso, seine Mutter war eine Devereux, Lady Margaret Devereux. Ich möchte, daß du mir etwas über seine Mutter sagst. Wer war sie? Wen hat sie geheiratet? Du hast doch so ziemlich alle Leute deiner Zeit gekannt, also wahrscheinlich auch sie. Ich interessiere mich im Augenblick sehr für Mr. Gray. Ich habe ihn erst ganz kürzlich kennengelernt."

"Kelsos Enkel, Kelsos Enkel?... Natürlich, ich war mit seiner Mutter sehr intim. Ich glaube sogar, daß ich bei ihrer Taufe war. Sie war ein ganz außerordentlich schönes Mädchen, diese Margaret Devereux, und hat dann alle jungen Leute toll gemacht, weil sie mit einem jungen Burschen davongelaufen ist, der keinen Heller hatte und nichts war. Irgendein Subalternoffizier bei der Infanterie oder so etwas. Natürlich, ich erinnere mich jetzt der ganzen Geschichte, als wäre sie gestern geschehen. Der arme Kerl wurde dann bei einem Duell in Spa umgebracht, nur ein paar Monate nach der Hochzeit. Man erzählte damals eine häßliche Geschichte darüber. Es hieß, der alte Kelso hätte irgendeinen Schuft, einen Abenteurer, einen belgischen Kerl, gemietet, um seinen Schwiegersohn öffentlich zu insultieren, hätte ihn dafür bezahlt, einfach bezahlt, und daß dann dieser Kerl sein Opfer aufgespießt hätte, als wäre es eine Taube. Die Sache wurde dann natürlich vertuscht, aber freilich, Kelso mußte im Klub eine Zeitlang sein Kotelett allein essen. Er brachte seine Tochter wieder mit, hat man mir erzählt, doch sie sprach nie mehr ein Wort mit ihm. Ja, ja, das war eine böse Geschichte. Das Mädel starb dann auch, kaum ein Jahr später. Sie hat also einen Sohn hinterlassen? Das hatte ich ganz vergessen. Was ist er für ein Bursch? Wenn er seiner Mutter ähnlich sieht, muß er ein hübscher Karl sein."

"Er ist sehr hübsch", bestätigte Lord Henry.

"Ich hoffe, er wird in gute Hände kommen", fuhr der alte Mann fort. "Er muß einen Haufen Geld zu erwarten haben, wenn Kelso seine Pflicht gegen ihn getan hat. Seine Mutter hat übrigens auch Geld gehabt, der ganze Selbysche Besitz fiel ihr durch ihren Großvater zu. Ihr Großvater haßte Kelso. Er hielt ihn für einen niederträchtigen Hund. Was er auch war. Er kam einmal nach Madrid, als ich dort war. Wahrhaftig, ich hab' mich seiner schämen müssen. Die Königin pflegte mich nach dem englischen Aristokraten zu fragen, der immer mit den Kutschern über die Taxe stritt. Es wurde eine ganze Affäre daraus gemacht. Ich wagte einen Monat lang nicht, bei Hof zu erscheinen. Ich hoffe nur, er hat seinen Enkel besser behandelt als die Kutscher."

"Darüber weiß ich nichts", erwiderte Lord Henry. "Ich vermute aber, daß es dem jungen Mann an nichts fehlen wird. Er ist noch nicht volljährig. Selby gehört ihm, das weiß ich. Er hat es mir selbst gesagt. Und... seine Mutter war also sehr schön?"

"Margaret Devereux war eines der schönsten Geschöpfe, das ich je gesehen habe, Henry. Weshalb in aller Welt sie tat, was sie getan hatte, habe ich nie verstehen können. Sie hätte jeden Mann, den sie hätte haben wollen, heiraten können. Carlington war wahnsinnig verliebt in sie. Aber sie war romantisch. Alle Frauen dieser Familie waren es. Die Männer waren eine traurige Gesellschaft, aber, bei Gott, die Weiber waren wunderbar. Carlington lag auf den Knien vor ihr. Er hat es mir selber gesagt. Sie lachte ihn aus und doch gab es damals in London kein einziges Mädel, das nicht hinter ihm her gewesen wäre. Übrigens, da wir gerade von Mesalliancen reden: was ist das für ein Unfug, den mir dein Vater erzählt? Dartmoor will eine Amerikanerin heiraten? Sind die englischen Mädchen nicht gut genug für ihn?"

"Es ist gerade Mode, Amerikanerinnen zu heiraten, Onkel George."

"Ich halte englische Weiber gegen die ganze Welt", sagte Lord Fermor und schlug mit der Faust auf den Tisch.

"Die Wetten stehen zugunsten der Amerikanerinnen!"

"Sie halten nichts aus, hat man mir gesagt", murmelte der Onkel.

"Ein langes Rennen pumpt sie aus, aber für eine Steeplechase sind sie glänzend. Sie nehmen die Hindernisse im Fluge. Ich glaube aber nicht, daß Dartmoor Aussichten hat."

"Wie ist die Familie?" raunzte der alte Herr. "Hat sie überhaupt eine?"

Lord Henry schüttelte den Kopf. "Amerikanische Mädchen sind klug genug, ihre Eltern zu verbergen, wie englische Frauen ihre Vergangenheit", antwortete er und stand auf, um wegzugehen.

"Ich vermute also, es sind Schweineschlächter."

"Das hoffe ich, Onkel George, in Dartmoors Interesse. Man hat mir erzählt, Schweineschlachten soll der einträglichste Beruf in Amerika sein nach der Politik."

"Ist sie hübsch?"

"Sie benimmt sich so, als ob sie es wäre. Das tun die meisten Amerikanerinnen und darin liegt das Geheimnis ihres Reizes."

"Warum können diese amerikanischen Weiber nicht in ihrem Lande bleiben? Sie behaupten doch immer, es sei das Paradies für die Frauen!"

"Das ist es auch und darum wollen sie auch, genau wie einst Eva, möglichst schnell daraus fort!" sagte Lord Henry. "Adieu, Onkel George. Ich komme zu spät zum Lunch, wenn ich noch länger bleibe. Ich danke dir für die Auskunft, um die ich dich gebeten habe. Ich habe immer das Bedürfnis, so viel wie möglich von meinen neuen Freunden zu hören und so wenig wie möglich von meinen alten."

"Wohin gehst du zum Lunch?"

"Zu Tante Agatha. Ich habe mich mit Mr. Gray dort angesagt. Er ist ihr neuester Schützling."

"Hm, sag' Tante Agatha, Henry, sie soll mich nie mehr mit ihrem Wohltätigkeitskram belästigen. Ich habe ihn über. Weiß Gott, das gute Frauenzimmer glaubt, ich habe nichts zu tun als Schecks für ihre albernen Liebhabereien auszuschreiben."

"Abgemacht, Onkel George, ich werde es ihr sagen, aber es wird gar nichts nützen. Leute, die sich mit Wohltätigkeit abgeben, verlieren alle Menschlichkeit; das ist ihre hervorstechende Eigenschaft."

Der alte Herr nickte zustimmend und klingelte dem Diener. Lord Henry schritt durch die niedrigen Arkaden nach der Burlington-Straße und lenkte dann seine Schritte in die Richtung von Berkeley Square.

Das also war die Geschichte von Dorian Grays Herkunft. So kunstlos sie ihm auch erzählt worden war, sie hatte ihn doch durch seltsame, geradezu moderne Romantik erschüttert.

Eine schöne Frau, die alles für eine wahnsinnige Leidenschaft hingab. Ein paar glückliche Wochen, jäh abgebrochen durch ein scheußliches, heimtückisches Verbrechen. Monate stummen Todeskampfes, und dann ein Kind unter Schmerzen geboren. Die Mutter vom Tod ereilt, der Knabe der Einsamkeit und der Tyrannei eines alten, lieblosen Mannes ausgeliefert. Ja, das war schon ein recht interessanter Hintergrund. Er gab dem jungen Menschen Relief, machte ihn gewissermaßen noch vollkommener. Hinter jedem erlesenen Ding, das lebt, lauert eine geheime Tragik. Welten müssen kreisen, damit die kleinste Blume erblühen kann... Wie entzückend war doch Dorian am Abend beim Diner gewesen, als er mit glänzenden Augen, die Lippen in scheuem Vergnügen halboffen, im Klub ihm gegenüber gesessen und die roten Lampenschirme das erwachende Wunder seines Gesichts in einen vollen reichen Ton getaucht hatten. Mit ihm sprechen, das war wie auf einer wundervollen Geige spielen. Er gab jedem Druck, jeder leisen Berührung des Bogens nach. Es lag ein unerhört aufregender Reiz darin, auf jemanden einzuwirken. Keine andere Tätigkeit kam dem gleich. Seine eigene Seele in eine schöne Form zu gießen und sie darin einen Augenblick lang verweilen zu lassen; seine eigenen Gedanken im Echo zurückzubekommen, bereichert durch die Töne der Leidenschaft und Jugend; sein eigenes Temperament in ein anderes zu versenken, als wäre es die allerfeinste Flüssigkeit, ein seltener Wohlgeruch: darin lag eine wahre Lust, vielleicht die allerbefriedigendste Lust, die uns übriggeblieben ist in einer so begrenzten und gewöhnlichen Zeit wie die unsere, in einer Zeit, die so materiell in ihren Genüssen ist und so gewöhnlich in ihren Zielen... Ein wundervoller Typus war dieser junge Mensch, den er durch einen so sonderbaren Zufall in Basils Atelier kennengelernt hatte. Anmut war sein Besitz, die holde Reinheit der Jugend und eine Schönheit, wie man sie sonst nur bei alten griechischen Statuen findet. Nichts gab es, was man nicht aus ihm machen konnte. Man konnte einen Titanen oder ein Spielzeug aus ihm machen. Wie schade, daß eine solche Schönheit dahinschwinden mußte... Und Basil? Wie interessant war auch er für den Psychologen! Ein ganz neuer Kunststil, eine frische Art, das Leben anzuschauen, waren ihm auf das seltsamste durch die bloße Gegenwart eines Menschen geschenkt worden, der von alledem nichts wußte. Er war für ihn der schweigsame Geist, der am Waldesdunkel wohnt und unsichtbar ins offene Feld hinaustritt, dann aber plötzlich, einer Dryade gleich, leibhaftig erscheint, weil in der Seele, die nach ihm begehrt hat, jene wundersame Vision erweckt worden ist, durch die allein außerordentliche Dinge offenbar werden; dann werden die bloßen Formen und Abbilder der Dinge gleichsam edler und bekommen eine Art von symbolischem Wert, als wären sie selbst nur Abbilder anderer, vollkommener Formen, deren Schatten sie verwirklicht haben. Wie merkwürdig das alles doch ward ... Er erinnerte sich, daß er in der Geschichte so etwas gelesen hatte. War es nicht Plato, dieser Künstler der Gedanken, der als erster eine solche Analyse gegeben hat? War es nicht Buonarotti, der so etwas in farbigem Marmor einer Sonettefolge gemeißelt hatte? In unserem Jahrhundert aber war es etwas Seltenes... Ja, er wollte versuchen, für Dorian Gray das zu sein, was dieser Jüngling, ohne es zu wissen, für den Maler war, der das prachtvolle Bildnis geschaffen hatte. Er wollte versuchen, ihn zu beherrschen, hatte das in der Tat schon beinahe fertig gebracht. Er wollte dieses Wunder mit seinem eigenen Geist erfüllen. Es war etwas Fesselndes in diesem Kinde der Liebe und des Todes.

Plötzlich blieb er stehen und sah zu den Häusern hinauf. Er merkte, daß er an dem Haus seiner Tante bereits vorbeigegangen war und ging lächelnd zurück. Als er in die etwas düstere Halle trat, sagte ihm der Diener, die Herrschaften seien schon beim Lunch. Er gab einem Lakai Hut und Stock und ging in die Speisehalle.

"Spät wie immer, Henry", rief seine Tante ihm zunickend.

Er erfand gewandt eine Entschuldigung, setzte sich auf den leeren Platz neben sie und sah sich um, wer noch da war. Dorian begrüßte ihn scheu am Ende des Tisches und seine Wangen röteten sich leicht vor Freude. Gegenüber saß die Herzogin von Harley, eine Dame von bewunderungswürdig guter Konstitution und gutem Charakter, die jeder gern mochte und deren Körper jenen imponierenden architektonischen Aufhau hatte, der von zeitgenössischen Geschichtsschreibern bei Frauen, die nicht gerade Herzoginnen sind, als Leibesfülle bezeichnet wird. Zu ihrer Rechten saß Sir Thomas Burdon, ein radikaler Abgeordneter, der im öffentlichen Leben seinem Parteichef Gefolge leistete, im Privaten aber den besten Küchenchefs, der mit den Torries dinierte und mit den Liberalen stimmte, damit eine weise und wohlbekannte Lebensregel befolgend. Den Platz an ihrer Linken nahm Mister Erskine of Treadly ein, ein alter, feiner und gebildeter Herr, der allerdings die schlechte Gewohnheit hatte, immer zu schweigen, da er, wie einmal Lady Agatha erklärte, schon vor seinem dreißigsten Lebensjahr alles gesagt hatte, was er überhaupt zu sagen hatte. Seine eigene Nachbarin war Mrs. Vandeleur, eine der ältesten Freundinnen seiner Tante, eine vollendete Heilige unter den Frauen, aber so entsetzlich schlampig, daß man bei ihrem Anblick immer an ein schlecht gebundenes Gebetbuch denken mußte. An ihrer anderen Seite saß zu ihrem Glück Lord Vaudel, eine sehr mittelmäßige Intelligenz in mittleren Jahren, so kahl wie die Antwort eines Ministers auf eine Interpellation im Unterhaus. Mit ihm unterhielt sie sich in jener intensiv ernsten Weise, die, wie er selbst einmal bemerkte, der einzige unverzeihliche Irrtum ist, in den alle wirklich guten Menschen verfallen und dem keiner von ihnen völlig entgeht.

"Wir sprechen gerade über Dartmoor, Henry", rief die Herzogin, ihm vergnügt über den Tisch zunickend. "Glauben Sie wirklich, daß er die berückende junge Dame heiratet?"

"Ich glaube, sie hat sich fest vorgenommen, ihm einen Antrag zu machen, Herzogin."

"Wie schrecklich", rief Lady Agatha aus. "Dann sollte wirklich jemand dazwischen treten."

"Ich weiß aus einer ganz ausgezeichneten Quelle, daß ihr Vater ein Schnittwarengeschäft in Amerika hat", sagte Sir Thomas Burdon mit einer überlegenen Gebärde.

"Mein Onkel riet auf eine Schweineschlächterei, Sir Thomas."

"Schnittwaren? Was sind amerikanische Schnittwaren?" fragte die Herzogin, ihre großen Hände verwundert erhebend und jede Silbe betonend.

"Amerikanische Romane", antwortete Lord Henry.

Die Herzogin machte ein verlegenes Gesicht.

"Beachten Sie ihn gar nicht, meine Liebe", flüsterte ihr Lady Agatha zu. "Er meint nie, was er sagt."

"Als Amerika entdeckt wurde", sagte der radikale Abgeordnete und begann, eine Reihe langweiliger Tatsachen mitzuteilen. Wie alle Menschen, die ein Thema erschöpfen wollen, erschöpfte er seine Zuhörer. Die Herzogin seufzte und machte von ihrem Vorrecht, zu unterbrechen, Gebrauch.

"Ich wünschte zu Gott, es wäre überhaupt nie entdeckt worden", rief sie aus. "Unsere Töchter haben heutzutage wirklich gar keine Chance mehr, und das ist sehr ungerecht."

"Vielleicht ist trotz allem Amerika überhaupt nie entdeckt worden", sagte Mr. Erskine. "Ich für meinen Teil würde eher sagen, man ist hinter seine Schliche gekommen."

"Oh, ich muß gestehen, ich habe Exemplare seiner Bewohnerinnen gesehen", antwortete zerstreut die Herzogin, "von denen, wie ich zugeben muß, die meisten ausgesprochen hübsch sind. Und außerdem ziehen sie sich sehr gut an, denn sie bekommen alle ihre Kleider aus Paris. Ich wollte, ich könnte mir das auch leisten."

"Man sagt: wenn gute Amerikaner sterben, fahren sie nach Paris", gluckste Sir Thomas, der einen großen Vorrat abgelegter Scherze hatte.

"In der Tat? Und wohin gehen schlechte Amerikaner, wenn sie sterben?" fragte die Herzogin.

"Die gehen nach Amerika", murmelte Lord Henry.

Sir Thomas runzelte die Stirn. "Ich fürchte, Ihr Neffe hat Vorurteile gegen dieses große Land", sagte er zu Lady Agatha. "Ich habe es ganz bereist im Salonwagen, die mir von den Direktionen zur Verfügung gestellt wurden. Die Leute sind in diesen Dingen außerordentlich entgegenkommend. Ich versichere Sie, es ist direkt bildend, dieses Land zu bereisen."

"Aber müssen wir wirklich Chikago besuchen, um unsere Bildung zu vervollständigen?" fragte Mr. Erskine kläglich. "Ich fühle mich wirklich einer solchen Reise nicht gewachsen."

Sir Thomas winkte mit der Hand ab. "Mr. Erskine of Treadley besitzt die Welt auf seinen Bücherregalen. Wir Menschen des praktischen Lebens lieben es, die Dinge zu sehen und nicht über sie zu lesen. Die Amerikaner sind ein außerordentlich interessantes Volk. Sie sind vollständig Vernunftsmenschen. Ich denke, das ist ihr hervorstechendstes Charaktermerkmal. Ja, Mr. Erskine, ein ausschließlich von der Vernunft beherrschtes Volk. Ich versichere Sie, es gibt keinen Unsinn bei den Amerikanern."

"Wie gräßlich!" rief Lord Henry aus. "Ich kann rohe Gewalt vertragen, aber rohe Vernunft ist mir zuwider. Ich finde immer, daß ihr Gebrauch unanständig ist. Vernunft ist soviel weniger Wert als Geist."

"Ich verstehe Sie nicht", sagte Sir Thomas und wurde sehr rot.

"Ich verstehe Sie, Lord Henry", murmelte Mr. Erskine lächelnd.

"Paradoxa sind ja an und für sich recht schön und gut...", nahm der Baronet wieder das Wort.

"War das ein Paradoxon?" fragte Mr. Erskine. "Ich habe es nicht dafür gehalten. Vielleicht war es doch eines; im übrigen scheint der Weg zur Wahrheit mit Paradoxa gepflastert zu sein. Um die Wirklichkeit auf die Probe zu stellen, müssen wir sie auf dem gespannten Drahtseil sehen. Erst wenn die Wahrheiten Akrobaten werden, können wir sie beurteilen."

"O Gott, o Gott", sagte Lady Agatha, "was für eine Art zu diskutieren ihr Männer doch habt! Ich verstehe kein Wort von dem, was ihr da redet. Mit dir, Henry, bin ich übrigens sehr böse. Warum versuchst du unseren lieben Mr. Dorian Gray vom East-End abzubringen? Ich versichere dich, er würde für uns dort unschätzbaren Wert haben; den Leuten würde sein Spiel ganz außerordentlich gefallen."

"Mir ist lieber, er spielt für mich", rief Lord Henry lächelnd, sah den Tisch hinunter und fing einen fröhlichen Blick Dorians als Antwort auf.

"Aber die Leute in Whitechapel sind doch so unglücklich", nahm Lady Agatha wieder auf.

"Ich kann mit allem möglichen Sympathie haben", sagte Lord Henry, die Achseln zuckend. "Außer mit Leiden. Damit kann ich keine Sympathie haben. Es ist zu häßlich, zu schrecklich, zu niederdrückend. In der modernen Sympathie für die Leiden liegt etwas unglaublich Krankhaftes. Man sollte lieber mit Farben, mit der Schönheit, mit der Lebensfreude sympathisieren. Je weniger man über die traurigen Seiten des Lebens spricht, um so besser."

"Und doch, das East-End ist ein sehr wichtiges Problem", bemerkte mit ernstem Kopfschütteln Sir Thomas.

"Sicher", antwortete der junge Lord. "Es ist das Problem der Sklaverei und wir versuchen es dadurch zu lösen, daß wir die Sklaven amüsieren."

Der Politiker sah ihn mit einem forschenden Blick an. "Welche Änderung schlagen Sie also vor?"

Lord Henry lachte. "Ich habe überhaupt nicht das Verlangen, in England etwas zu ändern, höchstens das Wetter. Ich begnüge mich mit rein philosophischer Betrachtung. Da aber das neunzehnte Jahrhundert durch seinen übermäßigen Verbrauch an Sympathie Bankrott gemacht hat, so möchte ich vorschlagen, daß man sich an die Wissenschaft hält, um uns wieder auf die Beine zu bringen. Der Vorteil des Gefühles liegt darin, daß es uns auf Abwege führt und der Vorteil der Wissenschaft liegt darin, daß sie mit Gefühlen nichts zu tun hat."

"Aber auf uns liegen so schwere Verantwortlichkeiten", warf Mrs. Vandeleur s nüchtern ein.

"Entsetzlich schwere", stimmte Lady Agatha ein.

Lord Henry sah zu Mr. Erskine hinüber. "Die Menschheit nimmt sich viel zu ernst, das ist die Todsünde der Welt. Wenn die Höhlenmenschen schon hätten lachen können, wäre die Weltgeschichte anders ausgefallen."

"Ihre Worte richten mich auf", trillerte die Herzogin. "Ich habe bisher immer ein starkes Schuldgefühl gehabt, wenn ich Ihre liebe Tante besucht habe. Ich nehme nämlich nicht das geringste Interesse an dem East-End. In Zukunft werde ich ihr ins Gesicht sehen können, ohne zu erröten."

"Erröten steht den Damen sehr gut", bemerkte Lord Henry.

"Nur wenn man jung ist", antwortete sie. "Wenn eine alte Frau wie ich errötet, dann ist es ein sehr schlechtes Zeichen. Ach, Lord Henry, ich wünschte, Sie könnten mir sagen, wie man wieder jung wird."

Er dachte einen Augenblick nach. "Können Sie sich", fragte er dann, sie über den Tisch fest ansehend, "irgendeines Irrtums entsinnen, den Sie in der Jugend begangen haben?"

"Leider einer ganzen Menge!" rief sie aus.

"Dann begehen Sie sie wieder", entgegnete er ernst. "Um seine Jugend zurückzubekommen, braucht man nur seine Jugendeseleien zu wiederholen."

"Eine entzückende Theorie! Ich muß sie ausprobieren."

"Eine gefährliche Theorie", sagte Sir Thomas, seine dünnen Lippen zusammenpressend.

Lady Agatha schüttelte den Kopf, aber sie mußte doch lachen. Mr. Erskine hörte still zu.

"Ja", fuhr Henry fort. "Das ist eines der großen Geheimnisse des Lebens. Heutzutage gehen die meisten Leute an chronischem ‘gesundem Menschenverstand’ zugrunde und erst, wenn es zu spät ist, entdecken sie, daß die einzigen Dinge, die man niemals bedauert, seine Fehler sind."

Nun lachte der ganze Tisch.

Er spielte mit seinem Einfall und wurde übermütig; er warf ihn in die Luft und wandelte ihn ab; ließ ihn entwischen und fing ihn wieder auf; ließ ihn phantastisch glitzern und gab ihm Paradoxa als Flügel.

Es war eine ganz außerordentliche Improvisation. Er fühlte die Augen Dorian Grays auf sich gerichtet und das Bewußtsein, daß unter seinen Zuhörern einer war, den er zu fesseln wünschte, schien seinem Witz Schärfe und seiner Einbildungskraft Farbe zu geben. Er war sprühend, phantastisch, außer Rand und Band. Er bezauberte seine Zuhörer, zwang sie, aus sich heraus zu gehen, und lachend folgten sie der Pfeife des Rattenfängers. Dorian Gray wandte seinen Blick nicht von ihm und saß wie gebannt, während ein Lächeln auf seinen Lippen das andere ablöste, das Staunen in seinen dunklen Augen immer tiefer wurde.

Schließlich betrat im Gewande der Gegenwart die Wirklichkeit das Zimmer in der Gestalt eines Lakaien, der der Herzogin meldete, daß ihr Wagen vorgefahren sei. Sie rang die Hände in komischer Verzweiflung. "Wie unangenehm!" rief sie Aus. "Ich muß fort. Ich muß meinen Mann im Klub abholen und mit ihm zu irgendeiner albernen Sitzung bei Willis fahren, wo er präsidieren soll. Wenn ich zu spät komme, ist er sicher wütend und in dem Hut, den ich aufhabe, könnte ich eine Szene nicht ertragen, er ist zu zart dazu, ein rauhes Wort würde ihn ruinieren. Nein, liebe Agatha, ich muß gehen. Adieu, Lord Henry, Sie sind ein ganz entzückender Mensch, allerdings fürchterlich demoralisierend! Ich weiß wirklich nicht, was ich zu Ihren Ansichten sagen soll. Sie müssen an einem der nächsten Abende mit uns speisen. Dienstag? Sind Sie Dienstag frei?"

"Für Sie würde ich jede andere Verabredung aufgeben, Herzogin", sagte Lord Henry sich verbeugend.

"Das ist sehr nett und sehr unrecht von Ihnen! Vergessen Sie also nicht, zu kommen", rief sie ihm zu und rauschte aus dem Zimmer, von Lady Agatha und den übrigen Damen begleitet.

Als Lord Henry sich wieder gesetzt hatte, ging Mr. Erskine zu ihm hinüber, zog seinen Stuhl dicht an ihn heran und legte die Hand auf seinen Arm.

"Sie reden wie ein Buch", sagte er, "warum schreiben Sie keines?"

"Mr. Erskine, ich lese viel zu gern Bücher, als daß ich Lust hätte, eins zu schreiben. Gewiß möchte ich manchmal einen Roman schreiben, einen Roman, der so entzückend wäre wie ein persischer Teppich und ebenso unwirklich, aber in England gibt es ja kein lesendes Publikum außer für Zeitungen, Fibeln und Konversationslexika. Von allen Völkern der Welt haben die Engländer am wenigsten Sinn für die Schönheit der Literatur."

"Ich fürchte, da haben Sie recht", antwortete Mr. Erskine. "Ich selbst habe in früheren Jahren einmal literarischen Ehrgeiz gehabt, aber ich habe ihn längst aufgegeben. Und nun, mein lieber junger Freund, wenn Sie mir erlauben wollen, Sie so zu nennen, darf ich an Sie die Frage richten, ob Sie wirklich all das glauben, was Sie uns bei Tisch gesagt haben?"

"Ich habe ganz vergessen, was ich gesagt habe", antwortete Lord Henry lächelnd. "War es sehr arg?"

"In der Tat, sehr arg. Ich glaube wirklich, daß Sie ein außerordentlich gefährlicher Mensch sind, und wenn unserer guten Herzogin einmal ein Unglück zustößt, so werden wir alle Sie in erster Linie dafür verantwortlich machen. Aber ich würde mit Ihnen gern einmal ein langes Gespräch über das Leben haben. Meine eigene Generation ist zu langweilig. Wenn Sie einmal londonmüde sind, kommen Sie doch nach Treadley und setzen Sie mir bei einem wunderbaren Burgunder, den zu besitzen ich glücklich genug bin, Ihre Philosophie der Genüsse auseinander."

"Ich werde mich sehr freuen. Eine Einladung nach Treadley ist eine große Gunst. Es hat einen vollkommenen Wirt und eine vollkommene Bibliothek."

"Sie werden seine Vorzüge vervollständigen", antwortete der alte Herr mit einer höflichen Verbeugung. "Jetzt muß ich aber Ihrer ausgezeichneten Tante Adieu sagen. Ich bin im Athenäum fällig, es ist die Stunde, wo wir dort schlafen."

"Sie alle, Mr. Erskine?"

"Vierzig in vierzig Fauteuils. Wir üben uns für eine künftige englische Akademie."

Lord Henry stand auf. "Da geh' ich doch lieber in den Park!" rief er lachend.

Als er durch die Tür schritt, berührte ihn Dorian Gray am Arm. "Erlauben Sie mir, mitzukommen?" flüsterte er.

"Ich dachte, Sie hätten Basil Hallward versprochen, ihn zu besuchen", antwortete Lord Henry.

"Ich möchte lieber mit Ihnen kommen. Ja, wirklich, ich fühle, ich muß mit Ihnen kommen. Bitte, lassen Sie mich mitgehen und versprechen Sie mir, die ganze Zeit mit mir zu reden. Niemand kann so wunderbar sprechen wie Sie."

Lord Henry lächelte. "Ich denke, ich habe für heute genug geredet. Alles, was ich jetzt möchte, ist, Leben sehen. Sie können mitkommen und es mitansehen, wenn Sie wollen."

 

 

Viertes Kapitel

Eines Nachmittags lag Dorian Gray in einem bequemen Sessel des kleinen Bibliothekzimmers in Lord Henrys Hause in Mayfair. Es war in seiner Art ein sehr hübscher Raum, hoch hinauf in olivfarbigem Eichenholz getäfelt, mit einem cremefarbigen Fries und Stuckreliefs auf dem Plafond und mit einem ziegelfarbigen Teppich, auf dem persische Brücken mit langen Seidenfransen herumlagen. Auf einem Tischchen aus Atlasholz stand eine Figur von Clodion und daneben lag eine Ausgabe der Cent Nouvelles, von Clovis Eve, für Margarete von Valois eingebunden und mit jenen goldenen Gänseblümchen geziert, die die Königin als ihr Wappenzeichen gewählt hatte. Auf der Kaminplatte standen einige große, blaue, chinesische Töpfe, in denen Papageien-Tulpen leuchteten, und durch die kleinen, in Blei gefaßten Felder der Fenster drang das aprikosenfarbene Licht eines Londoner Sommertages.

Lord Henry war noch nicht nach Hause gekommen. Er kam prinzipiell zu spät, da sein Grundsatz war, daß Pünktlichkeit einem die Zeit stehle. Der junge Mann sah etwas gelangweilt aus, als er mit nervösen Fingern in einer sorgfältig illustrierten Ausgabe von Manon Lescaut blätterte, die er in einem der Bücherständer gefunden hatte. Das abgemessene, gleichförmige Ticken einer Louis-XIV.-Uhr machte ihn unruhig. Ein- oder zweimal kam ihm die Idee, wegzugehen.

Endlich hörte er einen Schritt draußen und die Tür öffnete sich. "Wie spät Sie kommen, Henry!" flüsterte er.

"Leider ist es nicht Henry, Mr. Gray", antwortete eine schrille Stimme. Er sah sich um und sprang rasch auf die Füße.

"Ich bitte um Entschuldigung, ich..."

"Sie dachten, es sei mein Mann, es ist aber nur seine Frau. Ich muß mich schon selbst vorstellen. Ich erkenne Sie nach Ihren Photographien. Ich glaube, mein Mann besitzt siebzehn."

"Nicht siebzehn, Lady Henry."

"Also dann achtzehn... übrigens habe ich Sie auch an einem der letzten Abende mit ihm zusammen in der Oper gesehen." Während sie sprach, lachte sie nervös und beobachtete ihn mit ihren verschwommenen Vergißmeinnichtaugen. Sie war eine sonderbare Frau, deren Kleidung immer so aussah, als wäre sie in einem Wutanfall entworfen und während eines Gewittersturmes angezogen worden. Sie war in der Regel in irgend jemand verliebt, und da ihre Leidenschaft nie erwidert wurde, hatte sie sich ihre Illusionen bewahrt. Sie versuchte immer, sich ein pittoreskes Aussehen zu geben, erreichte aber nur ein unordentliches. Sie hieß Viktoria und hatte eine krankhafte Neigung, zur Kirche zu gehen.

"Das war im ,Lohengrin', vermute ich, Lady Henry."

"Ja, es war im entzückenden ,Lohengrin'. Ich liebe Wagners Musik mehr als jede andere. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß die anderen Leute hören, was man sagt. Das ist ein unschätzbarer Vorteil. Meinen Sie nicht auch, Mr. Gray?"

Von ihren dünne Lippen kam wieder das abgebrochene nervöse Lachen und ihre Finger begannen mit einem langen Papiermesser aus Schildpatt zu spielen.

Dorian schüttelte den Kopf. "Ich bedaure, Lady Henry, das ist nicht meine Meinung. Ich spreche nie, während man spielt - wenigstens nicht bei guter Musik. Wenn man schlechte Musik hört, ist man allerdings verpflichtet, sie durch ein Gespräch zu übertönen."

"Das ist einer von Henrys Gedanken, nicht wahr, Mr. Gray? Ich bekomme Henrys Ansichten immer von seinen Freunden zu hören. Das ist die einzige Art, wie ich sie überhaupt höre. Aber Sie müssen nicht glauben, daß ich gute Musik nicht auch liebe. Ich vergöttere sie, aber ich fürchte mich vor ihr, sie macht mich zu romantisch. Ich habe Klavierspieler einfach angebetet, manchmal zwei auf einmal, versichert Henry. Ich weiß nicht, warum sie so anziehend auf mich wirken: vielleicht kommt es daher, daß sie Ausländer sind. Das sind sie doch alle, nicht wahr? Selbst die, die in England geboren sind, werden nach einiger Zeit Ausländer, nicht wahr? Das ist sehr geschickt von ihnen und eine Verbeugung vor der Kunst. Es macht sie ganz kosmopolitisch, nicht wahr? Sie waren nie auf einer meiner Gesellschaften, nicht wahr, Mr. Gray? Sie müssen einmal kommen. Ich kann mir zwar keine Orchideen leisten, aber ich scheue keine Ausgabe, um Ausländer bei mir zu sehen. Sie geben den Räumen ein so malerisches Aussehen. . . Aber da ist Henry. Henry, ich habe dich gesucht, um dich etwas zu fragen, ich habe ganz vergessen, was es war. . ., und Mr. Gray hier getroffen. Wir haben so nett über Musik geplaudert. Unsere Ansichten darüber sind ganz die gleichen. Nein; ich glaube, unsere Ansichten sind ganz die entgegengesetzten, aber er war entzückend. Ich freue mich sehr, ihn getroffen zu haben."

"Das ist ja reizend, meine Liebe, ganz reizend", sagte Lord Henry, seine dunklen, geschwungenen Augenbrauen hebend und beide mit vergnügtem Lächeln ansehend. "Es tut mir leid, Dorian, daß ich mich verspätet habe. Ich war in der Wardour-Straße, um mir einen alten Brokat anzusehen und mußte stundenlang darum handeln. Die Leute kennen heutzutage den Preis von jeder Sache und den Wert von keiner einzigen!"

"Ich muß leider gehen!" rief Lady Henry aus, ein verlegenes Schweigen mit ihrem albernen, jähen Lachen unterbrechend. "Ich habe versprochen, mit der Herzogin auszufahren. Adieu, Mr. Gray. Adieu, Henry. Du speist wohl nicht zu Hause? Ich auch nicht, vielleicht sehen wir uns bei Lady Thornbury."

"Ich vermute, meine Liebe", sagte Lord Henry und schloß die Tür hinter ihr, als sie wie ein Paradiesvogel, der die ganze Nacht im Regen zugebracht hat, hinausgeflattert war, einen feinen Duft von Jasminblüten zurücklassend. Dann zündete er sich eine Zigarette an und warf sich auf das Sofa.

"Heiraten Sie nie eine Frau mit strohgelbem Haar!", sagte er nach einigen Zügen.

"Warum nicht, Henry?"

"Weil sie zu sentimental sind."

"Ich habe aber sentimentale Menschen gern."

"Heiraten Sie überhaupt nie! Männer heiraten, weil sie müde, Frauen, weil sie neugierig sind: beide sind nachher enttäuscht."

"Ich glaube nicht, daß ich heiraten werde, Henry, ich bin zu verliebt dazu. Das ist natürlich einer Ihrer Aphorismen.

Ich Übertrage ihn in die Wirklichkeit, wie alles, was Sie sagen."

"In wen sind Sie verliebt?" fragte Lord Henry.

"In eine Schauspielerin", sagte Dorian Gray errötend.

Lord Henry zuckte die Achseln. "Ein recht gewöhnlicher Anfang."

"Sie würden das nicht sagen, wenn Sie sie gesehen hätten, Henry!"

"Wer ist's denn?"

"Sie heißt Sibyl Vane."

"Nie von ihr gehört."

"Niemand hat von ihr gehört. Später einmal werden die Menschen ihren Namen kennen! Sie ist ein Genie."

"Mein lieber Junge, es gibt keine Frau, die ein Genie ist. Die Frauen sind ein dekoratives Geschlecht. Sie haben nie etwas zu sagen, aber sie sagen es entzückend. Die Frauen bedeuten den Sieg der Materie über den Geist, gerade so wie die Männer den Sieg des Geistes über die Moral bedeuten."

"Henry, wie können Sie so etwas sagen?!

"Mein lieber Dorian, es ist Wort für Wort wahr. Ich beschäftige mich jetzt mit der Analyse der Frauen, muß es also wissen. Das Thema ist nicht so schwer verständlich, wie ich anfangs geglaubt habe. Ich finde, daß es schließlich nur zwei Sorten von Frauen gibt, die häßlichen und die geschminkten. Die häßlichen sind sehr nützlich. Wenn Sie als ein respektabler junger Mann gelten wollen, brauchen Sie nur eine von ihnen zu Tisch zu führen. Die anderen sind einfach entzückend. Allerdings begehen sie meistens einen Fehler: sie schminken sich, um jung auszusehen. Unsere Großmütter schminkten sich, um dann geistreiche Dinge zu sagen. Rouge und Esprit gehörten zusammen. Das ist jetzt vorbei. Solange eine Frau es erreicht, zehn Jahre jünger auszusehen als ihre eigene Tochter, ist sie restlos glücklich. Was aber die Konversation anbelangt, so gibt es in ganz London höchstens fünf Weiber, mit denen zu reden sich lohnt. Und zwei von diesen fünf kann man nicht in anständige Gesellschaft führen. Na, einerlei - erzählen Sie mir was von Ihrem Genie! Wie lange kennen Sie sie schon?"

"Henry, Ihre Ansichten erschrecken mich!"

"Lassen Sie das nur sein. Wie lange kennen Sie sie also?"

"Ungefähr drei Wochen."

"Und wo haben Sie sie aufgestöbert?"

"Ich will es Ihnen erzählen, Henry, aber Sie müssen nicht in einem häßlichen Ton darüber reden... Ich hätte übrigens das ganze Erlebnis nicht gehabt, wenn ich Sie nicht getroffen hätte. Sie haben mich mit einer wilden Begierde, alles im Leben kennenzulernen, erfüllt. Noch viele Tage nach unserer ersten Begegnung schien in meinen Adern irgend etwas in Aufruhr zu sein. Wenn ich im Park herumsaß oder die Piccadilly hinunterschlenderte, pflegte ich jedem einzelnen Menschen der an mir vorbeiging, ins Gesicht zu sehen und mit einer tollen Neugierde darüber nachzugrübeln, was für eine Art Leben er wohl führe. Einige von ihnen fesselten mich, andere machten mich schaudern. Es lag etwas wie ein erlesenes Gift in der Luft, ich sehnte mich nach Erlebnissen. .. Eines Abends gegen sieben Uhr nun entschloß ich mich, auf die Suche nach einem Abenteuer zu gehen. Ich hatte das Gefühl, daß dies ganze, schreckliche London, in dem wir leben, mit seinen Hunderttausenden von Menschen, mit seinen schmutzigen Sünden und seinen glänzenden Sünden, wie Sie einmal gesagt haben, etwas für mich in Bereitschaft halten müsse. Ich dachte an tausenderlei Dinge. Schon die Gefahr allein erfüllte mich mit Wonne. Ich erinnerte mich an das, was Sie mir an dem wunderbaren Abend, als wir das erste mal zusammen speisten, gesagt haben, daß nämlich das Suchen nach Schönheit das eigentliche Geheimnis des Lebens sei. Ich weiß nicht, was ich erwartete, aber ich machte mich einfach auf, wanderte nach dem Osten und verlor bald meinen Weg in einem Wirrwarr von ruhigen Straßen und schwarzen, kahlen Plätzen. Gegen halb acht Uhr ging ich an einem lächerlich kleinen Theater vorbei, vor dem große, flackernde Gasflammen brannten und grelle Zettel hingen. Ein gräßlicher Jude in dem erstaunlichsten Rock, den ich je in meinem Leben gesehen habe, stand an der Tür und rauchte eine schlechte Zigarette. Er hatte fettige Locken und ein riesiger Diamant glitzerte mitten auf seinem schmutzigen Hemde. ‘Eine Loge, Herr Graf?' fragte er mich und nahm mit pompöser Unterwürfigkeit den Hut ab. Er hatte etwas, Henry, das mich amüsierte. Er war grotesk scheußlich. Sie werden mich auslachen, ich weiß, aber ich ging wirklich hinein und zahlte eine ganze Guinea für die Proszeniumsloge. Ich kann mir auch heute noch nicht erklären, warum ich das getan habe, und doch, lieber Henry, wäre ich nicht hineingegangen, hätte ich den größten Roman meines Lebens versäumt! . . . Jetzt lachen Sie! Das ist abscheulich von Ihnen."

"Ich lache nicht, Dorian, wenigstens nicht über Sie. Aber Sie sollten doch nicht sagen, daß das der größte Roman Ihres Lebens ist. Sagen Sie lieber, der erste Roman Ihres Lebens. Sie werden immer geliebt werden und Sie werden die Liebe immer lieben. Die grande passion ist das Vorrecht der Leute, die nichts zu tun haben. Sie ist das einzige, wozu die müßigen Stände gut sind. Haben Sie keine Angst, noch viele erlesene Dinge warten Ihrer! Das ist erst der Anfang."

"Glauben Sie, daß meine Natur so hohl ist?" rief Dorian gekränkt.

"Nein, ich glaube, daß Ihre Natur so tief ist."

"Wie meinen Sie das?"

"Mein lieber Junge, die Leute, die nur einmal in ihrem Leben lieben, das sind in Wirklichkeit die leeren Menschen. Was sie Treue nennen, nenne ich entweder Stumpfheit der Gewohnheit oder Mangel an Einbildungskraft. Treue ist im Gefühlsleben, was Konsequenz im Geistesleben ist: einfach ein Zugeständnis der Schwäche. Treue. . . Ich muß den Begriff einmal gelegentlich analysieren. Freude am Besitz ist darin enthalten. Es gibt eine Menge Dinge, die wir wegwerfen würden, wenn wir uns nicht fürchten müßten, daß ein anderer sie aufliest. Aber ich möchte Sie nicht unterbrechen, erzählen Sie weiter."

"Ich saß also in einer schrecklichen, kleinen Loge und ein ordinärer Vorhang starrte mir entgegen. Ich schaute hinter der Gardine hervor und sah mir das Haus an. Es war ein schäbiges Ding, ganz voll Amoretten und Füllhörnern, so wie ein billiger Hochzeitskuchen. Galerie und Parterre waren leidlich voll, aber die zwei Reihen elender Fauteuils vorne waren ganz leer und auf dem Platze, der vermutlich der erste Rang genannt wird, war kaum ein Mensch. Weiber mit Orangen und Ingwerbier gingen herum und eine unglaubliche Menge von Nüssen wurde verzehrt."

"Es muß also ganz so gewesen sein, wie in den Glanztagen des britischen Dramas."

"Ganz so, vermute ich, und sehr deprimierend. Ich begann, mich zu fragen, was ich eigentlich hier wollte, als mein Blick auf den Theaterzettel fiel. Was glauben Sie, Henry, welches Stück gespielt wurde?"

"Ich vermute, der ,Idiotenknabe' oder ,Blöde, aber unschuldig'. Unsere Väter liebten diese Art Stücke, glaube ich. Je länger ich lebe, Dorian, desto stärker fühle ich, daß alles, was für unsere Väter gut genug war, für uns nicht mehr gut genug ist. In der Kunst, wie in der Politik, les grand-pères ont toujours tort'."

"Das Stück war gut genug für uns, Henry. Es war ,Romeo und Julia'. Ich muß gestehen, daß mich die Aussicht, Shakespeare in einem so elenden Loch zu sehen, einigermaßen beunruhigte. Trotzdem interessierte mich die Sache. Jedenfalls entschloß ich mich, den ersten Akt abzuwarten. Zunächst begann ein schreckliches Orchester zu spielen, das ein junger Hebräer, der an einem verstimmten Klavier saß, dirigierte und ,das mich beinahe doch noch hinausgetrieben hätte. Schließlich ging aber der Vorhang in die Höhe und das Stück fing an. Romeo war ein feister, älterer Herr mit dick aufgemalten Augenbrauen, heiserer Tragödenstimme und einer Gestalt wie ein Bierfaß. Mercutio war beinahe ebenso arg. Er wurde von dem Komiker gespielt, der Mätzchen eigener Erfindung einstreute und in der freundschaftlichsten Beziehung zum Parterre stand. Sie waren beide ebenso grotesk wie die Szenerie und die sah aus, als käme sie aus einer Jahrmarktsbude. Aber Julia! Henry, stellen Sie sich ein Mädchen vor, kaum siebzehn Jahre alt, mit einem kleinen, blütengleichen Gesicht, einem schmalen griechischen Kopf und dunkelbraunen Zöpfen, mit Augen wie veilchenblaue Quellen der Leidenschaft, mit Lippen wie Rosenblätter. Sie ist das entzückendste Wesen, das ich je in meinem Leben gesehen habe. Sie haben mir einmal gesagt, daß Pathos Sie nicht ergreift, aber daß Schönheit, Schönheit an sich, Ihre Augen mit Tränen füllen kann. Ich sage Ihnen, Henry, ich konnte dieses Mädchen kaum sehen, weil ein Tränenschimmer über meinen Augen lag. Und ihre Stimme! Ich habe noch nie eine solche Stimme gehört. Zuerst war sie sehr leise in tiefen Molltönen, deren jeder einzelne sich ins Ohr zu schmeicheln schien. Dann wurde sie etwas lauter und sie klang wie eine Flöte oder ein fernes Horn. In der Gartenszene hatte sie jenes berückende Schluchzen, das man hört, wenn die Nachtigallen singen, bevor es Tag wird. Später gab es dann Augenblicke, wo sie die ungestüme Leidenschaft von Geigen hatte. Sie wissen, wie eine Stimme einen erschüttern kann. Ihre Stimme und die Stimme Sibyl Vanes sind zwei Erlebnisse, die ich nie vergessen werde. Wenn ich meine Augen schließe, höre ich sie und jede von beiden sagt etwas anderes. Ich weiß nicht, welcher ich folgen soll... Wie sollte ich sie nicht lieben? Henry, ich liebe sie. Sie ist mir alles im Leben. Abend für Abend gehe ich hin, um sie spielen zu sehen. An einem Abend ist sie Rosalinde und am nächsten ist sie Imogen. Ich habe sie im Düster einer italienischen Gruft sterben sehen, wie sie das Gift von den Lippen des Geliebten saugt. Ich bin ihrer Wanderung durch die Ardennenwälder gefolgt, als sie in einen hübschen Knaben mit Hose, Wams und zierlichem Barett verkleidet war. Sie war wahnsinnig und trat vor das Auge eines schuldigen Königs und gab ihm Raute zu tragen und bittere Kräuter zu kosten: Sie war unschuldig, und die schwarzen Hände der Eifersucht haben ihre Kehle, die zart ist wie ein Schilfrohr, zusammengepreßt. Ich habe sie in jedem Jahrhundert und in jedem Kleid gesehen. Gewöhnliche Frauen sagen unserer Einbildungskraft nichts. Sie sind in ihre Zeit gebannt, kein Zauber kann sie verwandeln. Man kennt ihre Neigungen ebenso schnell wie ihre Hüte. Man findet sie Überall. Es ist nichts Geheimnisvolles in ihnen. Sie reiten in der Früh in den Park und schnattern am Nachmittag beim Tee. Sie haben ihr stereotypes Lächeln und ihre eleganten Manieren, sie sind völlig durchsichtig. Aber eine Schauspielerin!! Wie anders ist eine Schauspielerin! Henry, warum haben Sie mir nicht gesagt, daß das einzige Wesen, das geliebt zu werden verdient, eine Schauspielerin ist?"

"Weil ich zu viele von ihnen geliebt habe, Dorian."

"Ja - aber sicher nur schreckliche Geschöpfe mit gefärbten Haaren und geschminkten Gesichtern."

"Schmähen Sie gefärbte Haare und geschminkte Gesichter nicht. In ihnen liegt, manchmals wenigstens, ein ganz außerordentlicher Reiz", sagte Lord Henry.

"Ich wollte jetzt, ich hätte Ihnen nie etwas von Sibyl Vane gesagt."

"Sie konnten ja gar nicht anders, Dorian. Immer, Ihr ganzes Leben lang, werden Sie mir alles, was Sie angeht, sagen."

"Ja, Henry, ich glaube, das ist wahr. Ich muß Ihnen alles sagen. Sie haben eine sonderbare Macht über mich. Wenn ich je ein Verbrechen begehen würde, käme ich zu Ihnen, es zu beichten. Sie würden mich verstehen."

"Menschen wie Sie, Dorian, die ungebrochen, wie Sonnenstrahlen durchs Leben gehen, begehen keine Verbrechen. Aber ich danke Ihnen trotzdem für das Kompliment. Und jetzt sagen Sie mir - wollen Sie so gut sein und mir die Streichhölzer her übergehen? Danke -, welches sind Ihre jetzigen Beziehungen zu Sibyl Vane?"

Dorian Gray sprang mit geröteten Wangen und brennenden Augen auf.

"Henry, Sibyl Vane ist mir heilig!"

"Nur heilige Dinge sind wert, daß man nach ihnen greift, Dorian", sagte Lord Henry in einem merkwürdig pathetischen Ton. "Warum sind Sie also böse über diese Frage? Sie wird Ihnen vermutlich ja doch eines Tages gehören. Wenn man liebt, betrügt man anfangs immer sich selbst und zum Schluß andere! Das nennt dann die Welt einen Roman. Auf jeden Fall nehme ich an: Sie haben sie doch kennen gelernt?"

"Natürlich!... Schon am ersten Abend kam der gräßliche alte Jude, als die Vorstellung aus war, in meine Loge und erbot sich, mich hinter die Kulissen zu führen und mich ihr vorzustellen. Ich war wütend darüber und sagte ihm, daß Julia seit Jahrhunderten tot sei und daß ihr Körper in einem Marmorgrabe zu Verona ruhe. Aus dem wilden Ausdruck des Erstaunens in seinem Gesicht schloß ich, daß er den Eindruck hatte, ich habe zu viel Champagner oder so etwas getrunken."

"Kein Wunder!"

"Dann fragte er mich, ob ich für irgend eine Zeitung schreibe. Ich sagte ihm, daß ich nicht einmal eine lese. Das schien ihn fürchterlich zu enttäuschen und er vertraute mir an, daß alle Theaterkritiker gegen ihn verschworen seien und daß jeder einzelne von ihnen käuflich sei!"

"Es sollte mich gar nicht wundern, wenn er damit ganz recht hätte. Nach ihrem Aussehen zu schließen, können allerdings die meisten von ihnen nicht gar so teuer sein."

"Jedenfalls schienen sie trotzdem über seine Mittel zu gehen", sagte Dorian lachend. "Als wir so weit im Gespräch waren, wurden die Lichter im Theater schon ausgelöscht und ich mußte fort. Er wollte noch, daß ich einige Zigarren probiere, die er mir sehr warm empfahl. Ich dankte. Am nächsten Abend war ich natürlich wieder dort. Als er mich sah, machte er eine tiefe Verbeugung und versicherte mir, ich sei sein hochherziger Kunstmäzen. Er ist ein sehr abstoßender Kerl, obwohl er eine außerordentliche Passion für Shakespeare hat. Er erzählte mir einmal mit stolzer Miene, daß er die fünf Bankrotte, die er bisher gemacht hat, einzig dem ,Barden' verdanke; so nannte er nämlich Shakespeare fortwährend. Er schien das für eine Auszeichnung zu halten."

"Das ist es auch, mein lieber Dorian, sogar eine große Auszeichnung! Die meisten Leute werden bankrott, weil sie zu viel in der Prosa des Lebens anlegen. Sich durch Poesie ruiniert zu haben, ist eine Ehre. Aber wann haben Sie Miß Sibyl Vane zum erstenmal gesprochen?"

"Am dritten Abend. Sie hatte die Rosalinde gespielt. Ich konnte nicht anders, ich mußte hinter die Bühne gehen. Ich hatte ihr ein paar Blumen zugeworfen und sie hatte mich angesehen; wenigstens bildete ich es mir ein. Der alte Jude war hartnäckig. Er schien fest entschlossen, mich hinter die Kulissen mitzunehmen, ich gab also nach. Eigentlich war es doch sonderbar, daß ich gar nicht den Wunsch hatte, sie kennenzulernen, nicht?"

"Nein, ich glaube das nicht."

"Warum, lieber Henry?"

"Ich werde Ihnen das ein anderesmal erklären. Jetzt möchte ich gern etwas Näheres von dem Mädchen wissen."

"Von Sibyl? Oh, sie war sehr scheu und lieb. Sie ist wie ein Kind. Ihre Augen öffneten sich ganz weit in ungeheurem Staunen, als ich ihr sagte, was ich über ihr Spiel dachte, und sie schien sich ihrer eigenen Macht gar nicht bewußt zu sein.

Ich glaube übrigens, wir waren beide etwas nervös. Der alte Jude stand grinsend an der Tür der verstaubten Garderobe und hielt uns beiden weitschweifige Reden, während wir dastanden und uns wie Kinder ansahen. Er fuhr fort, mich ,Herr Graf' zu nennen, so daß ich Sibyl versichern mußte, ich sei keiner. Sie sagte ganz einfach zu mir: ,Sie sehen auch mehr wie ein Prinz aus. Ich will Sie den Märchenprinzen nennen."

"Mein Wort, Dorian, Miß Sibyl versteht es, Komplimente zu machen."

"Sie verstehen sie nicht, Henry. Sie hielt mich für eine Person in einem Theaterstück. Sie kennt das Leben nicht. Sie wohnt bei ihrer Mutter, einer verbrauchten, müden Frau, die am ersten Abend in einer Art von hochrotem Schlafrock die Lady Capulet gespielt hatte und aussieht, als hätte sie einmal bessere Tage gesehen."

"Ich kenne diese Art, auszusehen; sie drückt mich nieder", flüsterte Lord Henry, seine Ringe betrachtend.

"Der Jude wollte mir ihre ganze Lebensgeschichte erzählen, aber ich sagte, sie habe keinerlei Interesse für mich."

"Sie haben ganz recht gehabt. Die Tragödien anderer Leute haben immer etwas unendlich Gemeines."

"Sibyl ist das einzige Wesen in der Welt, an dem mir etwas liegt. Was geht es mich an, woher sie kommt! Von ihrem kleinen Kopf bis zu ihrem kleinen Fuß ist sie ganz und gar himmlisch. Jeden Abend meines Lebens gehe ich hin, sie spielen zu sehen, und an jedem Abend ist sie wunderbarer."

"Das ist wohl auch der Grund, warum Sie jetzt nie mit mir speisen. Ich dachte mir gleich, daß Sie irgend einen merkwürdigen Roman erleben. Ich hatte also recht, aber es ist nicht ganz, was ich erwartet habe."

"Mein lieber Henry, wir sind jeden Tag entweder beim Frühstück oder beim Souper zusammen und ich war mehrere Male mit Ihnen in der Oper", sagte Dorian, verwundert seine blauen Augen aufreißend.

"Sie kommen aber immer schrecklich spät."

"Ich muß doch jeden Abend Sibyl spielen sehen, wenn auch nur einen Akt lang. Ich dürste nach ihrem Anblick, und wenn ich an die wunderbare Seele denke, die sich in dem kleinen Elfenbeinkörper verbirgt, bin ich von Ehrfurcht erfüllt."

"Wollen Sie heute abend mit mir essen, Dorian?"

Er schüttelte den Kopf. "Heute abend ist sie Imogen", antwortete er. "Und morgen abend Julia."

"Und wann ist sie Sibyl Vane?"

"Nie."

"Da wünsche ich Ihnen Glück."

"Wie schrecklich Sie sind!... Alle großen Heldinnen der Welt sind in ihr zusammengedrängt. Sie ist mehr als ein Einzelwesen. Sie lachen, aber ich sage Ihnen, daß sie ein Genie ist. Ich liebe sie, und ich will, daß sie mich liebt. Sie, der Sie alle Geheimnisse des Lebens kennen, müssen mir sagen, durch welchen Zauber ich Sibyl Vane zur Liebe zwingen kann. Ich will Romeo eifersüchtig machen. Ich will, daß alle toten Liebhaber der Welt unser Lachen hören und traurig werden sollen. Ich will, daß ein Hauch unserer Leidenschaft ihren Staub wieder belebt und ihre Asche zu Schmerzen auferweckt... O Gott, Henry, wie bete ich sie an!" Er ging, während er sprach, im Zimmer auf und ab; rote, hektische Flecken brannten auf seinen Wangen; er war furchtbar erregt.

Lord Henry betrachtete ihn mit erlesenem Genuß. Wie anders war er jetzt, als der verlegene, schüchterne Knabe, den er in Basil Hallwards Atelier kennengelernt hatte! Seine Natur hatte sich entwickelt wie eine Blume, hatte scharlachrotflammende Blüten getragen. Aus ihrem geheimen Versteck war seine Seele hervorgebrochen und die Begierde war ihr auf halbem Wege entgegengekommen.

"Und was soll jetzt geschehen?" sagte Lord Henry schließlich.

"Ich möchte, daß Sie und Basil an einem Abend mit mir kommen und sie spielen sehen. Ich habe nicht die leiseste Besorgnis über die Wirkung. Sie werden zugeben müssen, daß sie Genie hat. Dann müssen wir sie aus den Händen dieses Juden befreien. Sie ist noch drei Jahre, genauer zwei Jahre und acht Monate an ihn gebunden. Natürlich werde ich ihm etwas zahlen müssen. Wenn das alles in Ordnung ist, nehme ich ein Theater im Westen und bringe sie dort richtig heraus. Sie wird die Welt ebenso verrückt machen wie mich."

"Das wird kaum möglich sein, mein lieber Junge."

"Doch, sie wird es, denn sie hat nicht nur Kunst und vollendeten Kunstinstinkt, sie ist auch eine Persönlichkeit. Sie selbst haben mir ja oft genug gesagt, daß nur Persönlichkeiten und nie Prinzipien die Welt bewegen."

"Schön, wann wollen wir also hingehen?"

"Lassen Sie mich nachdenken. Heute ist Dienstag, wollen wir morgen festlegen? Morgen spielt sie die Julia."

"Abgemacht, also im ,Bristol' um acht Uhr, ich werde Basil mitbringen."

"Bitte, nicht um acht Uhr, Henry, um halb sieben. Wir müssen dort sein, ehe der Vorhang hochgeht. Sie müssen sie im ersten Akt bei der Begegnung mit Romeo sehen."

"Halb sieben, was für eine Tageszeit! Das wäre ungefähr ebenso geschmacklos, wie Abendbrot am Nachmittag zu essen oder einen englischen Roman zu lesen. Es muß mindestens sieben sein. Kein anständiger Mensch speist vor sieben. Sehen Sie Basil bis dahin? Oder soll ich ihm schreiben?"

"Der liebe Basil! Ich habe ihn eine ganze Woche lang nicht zu Gesicht bekommen. Das ist sehr häßlich von mir, da er mir mein Porträt in einem prachtvollen Rahmen, den er selber entwarf, geschickt hat. Obwohl ich etwas eifersüchtig auf das Bild bin, da es um einen ganzen Monat jünger ist als ich, muß ich doch zugeben, daß es mich entzückt. Ich glaube, Sie schreiben ihm lieber. Ich möchte ihn nicht allein sehen. Er sagt mir Dinge, die mich nervös machen. Er gibt mir nämlich gute Lehren."

Lord Henry lächelte. "Die Menschen haben eine starke Neigung, gerade das zu geben, was sie selbst am notwendigsten hätten. Man kann das schon eine abgründige Freigebigkeit nennen."

"Oh, Basil ist der beste Mensch, aber er scheint mir doch ein ganz klein wenig Philister zu sein. Seit ich Sie kenne. Henry, habe ich das entdeckt."

"Mein lieber Freund, Basil legt alles, was an ihm entzückend ist, in seine Werke. Die Folge davon ist, daß er fürs Leben nichts übrig behält als seine Vorurteile, seine Grundsätze und seinen gesunden Menschenverstand. Alle Künstler, die ich kennengelernt habe und die persönlich anziehen, sind schlechte Künstler. Gute Künstler leben nur in ihren Schöpfungen und sind infolgedessen in ihrem Wesen vollständig uninteressant. Ein wirklich großer Dichter ist das unpoetischeste Geschöpf auf der Welt, unbedeutendere Dichter aber sind immer bezaubernd. Je schlechter ihre Reime sind, desto malerischer sehen sie aus. Die bloße Tatsache, daß jemand eine Sammlung mittelmäßiger Sonette veröffentlicht hat, macht einen Menschen einfach unwiderstehlich. Er lebt die Gedichte, die er nicht schreiben kann. Die anderen schreiben die Gedichte, die zu leben sie nicht wagen."

"Ich möchte wissen, ob das wirklich so ist, Henry", sagte Dorian Gray, während er aus einer großen, goldgefaßten Flasche, die auf dem Tisch stand, etwas Parfüm auf sein Taschentuch goß. "Es wird wohl so sein, wenn Sie es sagen. Jetzt muß ich aber fort, Imogen wartet auf mich. Vergessen Sie nicht, morgen! Adieu!"

Als er den Raum verlassen hatte, sanken Lord Henrys schwere Lider herab und er begann nachzudenken. Sicher hatten ihn bisher sehr wenige Menschen so interessiert wie Dorian Gray. Und doch verursachte ihm die Tatsache, daß der Jüngling eine andere Person kritiklos anbetete, nicht den leisesten Ärger oder die geringste Eifersucht. Er freute sich darüber. Das machte ihn nur zu einem noch interessanteren Studienobjekt. Die Methoden der Naturwissenschaft hatten ihn immer angezogen, aber der gewöhnliche Stoff dieser Wissenschaft war ihm trivial und belanglos erschienen. Deshalb hatte er zuerst sich selbst viviseziert, um dann schließlich andere zu vivisezieren. Das menschliche Leben schien ihm der einzige Gegenstand, der einer forschenden Untersuchung wert war. Verglichen damit war alles andere ohne Bedeutung. Allerdings, wenn man das Leben in seinem seltsamen Schmelztiegel aus Schmerz und Lust beobachten wollte, konnte man vor dem Gesicht keine Schutzmaske gegen die Schwefeldämpfe tragen, die das Gehirn verwirren und die Phantasie mit wüsten Ausgeburten wirrer Träume erfüllen. Es gab so feine Gifte, daß man an ihnen erkrankt sein mußte, um ihre Eigenheiten zu erkennen. Es gab so seltsame Krankheiten, daß man sie durchgemacht haben mußte, wenn man ihre Art begreifen wollte. Und doch, welch ein unendlicher Lohn wird einem dann zuteil! Wie wunderbar erscheint dann die ganze Welt! Die merkwürdig strenge Logik der Leidenschaft und das gefühlsmäßig gefärbte Leben des Geistes zu beobachten, wo die beiden Linien sich nähern und wo sie sich trennen, an welchem Punkt sie sich schneiden und an welchem sie auseinanderstreben - das ist ein berauschender Genuß. Was liegt daran, wieviel man dafür bezahlen muß! Man kann nie einen zu hohen Preis für eine Erkenntnis geben.

Er war sich bewußt - und dieser Gedanke ließ seine achatbraunen Augen freudig aufleuchten -, daß durch gewisse Aussprüche von ihm, musikalische Worte, die er in musikalischem Tonfall gesagt hatte, Dorian Grays Seele sich diesem unschuldigen Mädchen zugewandt und sich in Verehrung vor ihr geneigt hatte... In hohem Maße war der Jüngling seine Schöpfung. Er hatte ihn vorzeitig reif gemacht. Das war schon etwas. Die gewöhnlichen Menschen müssen warten, bis das Leben ihnen seine Geheimnisse offenbart, den wenigen, den Auserwählten aber werden die Mysterien des Daseins enthüllt, bevor der Schleier weggezogen ist. Manchmals erreicht das die Kunst, besonders die Dichtung, die ja unmittelbar auf die Leidenschaften und auf den Geist wirkt. Dann und wann aber nimmt eine komplizierte Persönlichkeit diesen Platz ein und erfüllt das Amt der Kunst, ist also auf ihre Weise tatsächlich ein leibhaftiges Kunstwerk, da ja das Leben ebenso seine vollendeten Meisterwerke schafft wie die Poesie, die Bildhauerei oder die Malerei.

Während Lord Henry sich in Gedanken über diese Dinge verlor, wurde an der Tür geklopft; sein Diener trat ein und erinnerte ihn, daß es Zeit sei, sich zum Essen umzukleiden. Er erhob sich und sah auf die Straße hinab. Der Sonnenuntergang hatte die obersten Fenster der gegenüberliegenden Häuser in scharlachrotes Gold getaucht. Die Scheiben glühten wie Platten geschmolzenen Metalls. Der Himmel darüber glich einer welkenden Rose. Er dachte an das junge, lodernde Leben seines Freundes und dachte, wie das alles wohl enden werde.

Als er dann gegen halb eins nachts nach Hause kam, fand er ein Telegramm auf dem Tisch in der Halle. Er öffnete es und sah, daß es von Dorian Gray war, der ihm mitteilte, daß er sich mit Sibyl Vane verlobt habe.

 

Fünftes Kapitel

"Mutter, Mutter, ich bin ja so glücklich", flüsterte das Mädchen und barg ihr Gesicht im Schoße der verblühten, müde aussehenden Frau, die den Rücken gegen das grell eindringende Licht gekehrt, in dem einzigen Armstuhl saß, den ihr armseliges Wohnzimmer enthielt. "Ich bin so glücklich, wiederholte sie. "Und du sollst auch glücklich sein."

Mrs. Vane wurde unruhig und legte ihre dünnen, wachsbleichen Hände auf den Kopf der Tochter. "Glücklich?" sagte sie schmerzlich. "Ich bin nur dann glücklich, wenn ich dich spielen sehe, Sibyl. Du darfst an nichts anderes denken, als an dein Spiel. Mr. Isaacs ist sehr gut gegen uns und wir sind ihm Geld schuldig."

"Geld, Mutter!" rief sie aus. "Was liegt an Geld?! Liebe ist mehr als Geld!"

"Mr. Isaacs hat uns fünfzig Pfund Vorschuß gegeben, damit wir unsere Schulden zahlen und anständige Kleidung für James kaufen konnten. Das darfst du nicht vergessen, Sibyl. Fünfzig Pfund sind eine bedeutende Summe. Mr. Isaacs ist sehr anständig gewesen."

"Er ist aber kein Gentleman, Mutter, und ich hasse die Art, wie er mit mir spricht", sagte das Mädchen, stand auf und ging zum Fenster hinüber.

"Ich wüßte nicht, wie wir ohne ihn weiterkämen", antwortete die alte Frau kläglich.

Sibyl Vane schüttelte den Kopf und lachte: "Wir brauchen ihn nicht mehr, Mutter, der Märchenprinz bestimmt jetzt unser Leben." Dann schwieg sie. Eine Blutwelle ließ ihre Adern erbeben und färbte ihre Wangen dunkelrot. Der rasche Atem öffnete die Lippen, daß sie erzitterten; ein Sturm heißer Leidenschaft fegte über sie hin und bewegte die zierlichen Falten ihres Kleides. "Ich liebe ihn", sagte sie schlicht.

Wie aus dem Munde eines Papageis kam ihr die Antwort:

"Törichtes Kind, törichtes Kind!" Die Bewegungen knöcherner, mit falschen Ringen gezierter Finger machten diesen Ausruf noch grotesker.

Das Mädchen lachte wieder. In ihrer Stimme lag etwas wie die Freude des Vogels im Käfig.

Aus dem abgenützten Stuhl kamen die Worte der Weisheit von dünnen Lippen, mahnten zur Besinnung, zitierten aus jenem Buch der Freiheit, dem sein Autor den falschen Titel "Gesunder Menschenverstand" gegeben hat. Sie hörte nicht zu. Im Gefängnis ihrer Leidenschaft war sie frei. Ihr Prinz, der Märchenprinz, war bei ihr. Sie hatte das Gedächtnis angerufen, um ihn sich neu zu schaffen. Sie hatte ihre Seele auf die Suche nach, ihm geschickt und sie hatte ihn ihr gebracht. Sein Kuß brannte wieder auf ihrem Munde. Ihre Augenlider waren warm von seinem Atem.

Dann änderte die Weisheit ihre Methode und sprach von Erkundigungen und Nachforschungen. Es mochte ja sein, daß der junge Mann reich war,- wenn, dann aber müßte man ans Heiraten denken. An der Ohrmuschel des Mädchens brachen sich die Wellen weltlicher Schlauheit. Die Pfeile der Berechnung sausten an ihr vorüber. Sie sah, wie sich die dünnen Lippen bewegten und lächelte.

Plötzlich fühlte sie das Bedürfnis zu sprechen. Das nichtssagende Geschwätz der Alten verwirrte sie. "Mutter, Mutter!" rief sie aus. "Warum liebt er mich so? Ich weiß, warum ich ihn liebe. Ich liebe ihn, weil er ist, wie die Liebe selbst sein muß. Aber was findet er an mir? Ich bin seiner ja nicht wert. Und doch - warum kann ich nicht sagen - ich spüre, wie tief ich unter ihm stehe, aber ich fühle mich nicht gering. Nein, ich bin stolz, schrecklich stolz. Mutter, hast du meinen Vater so geliebt, wie ich den Märchenprinzen liebe?"

Die alte Frau wurde bleich unter der dicken Lage Puder, die ihre Wangen bedeckte, und ihre trockenen Lippen zuckten in krampfendem Schmerz. Sibyl lief zu ihr, schlang ihre Arme um ihren Hals und küßte sie. "Verzeih mir, Mutter, ich weiß, es schmerzt dich, von meinem Vater zu sprechen. Aber es schmerzt dich nur, weil du ihn so geliebt hast. Sei nicht traurig. Heute bin ich so glücklich, wie du vor zwanzig Jahren warst. Ach, wenn ich doch immer so glücklich sein könnte!"

"Mein Kind, du bist viel zu jung, um an Liebe zu denken. Und dann, was weißt du von dem jungen Mann? Du kennst nicht einmal seinen Namen. Die ganze Sache ist höchst unpassend und ich muß wirklich sagen, gerade jetzt, wo James nach Australien geht und ich an so viele Dinge zu denken habe, hättest du mehr Überlegung zeigen sollen. Immerhin, wie ich schon vorhin sagte, wenn er reich ist..."

"Ach, Mutter, Mutter, laß mich glücklich sein!"

Mrs. Vane blickte sie an und schloß sie mit einer jener verlogenen theatralischen Gesten, die dem Schauspieler so oft zur zweiten Natur werden, in die Arme. In diesem Augenblick öffnete sich die Türe und ein junger Mensch mit glattem, braunem Haar kam ins Zimmer. Er war von untersetzter Gestalt, seine Hände und Füße waren groß und bewegten sich etwas schwerfällig. Er war nicht so fein gebaut wie seine Schwester und man hätte kaum erraten können, daß zwischen beiden eine so nahe Verwandtschaft bestand. Mrs. Vane richtete ihre Augen auf ihn und vertiefte ihr Lächeln. Im Geiste erhob sie ihren Sohn zur Würde eines Publikums. Sie war überzeugt, daß die Szene interessant war.

"Du könntest dir einige Küsse für mich aufheben, Sibyl", sagte der junge Bursche mit gutmütigem Brummen.

"Du hast doch Küsse gar nicht gern, Jimi" rief sie ihm zu. "Du bist ein schrecklicher alter Bär!" Dann lief sie durchs Zimmer und tätschelte ihn.

James Vane sah zärtlich seiner Schwester ins Gesicht. "Ich möchte mit dir spazierengehen, Sibyl. Ich glaube nicht, daß ich das scheußliche London je wiedersehe. Ich mache mir auch gar nichts daraus."

"Mein Sohn, du solltest so schreckliche Dinge nicht sagen", flüsterte Mrs. Vane, während sie ein geschmacklos aufgeputztes Theaterkostüm seufzend aufnahm und es auszubessern begann. Sie fühlte eine kleine Enttäuschung, weil er sich nicht der Gruppe angeschlossen hatte. Das würde die malerische Wirkung der Szene erheblich gesteigert haben.

"Warum nicht, Mutter? Es ist mein Ernst."

"Du kränkst mich, mein Sohn. Ich habe das Vertrauen, daß du von Australien mit Glücksgütern im Überfluß zurückkehrst. Ich vermute, es gibt dort keinerlei Gesellschaft, wenigstens nicht das, was ich Gesellschaft nennen würde; wenn du also ein Vermögen erworben hast, mußt du zurückkommen und dich in London zur Geltung bringen."

"Gesellschaft?!" murmelte der junge Mann. "Davon will ich gar nichts wissen. Ich möchte nur so viel Geld verdienen, daß ich dich und Sibyl vom Theater wegnehmen kann. Ich hasse es.

"Jim", sagte Sibyl lachend, "wie unliebenswürdig du bist! Aber, willst du wirklich mit mir spazierengehen? Das ist nett von dir. Ich habe schon Angst gehabt, daß du dich bei deinen Freunden verabschieden willst - bei Tom Hardy, der dir die gräßliche Pfeife geschenkt hat oder bei Ned Langton, der dich auslacht, weil du sie rauchst. Es ist sehr lieb von dir, daß du mir deinen letzten Nachmittag schenkst. Wohin wollen wir gehen? Wollen wir in den Park?

"Dazu seh' ich zu schäbig aus, antwortete er stirnrunzelnd. "Nur die feinen Leute gehen in den Park."

"Unsinn, Jim", flüsterte sie und streichelte seinen Rockärmel.

Er zögerte noch einen Augenblick. "Na schön!" sagte er schließlich. "Mach aber nicht zu lange mit dem Anziehen.

Sie tanzte zur Tür hinaus. Man konnte sie singen hören, während sie die Treppe hinauflief, ihre kleinen Füße trippelten oben. Er ging zwei-, dreimal durch das Zimmer und wandte sich dann der schweigsamen Gestalt im Sessel zu.

"Mutter, sind meine Sachen fertig?" fragte er.

"Alles in Ordnung, James", antwortete sie, hielt aber die Augen auf ihre Arbeit gerichtet. Seit einigen Monaten schon fühlte sie sich unbehaglich, wenn sie mit ihrem rauhen, ernsten Sohn allein war. Ihre im Grunde oberflächliche Natur wurde beunruhigt, wenn ihre Augen sich trafen. Sie fragte sich schon seit langer Zeit, ob er einen Verdacht habe. Das Schweigen, das entstand, da er nichts mehr sagte, wurde ihr unerträglich. Sie begann also zu klagen. Frauen verteidigen sich, indem sie angreifen, geradeso, wie sie durch plötzliches und unerwartetes Nachgeben angreifen. "Hoffentlich wirst du glücklich in deinem Beruf als Seemann, James. Du mußt immer daran denken, daß es deine eigene Wahl war. Du hättest in ein Anwaltsbureau eintreten können. Anwälte sind ein sehr respektabler Stand und werden auf dem Lande oft in den besten Familien eingeladen."

"Ich hasse Bureaus und ich hasse Schreiber", antwortete er. "Aber du hast ganz recht, ich habe mir mein Leben selbst gewählt. Alles, was ich sage, ist: Gib auf Sibyl acht, damit ihr kein Unglück zustößt. Mutter, du mußt über sie wachen!"

"James, du hast eine merkwürdige Art, mit mir zu reden. Natürlich wache ich über Sibyl."

"Ich habe aber gehört, daß ein junger Mann jeden Abend ins Theater kommt, hinter die Bühne geht und mit ihr spricht. Ist das wahr? Wie verhält sich's damit?"

"James, du sprichst über Dinge, von denen du nichts verstehst. Wir in unserem Beruf sind gewöhnt, eine Menge höchst erfreulicher Aufmerksamkeiten zu empfangen. Ich selbst habe in früheren Zeiten viele Blumen bekommen. Das war allerdings zu einer Zeit, als man vom Spielen noch etwas verstand. Was Sibyl anbelangt, so kann ich im Augenblick nicht entscheiden, ob ihre Neigung ernst ist oder nicht. Es ist aber kein Zweifel darüber, daß der in Frage stehende junge Mann ein vollendeter Gentleman ist. Er ist immer ungemein höflich zu mir. Er sieht auch aus, als wäre er reich und die Blumen, die er schickt, sind entzückend."

"Bei alldem weißt du nicht einmal seinen Namen", sagte der junge Mann scharf.

"Nein", antwortete die Mutter mit gelassenem Gesichtsausdruck. "Er hat uns seinen wirklichen Namen noch nicht verraten. Ich finde das sehr romantisch. Wahrscheinlich ist er vom Adel."

James Vane biß sich auf die Lippen. "Gib auf Sibyl acht!" schrie er. "Gib auf sie acht!"

"Mein Sohn, du kränkst mich ungemein. Sibyl steht dauernd unter meiner besonderen Obhut. Natürlich, falls dieser junge Gentleman vermögend ist, sehe ich keinen Grund, weshalb sie nicht eine Verbindung mit ihm eingehen soll. Ich bin fest überzeugt, er gehört zum hohen Adel. Er sieht ganz so aus, muß ich sagen. Er könnte eine brillante Partie für Sibyl werden. Sie würden ein entzückendes Paar sein. Seine Schönheit ist wirklich ganz außerordentlich. Jedermann bemerkt sie."

Der junge Mann murmelte etwas vor sich hin und trommelte mit seinen derben Fingern gegen die Scheibe. Er hatte sich gerade umgewandt, um noch etwas zu sagen, als die Tür aufging und Sibyl rasch hereinkam.

"Was macht ihr beide denn für ernste Gesichter!" rief sie. "Was ist denn los?"

"Nichts", antwortete er. "Man muß doch schließlich auch einmal ernst sein. Adieu, Mutter. Ich will um fünf Uhr essen. Alles ist eingepackt bis auf die Hemden, du brauchst dich also um nichts zu kümmern!"

"Adieu, mein Sohn", antwortete sie mit einem Kopfnicken von erkünstelter Würde.

Sie ärgerte sich sehr über den Ton, den er ihr gegenüber angeschlagen hatte und in seinem Blicke lag etwas, das ihr Angst machte.

"Gib mir einen Kuß, Mutter", sagte das Mädchen. Die blütengleichen Lippen berührten ihre verwitterten Wangen und wärmten ihre Kälte.

"Mein Kind, mein Kind!" rief Mrs. Vane aus, zur Decke aufblickend, als suche sie den Beifall einer imaginären Galerie.

"Komm, Sibyl", sagte der Bruder ungeduldig. Er konnte die affektierten Posen seiner Mutter nicht ausstehen.

Sie gingen hinaus in den schimmernden, windbewegten Sonnenschein und schlenderten die öde Euston Road hinab. Die Leute blickten verwundert auf den finsteren, schwerfälligen jungen Mann in dem groben, schlecht sitzenden Anzug, der ein so anmutiges, fein aussehendes Mädchen begleitete. Er glich einem Gemüsegärtner, der mit einer Rose in der Hand geht.

Jim runzelte von Zeit zu Zeit die Stirne, wenn er den forschenden Blick eines Fremden bemerkte. Er hatte eine Abneigung dagegen, angestarrt zu werden, die geniale Menschen erst so spät im Leben bekommen und die den gewöhnlichen Mann nie verläßt. Sibyl dagegen wußte nichts von der Wirkung, die sie hervorbrachte. Ihre Liebe zitterte lachend auf ihren Lippen. Sie dachte an ihren Märchenprinzen und um besser an ihn denken zu können, sprach sie nicht von ihm, sondern plauderte von dem Schiff, auf dem Jim wegfahren sollte, von dem Gold, das er sicher finden, von der geheimnisvollen Erbin, die er aus den Händen verruchter, rotblusiger Buschräuber retten würde. Denn er wollte nicht Matrose bleiben oder Landungsaufseher oder was er sonst jetzt werden würde. O nein! Das Matrosenleben war zu furchtbar. Man denke nur, in einem schrecklichen Schiff eingepfercht zu sein, während die rohen, hochgehenden Wellen immer eindringen wollen und ein heulender Wind die Maste niederwirft und die Segel zu langen, klatschenden Streifen zerreißt. Er sollte in Melbourne von Bord gehen, dem Kapitän höflich Adieu sagen und sofort nach den Goldfeldern wandern. Bevor noch eine Woche vergangen wäre, würde er auf einen großen Goldklumpen stoßen, auf den größten, der je entdeckt worden sei und ihn in einem großen Wagen, den sechs berittene Polizisten bewachen würden, zur Küste schaffen. Die Buschräuber würden sie dreimal überfallen und nach einem ungeheuren Gemetzel zurückgeschlagen werden. Oder nein: er sollte überhaupt nicht zu den Goldfeldern gehen. Das wäre eine schreckliche Gegend, wo die Leute sich betrinken und einander in Kneipen totschössen und furchtbar fluchten. Er sollte ein netter Schafzüchter werden und eines Abends, wenn er nach Hause ritte, würde er der schönen Erbin begegnen, die gerade von einem Räuber auf einem Rappen entführt wurde, ihm nachsetzen und sie befreien. Natürlich würde sie sich in ihn verlieben und er in sie. Er würde sie heiraten, nach Hause kommen und mit ihr in einem prachtvollen Hause in London leben. Ja, entzückende Dinge warteten auf ihn, aber er müsse auch sehr gut sein, nie zornig werden und nie sein Geld vergeuden. Sie sei nur ein Jahr älter als er, aber sie wisse so viel mehr vom Leben. Er müsse ihr auch ganz gewiß an jedem Posttag schreiben und jeden Abend beten, bevor er schlafen gehe. Gott sei sehr gut und werde über ihn wachen. Auch werde sie für ihn beten und in ein paar Jahren werde er reich und glücklich nach Hause zurückkehren.

Der junge Mann hörte ihr verdrossen zu und gab keine Antwort. Ihm tat das Herz weh, weil er von der Heimat weg mußte.

Aber das war es nicht allein, das ihn düster und mürrisch stimmte. Obwohl er gar keine Lebenserfahrung hatte, empfand er doch sehr lebhaft die Gefahr, die Sibyls Beruf mit sich brachte. Dieser junge Stutzer, der ihr den Hof machte, konnte nichts Gutes beabsichtigen. Er war ein vornehmer Mann und das trug ihm Jims Haß ein, der ganz instinktiv war, für den er keinen bestimmten Grund angeben konnte und der gerade darum um so stärker in ihm war. Er kannte auch die Oberflächlichkeit und die Eitelkeit seiner Mutter und sah darin eine ungeheure Gefahr für Sibyl und Sibyls Glück. Kinder lieben anfangs ihre Eltern und wenn sie älter werden, urteilen sie über sie und manchmal vergeben sie ihnen sogar.

Die Mutter! Seit langem lastete eine Frage an sie auf ihm, der Gedanke an etwas, das er schweigend Monate hindurch mit sich herumgetragen hatte. Eine zufällige Bemerkung, die er im Theater aufgefangen hatte, ein geflüstertes Spottwort, das eines Abends, als er an der Bühnentüre wartete, an sein Ohr gedrungen war, hatte eine Folge schrecklicher Vorstellungen in ihm entfesselt. Er erinnerte sich daran, wie an den Hieb einer Reitpeitsche, der sein Gesicht getroffen hatte. Seine Augenbrauen kniffen sich zu einer keilförmigen Furche zusammen und in einem plötzlichen schmerzlichen Krampf biß er in seine Unterlippe.

"Du hörst ja nicht ein Wort von dem, was ich sage, Jim!" rief Sibyl aus. "Dabei mache ich die entzückendsten Pläne für deine Zukunft. Sag doch auch was!"

"Was soll ich sagen?"

"Daß du ein guter Bruder sein wirst und uns nicht vergißt", antwortete sie, ihn anlächelnd.

Er zuckte die Achseln. "Es ist eher wahrscheinlich, daß du mich vergißt als daß ich dich vergesse."

Sie errötete. "Wie meinst du das, Jim?" fragte sie.

"Du hast einen Freund. Wer ist er übrigens? Warum hast du mir nichts von ihm gesagt? Er hat nichts Gutes mit dir vor!"

"Hör auf, Jim", rief sie aus. "Du darfst nichts gegen ihn sagen. Ich liebe ihn."

"Und dabei weißt du nicht einmal seinen Namen", erwiderte er. "Wer ist er? Ich habe ein Recht, das zu wissen."

"Er heißt der Märchenprinz. Ist der Name nicht schön? O du dummer Bub, du sollst ihn nie vergessen! Wenn du ihn nur sehen würdest, müßtest du ihn für den wundervollsten Menschen auf der Welt halten. Eines schönen Tages wirst du ihn kennenlernen, wenn du von Australien zurückkommst. Du wirst ihn sehr liebhaben. Jeder Mensch. hat ihn lieb, und ich... liebe ihn. Ich wollte, du könntest heut abend ins Theater kommen. Er wird da sein und ich soll die Julia spielen. Oh, wie ich sie spielen werde! Denk nur, Jim, lieben und die Julia spielen! Wissen, daß er dasitzt, ihm zur Freude spielen!... Ich fürchte, ich werde die Zuschauer erschrecken, sie erschrecken oder entzücken. Lieben heißt sich selbst übertreffen. Der arme, gräßliche Mr. Isaacs wird seinen Kumpanen an der Bar zuschreien, ich sei ein Genie. Das hat er ihnen schon immer als einen Glaubenssatz gepredigt, aber heute abend wird er mich als eine Offenbarung verkünden."

"Er ist ein vornehmer Mann", sagte Jim finster.

"Ein Prinz!" rief sie mit melodischer Stimme. "Was willst du mehr?"

"Er wird dich knechten."

"Ich erschrecke bei dem Gedanken, frei zu sein."

"Du sollst dich vor ihm hüten."

"Ihn ansehen, heißt ihn anbeten, ihn kennen, heißt ihm vertrauen!'

"Sibyl, er hat dich verrückt gemacht."

Sie lachte und nahm seinen Arm. "Mein lieber, alter Jim, du sprichst so, als wärst du hundert Jahre alt. Einmal wirst du selbst lieben und dann erst wirst du wissen, was das bedeutet. Sieh mich nicht so brummig an! Du solltest dich bei dem Gedanken freuen, daß du mich glücklicher zurückläßt als ich je vorher gewesen bin. Das Leben war bisher für uns beide hart, furchtbar hart und schwer. Aber jetzt wird's anders. Du gehst in eine neue Welt und ich habe eine neue gefunden... Da sind zwei Stühle, wir wollen uns hinsetzen und die eleganten Leute beobachten, die vorübergehen."

Sie setzten sich mitten zwischen eine Menge Gaffer. Die Tulpenbeete längs des Weges flammten wie zuckende Feuerringe. Ein weißer Dunst wie eine zitternde Wolke von Irisstaub hing in der gleißenden Luft. Die hellfarbigen Sonnenschirme tanzten und wippten auf und ab wie riesengroße Schmetterlinge.

Sie veranlaßte ihren Bruder, von sich, seinen Hoffnungen und seinen Plänen zu reden. Er redete nur zögernd und mühsam. Sie sprachen miteinander, wie Spieler sich bei einem Spiel die Pointe ansagen. Es drückte Sibyl nieder. Sie konnte ihm ihre Freude nicht mitteilen. Ein leichtes Lächeln, das seinen finsteren Mund verzog, war die einzige Antwort, die sie erhielt. Nach einiger Zeit verstummte sie ganz. Plötzlich erblickte sie einen Schimmer von goldenem Haar und lachende Lippen: in einem offenen Wagen fuhr Dorian Gray mit zwei Damen vorüber.

Sie sprang Auf. "Da ist er!" rief sie.

"Wer?" fragte Jim Vane.

"Der Märchenprinz", antwortete sie und blickte dem Wagen nach.

Er erhob sich rasch und packte sie rauh am Arm. "Zeige ihn mir. Welcher ist es? Zeige ihn mir, ich muß ihn sehen!" schrie er. Aber in diesem Augenblick fuhr gerade das Viergespann des Herzogs von Berwide vorbei, und als die Aussicht wieder frei war, hatte der Wagen den Park schon verlassen.

"Er ist fort", murmelte Sibyl traurig. "Ich wünschte, du hättest ihn gesehen."

"Ich wünschte es auch. Denn, so wahr ein Gott im Himmel lebt, wenn er dir je ein Leid antut, bring ich ihn um!"

Sie sah ihn erschreckt an. Er wiederholte seine Worte. Sie schnitten durch die Luft wie ein Schwert. Die Leute um sie her fingen an, sie anzustarren. Eine Dame, die in der Nähe stand, kicherte.

"Komm fort, Jim, komm fort", flüsterte sie ihm zu. Er folgte ihr mit störrischer Miene, als sie die Menge durchschritt. Er war zufrieden, daß er dieses Gelübde getan hatte. Erst als sie die Achillesstatue erreicht hatte, drehte sie sich nach ihm um. In ihren Augen lag Mitleid, das auf ihren Lippen zu einem Lächeln wurde. Sie schüttelte den Kopf über ihn. "Du bist verrückt. Jim, ganz und gar verrückt. Ein böser Bub, sonst nichts. Wie kannst du etwas so Entsetzliches sagen? Du weißt ja gar nicht, was du sprichst. Du bist einfach eifersüchtig und unliebenswürdig. Ich möchte, daß du dich bald verliebtest. Liebe macht die Menschen gut, aber was du gesagt hast, war schlecht."

"Ich bin erst sechzehn", gab er zur Antwort. "Aber ich weiß, was ich zu tun habe. Mutter kann dir nicht helfen, die weiß nicht, wie man dich behüten muß. Ich wünschte jetzt, daß ich überhaupt nicht nach Australien gehen müßte. Ich denke sehr daran, die ganze Sache zu lassen. Ich täte es bestimmt, wenn meine Papiere nicht schon unterschrieben wären."

"Du sollst nicht so ernsthaft reden, Jim. Du gleichst sonst einem von den Helden aus den dummen Melodramen, in denen Mutter so gern gespielt hat. Ich will mich mit dir nicht streiten. Ich habe ihn gesehen und ihn sehen ist ein vollkommenes Glück. Wir wollen nicht streiten. Ich bin ja überzeugt, daß du nie jemandem, den ich liebe, etwas antun wirst."

"Nicht, solange du ihn liebst", war die finstere Antwort.

"Ich werde ihn immer lieben!" rief sie.

"Und er?..."

"Mich auch immer."

"Das wäre sein Glück!"

Sie schrak vor ihm zurück. Dann aber lachte sie und legte die Hand auf seinen. Arm. Er war ja doch nur ein Bub.

Am Marble Arch nahmen sie einen Omnibus, der sie bis dicht zu ihrer dürftigen Wohnung in Euston Road brachte. Es war schon fünf Uhr vorüber und Sibyl mußte sich noch ein paar Stunden niederlegen, bevor sie auftrat. Jim bestand darauf, daß sie es tat. Er sagte, er würde von ihr leichter Abschied nehmen, wenn die Mutter nicht dabei wäre. Sie würde sicher eine Szene machen und er haßte Szenen aller Art.

So nahmen sie in Sibyls Zimmer Abschied. Im Herzen des Jünglings glühte Eifersucht und ein grimmiger, mörderischer Haß auf den Fremden, der, wie ihm schien, zwischen sie getreten war. Als dann aber ihre Arme sich um seinen Hals schlangen und ihre Finger über sein Haar strichen, wurde er weich und küßte sie voll inniger Zärtlichkeit. Als er hinunterging, standen Tränen in seinen Augen.

Die Mutter wartete unten auf ihn. Als er eintrat, zankte sie über seine Unpünktlichkeit. Er gab keine Antwort, sondern setzte sich vor sein mageres Mahl. Die Fliegen summten um den Tisch herum und krochen über das fleckige Tischtuch.

Durch den Lärm der vorbeirollenden Omnibusse und das Klappern der Wagen auf der Straße hindurch hörte er die monotone Stimme der Mutter, die ihm die wenigen Minuten, die ihm noch übriggeblieben, vergällte.

Nach einer Weile schob er seinen Teller weg und stützte den Kopf in die Hände. Er fühlte, daß er ein Recht habe, alles zu erfahren. Wenn die Dinge lagen, wie er vermutete, hätte er es längst wissen müssen. Von Furcht niedergedrückt, beobachtete ihn die Mutter. Die Worte tröpfelten ihr mechanisch von den Lippen. In den Fingern zerknüllte sie ein zerrissenes Spitzentuch. Als die Uhr sechs schlug, stand er auf und ging zur Tür. Dort drehte er sich um und sah sie an. Ihre Blicke begegneten sich. In ihren Augen las er die flehentliche Bitte um Mitleid, die ihn wütend machte.

"Mutter, ich habe eine Frage an dich", sagte er.

Ihre Augen irrten im Zimmer umher. Sie gab keine Antwort.

"Sag mir die Wahrheit, ich habe ein Recht, sie zu erfahren. Warst du mit unserem Vater verheiratet?"

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Es war ein Seufzer der Erleichterung. Der schwere Augenblick, vor dem sie sich Tag und Nacht seit Wochen und Monaten geängstigt hatte, war endlich gekommen und sie hatte auf einmal keine Furcht. Ja, es war gewissermaßen eine Enttäuschung für sie. Die gemeine Deutlichkeit der Frage verlangte eine deutliche Antwort. Die Situation war nicht in langsamer Steigerung herbeigeführt worden. Sie war brutal und erinnerte sie an eine mißlungene Probe.

"Nein", antwortete sie, erstaunt über die rauhe Einfachheit des Lebens.

"Dann war mein Vater ein Schuft!" schrie der junge Mann, die Faust ballend.

Sie schüttelte den Kopf. "Ich wußte ja, daß er nicht frei war. Wir haben uns sehr geliebt und wenn er am Leben geblieben wäre, hätte er für uns gesorgt. Sage nichts gegen ihn, mein Sohn, er war dein Vater und ein vornehmer Mann. Er hatte wirklich vornehme Verbindungen."

Ein Fluch kam von seinen Lippen. "Meinetwegen ist es ja gleich, aber laß Sibyl nicht... Es ist auch ein vornehmer Mann, der sie liebt, nicht wahr? Oder er sagt es wenigstens!... Wahrscheinlich auch mit den besten Verbindungen! . . ."

Einen Augenblick lang überkam ein schreckliches Gefühl der Erniedrigung die alte Frau. Ihr Kopf sank herab. Mit zitternden Händen wischte sie sich die Augen. "Sibyl hat eine Mutter", flüsterte sie. "Ich hatte keine."

Der Jüngling war ergriffen. Er ging zu ihr hin, beugte sich nieder und küßte sie. "Es tut mir leid, wenn ich dich durch eine Frage nach meinem Vater gekränkt habe", sagte er. "Aber ich konnte nicht anders. Jetzt muß ich fort. Leb wohl! Vergiß nicht, daß du jetzt nur noch ein Kind hast, um das du dich sorgen mußt, und glaub mir: wenn dieser Mann meiner Schwester ein Leid antut, werde ich herausfinden, wer er ist, werde ihn verfolgen und ihn töten wie einen Hund. Ich schwöre es!"

Der tollaufgeregte Schwur, die leidenschaftlichen Bewegungen, die ihn begleiteten, die wahnsinnigen, melodramatischen Worte schienen der alten Frau das Leben wiederzugeben. Diese Atmosphäre war ihr vertraut. Sie atmete wieder freier und zum ersten Male seit vielen Monaten bewunderte sie ihren Sohn. Sie hätte gerne die Szene auf demselben Gefühlsniveau fortgesetzt, aber er unterbrach sie kurz. Die Koffer mußten heruntergebracht und ein wollenes Halstuch noch besorgt werden. Die Magd rannte geschäftig hin und her. Mit dem Kutscher wurde gehandelt. So ging der Augenblick in gemeinen Einzelheiten unter. Mit einem abermaligen Gefühl der Enttäuschung ließ sie das zerrissene Spitzentaschentuch aus dem Fenster flattern, als ihr Sohn wegfuhr. Sie war überzeugt, daß eine große Gelegenheit versäumt worden war. Sie tröstete sich damit, daß sie Sibyl sagte, wie trostlos ihr Leben nun sein werde, da sie jetzt nur ein einziges Kind habe, für das sie sorgen müsse. Dieser Satz war ihr im Gedächtnis geblieben, denn er hatte ihr gefallen. Von seinem Schwur sagte sie nichts. Er war zu lebendig und dramatisch zum Ausdruck gekommen, aber sie hatte das Gefühl, daß sie eines Tages alle darüber lachen würden.

 

 

Sechstes Kapitel

"Sie haben die Neuigkeit vermutlich schon gehört, Basil?" sagte Lord Henry am selben Abend, als Hallward in das kleine Zimmer im "Bristol" trat, wo für drei zum Diner gedeckt war.

"Nein, Henry", antwortete der Künstler, während er seinen Hut und seinen Rock dem sich verbeugenden Kellner gab. "Was ist los? Hoffentlich nichts Politisches, das mich nichts angeht. In dem ganzen Abgeordnetenhause gibt es keine einzige Person, die man malen könnte, wenn auch einigen von ihnen etwas Firnis nicht schaden könnte."

"Dorian Gray hat sich verlobt", sagte Lord Henry und beobachtete den Maler, während er sprach.

Hallward schrak zurück und runzelte die Stirn. "Dorian verlobt?!" rief er aus. "Unmöglich!"

"Es ist aber durchaus wahr."

"Mit wem?"

"Mit irgendeiner kleinen Schauspielerin."

"Ich kann es nicht glauben. Dazu ist Dorian doch viel zu vernünftig."

"Dorian ist viel zu klug, lieber Basil, um nicht von Zeit zu Zeit eine Dummheit zu machen."

"Heiraten ist kaum eine Sache, die man von Zeit zu Zeit tun kann, Henry."

"Höchstens in Amerika", erwiderte Lord Henry in lässigem Tone. "Aber ich habe ja nicht gesagt, daß er sich verheiratet hat. Ich sagte nur, er habe sich verlobt, und das ist ein großer Unterschied. Ich erinnere mich ganz genau daran, daß ich verheiratet bin, aber ich kann mich nicht entsinnen, je verlobt gewesen zu sein. Ich glaube fast, daß ich mich nie verlobt habe."

"Aber denken Sie doch an Dorians Geburt, seine Stellung, sein Vermögen! Es wäre doch ganz sinnlos, wenn er so tief unter seinem Stand heiraten würde."

"Wenn Sie wollen, daß er das Mädchen ganz bestimmt heiratet, brauchen Sie ihm das nur zu sagen, Basil. Dann tut er es sicher. Wenn ein Mann etwas ganz Dummes tut, so geschieht das stets aus den edelsten Motiven."

"Ich hoffe nur, es ist ein anständiges Mädchen, Henry. Ich möchte Dorian nicht an irgendeine schlechte Kreatur gefesselt sehen, die ihn herabzieht und seinen Geist verdirbt."

"Oh, sie ist mehr als anständig - sie ist schön", sagte Lord Henry und nippte an einem Glase, in dem Wermut mit dem Saft von bitteren Orangen gemischt war. "Dorian sagt, daß sie schön ist, und in diesen Dingen irrt er sich nicht. Das Bild, das Sie von ihm gemalt haben, hat ihm das Urteil über die äußere Erscheinung anderer Menschen geschärft. Es hat unter anderem auch diesen glänzenden Erfolg gehabt. Wir sollen sie übrigens heute abends sehen, wenn unser junger Freund seine Abmachung nicht vergißt."

"Ist das Ihr Ernst?"

"Vollständig, Basil. Es würde mich elend machen, wenn ich je in meinem Leben ernsthafter sein müßte, als jetzt."

"Billigen Sie es denn, Henry?" fragte der Maler, während er im Zimmer auf und ab ging und sich auf die Lippen biß. "Sie können es doch unmöglich billigen. Das Ganze ist eine törichte Verblendung."

"Ich billige nie etwas und mißbillige nie etwas, denn das ist eine ganz verkehrte Einstellung zum Leben. Wir sind nicht in die Welt geschickt, um unsere moralischen Vorurteile spazieren zu führen. Ich nehme nie Notiz von dem, was die gewöhnlichen Leute sagen und ich mische mich nie in das, was nette Leute tun. Wenn mich eine Persönlichkeit fesselt, dann ist jede Ausdrucksform, die diese Persönlichkeit wählt, für mich ein Genuß. Dorian Gray verliebt sich in ein schönes Mädchen, das die Julia spielt und will sie heiraten. Warum nicht? Wenn er Messalina zur Frau nehmen wollte, würde er darum nicht weniger interessant sein. Sie wissen, ich bin kein Verteidiger der Ehe. Der wirkliche Nachteil der Ehe ist, daß man durch sie uneigennützig wird, und selbstlose Menschen sind farblos. Es fehlt ihnen an Individualität. Immerhin, es gibt gewisse Temperamente, die durch die Ehe komplizierter werden. Sie behalten ihren eigenen Egoismus und dehnen ihn auf viele andere Egos aus. Sie sind gezwungen, mehr als ein Leben zu führen. Sie werden also feiner organisiert, - und immer feiner organisiert zu werden, scheint mir der Sinn des menschlichen Lebens zu sein. Aber abgesehen davon, jede Erfahrung hat ihren Wert und was sich auch gegen die Ehe sagen läßt, eine Erfahrung ist sie bestimmt. Ich hoffe also, Dorian Gray wird dieses Mädchen heiraten, wird sie sechs Monate lang leidenschaftlich anbeten und dann plötzlich von einer anderen angezogen werden. Das wäre ein prachtvolles psychologisches Problem."

"Henry, nicht ein Wort von alldem meinen Sie ernst, das wissen Sie selbst. Wenn Dorian Grays Leben zerstört würde, wäre kein Mensch trauriger als Sie. Sie sind viel besser als Sie sich machen!"

Lord Henry lachte. "Der Grund, weshalb wir so gut von anderen denken, ist einfach der, daß wir Angst für uns selbst haben. Die Grundlage des Optimismus ist nichts als Angst. Wir halten uns für hochherzig, weil wir unserem Nachbar die Tugenden zuschreiben, aus denen für uns ein Vorteil erwachsen könnte. Wir rühmen den Bankier, damit wir unser Konto überschreiten können und finden in dem Briganten gute Eigenschaften, weil wir hoffen, daß er unseren Geldbeutel verschonen wird. Was ich gesagt habe, ist mein vollster Ernst. Ich verachte den Optimismus von ganzem Herzen. Was aber das zerstörte Leben angeht: kein Leben ist zerstört, solange sein Wachstum nicht gehemmt ist. Wenn man Persönlichkeit verderben will, braucht man sie nur zu verbessern. Die Ehe allerdings, die ist töricht. Aber es gibt ja noch andere und interessantere Bindungen zwischen Mann und Frau. Natürlich werde ich eher zu diesen raten. Sie haben überdies den Reiz, in Mode zu sein. Da ist übrigens Dorian selbst. Er wird Ihnen mehr sagen können als ich."

"Lieber Henry, lieber Basil, ihr müßt mir beide Glück wünschen", sagte der Jüngling, während er den Abendmantel mit dem atlasgefütterten Überwurf auszog und den Freunden die Hände schüttelte. "Ich war nie im Leben so selig. Natürlich ist alles ganz plötzlich gekommen. Alles wirklich Schöne kommt plötzlich. Und doch scheint es mir, als sei es das einzige gewesen, wonach ich mich mein Leben lang gesehnt habe." Er war rot vor Aufregung und Freude und sah außerordentlich hübsch aus.

"Ich hoffe, Sie werden immer sehr glücklich sein", sagte Hallward. "Aber ich kann es Ihnen nicht verzeihen, daß Sie mir Ihre Verlobung nicht vorher mitgeteilt haben. Henry haben Sie davon verständigt."

"Und ich kann es Ihnen nicht verzeihen, daß Sie zu spät zum Essen kommen!" unterbrach Lord Henry lächelnd und legte seine Hand auf die Schulter des jungen Mannes. "Kommen Sie, wir wollen uns setzen und sehen, was der neue Küchenchef hier kann. Und dann sollen Sie uns erzählen, wie alles gekommen ist!"

"Da ist wirklich nicht viel zu erzählen!" sagte Dorian, als sie sich um den kleinen Tisch gesetzt hatten. "Was geschah, war einfach genug. Als ich Sie gestern nachmittags verließ, Henry, zog ich mich an, aß in dem kleinen italienische Restaurant in der Rupert-Straße, das ich durch Sie kenne, und ging um acht Uhr ins Theater. Sibyl spielte die Rosalinde. Natürlich war die Szenerie greulich und der Orlando völlig unmöglich. Aber Sibyl! Sie hätten sie sehen sollen. Als sie in ihren Knabenkleidern auftrat, was sie einfach wunderbar. Sie trug ein moosgrünes Samtwams mit zimtfarbenen Ärmeln, eine anliegende, braune Hose, die unter den Knien kreuzweise geschnürt war, ein zierliches, grünes Barett, an dem eine Falkenfeder mit einem Edelstein befestigt war, und einen dunkelrot gefütterten Mantel. Sie war mir nie so schön erschienen. Sie hatte all die zarte Grazie jener Tanagrafigur, die Sie in Ihrem Atelier haben, Basil. Das Haar rahmte ihr Gesicht ein, wie dunkle Blätter eine blasse Rose. Und dann ihr Spiel! Nun, Sie werden sie ja heute abend sehen. Sie ist einfach eine geborene Künstlerin. Ich saß wie bezaubert in der schmierigen Loge. Ich vergaß, daß ich in London, im neunzehnten Jahrhundert lebe. Ich war mit meiner Geliebten weit fort im Wald, den noch kein Mensch betrat. Nach der Vorstellung ging ich hinter die Szene und sprach mit ihr. Als wir nebeneinander saßen, trat plötzlich in ihre Augen ein Ausdruck, den ich nie vorher gesehen hatte. Meine Lippen neigten sich ihr zu. Wir küßten uns. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, was ich empfunden habe. Es schien mir, als ob mein ganzes Leben in einen Augenblick rosenroter Lust zusammengepreßt sei. Sie zitterte am ganzen Körper und bebte wie eine weiße Narzisse. Dann warf sie sich auf die Knie und küßte meine Hände. Ich weiß, daß ich Ihnen alles das nicht erzählen sollte, aber ich kann nicht anders. Natürlich ist unsere Verlobung tiefstes Geheimnis. Sie hat nicht einmal ihrer Mutter etwas davon verraten. Ich weiß nicht, was meine Vormünder dazu sagen werden. Lord Radley wird sicher wütend sein. Ist mir einerlei! In weniger als einem Jahr bin ich volljährig und dann kann ich tun, was ich will. Hatte ich nicht recht, Basil, meine Liebe aus der Dichtung zu holen und meine Frau in Shakespeares Dramen zu suchen? Lippen, die Shakespeare reden gelehrt hat, haben mir ihr Geheimnis ins Ohr geflüstert. Rosalindens Arme lagen um meinen Hals und ich habe Julia auf den Mund geküßt."

"Ja, Dorian, ich glaube, Sie hatten recht", sagte Hallward langsam.

"Haben Sie sie heute schon gesehen?" fragte Lord Henry.

Dorian Gray schüttelte den Kopf. "Ich habe sie im Ardennenwald verlassen und werde sie in einem Garten von Verona wiederfinden."

Lord Henry schlürfte bedächtig seinen Champagner. "In welchem Augenblick haben Sie von einer Heirat gesprochen, Dorian? Und was sagte sie darauf? Oder haben Sie das ganz vergessen?

"Mein lieber Henry, ich habe das nicht wie ein Geschäft behandelt und habe ihr auch keinen förmlichen Antrag gemacht. Ich sagte ihr, daß ich sie liebe und sie sagte, sie sei nicht wert, mein Weib zu sein. Nicht wert! Und dabei ist mir diese ganze Welt nichts im Vergleich zu ihr."

"Die Frauen sind wunderbar praktisch", murmelte Lord Henry. "Viel praktischer als wir. In solchen Situationen vergessen wir oft, etwas vom Heiraten zu sagen, aber sie erinnern uns immer daran."

Hallward legte die Hand auf seinen Arm. "Nicht doch, Henry. Sie kränken Dorian. Er ist nicht wie andere Männer. Er würde nie jemanden unglücklich machen. Seine Natur ist dazu zu fein."

Lord Henry blickte ihn über den Tisch an. "Dorian ist nie böse auf mich", antwortete er. "Ich habe aus dem besten Grund, den es überhaupt gibt, gefragt, aus dem einzigen Grund, der eine Entschuldigung für eine Frage ist: einfach aus Neugierde. Nach meiner Theorie sind es immer die Frauen, die einen Antrag machen, niemals die Männer. Natürlich mit Ausnahme des Mittelstandes, aber der ist ja auch eben nicht modern."

Dorian Gray lachte und schüttelte den Kopf. "Sie sind unverbesserlich, Henry, aber man kann Ihnen nicht böse sein. Wenn Sie Sibyl Vane sehen, dann werden Sie fühlen, daß der Mann, der ihr ein Leid antun könnte, ein Tier sein muß, ein herzloses Tier. Ich kann es nicht begreifen, wie man ein Wesen, das man liebt, in Schande bringen kann. Ich liebe Sibyl Vane. Ich möchte sie auf einen goldenen Sockel stellen und die ganze Welt sollte das Weib, das mir gehört, anbeten. Was ist Ehe? Ein unwiderrufliches Gelübde, und Sie spotten deshalb darüber. Ach, spotten Sie nicht! Es ist ein unwiderrufliches Gelübde, das ich aussprechen will. Ihr Vertrauen macht mich treu, ihr Glaube an mich macht mich gut. Wenn ich bei ihr bin, verabscheue ich alles, was Sie mich gelehrt haben. Ich werde ein ganz anderer Mensch als der, den Sie kennen. Ich bin wie umgewandelt und die bloße Berührung von Sibyl Vanes Hand läßt mich Sie vergessen und alle Ihre falschen, fesselnden, vergiftenden, entzückenden Theorien."

"Und welches sind die Theorien?" fragte Lord Henry, während er vom Salat nahm.

"Ihre Theorien über das Leben, über die Liebe, über den Genuß, kurz, alle Ihre Theorien, Henry."

"Genuß ist das einzige auf der Welt, das eine Theorie wert ist", antwortete er mit seiner langsamen, musikalischen Stimme. "Aber ich fürchte, ich kann sie nicht als mein geistiges Eigentum in Anspruch nehmen, denn sie gehört der Natur selbst an, nicht mir. Genuß ist der Prüfstein der Natur, das Zeichen ihrer Zustimmung. Wenn wir glücklich sind, sind wir immer gut; aber wenn wir gut sind, sind wir nicht immer glücklich."

"Was verstehen Sie unter ,gut'?" rief Basil Hallward.

"Ja", wiederholte Dorian, indem er sich in seinem Stuhle zurücklehnte und über die schweren rotblütigen Schwertlilien, die in der Mitte des Tisches standen, zu Lord Henry blickte. "Was verstehen Sie unter ,gut', Henry?"

"Gut sein, heißt mit sich selbst eins sein", antwortete er, den dünnen Stiel seines Glases zwischen den feinen, weißen Fingern drehend. "Schlecht sein, heißt mit anderen übereinstimmen müssen. Das eigene Leben, das ist es, worauf es ankommt, nicht aber das Leben unserer Nächsten. Wenn man das dringende Bedürfnis hat, ein Pedant oder ein Puritaner zu sein, dann mag man den anderen seine moralischen Ansichten ins Gesicht schleudern, in Wirklichkeit aber gehen sie einen gar nichts an. Abgesehen davon, der Individualismus hat wirklich die höheren Ziele. Die moderne Sittlichkeit besteht darin, daß man die Ansichten seiner Zeit annimmt. Nach meiner Überzeugung aber ist es für jeden Menschen von Kultur direkt unmoralisch, die Ansichten seiner Zeit anzunehmen.

"Wenn man aber nur für sich selbst lebt, Henry, muß man dafür nicht einen schrecklichen Preis zahlen? fragte der Maler.

"Ja, heutzutage müssen wir alles überzahlen. Ich glaube, daß die wirkliche Tragödie der Armut die ist, daß die Armen sich nichts leisten können als Selbstverleugnung. Schöne Sünden, wie alle schönen Dinge, sind das Vorrecht der Reichen."

"Man kann auch in anderer Münze zahlen als mit Geld."

"In welcher Münze, Basil?"

"Ich meine, mit ‘Gewissensbissen' mit Schmerzen, mit ... kurz mit dem Gefühl der Erniedrigung."

Lord Henry zuckte die Achseln. "Mein lieber Freund, mittelalterliche Kunst ist etwas Entzückendes, aber mittelalterliche Gefühle sind reichlich unzeitgemäß. Man kann sie natürlich noch in Romanen verwenden, denn die einzigen Dinge, die in Romanen zu verwerten sind, sind solche, die in der Wirklichkeit wertlos geworden sind. Glauben Sie mir, kein kultivierter Mensch bereut jemals einen Genuß und kein unkultivierter Mensch weiß, was Genuß ist."

"Ich weiß, was Genuß ist!" rief Dorian Gray. "Jemanden anbeten.

"Das ist sicher besser, als angebetet zu werden", antwortete Henry, während er mit einigen Früchten spielte. "Angebetet werden, ist peinlich. Die Weiber behandeln uns genau, wie die Menschheit ihre Götter. Sie beten uns an und quälen uns immer, irgend etwas für sie zu tun."

"Ich würde eher sagen: alles, was sie von uns verlangen haben sie uns zuerst geschenkt", flüsterte ernst der Jüngling. "Sie schaffen die Liebe in uns, also haben sie ein Recht, sie dann zurückzuverlangen."

"Das ist ganz richtig, Dorian", rief Hallward.

"Nie ist etwas ganz richtig", sagte Lord Henry.

"Das aber doch", unterbrach Dorian. "Sie müssen zugeben, Henry, daß die Frauen den Männern das echte Gold des Lebens schenken."

"Vielleicht", seufzte er. "Aber unfehlbar verlangen sie es dann in wirklicher Münze zurück. Das ist das Unangenehme dabei. Ein witziger Franzose hat einmal gesagt: ,Die Frauen regen uns an, Meisterwerke zu schaffen und verhindern uns dann, sie auszuführen'."

"Henry, Sie sind schrecklich. Ich weiß wirklich nicht, warum ich Sie so gern habe."

"Sie werden mich immer gern haben, Dorian", antwortete er. "Wollen wir jetzt Kaffee trinken? Kellner, bringen Sie Kaffee, Fine-Champagne und Zigaretten. Nein, lassen Sie die Zigaretten, ich habe selbst welche. Basil, ich kann Ihnen nicht erlauben, eine Zigarre zu rauchen, Sie müssen eine Zigarette nehmen. Die Zigarette ist der vollendete Typus eines vollendeten Genusses: sie ist köstlich und läßt uns unbefriedigt. Was kann man noch mehr verlangen?... Ja, Dorian, Sie werden mich immer lieb haben. Ich bin für Sie der Inbegriff aller Sünden, die zu begehen Sie nicht den Mut haben."

"Was für Unsinn Sie sprechen!" rief der junge Mann, während er seine Zigarette an dem feuerspeienden Silberdrachen, den der Kellner auf den Tisch gestellt hatte, anzündete. "Wir wollen jetzt ins Theater fahren. Wenn Sibyl auftritt, werden Sie ein neues Lebensideal bekommen. Sie wird Ihnen etwas offenbaren, das Sie noch nicht kennen."

"Ich habe alles kennengelernt, sagte Lord Henry mit einem müden Blick in den Augen. "Aber ich bin immer bereit, eine neue Emotion zu erleben. Nur fürchte ich, daß es für mich derlei nicht mehr gibt. Immerhin, Ihr wunderbares Mädchen wird mich vielleicht erschüttern. Ich liebe die Schauspielkunst. Sie ist so viel wirklicher als das Leben. Wir wollen also gehen. Dorian, Sie kommen mit mir. Basil, es tut mir sehr leid, aber in meinem Wagen ist nur Platz für zwei. Sie müssen eine Droschke nehmen."

Sie standen auf, zogen ihre Mäntel an und tranken den Kaffee stehend. Der Maler war schweigsam und in Gedanken versunken. Ein düsteres Gefühl lastete auf ihm. Diese Heirat gefiel ihm gar nicht und doch schien sie ihm besser zu sein als manches andere, das hätte geschehen können. Nach einigen Minuten gingen sie alle hinunter. Er fuhr allein, wie man es besprochen hatte, und betrachtete die glänzenden Lichter des kleinen Wagens, der vor ihm dahinrollte. Das seltsame Gefühl eines großen Verlustes überkam ihn. Er empfand, daß Dorian Gray für ihn nie mehr das sein würde, was er ihm bisher gewesen war. Das Leben war zwischen sie getreten.. . Vor seinen Augen wurde es dunkel und die menschenwimmelnden, schimmernden Straßen verschwammen vor seinem Blick. Als der Wagen am Theater vorfuhr, schien es ihm, als sei er um viele Jahre älter geworden.

 

 

Siebentes Kapitel

Aus irgendeinem Grunde war das Haus an diesem Abend dicht gefüllt und der dicke jüdische Direktor, der sie an der Tür empfing, strahlte in einem öligen, unruhigen Lächeln, das von einem Ohr bis zum andern ging. Er begleitete sie zu ihrer Loge mit einer würdevollen Demut, die fetten, juwelenbedeckten Hände bewegend und in den höchsten Tönen sprechend. Dorian haßte ihn mehr als je. Er hatte das Gefühl, als hätte er Miranda besudeln wollen und Kaliban habe ihn erwartet. Dagegen hatte Lord Henry etwas für ihn übrig. Wenigstens behauptete er das, bestand darauf, ihm die Hand zu schütteln und ihm zu versichern, daß er stolz darauf sei, einen Mann kennenzulernen, der ein wirkliches Genie entdeckt habe und eines Dichters wegen bankrott geworden sei. Hallward unterhielt sich damit, die Gesichter im Parterre zu beobachten. Die Hitze war furchtbar drückend und der große Kronleuchter flammte wie eine ungeheure Dahlie mit Blättern aus gelbem Feuer. Die jungen Leute auf der Galerie hatten die Röcke und Westen ausgezogen und sie über die Rampe gehängt. Sie sprachen miteinander über das ganze Theater hinweg und teilten ihre Apfelsinen mit den Mädchen im billigen Putz, die neben ihnen saßen. Ein paar Weiber lachten unten im Parterre; ihre Stimmen waren schrecklich schrill und häßlich. Von der Bar her kam das Geräusch von Flaschen, die entkorkt wurden.

"Was für ein sonderbarer Ort, um seine Göttin zu entdecken", rief Lord Henry.

"Ja", erwiderte Dorian Gray. "Hier habe ich sie gefunden. Und sie ist eine Göttin über allen Lebendigen. Wenn sie spielt, werden Sie alles vergessen. Diese gemeinen, rohen Leute mit ihren ordinären Gesichtern und ihren brutalen Bewegungen werden ganz umgewandelt, wenn sie auf der Bühne steht. Sie sitzen stumm da und beobachten sie, sie weinen und lachen, wie sie es will. Sie läßt sie tönen wie eine Geige. Sie vergeistigt sie und man spürt dann, daß sie im Grunde vom selben Fleisch und Blut sind wie wir."

"Vom selben Fleisch und Blut wie wir selber? Oh, ich hoffe doch nicht!" rief Lord Henry, der mit seinem Opernglas die Leute auf der Galerie musterte.

"Achten Sie gar nicht auf ihn", sagte der Maler. "Ich begreife, was Sie sagen wollen und ich glaube an dieses Mädchen. Ein Mensch, den Sie lieben, muß wunderbar sein, und jedes Mädchen, das die Wirkung erzielt, die Sie beschreiben, muß fein und vornehm sein. Seine Zeit zu vergeistigen, das ist etwas Wertvolles. Wenn das Mädchen denen eine Seele geben kann, die bisher seelenlos gelebt haben, wenn sie in Menschen, deren Dasein bisher schmutzig und häßlich war, einen Sinn für Schönheit erwecken kann, wenn sie sie aus ihrer Welt des Eigennutzes losreißen und ihnen Tränen um Leiden entlocken kann, die nicht ihre eigenen sind, dann ist sie Ihrer Liebe wert, ja der Liebe der ganzen Welt. Ich habe es anfangs nicht so gesehen, jetzt aber gebe ich es zu. Die Götter haben Sibyl Vane für Sie geschaffen. Ohne sie wären Sie nur unvollständig gewesen."

"Dank, Basil´, antwortete Dorian Gray und drückte ihm die Hand. "Ich wußte, daß Sie mich verstehen würden. Henry ist ein Zyniker, er erschreckt mich. Aber da kommt das Orchester. Es ist furchtbar, doch es dauert nur fünf Minuten, dann geht der Vorhang auf und Sie werden das Mädchen sehen, dem ich mein ganzes Leben schenken will, und alles, was gut in mir ist."

Eine Viertelstunde später betrat Sibyl Vane unter einem unglaublichen Beifallssturm die Bühne. Ja, sie war wirklich entzückend. Lord Henry schien sie eines der lieblichsten Geschöpfe, das er je gesehen hatte. Es war etwas von einem Reh in ihrer scheuen Grazie und ihren erschrockenen Augen. Ein leises Erröten, wie das Abbild einer Rose in einem silbernen Spiegel, trat auf ihre Wangen, als sie in das überfüllte und begeisterte Haus blickte. Sie trat ein paar Schritte zurück und ihre Lippen schienen zu zittern. Basil Hallward sprang auf und begann zu klatschen. Bewegungslos und wie einer, der träumt, saß Dorian Gray da und sah sie an. Lord Henry starrte durch sein Glas und flüsterte: "Entzückend! Entzückend!"

Die Bühne stellte die Halle in Capulets Haus dar und Romeo in seinem Pilgerkleid war mit Mercutio und seinen anderen Freunden aufgetreten. Die Musik schlug, so gut sie konnte, ein paar Akkorde an und der Tanz begann. Mitten in dem Haufen von plumpen, schäbig angezogenen Schauspielern bewegte sich Sibyl Vane wie ein Geschöpf aus einer anderen Welt. Sie schwebte im Tanz, wie eine Blume auf dem Wasser schwimmt. Die Linien ihres Halses waren die Linien einer weißen Lilie. Ihre Hände schienen aus kühlem Elfenbein gemacht.

Und doch schien sie seltsam unbewegt. Sie verriet kein Zeichen der Freude, während ihre Augen auf Romeo ruhten. Die wenigen Worte, die sie zu sprechen hatte:

"Nein, Pilger, lege nichts der Hand zu schulden

Für ihren sittsam-andachtsvollen Gruß;

Der Heil'gen Rechte darf Berührung dulden,

Und Hand in Hand ist frommer Waller Kuß"

mit dem kurzen Dialog, der folgt, sprach sie völlig gekünstelt und maniriert, die Stimme war wunderbar, aber der Ton vollständig falsch und unrichtig gefärbt. Er nahm den Versen alles Leben und machte ihre Leidenschaftlichkeit unwahr.

Dorian Gray erbleichte, als er hinsah. Er war verlegen und erschreckt. Seine beiden Freunde wagten es nicht, ihm etwas zu sagen. Sie schien ihnen vollkommen talentlos zu sein. Sie waren furchtbar enttäuscht.

Aber sie fühlten, daß der Prüfstein für jede Julia die Balkonszene im zweiten Akt sei. Die warteten sie also ab. Wenn sie hier versagte, dann war nichts an ihr.

Sie sah reizend aus, als sie im Mondschein auftrat. Das konnte niemand leugnen. Aber das Theatralische ihres Spieles war unerträglich und wurde in jeder Szene ärger. Ihre Bewegungen waren lächerlich gekünstelt. Sie übertrieb das Pathos jedes Wortes, das sie zu sagen hatte. Die wundervollen Verse:

"Du weißt, die Nacht verschleiert mein Gesicht,

Sonst färbte Mädchenröte meine Wangen

Um das, was du vorhin mich sagen hörtest"

deklamierte sie mit der peinlichen Genauigkeit eines Schulmädchens, das ein mittelmäßiger Vortragslehrer unterrichtet hat. Als sie sich über den Balkon lehnte und zu den herrlichen Versen kam:

" ... Obwohl ich dein mich freue,

Freu' ich mich nicht des Bundes dieser Nacht:

Er ist zu rasch, zu unbedacht, zu plötzlich,

Gleicht allzusehr dem Blitz, der schon vorbei,

Noch eh man sagen kann: es blitzt–Schlaf süß!

Die Liebesknospe mag warmer Sommerhauch

Bis wir uns wiederseh'n, zur Blum' entfalten,"

sprach sie die Worte, als enthielten sie keinerlei Sinn für sie. Keine Erregung war in ihr, ja, weit entfernt davon, erregt zu sein, schien sie ganz mit sich zufrieden. Es war einfach elendes Theaterspiel. Sie versagte vollständig.

Selbst das gewöhnliche, ungebildete Publikum des Parterres und der Galerie verlor das Interesse am Stück. Die Leute wurden unruhig und begannen laut zu sprechen und zu zischen. Der jüdische Direktor, der hinten im ersten Rang stand, stampfte mit den Füßen und fluchte vor Wut. Der einzige Mensch, den das alles nicht berührte, war das Mädchen selbst.

Als der zweite Akt zu Ende war, brach ein Sturm von Zischen los und Lord Henry stand von seinem Stuhl auf und zog seinen Mantel an. "Sie ist wirklich wunderschön, Dorian", sagte er, "aber sie kann nicht spielen. Wir wollen gehen."

"Ich will das Stück bis zu Ende sehen", antwortete der junge Mann mit erbitterter Stimme. "Es tut mir ungemein leid, daß ich Sie veranlaßt habe, einen Abend zu vergeuden, Henry. Ich muß mich bei Ihnen beiden entschuldigen."

"Mein lieber Dorian", unterbrach ihn Hallward. "Ich glaube, Miß Vane war krank. Wir wollen an einem anderen Abend wiederkommen."

"Ich wünschte, sie wäre krank", erwiderte er. "Aber ich glaube, sie hat nur kein Gefühl und ist kalt. Sie hat sich völlig verändert. Gestern abend war sie eine große Künstlerin, heute abend ist sie nur eine gewöhnliche, mittelmäßige Schauspielerin."

"Dorian, sprechen Sie nicht so über jemand, den Sie lieben. Die Liebe ist etwas viel Wunderbareres als die Kunst."

"Es sind beides nur Formen der Nachahmung", bemerkte Lord Henry. "Aber wir wollen gehen. Dorian, Sie dürfen nicht länger hierbleiben. Es ist für unsere Moral nicht gut, schlechte Schauspielerei anzusehen. Ich glaube übrigens nicht, daß Sie Ihre Frau auftreten lassen werden. Was liegt also daran, daß sie die Julia spielt wie eine Holzpuppe! Sie ist wirklich entzückend, und wenn sie so wenig vom Leben weiß wie vom Theaterspielen, wird sie eine wundervolle Erfahrung für Sie sein. Es gibt nur zwei Arten fesselnder Menschen: solche, die alles wissen und solche, die gar nichts wissen. Großer Gott, mein lieber Junge, machen Sie kein tragisches Gesicht! Das Rezept, ewig jung zu bleiben, ist einfach, nie eine Erregung zu haben, die einem schlecht bekommt. Kommen Sie mit Basil und mir in den Klub! Wir wollen Zigaretten rauchen und auf Sibyl Vanes Schönheit ein Glas trinken. Sie ist schön. Was können Sie noch mehr verlangen?"

"Gehen Sie, Henry, rief der Jüngling. "Ich will allein sein. Basil, auch Sie müssen gehen. Könnt ihr denn nicht sehen, daß mir das Herz bricht?" Heiße Tränen traten ihm in die Augen. Seine Lippen bebten. Er rückte in die tiefste Ecke der Loge, lehnte sich an die Wand und barg das Gesicht in den Händen.

"Kommen Sie, Basil", sagte Lord Henry mit seltsam zärtlicher Stimme; und die beiden Männer gingen zusammen hinaus.

Ein paar Augenblicke später flammten die Rampenlichter wieder auf und der Vorhang ging zum dritten Akt in die Höhe. Dorian Gray kehrte auf seinen Platz zurück. Er sah bleich, hochmütig, gleichgültig aus. Das Spiel schleppte sich weiter und schien kein Ende zu nehmen. Die Hälfte des Publikums ging weg, auf schweren Schuhen trampelnd, lachend. Die ganze Sache war ein Fiasko. Der letzte Akt wurde fast vor leeren Bänken gespielt. Als der Vorhang fiel, hörte man Zischen und höhnische Rufe.

Sobald es aus war, stürzte Dorian Gray hinter die Kulissen in die Garderobe. Das Mädchen stand allein da, ein triumphierendes Lächeln im Gesicht. Die Augen glänzten in leuchtendem Feuer. Ein Strahlen ging von ihr aus. Ihre halbgeöffneten Lippen lächelten über ein Geheimnis, das ihnen allein gehörte.

Als er eintrat, blickte sie ihn an und ein Ausdruck unsäglicher Lust erfüllte sie. "Wie schlecht ich heute abend gespielt habe, Dorian!" rief sie aus.

"Schrecklich", antwortete er und sah sie voll Staunen an. "Schrecklich. Es war furchtbar. Bist du krank? Du hast ja keine Ahnung, wie es war. Keine Ahnung, was ich gelitten habe."

Das Mädchen lächelte. "Dorian", antwortete sie, seinen Namen behutsam, mit einer gedehnten Musik in der Stimme aussprechend, als wäre er den roten Blüten ihres Mundes süßer als Honig. "Dorian, du hättest das verstehen müssen! Aber jetzt begreifst du es doch?"

"Was soll ich begreifen", fragte er zornig.

"Warum ich heute abend so schlecht gespielt habe. Warum ich immer schlecht spielen werde, warum ich nie mehr gut spielen kann."

Er zuckte die Achseln. "Du bist gewiß krank. Wenn du nicht gesund bist, solltest du nicht auftreten. Du machst dich ja lächerlich. Meine Freunde haben sich gelangweilt. Ich habe mich auch gelangweilt."

Sie schien nicht zu hören, was er sagte. Sie war außer sich vor Lust. Eine Ekstase des Glücks beherrschte sie.

"Dorian, Dorian", rief sie aus. "Bevor ich dich kannte, war Spielen das einzig Wirkliche in meinem Leben. Nur auf der Bühne lebte ich. Ich hielt das alles für wahr. An einem Abend war ich Rosalinde, Portia am anderen. Beatrices Glück war mein Glück und Cordelias Tränenschmerz war meiner. Alles glaubte ich. Die gewöhnlichen Leute, die mit mir spielten, schienen mir Götter. Die bemalte Leinwand war für mich die Welt. Ich kannte nichts als Schatten und sie waren mir die Wirklichkeit. Da kamst du, mein schöner Geliebter, und befreitest meine Seele aus ihrem Gefängnis. Du hast mich gelehrt, was die Wirklichkeit ist. Heute hab' ich zum erstenmal in meinem Leben die ganze Hohlheit durchschaut, den Lug, die Albernheit, den leeren Prunk, zwischen dem ich immer gespielt habe. Heute abend wußte ich zum erstenmal, daß dieser Romeo häßlich, alt und geschminkt ist, daß der Mond im Garten Trug, die ganze Umgebung ordinär war und daß die Worte, die ich zu sprechen hatte, nicht wahr, nicht meine Worte sind, nicht die waren, die ich hätte sagen wollen. Du hast mir etwas Höheres geschenkt, etwas, von dem die Kunst nur ein Abglanz ist. Durch dich habe ich gelernt, was die Liebe in Wahrheit ist. Geliebter, Geliebter! Märchenprinz, Prinz meines Lebens! Ich bin der Schatten müde. Du bist mir mehr, als alle Kunst sein kann. Was hab' ich mit diesen Puppen zu schaffen?!... Als ich heute abend auftrat, konnte ich nicht begreifen, wie all das von mir abgefallen war. Ich hatte gedacht, ich würde wundervoll sein und fand, daß ich durchaus versagte. Plötzlich dämmerte es dann meiner Seele, was all das bedeutet. Es war herrlich, das zu wissen. Ich hörte sie zischen und lächelte. Was wissen die von Liebe, wie sie die unsere ist? Nimm mich fort, Dorian - nimm mich mit dir irgendwohin, wo wir allein sind. Ich hasse das Theater. Ich könnte vielleicht eine Leidenschaft darstellen, die ich nicht fühle, aber ich kann keine spielen, die in mir brennt wie Feuer. Ach, Dorian, Dorian, kannst du jetzt begreifen, was das alles bedeutet? Selbst wenn ich es fertig brächte, wäre es Entweihung, Liebe zu spielen, während ich liebe. Du hast mir darüber die Augen geöffnet."

Er warf sich auf das Sofa und wandte sein Gesicht ab. "Du hast meine Liebe getötet", murmelte er.

Sie sah ihn staunend an und lachte. Er gab keine Antwort. Sie kam hin zu ihm und strich mit ihren kleinen Fingern über sein Haar. Sie kniete neben ihm nieder und preßte seine Hand an ihre Lippen. Er schob sie weg und ein Schauer rann über seinen Körper.

Da sprang er auf und ging zur Tür. "Ja", rief er aus, "du hast meine Liebe getötet. Früher hast du meine Phantasie angeregt, jetzt reizt du nicht einmal meine Neugierde. Du wirkst einfach nicht. Ich liebte dich, weil du ein wundervolles Geschöpf warst, weil du Genie und Geist besaßt, weil du die Träume großer Dichter erfülltest, den Schatten der Kunst Form und Körper gabst. All das hast du vernichtet. Jetzt bist du leer und dumm. Mein Gott, was für ein Narr war ich, dich zu lieben! Wie verrückt war ich! Jetzt bist du mir nichts. Ich will dich nie mehr sehen, nie mehr an dich denken. Ich will nie wieder deinen Namen aussprechen. Du weißt nicht, was du mir warst, früher einmal. Ich ertrage es nicht, daran zu denken. Ich wünschte, ich hätte dich nie gesehen. Du hast die Romantik meines Lebens zerstört. Wie wenig kannst du von Liebe wissen, wenn du sagst, sie zerstöre deine Kunst. Ohne deine Kunst bist du ja nichts!... Ich hätte aus dir eine Berühmtheit gemacht, eine Leuchte, etwas ganz Großes. Die Welt hätte dich angebetet und du hättest meinen Namen getragen. Was bist du jetzt? Eine Schauspielerin dritten Grades mit einem hübschen Gesicht."

Das Mädchen wurde bleich und zitterte. Sie preßte die Hände zusammen und ihre Stimme schien ihr in der Kehle steckenzubleiben. "Das ist nicht dein Ernst, Dorian?" flüsterte sie. "Du spielst mir etwas vor."

"Spielen? Das überlaß ich dir, das kannst du ja so gut", entgegnete er bitter.

Sie erhob sich von den Knien und trat mit einem jammervollen, schmerzerfüllten Gesicht auf ihn zu. Sie legte die Hand auf seinen Arm und sah ihm in die Augen. Er stieß sie zurück. "Berühre mich nicht!" schrie er.

Ein kleines Stöhnen entrang sich ihr. Sie warf sich ihm zu Füßen und lag da wie eine zertretene Blüte. "Dorian, Dorian, geh' nicht fort von mir!" ächzte sie leise. "Es tut mir ja so leid, daß ich nicht gut gespielt habe. Ich dachte immer nur an dich. Aber ich will es wieder versuchen, wirklich, ich will es versuchen. Die Liebe zu dir kam so jäh über mich. Ich glaube, ich hätte nie von ihr gewußt, wenn du mich nicht geküßt hättest, wenn wir uns nicht geküßt hätten. Küss' mich wieder, Geliebter! Geh nicht von mir! Mein Bruder. . . Nein, das nicht. Er meinte es ja nicht so. Er hat nur gescherzt... Kannst du mir den heutigen Abend denn nicht verzeihen? Ich werde fleißig sein und besser werden... Sei nicht grausam gegen mich, weil ich dich mehr liebe als irgend etwas auf der Welt. Es ist doch nur ein einziges Mal, daß ich dir nicht gefallen habe. Aber du hast ganz recht, Dorian. Ich hätte mich mehr als Künstlerin erweisen sollen. Es war töricht von mir. Und doch konnte ich nicht anders. Ach, geh nicht von mir, verlaß mich nicht..."

Leidenschaftliches Schluchzen erschütterte sie. Sie kauerte auf der Erde wie ein wundes Tier und Dorian Gray sah mit seinen schönen Augen auf sie herab und seine feinen Lippen kräuselten sich voll Verachtung. Die Empfindungen von Menschen, die man nicht mehr liebt, haben immer etwas Lächerliches. Sibyl Vane schien ihm überspannt, melodramatisch. Ihre Tränen und ihr Schluchzen machten ihn nur nervös.

"Ich gehe", sagte er schließlich mit seiner ruhigen, klaren Stimme. "Ich möchte nicht hart sein, aber ich kann dich nie wieder sehen. Du hast mich zu sehr enttäuscht."

Sie weinte still, sagte nichts, aber kroch näher an ihn heran. Ihre kleinen Hände streckten sich ins Ungewisse aus und schienen ihn zu suchen. Er wandte sich um und ging aus dem Zimmer. Wenige Augenblicke später war er nicht mehr im Theater.

Wohin er ging, wußte er selbst nicht. Er erinnerte sich, durch schwachbeleuchtete Gassen gewandert zu sein, an elenden, in tiefen Schatten liegenden Torwegen und gemein aussehenden Häusern vorbei. Weiber mit rauhen Stimmen und schrillem Lachen hatten hinter ihm her gerufen. Betrunkene waren fluchend vorbeigetaumelt und hatten wie scheußliche Affen mit sich selber gesprochen. Er hatte groteske Kinder auf den Stufen zusammengekauert gesehen, Schreien und Schimpfen aus düsteren Höfen dringen hören.

Als der Morgen anbrach, fand er sich nahe bei Covent Garden wieder. Die Dunkelheit verschwand. Der Himmel rötete sich in mattem Feuer und schimmerte einer Perle gleich. Mächtige Karren, angefüllt mit nickenden Lilien, rumpelten langsam die glatte, leere Straße hinab. Die Luft war schwer vom Duft der Blumen und ihre Schönheit schien ihm Linderung für seinen Schmerz zu bringen. Er ging auf den Markt und sah den Männern zu, die ihre Wagen entluden. Ein Mann in einem weißen Kittel bot ihm Kirschen an. Er dankte, wunderte sich, warum er kein Geld dafür annehmen wollte und begann dann, sie zerstreut zu essen. Sie waren um Mitternacht gepflückt worden und die Kälte des Mondes war in sie eingedrungen. In langer Reihe brachten Burschen Körbe voll von gestreiften Tulpen, von gelben und roten Rosen, zogen an ihm vorbei und wanden sich durch die großen grünen Haufen von Gemüse. Hinter den grauen, von der Sonne gebleichten Säulen der Halle lungerte ein Trupp von schmutzigen, barhäuptigen Mädchen, die warteten, bis die Versteigerung vorbei war. Andere sammelten sich um die auf- und zugehenden Türen des Kaffeehauses auf dem Platze. Die schweren Karrengäule glitten aus und stampften über die rauhen Steine, ihre Glocken und Geschirre schüttelnd. Einige Fuhrleute lagen schlafend auf einem Stoß von Säcken. Mit irisfarbenen Hälsen und roten Füßen liefen überall Tauben umher und pickten Körner auf.

Nach einer Weile rief er eine Droschke an und fuhr nach Hause. Ein paar Augenblicke blieb er auf der Schwelle stehen, sah nach dem stillen Platze zurück, den leeren, geschlossenen Fenstern und den grellen Vorhängen. Der Himmel hatte jetzt die reine Farbe des Opals und die Dächer der Häuser glitzerten wie Silber. Von einem Schornstein der gegenüberliegenden Häuserreihe stieg eine dünne Rauchwolke auf und kräuselte sich wie ein violettes Band in die perlmutterfarbene Luft.

In der großen venezianischen Lampe, von der Barke irgendeines Dogen geraubt, die von der Decke der großen, eichengetäfelten Eingangshalle herabhing, brannten noch drei flackernde Lichter, wie dünne, blaue Flammenblüten in weißem Feuerrahmen. Er drehte sie aus, warf seinen Hut und seinen Mantel auf den Tisch und ging, dann durch das Bibliothekszimmer zur Tür seines Schlafzimmers, eines großen, achteckigen Raumes zu ebener Erde, den er in seinem neu erwachten Verlangen nach Luxus erst kürzlich hatte einrichten und mit kostbaren Renaissancegobelins bespannen lassen, die er in einer nie gebrauchten Dachstube in Selby Royal entdeckt hatte. Als er den Türgriff eben drehen wollte, fiel sein Blick auf das Bildnis, das Basil Hallward von ihm gemalt hatte. Erstaunt schrak er zurück. Dann ging er mit verstörtem Gesicht in sein Zimmer. Nachdem er die Blume aus seinem Knopfloch genommen hatte, schien er zu zögern. Schließlich ging er zurück, näherte sich dem Bilde und musterte es. In dem matten, gedämpften Licht, das durch die cremefarbenen Seidenvorhänge drang, schien es ihm, als sei das Gesicht ein wenig verändert. Der Ausdruck war anders. Man hätte sagen können, daß ein Zug von Grausamkeit um den Mund war. Das war höchst seltsam.

Er drehte sich um, ging zum Fenster und zog den Vorhang in die Höhe. Der helle Morgen flutete durch den Raum und fegte die phantastischen Schatten in dunkle Winkel, wo sie zitternd liegenblieben. Aber der seltsame Ausdruck, den er in dem Gesicht des Bildes bemerkt hatte, schien zu bleiben, ja sich verstärkt zu haben. Das warme, zitternde Sonnenlicht zeigte ihm den grausamen Zug um den Mund so klar, als sähe er sich in einem Spiegel, nachdem er etwas Häßliches getan hatte.

Er stampfte mit dem Fuße auf und nahm vom Tisch einen ovalen Spiegel, der von elfenbeinernen Liebesgöttern getragen wurde, eins der vielen Geschenke Lord Henrys. Eilig blickte er in die glatte Fläche. Aber kein Zug solcher Art verunstaltete seine roten Lippen. Was sollte das bedeuten?

Er rieb sich die Augen, trat ganz nah an das Bild heran und musterte es wieder. An der Malerei selbst konnte man gar kein Zeichen irgendeiner Veränderung bemerken und doch, es war kein Zweifel, daß sich der ganze Ausdruck verändert hatte. Es war keine Einbildung von ihm. Die Sache war nicht zu leugnen.

Er warf sich in einen Stuhl und begann nachzudenken. Jäh trat die Erinnerung an die Worte in sein Bewußtsein, die er in Basil Hallwards Atelier an dem Tage, an dem das Bild fertig wurde, gesagt hatte. Ja, er entsann sich ihrer jetzt ganz deutlich. Er hatte den tollen Wunsch ausgesprochen, daß er selbst jung bleiben möge und das Bild statt seiner altere; daß seine eigene Schönheit unbefleckt bleibe und das Antlitz auf der Leinwand die Last seiner Leidenschaften und Sünden trage; daß das gemalte Bildnis von den Linien der Leiden und Gedanken durchfurcht werde und er den zarten Reiz und die Lieblichkeit der Jugend, die ihm soeben bewußt geworden war, behalte. War sein Wunsch in Erfüllung gegangen? Solche Dinge gab es doch nicht! Nur daran zu denken, schien ungeheuerlich. Und doch, da stand das Bild vor ihm und hatte einen Zug von Grausamkeit um den Mund.

Grausamkeit! War er denn grausam gewesen? Das Mädchen war schuld, nicht er. Er hatte von ihr als von einer großen Künstlerin geträumt, hatte sie geliebt, weil er sie für groß gehalten hatte. Aber sie hatte ihn enttäuscht. Sie war seicht und seiner unwürdig. Und doch, ein Gefühl unendlichen Mitleids überkam ihn, als er jetzt daran dachte, wie sie zu seinen Füßen gelegen und wie ein kleines Kind geschluchzt hatte. Er erinnerte sich auch, mit welcher kühlen Gleichgültigkeit er sie beobachtet hatte. Warum war er so geschaffen worden? Warum war ihm eine solche Seele gegeben worden? Aber auch er hatte gelitten. In den drei schrecklichen Stunden, die das Stück gedauert hatte, hatte er Jahrhunderte von Schmerzen, Ewigkeiten von Qualen durchlebt. Sein Leiden war gewiß das ihre wert. Wenn er sie für die ganze Lebenszeit verwundet hatte, so hatte sie ihn für einen Augenblick vernichtet. Außerdem, die Frauen sind besser geeignet, Leiden zu tragen, als Männer. Sie leben von ihren Gefühlen, sie denken nur an ihre Gefühle. Wenn sie einen Geliebten nehmen, so ist es nur, um jemand zu haben, dem sie Szenen machen können. Lord Henry hatte ihm das gesagt und Lord Henry kannte die Frauen. Warum sollte er sich über Sibyl Vane beunruhigen? Sie bedeutete ihm ja jetzt nichts mehr.

Aber das Bild? Was sollte er dazu sagen? Es barg das Geheimnis seines Lebens und erzählte seine Geschichte. Es hatte ihn die Liebe zu seiner eigenen Schönheit gelehrt. Sollte es ihn jetzt lehren, seine eigene Seele zu hassen? Würde er es je wieder anblicken können?

Nein, es war ja alles nur eine Einbildung seiner verwirrten Sinne. Die fürchterliche Nacht, die er erlebt hatte, ließ Gespenster hinter sich. Eine fixe Idee, wie sie die Menschen in den Wahnsinn treibt, war plötzlich in seinem Gehirn erwacht. Das Bild konnte nicht anders geworden sein. Es war ein Irrsinn, das anzunehmen.

Und doch blickte es ihn an, das wunderschöne Gesicht durch das grausame Lächeln zerstört. Die blonden Haare leuchteten im frühen Sonnenlicht. Die blauen Augen trafen seine eigenen. Ein Gefühl von grenzenlosem Mitleid überkam ihn, nicht mit sich selbst, sondern mit dem gemalten Bilde vor sich. Schon hatte es sich verändert und würde sich immer mehr verändern. Sein Gold wird zum Grau erbleichen. Seine roten und weißen Rosen werden welken. Für jede Sünde, die er begehen wird, wird auf ihm ein Fleck hervortreten und die Schönheit besudeln. Aber er wird nicht mehr sündigen. Das Bildnis, verwandelt oder nicht, wird für ihn das sichtbare Wahrzeichen des Gewissens sein. Er wird jeder Versuchung widerstehen. Er wird Lord Henry nicht wiedersehen oder doch wenigstens nicht mehr seinen scharfsinnigen, giftigen Lehren lauschen, die damals in Basil Hallwards Garten zum erstenmal in ihm die Leidenschaft für unmögliche Dinge erweckt hatten. Er wird zu Sibyl Vane zurückkehren, sie um Verzeihung bitten, sie heiraten und versuchen, sie wieder zu lieben. Ja, es war seine Pflicht, das zu tun. Sie mußte noch mehr gelitten haben als er. Das arme Kind! Er war selbstsüchtig und grausam gegen sie gewesen. Aber sicher würde die Anziehung, die sie auf ihn ausgeübt hat, wiederkehren. Sie würden glücklich miteinander werden. Sein Leben mit ihr würde schön und rein sein.

Er stand von seinem Stuhl auf und stellte einen großen Schirm vor das Bildnis. Als er es anblickte, schrak er zusammen. "Wie schrecklich", flüsterte er, schritt zur Glastür hinüber und öffnete sie. Er trat in den Garten hinaus und als er auf dem Rasen stand, atmete er tief. Die frische Morgenluft schien all die düsteren Gefühle zu verjagen. Er dachte nur noch an Sibyl. Ein leiser Widerhall seiner Liebe kehrte zurück. Er wiederholte ihren Namen immer und immer wieder. Die Vögel, die in dem taubedeckten Garten sangen, schienen den Blumen von ihr zu erzählen.

 

 

Achtes Kapitel

Mittag war längst vorüber, als er erwachte. Der Diener war mehrmals auf den Fußspitzen in das Zimmer geschlichen. um zu sehen, ob er sich rühre, denn er hatte sich gewundert. daß sein junger Herr so lange schlafe. Schließlich klingelte es. Viktor trat leise herein mit einer Schale Tee und einem Stoß Briefe auf einem kleinen Tablett aus altem Sevresporzellan und zog die olivgrünen Atlasvorhänge, deren Futter blau schimmerte, von den drei großen Fenstern zurück.

"Monsieur hat heute morgen gut geschlafen", sagte er lächelnd.

"Wieviel Uhr ist es, Viktor?" fragte Dorian Gray noch verschlafen.

"Ein Viertel zwei, Monsieur!"

Wie spät es war! Er richtete sich auf, nahm einige Schlucke Tee und sah die Briefe durch. Einer von ihnen war von Lord Henry und war heute morgen von einem Boten gebracht worden. Er zögerte einen Augenblick und legte ihn dann zur Seite. Die anderen öffnete er zerstreut. Sie enthielten die gewöhnliche Sammlung von Karten, Dinereinladungen, Einladungen zu Ausstellungen, Programme von Wohltätigkeitskonzerten und ähnlichen Aufforderungen, mit denen der junge Mann aus der Gesellschaft während der Saison jeden Morgen überschüttet wird. Es war auch eine recht große Rechnung dabei über ein Louis-XV.-Toilettservice aus getriebenem Silber, die er seinem Vormund zu schicken noch nicht gewagt hatte. Der war nämlich ein außerordentlich altmodischer Herr und konnte nicht begreifen, daß wir in einer Zeit leben, in der die unnötigen Dinge das einzig Notwendige sind. Dann war eine Reihe sehr höflich abgefaßter Mitteilungen von Wucherern da, die sich erboten, ihm in kürzester Zeit jeden Geldbetrag zu den mäßigsten Zinsen zu leihen.

Ungefähr nach zehn Minuten stand er auf, zog einen eleganten Morgenanzug aus seidengestickter Kaschmirwolle an und ging in das onyxgepflasterte Badezimmer. Das kühle Wasser erfrischte ihn nach dem langen Schlafe. Er schien alles vergessen zu haben, was er durchgemacht hatte. Ein- oder zweimal überkam ihn die dunkle Empfindung, als hätte er irgendwie an einer seltsamen Tragödie teilgenommen, doch seine Erinnerung hatte die Unwirklichkeit eines Traumes.

Als er angezogen war, ging er in das Bibliothekzimmer und setzte sich zu einem leichten französischen Frühstück nieder, das auf einem kleinen runden Tisch nahe beim offenen Fenster gedeckt war. Es war ein wunderbarer Tag. Die warme Luft schien schwer von Wohlgerüchen. Eine Biene flog herein und summte um die blaue Drachenschale, die mit schwefelgelben Rosen gefüllt, vor ihm stand. Er fühlte sich vollständig glücklich.

Plötzlich fiel sein Blick auf den Schirm, den er vor das Bild gestellt hatte, und er zuckte zusammen.

"Ist es Monsieur zu kalt?" fragte der Diener, während er ein Omelett auf den Tisch stellte. "Soll ich das Fenster schließen?"

Dorian schüttelte den Kopf. "Mir ist nicht kalt", murmelte er.

War es Wahrheit? Hatte sich das Bild wirklich verändert? Oder war es nur seine eigene Phantasie gewesen, die ihn einen Zug von Schlechtigkeit dort hatte erblicken lassen, wo vordem ein Zug der Freude gewesen war? Eine bemalte Leinwand konnte sich doch nicht verändern. Das war absurd. Das müßte er einmal Basil erzählen, der würde darüber lächeln.

Und doch, wie lebendig war die Erinnerung an das ganze Erlebnis! Zuerst in dem düsteren Zwielicht und dann im hellen Morgenschein hatte er den Zug von Grausamkeit um die entfesselten Lippen gesehen. Er fürchtete sich förmlich davor, daß der Diener hinausgehen würde. Er wußte, sobald er allein war, würde er das Bild betrachten müssen und er fürchtete sich vor der Gewißheit. Als der Diener den Kaffee und die Zigaretten gebracht hatte und sich umdrehte, um zu gehen, empfand er den ungestümen Wunsch, ihm zu sagen, er solle dableiben. Als sich die Tür hinter ihm schloß, rief er ihn zurück. Der Diener stand da und wartete auf seine Befehle. Dorian sah ihn einen Augenblick an. "Ich bin für niemand zu Hause", sagte er mit einem leisen Seufzer. Der Mann verbeugte sich und ging hinaus.

Dorian stand nun vom Tische auf, zündete eine Zigarette an und warf sich auf ein schwellend gepolstertes Sofa, das dem Schirm gegenüber stand. Es war ein ganz alter Schirm aus vergoldetem spanischen Leder, in das ein blumiges Louis-XIV.-Muster geschnitten und getrieben war. Er musterte ihn neugierig und fragte sich, ob der Schirm wohl schon früher einmal das Geheimnis eines Menschenlebens verhüllt habe.

Sollte er ihn überhaupt wegziehen? Warum ihn nicht einfach da stehen lassen? Was konnte ihm die Gewißheit helfen? Wenn die Sache wahr war, war es schrecklich. Wenn sie nicht wahr war, wozu sich darüber aufregen? Aber wie, wenn durch das Schicksal oder durch einen blinden Zufall andere Augen als die seinen dahinter spähten und die fürchterliche Wandlung sähen? Was sollte er tun, wenn Basil Hallward käme und sein eigenes Bild sehen wollte? Basil würde sicher kommen. Nein, die Sache mußte untersucht werden, und zwar sofort. Alles würde besser sein als diese schrecklichen Zweifel.

Er stand auf und verschloß beide Türen. Er wollte wenigstens allein sein, wenn er die Maske seiner Schande betrachtete. Dann zog er den Schirm weg und sah sich selbst von Angesicht zu Angesicht. Es war vollständig wahr. Das Bildnis hatte sich verändert.

Er erinnerte sich später oft und nie ohne Verwunderung, daß er im ersten Augenblick das Bild mit einem rein wissenschaftlichen Interesse betrachtet hatte. Daß eine solche Veränderung vor sich gegangen war, erschien ihm unglaublich und doch war es eine Tatsache. Bestand irgendeine geheime Verwandtschaft zwischen den chemischen Atomen, die auf der Leinwand Form und Farbe angenommen hatten und der Seele, die in ihm lebte? Konnte es sein, daß sie verwirklichten, was seine Seele dachte, daß sie zur Wahrheit machten, was sie träumte? Oder gab es eine andere, noch furchtbarere Erklärung? Er schauderte und fürchtete sich, ging zu dem Diwan zurück und lag nun da, das Bildnis in krankhaftem Schrecken betrachtend.

Eine Wirkung hatte es indes gehabt: es hatte ihm klargemacht, wie ungerecht, wie grausam er gegen Sibyl Vane gewesen war. Noch war es nicht zu spät, das wieder gutzumachen. Sie konnte noch sein Weib werden. Seine unwahre, selbstsüchtige Liebe sollte einer höheren Empfindung Platz machen, sollte sich in eine edlere Leidenschaft wandeln. Das Bildnis, das Basil Hallward gemalt hatte, sollte sein Führer durchs Leben, sollte das für ihn sein, was Heiligkeit für die einen ist, Gewissen für die anderen, die Furcht vor Gott für uns alle. Es gab Schlafmittel für Gewissensbisse, Gifte, die das Sittlichkeitsgefühl einschläfern konnten. Hier aber war das sichtbare Symbol der Erniedrigung, die man durch Sündhaftigkeit erleidet. Hier war ein ewig gegenwärtiges Zeichen des Unheils, das Menschen der eigenen Seele zufügen.

Es schlug drei, dann vier, und die halben Stunden ließen das doppelte Zeichen erklingen, aber Dorian Gray rührte sich nicht. Er suchte die scharlachroten Fäden des Lebens zu entwirren und sie zu einem Muster zu verweben, einen Weg durch den blutigen Irrgarten der Leidenschaft, den er durchwanderte, zu finden. Er wußte nicht, was er tun, nicht, was er denken sollte. Endlich ging er zum Tisch und schrieb einen leidenschaftlichen Brief an das Mädchen, das er geliebt hatte, flehte sie an, ihm zu vergeben und zieh sich des Wahnsinus. Er bedeckte Seite um Seite mit wilden Worten des Leids und noch wilderen des Schmerzes. Es liegt eine Wollust in Selbstanklagen. Wenn wir uns selbst schmähen, haben wir das Gefühl, daß kein anderer uns schmähen dürfe. Die Beichte, nicht der Priester, gibt uns Absolution. Als Dorian den Brief geendet hatte, fühlte er, daß ihm vergeben worden sei...

Plötzlich pochte jemand an ,die Tür. Er hörte Lord Henrys Stimme draußen. "Mein lieber Junge, ich muß Sie sehen. Lassen Sie mich gleich hinein! Ich kann es nicht zugeben, daß Sie sich so abschließen!"

Er gab zuerst keine Antwort und blieb ganz still. Dann klopfte es nochmals, lauter. Ja, es war besser, Lord Henry einzulassen, ihm zu erklären, daß er ein neues Leben anfangen wolle, mit ihm zu streiten, wenn ein Streit nötig würde, sich von ihm zu trennen, wenn eine Trennung unvermeidlich war. Er sprang auf, zog den Schirm hastig vor das Bild und schloß die Tür auf.

"Es tut mir alles so leid, Dorian", sagte Lord Henry, als er eintrat. "Aber Sie dürfen nicht allzuviel daran denken."

"Meinen Sie Sibyl Vane?" fragte der Jüngling.

"Ja, natürlich", erwiderte Lord Henry. Er sank in einen Stuhl und zog langsam die gelben Handschuhe von den Fingern. "Es ist gewiß schrecklich, wenigstens von der einen Seite aus gesehen, aber es war doch schließlich nicht Ihre Schuld. Sagen Sie, sind Sie nach der Vorstellung hinter die Bühne gegangen und haben mit ihr gesprochen, wie das Stück aus war?"

"Ja."

"Ich hatte es erwartet. Haben Sie ihr eine Szene gemacht?"

"Ich war brutal, Henry, entsetzlich brutal. Aber jetzt ist alles wieder in Ordnung. Was geschehen ist, tut mir jetzt nicht mehr leid. Es hat mich Selbsterkenntnis gelehrt."

"Ich bin sehr froh, Dorian, daß Sie es so nehmen. Ich fürchtete, Sie in Gewissensbissen und sich die hübschen lockigen Haare raufend zu finden."

"Das alles habe ich durchgemacht", sagte Dorian und schüttelte lächelnd den Kopf. "Jetzt aber bin ich vollkommen glücklich. Vor allem weiß ich jetzt, was das Gewissen ist. Nicht das, was Sie gesagt haben, sondern das Göttlichste in uns. Spotten Sie nie mehr darüber, Henry -wenigstens nie mehr in meiner Gegenwart. Ich will jetzt gut sein. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß meine Seele häßlich wird."

"Das ist wirklich eine entzückende künstlerische Grundlage der Ethik, Dorian. Ich wünsche Ihnen Glück dazu. Aber wie wollen Sie anfangen?"

"Indem ich Sibyl Vane heirate."

"Sibyl Vane heiraten?" schrie Lord Henry, stand auf und sah ihn mit verblüfftem Staunen an. "Aber mein lieber Dorian -"

"Ja, Henry, ich weiß, was Sie sagen wollen. Irgend etwas Entsetzliches über die Ehe. Sagen Sie es aber nicht. Sagen Sie mir nie mehr solche Dinge. Vor zwei Tagen habe ich Sibyl gebeten, mich zu heiraten. Ich werde ihr mein Wort nicht brechen. Sie wird meine Frau."

"Ihre Frau, Dorian?!. . . Haben Sie denn meinen Brief nicht bekommen? Ich habe Ihnen heute früh geschrieben und das Schreiben durch meinen Diener hergeschickt."

"Ihren Brief? Ja, ich erinnere mich. Ich habe ihn noch nicht gelesen, Henry. Ich fürchtete, daß etwas drinsteht, das ich nicht hören wollte. Sie schneiden das Leben in Stücke mit Ihren Epigrammen."

"Dann wissen Sie also noch nichts?"

"Wovon sprechen Sie?"

Lord Henry ging zu Dorian Gray hinüber, setzte sich neben ihn, nahm seine beiden Hände und hielt sie fest. "Dorian", sagte er. "Mein Brief - erschrecken Sie nicht - sollte Ihnen mitteilen, daß Sibyl Vane tot ist."

Ein schmerzlicher Schrei kam von den Lippen des Jünglings. Er sprang auf und riß seine Hand aus denen Lord Henrys. "Tot! Sibyl tot! Es ist nicht wahr. Das ist eine furchtbare Lüge. Wie können Sie es wagen, das zu behaupten?!

"Es ist wahr, Dorian", sagte Lord Henry ernst. "Es steht in allen Morgenblättern. Ich schrieb Ihnen, Sie sollten niemand empfangen, bis ich komme. Es wird natürlich eine Untersuchung geben, aber Sie dürfen in die Sache nicht hineingezogen werden. Dinge dieser Art bringen einen Mann in Paris in Mode, hier in London haben die Leute aber zu viel Vorurteile. Hier darf man sich nie mit einem Skandal einführen. Man muß sich das aufheben, um im Alter noch zu wirken. Ich nehme an, in dem Theater weiß niemand Ihren Namen, dann ist nämlich alles in Ordnung. Hat Sie übrigens jemand in die Garderobe gehen sehen? Das ist noch eine wichtige

Frage."

Dorian antwortete zuerst nicht. Er war vor Schrecken gelähmt. Schließlich stammelte er mit erstickter Stimme: "Henry, eine Untersuchung, haben Sie gesagt? Wie meinen Sie das? Hat sich Sibyl -? Henry, ich kann es nicht ertragen. Machen Sie's kurz. Sagen Sie mir alles, auf der Stelle!"

"Es war zweifellos kein Unfall, Dorian, wenn man es dem Publikum auch so darstellen muß. Es scheint, daß sie gegen halb eins ungefähr das Theater mit ihrer Mutter verlassen und dann plötzlich gesagt hat, sie habe oben etwas vergessen. Diese wartete einige Zeit auf sie, aber sie kam nicht wieder. Schließlich fand man sie tot auf dem Boden in ihrer Garderobe liegen. Sie hatte aus Versehen etwas getrunken, irgend etwas Gräßliches, das man in den Theatern braucht. Ich weiß nicht genau, was es war, aber es muß entweder Blausäure oder Bleiweiß enthalten haben. Ich vermute, es war Blausäure, denn sie scheint im Augenblick tot gewesen zu sein."

"Henry, Henry, das ist furchtbar!" schrie Dorian.

"Ja, es ist natürlich sehr tragisch. Aber Sie dürfen in die ganze Sache nicht verwickelt werden. Ich habe im ,Standard' gelesen, daß sie siebzehn Jahre alt war. Ich hätte sie eher für noch jünger gehalten. Sie sah so kindlich aus und schien so wenig von der Schauspielerei zu verstehen. Dorian, Sie dürfen diese Dinge nicht an sich herankommen lassen. Sie müssen ausgehen und heute abend mit mir speisen und nachher wollen wir in die Oper gehen. Die Patti singt und alle Welt wird da sein. Sie können in die Loge meiner Schwester kommen. Sie hat ein paar entzückende Frauen eingeladen."

"Ich habe Sibyl Vane ermordet", sagte Dorian halb zu sich selbst, "genau so ermordet, als hätte ich ihre zarte Kehle mit einem Messer durchschnitten. Und doch, sind darum diese Rosen weniger lieblich? Die Vögel singen genau so fröhlich im Garten. Und heute abend soll ich mit Ihnen speisen und dann in die Oper gehen und vermutlich nachher irgendwo soupieren. Wie merkwürdig dramatisch das Leben ist! Wenn ich all das in einem Buch gelesen hätte. Henry, ich glaube, ich würde darüber geweint haben. Und dennoch jetzt, da es in Wirklichkeit geschehen ist, mir selbst geschehen ist, scheint es mir zu wunderbar, als daß ich darüber weinen könnte. Da liegt der erste leidenschaftliche Liebesbrief, den ich in meinem Leben geschrieben habe. Seltsam, daß mein erster Liebesbrief an ein totes Mädchen gerichtet ist!... Ob sie wohl noch etwas empfinden können, die bleichen, stummen Menschen, die wir die Toten nennen? Sibyl! Kann sie fühlen, etwas wissen, kann sie uns hören? Ach, Henry, wie habe ich sie einmal geliebt! Es scheint mir jetzt Jahre her zu sein. Sie war mir alles. Dann kam dieser schreckliche Abend. War es wirklich erst gestern abend, als sie so schlecht spielte und mir fast das Herz brach? Sie hat mir alles erklärt. Es war furchtbar rührend, aber es machte gar keinen Eindruck auf mich. Ich hielt sie für dumm. Und dann geschah plötzlich etwas, das mich ängstigte. Ich kann Ihnen nicht sagen, was es war, aber es war furchtbar. Ich nahm mir vor, zu ihr zurückzukehren. Ich empfand, daß ich unrecht gehabt habe. Und jetzt ist sie tot. Mein Gott! Mein Gott! Henry, was soll ich tun? Sie kennen die Gefahr nicht, in der ich bin und vor der mich nichts bewahren kann. Sie hätte es getan. Sie hatte kein Recht, sich umzubringen. Es war selbstsüchtig von ihr."

"Mein lieber Dorian", antwortete Lord Henry, während er eine Zigarette aus dem Etui nahm und ein Feuerzeug aus Goldbronze hervorholte. "Die einzige Art, auf die eine Frau einen Mann bessern kann, ist, ihn so furchtbar zu langweilen, daß er jedes Interesse am Leben verliert. Wenn Sie dieses Mädchen geheiratet hätten, wären Sie sehr unglücklich geworden. Natürlich hätten Sie sie gut behandelt. Menschen, die einem gleichgültig sind, kann man immer gut behandeln. Aber sie hätte bald herausgefunden, daß Sie vollständig gleichgültig gegen sie wären. Wenn eine Frau das bei ihrem Manne entdeckt, wird sie entweder schrecklich schlampig oder sie trägt sehr elegante Hüte, die der Mann einer anderen Frau zu bezahlen hat. Ich will nicht von dem gesellschaftlichen Mißgriff sprechen, der schauderhaft gewesen wäre, und den ich selbstverständlich nie zugegeben hätte, - aber ich versichere Sie, in jedem Falle wäre die Sache ein vollständiger Bankrott gewesen."

"Das nehme ich auch an", murmelte der junge Mann, während er mit furchtbar blassem Gesicht im Zimmer auf und ab schritt. "Aber ich glaubte, es sei meine Pflicht. Es ist nicht meine Schuld, daß diese schreckliche Tragödie mich verhindert hat, das Rechte zu tun. Ich erinnere mich, daß Sie einmal gesagt haben, ein sonderbares Schicksal schwebe über guten Vorsätzen - daß man sie nämlich immer zu spät fasse. Bei meinem ist es gewiß so."

"Gute Vorsätze sind nutzlose Versuche, wissenschaftliche Gesetze umzustoßen. Ihr Ursprung ist lediglich Eitelkeit. Ihr Erfolg ist vollkommen gleich Null. Sie verschaffen uns dann und wann jene unfruchtbaren Lustempfindungen, die einen gewissen Reiz für schwache Menschen besitzen. Das ist alles, was man zu ihren Gunsten vorbringen kann. Sie sind nichts anderes als Schecks, die man auf eine Bank ausstellt, bei der man gar kein Konto hat."

Dorian Gray schritt auf und ab und setzte sich dann neben Henry.

"Warum kann ich diese Tragödie nicht so empfinden, wie ich möchte?" schrie er auf. "Ich bin doch nicht herzlos! Oder glauben Sie, daß ich es bin?"

"Sie haben zu viel törichte Streiche in den letzten vierzehn Tagen begangen, um ein Recht auf diesen Ehrentitel zu haben, Dorian", erwiderte Lord Henry mit seinem sanften, melancholischen Lächeln.

Der Jüngling runzelte die Stirne. "Henry, ich mag diese Erklärung nicht. Aber ich bin trotzdem froh, daß Sie mich nicht für herzlos halten. Ich bin es gewiß nicht. Ich weiß, daß ich es nicht bin und doch muß ich zugeben, daß die Sache, die da geschehen ist, mich nicht so ergreift, wie sie sollte. Es scheint mir nur ein wunderbarer Schluß für ein wunderbares Stück zu sein. Sie hat die schreckliche Schönheit einer griechischen Tragödie, in der ich eine große Rolle gespielt habe, in welcher ich selbst aber nicht verwundet worden bin."

"Das ist eine interessante Frage", sagte Lord Henry, dem es einen erlesenen Genuß bereitete, mit dem unbewußten Egoismus dieses jungen Menschen zu spielen. "Wirklich eine außerordentlich interessante Frage. Die wahre Erklärung ist wohl die: Es kommt oft vor, daß sich die wirklichen Tragödien des Lebens in einer so unkünstlerischen Form abspielen, daß sie uns durch die rohe Gewalt, ihre Zusammenhanglosigkeit, ihre alberne Sinnlosigkeit, ihre vollständige Stillosigkeit verletzen. Sie berühren uns genau so, wie uns die Gemeinheit berührt. Sie erwecken in uns den Eindruck einer sinnlos wirkenden Kraft und wir empören uns dagegen. Manchmal jedoch greift eine Tragödie, die künstlerische Schönheitselemente in sich trägt, in unser Leben ein. Wenn diese Schönheitselemente wirklich sind, so berührt die ganze Sache nur unseren Sinn für dramatische Wirkung. Wir entdecken dann plötzlich, daß wir nicht mehr die Darsteller, sondern die Zuschauer des Stückes sind. Oder eigentlich sind wir beides zugleich. Wir beobachten uns selbst und das bloße Bewundern des Schauspiels bezaubert uns. Im vorliegenden Fall: Was ist in Wahrheit geschehen? Jemand hat sich umgebracht, weil er Sie geliebt hat. Ich wollte, mir wäre je so ein Erlebnis zuteil geworden. Ich wäre den ganzen Rest meines Lebens in die Liebe verliebt gewesen. Die Menschen, die mich angebetet haben - es waren ja nicht sehr viele, aber doch immerhin einige -, haben immer darauf bestanden, weiterzuleben, noch lange, nachdem ich aufgehört hatte, etwas für sie zu empfinden oder sie aufgehört hatten, sich um mich zu kümmern. Sie sind dann dick und langweilig geworden und wenn ich sie jetzt treffe, schwelgen sie sofort in Reminiszenzen. Was für ein furchtbares Gedächtnis die Weiber doch haben. Es ist etwas Schreckliches und offenbart einen unerhörten geistigen Stillstand. Man sollte das Farbige des Lebens als Ganzes in sich aufnehmen, aber sich niemals an Einzelheiten erinnern. Einzelheiten sind immer gewöhnlich."

"Ich muß jetzt Mohnblumen in meinem Garten säen", seufzte Dorian.

"Das ist gar nicht notwendig", erwiderte sein Freund. "Das Leben selbst hat immer Mohnblumen vorrätig. Natürlich, dann und wann halten Gefühle an. Ich habe einmal eine ganze Saison lang nichts als Veilchen getragen, als eine Art künstlerischer Trauer für einen Roman, der nicht sterben wollte. Schließlich ist er doch gestorben. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ihn umgebracht hat. Ich glaube, es war, weil sie mir vorschlug, die ganze Welt mir zu opfern. Das ist immer ein schrecklicher Augenblick. Er erfüllt einen mit den Schrecken der Ewigkeit. Aber würden Sie es für möglich halten? Vor einer Woche saß ich bei Tisch bei Lady Hampshire neben der in Frage kommenden Dame und sie bestand darauf, die ganze Sache noch einmal durchzugehen, die ganze Vergangenheit wieder auszugraben und in der Zukunft herumzustöbern. Ich hatte meinen Roman längst in einem Asphodelos-Beet begraben. Sie zerrte ihn wieder heraus und versicherte mir, ich habe ihr Leben zerstört. Ich fühlte mich verpflichtet, zu konstatieren, daß sie trotzdem mit großem Appetit aß, so daß ich gar keine Gewissensbisse empfand. Aber welchen Mangel an Taktgefühl bewies sie doch! Der einzige Reiz der Vergangenheit liegt darin, daß sie vergangen ist. Aber Frauen wissen nie, wann der Vorhang gefallen ist. Sie verlangen immer einen sechsten Akt und gerade, wenn das Interesse an dem Stück vollkommen vorüber ist, schlagen sie vor, weiterzuspielen. Wenn man sie gewähren ließe, bekäme jede Komödie einen tragischen Schluß und jede Tragödie würde mit einer Farce enden. Sie sind oft entzückend künstlich, aber sie haben gar keinen Sinn für die Kunst. Sie, Dorian, sind glücklicher als ich. Ich versichere Sie, nicht eine einzige Frau, die ich gekannt habe, hätte für mich getan, was Sibyl Vane für Sie getan hat. Gewöhnliche Frauen trösten sich immer. Einige von ihnen tun es, indem sie eine Vorliebe für schmachtende Farben entwickeln. Trauen Sie nie einer Frau, die Malvenfarbe trägt, wie alt sie auch sein mag, oder einer Frau über fünfunddreißig, die rosa Schleifen liebt. Das bedeutet immer, daß sie eine Vergangenheit haben. Andere finden einen starken Trost darin, plötzlich die guten Eigenschaften ihrer Männer zu entdecken. Sie schleudern einem ihr eheliches Glück ins Gesicht, als wäre das die fesselndste aller Sünden. Andere tröstet die Religion. Ihre Mysterien haben alle Reize eines Flirts, hat mir einmal eine Frau versichert, und ich kann das sehr gut verstehen. Übrigens macht nichts so eitel, als wenn einem gesagt wird, daß man ein Sünder ist. Gewissen macht Egoisten aus uns allen. Ja, es gibt wirklich Tröstungen, die Frauen im modernen Leben finden. Die wichtigste habe ich noch gar nicht einmal erwähnt."

"Welche ist das, Henry?" fragte der junge Mann gleichgültig.

"Natürlich der übliche Trost: einer anderen Frau ihren Anbeter nehmen, wenn man den eigenen verloren hat. In der guten Gesellschaft gibt das jeder Frau ihre Frische wieder. Aber wirklich, Dorian, wie anders als alle die übrigen Frauen, denen man begegnet, muß Sibyl Vane gewesen sein. Für mich liegt in ihrem Tod etwas ganz Wundervolles. Ich bin froh, daß ich in einem Jahrhundert lebe, in dem solche Wunder noch geschehen. Sie geben uns den Glauben an die Wirklichkeit jener Vorstellungen, mit denen wir sonst nur spielen: Romantik, Leidenschaft und Liebe."

"Ich war furchtbar grausam gegen sie. Sie vergessen das."

"Ich fürchte fast, Frauen schätzen Grausamkeit, ganz brutale Grausamkeit mehr als irgend etwas anderes. Sie haben wundervoll einfache Instinkte. Wir haben ihnen ihre Freiheit gegeben, aber sie bleiben trotzdem Sklavinnen, die den Blick ängstlich auf ihre Herren richten. Sie lieben es, beherrscht zu werden. Ich bin überzeugt, daß Sie ganz glänzend gewesen sind. Ich habe Sie nie wirklich böse gesehen, aber ich kann mir vorstellen, wie entzückend Sie dabei ausgesehen haben. Und außerdem, Sie haben mir vorgestern etwas gesagt, das mir damals nur ein phantastischer Einfall schien; jetzt sehe ich, daß es durchaus wahr war und daß es der Schlüssel zu allem ist."

"Was war das, Henry?"

"Sie haben zu mir gesagt, daß Sibyl Vane Ihnen alle romantischen Heldinnen verkörpert, daß sie an einem Abend Desdemona sei und am anderen Ophelia; wenn sie als Julia sterbe, erwache sie als Imogen zum Leben."

"Sie wird jetzt nie mehr zum Leben erwachen", flüsterte der Jüngling und barg sein Gesicht in den Händen.

"Nein, sie wird nie mehr zum Leben erwachen. Sie hat ihre letzte Rolle gespielt. Aber Sie müssen an den einsamen Tod in der jämmerlichen Garderobe denken, wie an ein sonderbar-schauriges Fragment einer Tragödie aus der Zeit König Jakobs, wie an eine wunderbare Szene von Webster, Ford oder Cyril Tourneur. Das Mädchen hat Sie wirklich geliebt, darum ist sie auch wirklich gestorben. Für Sie war sie ja nicht mehr als ein Traum, ein Trugbild, das durch Shakespeares Dramen flatterte und sie durch ihre Gegenwart reizvoller machte, eine Flöte, durch die Shakespeares Musik noch reicher und froher klang. Im Augenblick, da sie das wirkliche Leben berührte, zerstörte sie es und es zerstörte sie, und deshalb schied sie von hier. Trauern Sie um Ophelia, wenn Sie wollen. Streuen Sie Asche auf Ihr Haupt, weil Cordelia erwürgt wurde. Schmähen Sie den Himmel, weil die Tochter ,des Bralantio starb. Aber verschwenden Sie Ihre Tränen nicht um Sibyl Vane. Sie war weniger wirklich als jene."

Es entstand ein Schweigen. Der Abend dunkelte im Zimmer. Still auf silbernen Füßen schlichen die Schatten aus dem Garten herein. Die Farben verblaßten langsam überall.

Nach einer Weile sah Dorian Gray auf. "Sie haben mich mir selber klar gemacht", flüsterte er wie mit einem Seufzer der Erleichterung. "Alles, was Sie gesagt haben, habe ich auch gefühlt, aber ich habe mich davor geängstigt und ich konnte es mir nicht klar machen. Wie gut Sie mich kennen! Wir wollen von dem, was geschehen ist, nie mehr sprechen. Es war ein wundersames Erlebnis. Das ist alles. Ich möchte wissen, ob noch etwas so Wunderbares im Leben auf mich wartet."

"Das Leben hält noch alles für Sie bereit, Dorian. Es gibt nichts, was Sie mit Ihrer außerordentlichen Schönheit nicht tun könnten."

"Aber wenn ich nun hager und alt und runzlig werde, Henry? Was dann?"

"Ja, dann", sagte Lord Henry und erhob sich, um wegzugehen. "Dann, Dorian, würden Sie um Ihre Siege kämpfen müssen. Jetzt werden sie Ihnen noch dargebracht. Nein, Sie müssen schön bleiben. Wir leben in einem Zeitalter, das zu viel liest, um weise und das zu viel denkt, um schön zu sein. Wir können Sie nicht entbehren. Jetzt müssen Sie sich aber anziehen und in den Klub fahren. Wir kommen sowieso schon zu spät."

"Ich denke, ich treffe Sie lieber in der Oper, Henry. Ich bin zu abgespannt, um etwas zu essen. Welche Nummer hat die Loge Ihrer Schwester?"

"Siebenundzwanzig, glaube ich. Im ersten Rang. Sie finden ihren Namen an der Tür. Aber es tut mir leid, daß Sie nicht mit zum Diner kommen wollen.

"Ich fühle mich dazu nicht aufgelegt", sagte Dorian teilnahmslos. "Aber ich bin Ihnen schrecklich dankbar für alles, was Sie mir gesagt haben. Sie sind wirklich mein bester Freund. Niemand hat mich je so verstanden wie Sie."

"Wir sind erst am Anfang unserer Freundschaft, Dorian", erwiderte Lord Henry und schüttelte ihm die Hand. "Adieu. Ich hoffe, Sie vor halb zehn noch wiederzusehen. Vergessen Sie nicht: die Patti singt."

Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, klingelte Dorian Gray. Nach ein paar Minuten kam Viktor mit den Lampen und ließ die Vorhänge herab. Er wartete ungeduldig, daß der Diener hinausginge. Er schien unglaublich lange Zeit zu allem zu brauchen.

Sobald der Diener draußen war, rannte er zu dem Schirm und zog ihn zurück. Nein, das Bild hatte sich nun nicht weiter verändert. Es hatte die Nachricht von Sibyl Vanes Tod erhalten, bevor er selbst darum gewußt hatte. Er kannte die Ereignisse des Daseins, so wie sie sich ereigneten. Der Zug sündiger Grausamkeit, der die feinen Linien des Mundes verunstaltete, war ohne Zweifel in demselben Augenblick aufgetaucht, als das Mädchen das Gift getrunken hatte. Oder war für das Bild die Wirkung der Tat gleichgültig? Nahm es nur von den Vorgängen in der Seele Kenntnis? Er war begierig, das zu wissen und hoffte, daß eines Tages eine solche Wandlung des Bildes vor seinen Augen vor sich gehen werde, er hoffte es und doch graute ihm davor.

Die arme Sibyl! Welchen Roman sie erlebt hatte! Oft hatte sie den Tod auf der Bühne dargestellt, jetzt hatte der Tod selbst sie berührt und weggeholt. Wie mochte sie jene grauenvolle letzte Szene gespielt haben? Hatte sie ihn sterbend verflucht? Nein; sie war ja aus Liebe zu ihm gestorben. Die Liebe sollte nun immer ein Heiligtum für ihn sein. Sie hatte für alles gebüßt durch das Opfer ihres Lebens. Er wollte nicht mehr daran denken, was er ihretwegen an jenem furchtbaren Theaterabend durchgemacht hatte. Wenn er an sie dachte, sollte es sein wie an eine wundersam tragische Gestalt, die auf die Weltbühne geschickt worden war, um die höchste Wirklichkeit der Liebe zu verkörpern. Eine wundersam tragische Gestalt? In seine Augen traten Tränen, als er sich ihres Kinderblicks, ihrer reizenden, phantastischen Gebärden, ihrer scheuen, zaghaften Anmut erinnerte. Er verscheuchte hastig diese Bilder und blickte wieder auf das Porträt.

Er fühlte, daß nun der Augenblick für ihn gekommen sei, zu wählen. Oder war die Wahl schon getroffen? Ja, das Leben selbst hatte an seiner Statt entschieden - das Leben und sein unermeßlicher Lebenshunger. Ewige Jugend, unendliche Leidenschaft, auserlesene, geheimnisvolle Genüsse, wilde Freuden, noch wildere Sünden, all das sollte er haben. Das Bildnis aber mußte die Last seiner Schmach tragen.

Ein schmerzliches Gefühl überkam ihn, als er an die Entweihung dachte, die dieses schönen Gesichtes auf der Leinwand harrte. Einmal, in knabenhafter Parodie des Narzissus, hatte er die gemalten Lippen, die ihn jetzt so grausam anlächelten, geküßt oder doch getan, als ob er sie küsse. Morgen für Morgen war er vor dem Bilde gesessen und hatte seine Schönheit angestaunt; manchmal hatte er sich gesagt, er sei in sein eigenes Bild verliebt. Sollte es sich nun mit jeder Laune, der er sich hingab, wandeln? Sollte es ein ungeheuerliches, widerliches Ding werden, das man im versperrten Winkel verstecken, vom Glanz der Sonne, die so oft das wallende Wunder seines Haares noch herrlicher vergoldet hatte, abschließen müßte? Wie schade! Wie schade!

Er zog den Schirm wieder vor das Bild und lächelte, während er es tat. Dann ging er in sein Schlafzimmer, wo der Diener schon auf ihn wartete. Eine Stunde später war er in der Oper und Lord Henry beugte sich über seinen Stuhl.

 

 

Neuntes Kapitel

Als er nächsten Morgen beim Frühstück saß, trat Basil Hallward ein.

"Es freut mich sehr, daß ich Sie antreffe, Dorian", sagte er ernsthaft. "Ich war gestern abend hier und da sagte man mir, daß Sie in der Oper seien. Ich habe natürlich gewußt, daß das unmöglich sei. Aber es wäre mir lieber gewesen, Sie hätten hinterlassen, wo Sie wirklich hingegangen sind. Ich habe einen schrecklichen Abend verbracht, halb in der Angst, daß eine Tragödie der anderen folgen würde. Sie hätten mir telegraphieren sollen, als Sie die Nachricht erhielten. Ich habe es rein zufällig in der Abendausgabe der ,Globe' gelesen, die mir im Klub in die Hände kam. Ich bin sofort hierher gelaufen und war ganz unglücklich, daß ich Sie nicht zu Hause fand. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mir die Sache das Herz abdrückt. Ich weiß, was Sie leiden müssen. Aber wo waren Sie? Sind Sie hingefahren und haben Sie die Mutter des Mädchens besucht? Einen Moment habe ich, daran gedacht, Ihnen dorthin zu folgen. In der Zeitung stand die Adresse, irgendwo in Euston Road, nicht wahr? Aber ich hatte Angst, zudringlich zu sein, ohne doch das Leid mindern zu können. Die arme Frau! In was für einer Verfassung muß sie sein! Zumal die Tote ihr einziges Kind war! Was hat sie zu all dem gesagt?"

"Mein lieber Basil, wie soll ich das wissen?" murmelte Dorian Gray, nippte etwas blaßgelben Wein aus dem zarten, goldgeränderten Becher aus venezianischem Glas und blickte äußerst gelangweilt drein. "Ich war in der Oper. Sie hätten auch hinkommen sollen. Ich habe dort Henrys Schwester, Lady Gwendolen, kennengelernt. Wir waren in ihrer Loge. Sie ist äußerst charmant und die Patti hat göttlich gesungen. Sprechen Sie nichts von dem schrecklichen Ereignis. Wenn man über eine Sache nicht spricht, ist sie nicht geschehen. Henry hat ganz recht: Nur was man über sie äußert, gibt den Dingen ihre Wirklichkeit!... Nebenbei bemerkt, sie war nicht das einzige Kind der alten Frau. Es ist da noch ein Sohn, ein prächtiger Junge vermutlich. Aber er ist nicht beim Theater. Er ist Matrose oder so etwas Ähnliches.... Aber nun erzählen Sie mir etwas von sich. Was malen Sie jetzt?"

"Sie sind wirklich in der Oper gewesen?" sagte Hallward sehr langsam und mit schmerzlicher Stimme. "Sie waren in der Oper, während Sibyl Vane tot in irgendeiner schmutzigen Stube lag? Sie können mir erzählen, daß andere Frauen charmant sind und daß die Patti göttlich gesungen hat, bevor noch das Mädchen, das Sie geliebt haben, zum ewigen Schlaf im Grabe ruht? Denken Sie doch, Mann, welche Schrecken auf den kleinen weißen Körper warten."

"Hören Sie auf, Basil, ich will davon nichts hören!" rief Dorian und sprang Auf. "Sie dürfen über diese Dinge nicht zu mir sprechen! Was geschehen ist, ist geschehen. Die Vergangenheit ist vergangen."

"Nennen Sie gestern die Vergangenheit?"

"Was hat die tatsächlich verstrichene Zeit damit zu tun? Nur dumme Menschen brauchen Jahre, um ein Gefühl zu überwinden. Ein Mensch, der Herr über sich selbst ist, kann über ein Leid ebenso leicht hinwegkommen, wie er eine neue Lust empfinden kann. Ich will nicht der Spielball meiner Gefühle sein. Ich will sie benützen, mich an ihnen freuen und sie beherrschen."

"Dorian, das ist ja furchtbar. Irgend etwas hat Sie völlig verändert. Dabei sehen Sie noch genau so aus wie der wunderschöne Junge, der Tag für Tag in mein Atelier kam und mir für mein Bild saß. Aber damals waren Sie ein einfacher, natürlicher und liebenswerter Mensch. Sie waren das unverdorbenste Geschöpf auf der ganzen Welt. Ich weiß nicht, was jetzt über Sie gekommen ist. Sie sprechen, als hätten Sie kein Herz, kein Mitleid. Das ist natürlich Henrys Einfluß..."

Der junge Mensch wurde dunkelrot, ging zum Fenster hinüber, sah einige Augenblicke auf den grün schimmernden, von der Sonne übergossenen Garten. "Ich schulde Henry sehr, sehr viel, Basil", sagte er schließlich. "Mehr als ich Ihnen schulde. Sie haben mich nur gelehrt, eitel zu sein."

"Dafür bin ich genug gestraft, Dorian, oder werde es eines Tages sein."

"Ich weiß nicht, was Sie damit meinen, Basil", rief Dorian aus und drehte sich um. "Ich weiß nicht, was Sie wollen! Was wollen Sie?"

"Ich will den Dorian Gray wieder, den ich gemalt habe", sagte der Künstler traurig.

"Basil", erwiderte der Jüngling und legte ihm die Hand auf die Schulter. "Sie sind zu spät gekommen. Als ich gestern hörte, daß Sibyl Vane sich getötet hat..."

"Sich getötet hat? Gott im Himmel, ist das sicher?" rief Hallward und sah ihn mit dem Ausdruck äußersten Schreckens an.

"Mein lieber Basil, Sie glauben doch nicht, daß es nur ein gewöhnlicher Unglücksfall war? Natürlich hat sie sich selbst umgebracht."

Der ältere Mann vergrub sein Gesicht in den Händen. "Wie schrecklich!" flüsterte er und ein Schauer rann durch seine Glieder.

"Nein", sagte Dorian Gray. "Es ist gar nichts Schreckliches daran, es ist nur eine der großen romantischen Tragödien unserer Zeit. Gewöhnlich führen Schauspieler das alltägliche Leben. Sie sind gute Ehemänner, treue Frauen oder sonst irgend etwas Langweiliges. Sie verstehen, was ich meine - Kleinbürgertugend und lauter solche Sachen. Wie anders war Sibyl! Ihr Leben war ihre beste Tragödie. Sie war immer eine Heldin. Am letzten Abend, an dem sie spielte, an dem Abend, an dem Sie sie gesehen haben, spielte sie schlecht, weil sie die wirkliche Liebe kennengelernt hatte. Als sie dann aber ihre Unwirklichkeit erfuhr, starb sie an dieser Erkenntnis, wie wahrscheinlich Julia an ihr gestorben wäre. Sie tauchte wieder unter in das Reich der Kunst. Sie hat etwas von einer Märtyrin. Ihr Tod hat alle pathetische Nutzlosigkeit des Märtyrertums, all seine vergeudete Schönheit. Aber, wie ich schon gesagt habe: Sie dürfen nicht glauben, daß ich nicht gelitten habe. Wenn Sie gestern in einem bestimmten Augenblick um halb sechs vielleicht oder um dreiviertel sechs gekommen wären, dann hätten Sie mich in Tränen gefunden. Selbst Henry, der hier war und mir die Nachricht brachte, hat keine Ahnung, was ich durchgemacht habe. Ich litt unsäglich. Dann ging es vorüber. Ich kann ein Gefühl nicht wiederholen. Niemand kann das, außer sentimentale Menschen. Sie sind furchtbar ungerecht gegen mich. Sie kommen her, mich zu trösten, das ist reizend von Ihnen. Sie finden mich schon getröstet, da sind Sie wütend. Sind genau wie alle mitleidigen Menschen. Sie erinnern mich an eine Geschichte, die mir Henry von einem Philanthropen erzählt hat, der zwanzig Jahre seines Lebens geopfert hat, um irgendein Unrecht gut zu machen oder ein ungerechtes Gesetz abzuändern, ich kann mich nicht mehr genau erinnern, was es war. Schließlich gelang ihm das und nichts konnte größer sein als seine Enttäuschung. Er hatte nun absolut nichts mehr zu tun, langweilte sich zu Tode und wurde ein unversöhnlicher Menschenfeind... Übrigens, mein lieber alter Basil, wenn Sie mich wirklich trösten wollen, so lehren Sie mich lieber vergessen, was geschehen ist, oder es von der künstlerischen Seite anzusehen! Ist es nicht Gautier gewesen, der über die ,consolation des arts' geschrieben hat? Ich erinnere mich, daß ich einmal in Ihrem Atelier ein kleines, in Pergament gebundenes Buch in die Hand nahm und dort zufällig auf diesen entzückenden Ausdruck stieß. Ich bin ja nicht gerade wie der junge Mann, von dem Sie mir einmal in Marlow erzählt haben, der zu sagen pflegte, gelber Atlas könnte ihn über alles Elend der Welt trösten, aber auch ich liebe schöne Dinge, die man in die Hand nehmen und anfassen kann. Alter Brokat, grünpatinierte Bronzen, Lackarbeiten, Elfenbeinschnitzereien, eine schöne Umgebung, Luxus, Prunk: all das sind Dinge, die einem viel geben können. Aber die künstlerische Gesinnung, die sie schaffen oder zum mindesten offenbaren, bedeutet mir mehr. Ein Zuschauer seines eigenen Lebens zu sein, wie Henry sagt, das ist der Weg, um den Schmerzen des Lebens zu entrinnen. Ich weiß, Sie sind erstaunt, daß ich so zu Ihnen spreche. Sie haben noch nicht bemerkt, wie ich mich entwickelt habe. Ich war ein Schulknabe, als Sie mich kennenlernten, jetzt bin ich ein Mann. Ich habe neue Leidenschaften, neue Gedanken, neue Ideen. Ich bin anders, aber Sie müssen mich trotzdem liebhaben. Ich habe mich verändert, aber Sie müssen trotzdem immer mein Freund bleiben. Natürlich habe ich Henry sehr gern. Aber ich weiß auch, daß Sie besser sind als er. Sie sind nicht stärker, dazu haben Sie zu viel Angst vor dem Leben, aber Sie sind besser. Wie glücklich waren wir miteinander! Verlassen Sie mich nicht, Basil, und zanken Sie nicht mit mir. Ich bin, was ich bin, mehr kann ich nicht sagen."

Der Maler war seltsam bewegt. Dieser junge Mensch war ihm unendlich teuer und seine Persönlichkeit war der große Wendepunkt seiner Kunst gewesen. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, ihm noch mehr Vorwürfe zu machen. Seine Gleichgültigkeit war wahrscheinlich nur eine Laune, die vorübergehen würde. Es war ja so viel Gutes, so viel Edles in ihm.

"Schön, Dorian", sagte er schließlich mit einem traurigen Lächeln. "Wir wollen nie mehr über die furchtbare Sache sprechen. Ich hoffe nur, daß Ihr Name nicht in Verbindung zu ihr gebracht wird. Die Untersuchung des Falls soll schon heute nachmittag stattfinden. Sind Sie vorgeladen worden?"

Dorian schüttelte den Kopf und ein Zug von Unruhe ging über sein Gesicht bei der Erwähnung des Wortes "Untersuchung". In all diesen Dingen lag etwas so Rohes und Gemeines. "Man kennt meinen Namen nicht", antwortete er.

"Aber sie wußte ihn doch?"

"Nur meinen Vornamen und den hat sie gewiß niemandem gesagt. Sie erzählte mir einmal, daß alle sehr begierig seien, zu erfahren, wer ich bin und daß sie ihnen immer nur sagte, ich heiße der Märchenprinz. Das war sehr hübsch von ihr. Sie müssen für mich eine Zeichnung von Sibyl machen, Basil. Ich möchte von ihr mehr haben als die Erinnerung an ein paar Küsse und einige gestammelte, pathetische Worte."

"Ich will es versuchen, Dorian, wenn ich Ihnen damit eine Freude mache. Aber Sie selbst müssen mir wieder sitzen. Ich komme ohne Sie nicht weiter."

Dorian schrak zurück. "Ich kann Ihnen nie wieder sitzen, Basil, das ist unmöglich!"

Der Maler starrte ihn an. "Was für ein Unsinn, mein lieber Junge", rief er. "Wollen Sie damit sagen, daß Sie das Bild, das ich von Ihnen gemacht habe, nicht gut finden? Wo ist es? Warum haben Sie den Schirm davor gestellt? Lassen Sie es mich sehen. Es ist das Beste, was ich je gemalt habe. Nehmen Sie den Schirm weg, Dorian. Es ist einfach eine Schande, daß Ihr Diener mein Bild so versteckt. Ich hatte gleich, als ich eintrat, das Gefühl, der Raum sei ganz verändert."

"Mein Diener hat nichts damit zu tun, Basil. Sie bilden sich doch nicht ein, daß ich ihn mein Zimmer für mich ordnen lasse? Er stellt manchmal die Blumen in die Gefäße, das ist alles. Nein, ich habe es selbst getan. Das Licht war zu grell für das Bild."

"Zu grell? Das ist doch ganz unmöglich, mein Lieber! Es hat einen wunderbaren Platz. Lassen Sie mich sehen!" Hallward schritt auf die Ecke des Zimmers zu.

Ein Schrei des Schreckens entrang sich den Lippen Dorian Grays und er stürzte sich zwischen den Maler und den Schirm. Er sah ganz bleich aus.

"Basil", sagte er, "Sie dürfen es nicht ansehen. Ich will es nicht!

"Mein eigenes Bild nicht ansehen? Das ist doch nicht Ihr Ernst! Warum soll ich es nicht ansehen?" rief Hallward lachend.

"Basil, wenn Sie versuchen, es anzusehen, gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, daß ich, solange ich lebe, nie wieder mit Ihnen spreche. Es ist das mein völliger Ernst. Ich gebe Ihnen keinerlei Erklärung und Sie dürfen mich um keine bitten. Aber denken Sie daran: Wenn Sie den Schirm anrühren, dann ist alles zwischen uns vorbei."

Hallward war wie vom Donner gerührt. Er sah Dorian Gray in sprachlosem Staunen an. So hatte er ihn nie vorher gesehen. Der Jüngling war vor Zorn bleich, seine Hände waren ineinander verkrampft und seine Pupillen sahen aus wie blaue Feuerscheiben. Er zitterte am ganzen Leibe.

"Dorian . . ."

"Sagen Sie nichts!"

"Aber was ist denn los? Ich sehe das Bild natürlich nicht an, wenn Sie es nicht wollen", sagte der Maler ziemlich kühl, drehte sich um und ging zum Fenster. "Aber, ernsthaft gesprochen, scheint es mir reichlich verrückt, daß ich mein eigenes Bild nicht sehen soll, besonders, da ich es im Herbst in Paris ausstellen will. Ich werde es vielleicht vorher noch einmal firnissen müssen, werde es also eines Tages doch sehen. Warum also nicht heute?"

"Es ausstellen? Sie wollen es ausstellen? rief Dorian Gray, den ein seltsames Angstgefühl überkam. Sollte die ganze Welt sein Geheimnis erfahren? Sollte der Pöbel das Mysterium seines Lebens begaffen? Das war unmöglich. Dagegen mußte etwas - er wußte noch nicht was - sofort geschehen.

"Ja! Sie haben doch wohl nichts dagegen. Georges Petit will meine besten Bilder in einer Kollektivausstellung in der Rue de Seze vereinigen, die in der ersten Oktoberwoche eröffnet werden soll. Das Porträt wird nur einen Monat fort sein. Ich denke, so lange können Sie es leicht entbehren. Sie sind während dieser Zeit sowieso nicht hier und wenn Sie es hinter einem Schirm versteckt halten, kann Ihnen ja nicht allzu viel daran gelegen sein."

Dorian Gray fuhr sich mit der Hand über die Stirne, auf der Schweißtropfen standen. Er fühlte, daß er in einer fürchterlichen Gefahr schwebe. "Sie haben mir vor einem Monat gesagt, daß Sie es niemals ausstellen würden", rief er. "Warum haben Sie sich anders entschlossen? Ihr Menschen, die ihr für konsequent gelten wollt, habt genau so viele Launen wie alle anderen. Der einzige Unterschied ist, daß eure Launen recht sinnlos sind. Sie können nicht vergessen haben, daß Sie mir in feierlichster Weise versichert haben, nichts auf der Welt könne Sie bewegen, das Bild auf eine Ausstellung zu schicken. Sie haben übrigens zu Henry ganz dasselbe gesagt." Er stockte plötzlich und ein Glanz kam in seine Augen. Er erinnerte sich, daß ihm Lord Henry einmal halb im Ernst und halb im Scherz gesagt hatte: "Wenn Sie einmal eine merkwürdige Viertelstunde erleben wollen, dann lassen Sie sich von Basil sagen, warum er Ihr Porträt nicht ausstellen will. Er hat es mir erzählt und es war für mich eine Offenbarung." Ja, vielleicht hatte auch Basil sein Geheimnis. Er wollte ihn auf die Probe stellen.

Er trat nahe an ihn heran, sah ihm fest ins Gesicht und sagte: "Basil, jeder von uns hat ein Geheimnis. Sagen Sie mir das Ihre und ich werde Ihnen meines sagen. Welchen Grund hatten Sie damals, als Sie sich weigerten, mein Bild auszustellen?"

Der Maler zuckte gegen seinen Willen zusammen. "Dorian. wenn ich es Ihnen sagte, würden Sie mich wahrscheinlich weniger liebhaben und gewiß würden Sie mich auslachen. Keines von beiden könnte ich ertragen. Wenn Sie wollen, daß ich nie mehr mein Bild ansehen soll, dann gebe ich mich zufrieden. Ich kann Sie selbst ja immer ansehen. Wenn Sie wünschen, daß die beste Arbeit, die ich je gemacht habe, vor der Welt verborgen bleibt, so finde ich mich auch damit ab. Ihre Freundschaft ist mir mehr wert als Ruhm und Anerkennung."

"Nein, Basil, Sie müssen es mir sagen. Ich glaube, ich habe ein Recht darauf, es zu wissen." Das Angstgefühl hatte ihn verlassen und der Neugierde Platz gemacht. Er war entschlossen, hinter Basil Hallwards Geheimnis zu kommen.

"Wir wollen uns setzen, Dorian", sagte der Maler, der unruhig aussah. "Setzen wir uns und beantworten Sie mir ehrlich eine Frage. Haben Sie an dem Bild etwas Merkwürdiges bemerkt - etwas, das Ihnen anfangs wahrscheinlich nicht aufgefallen ist und das sich Ihnen dann plötzlich offenbart hat?"

"Basil!" schrie der Jüngling, umklammerte die Lehnen seines Stuhles mit zitternden Händen und starrte ihn mit wilden, verstörten Augen an.

"Ich sehe, Sie haben es gemerkt. Sagen Sie nichts. Warten Sie, bis Sie hören, was ich zu sagen habe. Dorian, von dem Augenblick an, da ich Sie kennengelernt habe, hat Ihre Persönlichkeit einen ganz außergewöhnlichen Einfluß auf mich gehabt. Ich war von Ihnen beherrscht, meine Seele, mein Gehirn, meine ganze Kraft. Sie wurden für mich die sichtbare Verkörperung jenes unsichtbaren Ideals, dessen Erinnerung uns Künstlern wie ein köstlicher Traum erscheint. Ich habe Sie angebetet. Ich bin eifersüchtig auf jeden Menschen gewesen, mit dem Sie sprachen. Ich wollte Sie ganz für mich allein haben. Ich war nur glücklich, wenn ich bei Ihnen war. Wenn Sie fern von mir waren, waren Sie trotzdem in meiner Kunst gegenwärtig. Natürlich habe ich Ihnen nie etwas davon gesagt. Das wäre mir unmöglich gewesen. Sie hätten es auch nicht verstanden. Ich selbst habe es kaum verstanden. Ich wußte nur, daß ich Aug' in Aug' die Vollkommenheit gesehen hatte, daß sich die Welt meinen Augen als ein Wunder offenbart hatte, vielleicht als ein zu mächtiges Wunder, denn in solch wahnsinniger Anbetung liegt die Gefahr. Nicht weniger die Gefahr, den Gegenstand der Anbetung zu verlieren, als ihn zu behalten... Wochen und Wochen vergingen und ich lebte mehr und mehr ausschließlich von Ihnen. Dann kam eine neue Entwicklung. Ich hatte Sie als Paris in zierlicher Rüstung gezeichnet und als Adonis im Jägerrock mit glänzendem Speer. Bekränzt mit schweren Lotosblumen sind Sie auf dem Bug von Hadrians Barke gesessen und haben in den grünen schlammigen Nil geblickt. Sie hatten sich über den stillen Teich eines griechischen Gehölzes gebeugt und im stummen Silberspiegel des Gewissens die Pracht Ihres eigenen Antlitzes gesehen. Und all das war gewesen, wie die Kunst sein soll: unbewußt, ideal, entrückt. Dann entschloß ich mich eines Tages, manchmal denke ich, es war ein schicksalsschwerer Tag, ein wundervolles Bildnis von Ihnen zu malen, so wie Sie wirklich waren, nicht im Kostüm toter Zeiten, sondern in Ihrem eigenen Kleide, in Ihrer eigenen Zeit. Ob es nun die Realistik der Methode war oder der Zauber Ihrer Persönlichkeit, der mir so ohne jeden Schleier und Nebel entgegentrat, kann ich nicht sagen, aber ich weiß, daß mir bei der Arbeit jeder Pinselstrich und jedes Farbatom mein Geheimnis zu verraten schien. Ich hatte Angst, andere könnten die Abgötterei, die ich mit Ihnen trieb, entdecken. Ich fühlte, Dorian, daß ich zuviel gesagt, daß ich zu viel von mir in dieses Bild gelegt hatte. Damals war es, als ich den Entschluß faßte, das Bild nie auszustellen. Es kränkte Sie ein wenig, denn Sie verstanden eben nicht, was es für mich bedeutete. Henry, dem ich davon erzählte, lachte mich aus. Aber das machte mir nichts. Als das Bild fertig war und ich ihm allein gegenüber saß, fühlte ich, daß ich recht gehabt hatte. . . Ein paar Tage später, als es dann aus meinem Atelier fort war und sobald ich den Zauberbann seiner Gegenwart überwunden hatte, kam ich mir verrückt vor, daß ich darin mehr gesehen hatte, als die Tatsache, daß Sie sehr hübsch sind und ich malen kann. Auch jetzt noch halte ich es für einen Irrtum, anzunehmen, daß jemals die Empfindung, die man beim Schaffen hat, in dem Werk, das man schafft, zum Ausdruck kommt. Die Kunst ist immer viel abstrakter, als wir uns einbilden. Form und Farbe erzählen uns von Form und Farbe, von sonst nichts. Es scheint mir oft, daß die Kunst den Künstler viel mehr verbirgt, als enthüllt... Als ich dann den Antrag aus Paris bekam, entschloß ich mich, Ihr Bild zum Mittelpunkt der Ausstellung zu machen. Es kam mir nicht einen Moment der Gedanke, daß Sie etwas dagegen haben würden. Ich sehe jetzt, daß Sie recht haben. Das Bild kann nicht ausgestellt werden. Sie dürfen mir wegen der Dinge, die ich gesagt habe, nicht böse sein, Dorian. Ich habe es früher einmal Henry gesagt: Sie sind geschaffen, um angebetet zu werden.

Dorian Gray atmete tief auf. Seine Wangen bekamen wieder Farbe und ein Lächeln umspielte seine Lippen. Die Gefahr war vorüber. Für den Augenblick war er sicher. Doch er fühlte unermeßliches Mitleid mit dem Maler, der ihm eben diese seltsame Beichte abgelegt hatte, und fragte sich, ob er selbst je so von der Persönlichkeit eines Freundes beherrscht werden könnte. Lord Henry hatte den Reiz, sehr gefährlich zu sein, aber das war auch alles. Er war zu klug und zu zynisch, als daß man ihn je wirklich gern haben könnte. Würde es je einen Menschen geben, mit dem er diese seltsame Vergötterung treiben könnte? War das etwas, was ihm das Leben noch aufsparte?

"Es ist mir ein Rätsel", fuhr Hallward fort, "daß Sie das dem Porträt angemerkt haben. Haben Sie wirklich etwas darin gesehen?"

"Ich habe etwas darin gesehen", antwortete er. "Etwas, was mir sehr sonderbar erschien."

"Und jetzt gestatten Sie mir wohl, es wieder einmal zu betrachten?"

Dorian schüttelte den Kopf. "Sie dürfen das von mir nicht verlangen, Basil. Ich kann Sie unmöglich vor das Bild lassen!"

"Aber später einmal werden Sie es mir doch erlauben?"

"Nie!"

"Gut... Vielleicht haben Sie recht. Und jetzt Adieu, Dorian. Sie sind der einzige Mensch in meinem Leben gewesen, der wirklich Einfluß auf meine Kunst gehabt hat. Was ich je Gutes gemacht habe, schulde ich Ihnen... Ach, Sie können sich ja nicht vorstellen, was es mich gekostet hat, Ihnen all das zu sagen, was ich Ihnen gebeichtet habe."

"Mein lieber Basil", sagte Dorian. "Was haben Sie mir denn gebeichtet? Nichts, als daß Sie das Gefühl haben, mich zu sehr bewundert zu haben. Das ist gerade kein Kompliment."

"Es sollte auch kein Kompliment sein. Es war eine Beichte. Jetzt, da ich sie abgelegt habe, kommt es mir vor, als hätte ich etwas verloren. Man sollte vielleicht seine Liebe nie in Worte kleiden."

"Ihre Beichte hat mich enttäuscht."

"Was haben Sie denn erwartet, Dorian? Sie haben doch sonst nichts in dem Bilde gesehen? Es war doch sonst nichts in ihm zu sehen?"

"Nein, es war sonst nichts zu sehen. Warum fragen Sie das?... Aber Sie dürfen nie wieder von Anbetung sprechen. Das ist Wahnsinn. Wir beide sind Freunde, Basil, und wir müssen es immer bleiben!"

"Sie haben ja jetzt Henry", sagte der Maler traurig.

"Ach, Henry!" rief der junge Mann mit einem leichten Lachen. "Henry verbringt seine Tage damit, unglaubliche Dinge zu sagen, und seine Abende, unwahrscheinliche Dinge zu tun. Das ist genau das Leben, das ich führen möchte. Trotzdem glaube ich nicht, daß ich je zu Henry ging, wenn ich in Leid wäre. Ich würde lieber zu Ihnen kommen."

"Sie wollen mir wieder sitzen?"

"Das ist unmöglich."

Sie zerstören meine künstlerische Existenz, wenn Sie es mir verweigern. Kein Mensch begegnet zweimal seinem Ideal, selbst wenige nur einmal!"

"Ich kann Ihnen nicht erklären, warum, Basil, aber ich darf Ihnen nie wieder sitzen. Es liegt ein sonderbares Schicksal über meinem Bildnis. Es hat ein Leben für sich. Ich werde zu Ihnen kommen und werde mit Ihnen Tee trinken. Das wird genau so amüsant sein."

"Für Sie sogar amüsanter, fürchte ich", murmelte Hallward bekümmert. "Und jetzt adieu. Es tut mir leid, daß Sie mich, nicht noch einmal das Bild sehen lassen wollen. Aber da kann man nichts tun. Ich verstehe sehr gut, was Sie dazu veranlaßt."

Als er das Zimmer verlassen hatte, lächelte Dorian Gray vor sich hin. Der arme Basil! Wie wenig wußte er doch von dem wahren Grund! Und wie seltsam war es, daß er, statt sein eigenes Geheimnis offenbaren zu müssen, fast durch einen Zufall erreicht hatte, dem Freunde das seine zu entreißen. Wieviel erklärte ihm doch diese merkwürdige Beichte! Des Malers lächerliche Eifersuchtsanfälle, seine ungestüme Verehrung, seine übertriebenen Lobhymnen, sein manchmal so sonderbares Verstummen, all das verstand er jetzt, und er tat ihm leid. In einer Freundschaft, die so gefährdet war, glaubte er eine gewisse Tragik zu sehen.

Er seufzte und drückte auf die Klingel. Das Porträt mußte um jeden Preis versteckt werden. Er konnte sich der Gefahr einer Entdeckung nicht noch einmal aussetzen. Es war wahnsinnig von ihm gewesen, das Ding überhaupt, wenn auch nur eine Stunde lang, in einem Zimmer zu lassen, zu dem jeder seiner Freunde Zutritt hatte.

 

 

 

Zehntes Kapitel

Als der Diener eintrat, sah er ihn forschend an und fragte sich, ob der wohl daran gedacht habe, hinter den Schirm zu blicken. Der Mann sah aber ganz harmlos aus und wartete auf seine Befehle. Dorian zündete eine Zigarette an, ging zum Spiegel hinüber und sah hinein. Er konnte darin Viktors Gesicht genau sehen. Es war eine bewegungslose Maske der Servilität. Von seiner Seite war also wohl nichts zu fürchten; doch er hielt es für das beste, auf der Hut zu sein.

Sehr langsam sprechend, trug er ihm auf, der Haushälterin zu sagen, daß er sie sprechen wolle und dann zum Rahmenmacher zu gehen, der sofort zwei Gehilfen schicken solle. Es schien ihm, als ob die Augen des Mannes, als er das Zimmer verließ, in der Richtung des Schirmes gingen. Oder war das nur eine Einbildung von ihm?...

Ein paar Augenblicke später trat Mrs. Leaf in ihrem seidenen Kleid, altmodische Zwirnhalbhandschuhe an den runzeligen Händen, in das Bibliothekszimmer. Er verlangte von ihr den Schlüssel zum Schulzimmer.

"Das alte Schulzimmer, Mr. Dorian", rief sie aus. "Das ist ja voller Staub. Ich muß es erst aufräumen und in Ordnung bringen lassen, bevor Sie da hineinkönnen. Es ist jetzt nicht in einem Zustand, in dem Sie es ansehen könnten."

"Ich will nicht, daß es aufgeräumt wird. Ich will nur den Schlüssel."

"Sie werden sich mit Spinnweben beschmutzen, wenn Sie hineingehen. Es ist ja nahezu fünf Jahre nicht geöffnet worden, seit Seine Lordschaft gestorben ist."

Er zuckte zusammen bei der Erwähnung seines Großvaters. Er gedachte seiner mit Haß. "Das macht nichts", erwiderte er. "Ich will das Zimmer nur sehen, weiter nichts! Geben Sie mir also den Schlüssel."

"Hier ist der Schlüssel, gnädiger Herr", sagte die alte Dame, während sie den Bund mit zitternden, unsicheren Händen durchmusterte. "Hier ist der Schlüssel, ich werde ihn gleich vom Bund herunter haben. Aber Sie denken doch nicht etwa daran, dort hinaufzuziehen, gnädiger Herr, wo Sie es hier so gemütlich haben?"

"Nein, nein!" rief er ungeduldig. "Ich danke. Das ist alles, was ich brauche."

Sie blieb noch ein paar Augenblicke und schwätzte über verschiedene Haushaltsangelegenheiten. Er seufzte und sagte, sie solle alles nach ihrem Ermessen erledigen. Mit einem strahlenden Lächeln verließ sie das Zimmer.

Als die Tür zu war, steckte Dorian den Schlüssel in die Tasche und blickte sich im Zimmer um. Sein Auge fiel auf eine große purpurrote Atlasdecke mit schweren Goldstickereien, ein herrliches Stück venezianischer Arbeit aus dem siebzehnten Jahrhundert, das sein Großvater in einem Kloster bei Bologna entdeckt hatte. Ja, die eignete sich gut dazu, das schreckliche Ding zu verhüllen. Sie hatte vielleicht schon oft als Bahrtuch für Tote gedient. Nun sollte sie etwas verhüllen, das eine eigene Art der Verwesung besaß, ärger als die Verwesung des Todes selbst, etwas, das Schrecken verbreiten und doch nie sterben würde. Was die Würmer für den Leichnam sind, das würden seine Sünden für das gemalte Antlitz auf der Leinwand sein. Sie würden seine Schönheit zerstören und seine Anmut aufzehren, es beflecken und schänden. Und doch würde es weiterleben, würde immer am Leben bleiben...

Er schauderte und einen Augenblick lang bereute er, daß er Basil nicht den wahren Grund, warum er das Bild verstecken wollte, gesagt hatte. Basil hätte ihm helfen können, Lord Henrys Einfluß zu widerstehen und den noch viel vergiftenderen Kräften, die aus seiner eigenen Natur heraus wirkten. Die Liebe, die Basil ihm entgegenbrachte - denn es war eine wirkliche Liebe -, enthielt nur Edles und Vergeistigtes. Es war nicht jene rein physische Bewunderung, die ein Kind der Sinne ist und stirbt, wenn die Sinne müde werden. Es war Liebe, wie sie Michelangelo gekannt hatte und Montaigne, Winckelmann und selbst Shakespeare. Ja, Basil hätte ihn retten können. Aber jetzt war es zu spät. Die Vergangenheit konnte man immer vernichten, Reue, Verleugnung, Vergessen konnte das zuwege bringen. Aber der Zukunft konnte man nicht entrinnen. Er fühlte Leidenschaften in sich, die schrecklich ausbrechen, Träume, die ihre sündigen Schatten in Wirklichkeit verwandeln würden.

Er nahm die große, purpurfarbene Decke vom Diwan und trat damit hinter den Schirm. War das Gesicht auf der Leinwand schon wieder häßlicher als vorher? Es schien ihm unverändert; und doch, der Haß, den er dagegen empfand, war noch verstärkt worden. Das goldene Haar, die blauen Augen, die rosenroten Lippen, das alles war da, nur der Ausdruck war verwandelt. Der war in seiner Grausamkeit erschreckend. Verglichen mit dem, was er hier an Vorwürfen und Tadel sah, waren die Vorhaltungen, die ihm Basil über Sibyl gemacht hatte, leer gewesen, leer und ohne Bedeutung. Seine eigene Seele seh ihn von der Leinwand an und sprach ihm das Urteil. Ein schmerzlicher Zug glitt über sein Gesicht und er warf die prunkvolle Decke über das Bild. Währenddessen klopfte es an der Tür. Er kam hinter dem Schirm hervor, als der Diener eintrat.

"Der Leute sind hier, Monsieur."

Er fühlte, daß er den Mann sogleich loswerden müsse. Er durfte auf keinen Fall wissen, wohin das Bild gebracht würde. Er hatte etwas Hinterlistiges und hatte nachdenkliche, verschlagene Augen. Dorian setzte sich an den Schreibtisch, kritzelte ein paar Zeilen an Lord Henry, in denen er ihn bat, etwas Lektüre zu schicken und ihn daran erinnerte, daß sie sich um Viertel neun am Abend treffen wollten.

"Warten Sie auf Antwort", sagte er, während er den Brief dem Diener gab. "Und lassen Sie die Leute eintreten!"

Nach zwei bis drei Minuten klopfte es wieder und Mr. Hubbard, der berühmte Rahmenmacher aus der South-Audley-Straße, kam mit einem ziemlich ungeschliffen aussehenden jungen Gehilfen herein. Mr. Hubbard war ein kleiner Mann mit blühendem Gesicht und rotem Bart. Seine Bewunderung für die Kunst hatte beträchtlich unter der hartnäckigen Geldlosigkeit der meisten Künstler gelitten, mit denen er zu tun hatte. In der Regel verließ er sein Geschäft nie, sondern wartete, bis die Leute zu ihm kamen. Aber bei Dorian Gray machte er immer eine Ausnahme. Es war etwas an Dorian, das jedermann entzückte. Ihn nur zu sehen, war schon ein Vergnügen.

"Was steht zu Diensten, Mr. Gray?" fragte er und rieb seine fetten, sommersprossigen Hände. "Ich dachte, ich werde mir die Ehre geben, selbst herüberzukommen. Ich habe gerade ein Prachtstück von einem Rahmen auf einer Auktion erstanden. Alt-Florentiner Arbeit! Kam aus Fonthill, vermute ich. Wunderbar geeignet für ein religiöses Bild, Mr. Gray."

"Es tut mir leid, daß Sie sich selbst herbemüht haben, Mr. Hubbard. Ich werde nächstens einmal vorbeikommen und den Rahmen ansehen, obwohl ich mich gerade jetzt nicht sehr für religiöse Kunst interessiere. Für heute möchte ich nur, daß ein Bild auf den Boden des Hauses getragen wird. Es ist ziemlich schwer, darum habe ich gebeten, daß Sie mir zwei von Ihren Leuten schicken sollen."

"Macht keinerlei Umstände, Mr. Gray. Ich bin entzückt über jeden Dienst, den ich Ihnen leisten kann. Wo ist das Kunstwerk?"

"Dies da", antwortete Dorian und schob den Schirm zurück. "Können Sie es hinaufbringen, Decke und Bild zusammen, genau so wie es jetzt ist? Ich möchte nicht, daß es auf dem Weg hinauf beschädigt wird."

"Wir werden's schon schaffen", sagte der heitere Rahmenmacher und begann, unterstützt von seinem Gehilfen, das Bild von den Messingketten, an denen es aufgehängt war, loszumachen. "Und jetzt, Mr. Gray, wohin sollen wir es tragen?"

"Ich will Ihnen den Weg zeigen, Mr. Hubbard, wenn Sie so freundlich sein wollen, mir zu folgen. Oder vielleicht gehen Sie besser voraus. Es tut mir leid, aber es ist ganz oben. Wir wollen über die Haupttreppe gehen, die ist breiter."

Er hielt ihnen die Tür auf. Sie gingen in die Halle hinaus und begannen den Aufstieg. Der kostbar geschnitzte Rahmen hatte das Bild sehr schwer gemacht und hin und wieder legte Dorian mit Hand an, um zu helfen, wogegen dann Mr. Hubbard, der die echte Abneigung jedes wirklichen Handwerkers dagegen hatte, einen Gentleman etwas Nützliches tun zu sehen, lebhaft protestierte.

"Ein ziemliches Gewicht, das man da zu schleppen hat!" stöhnte der kleine Mann, als sie endlich den letzten Treppenabsatz erreicht hatten, und trocknete seine feuchte Stirne. "Ich bedaure, daß es so schwer ist", murmelte Dorian, während er die Tür zu dem Zimmer aufschloß, das das seltsame Geheimnis seines Lebens bewahren und seine Seele den Blicken der Menschen verbergen sollte.

Er hatte die Stube tatsächlich länger als vier Jahre nicht betreten. Zuerst hatte er sie als Kind als Spielzimmer benutzt, dann, als er älter geworden war, als Studierzimmer. Es war ein großes, schönes Zimmer, das der letzte Lord Kelso hatte ausbauen lassen, weil er den jungen Enkel, den er wegen seiner merkwürdigen Ähnlichkeit mit seiner Mutter und auch noch aus anderen Gründen immer gehaßt hatte, möglichst weit weg von sich halten wollte. Der Raum erschien Dorian kaum verändert. Da war der mächtige italienische Cassone mit den phantastisch bemalten Füllungen und den verblichenen goldenen Nischen, in denen er sich als Bub so oft versteckt hatte. Da war der Bücherschrank aus poliertem Holz, noch angefüllt mit den Schulbüchern voller Eselsohren. An der Wand dahinter hing noch derselbe abgeschabte flämische Gobelin, auf dem ein verblichener König und eine Königin im Garten Schach spielten, während eine Schar von Falkenieren vorbeiritt, die auf ihren Panzerhandschuhen Jagdfalken mit der Kappe über dem Kopf trugen. Wie gut erinnerte er sich an alles! Jeder Augenblick seiner einsamen Kindheit kam ihm ins Gedächtnis zurück, während er sich umblickte. Er entsann sich der fleckenlosen Reinheit seines Knabenlebens und es schien ihm furchtbar, daß gerade hier das schicksalsschwere Bildnis verborgen werden sollte. Wie wenig hatte er in jenen längst vergangenen Tagen an all das gedacht, was seiner noch wartete!

Aber kein anderer Raum im Hause war so sicher vor neugierigen Augen als dieser. Er hatte den Schlüssel und niemand außer ihm konnte hier eintreten. Hinter der purpurnen Decke mochte nun das gemalte Gesicht auf der Leinwand tierisch und unrein werden. Was lag daran? Niemand konnte es sehen. Auch er selbst wollte es nicht mehr sehen. Warum sollte er die gräßliche Verderbnis seiner Seele beobachten? Er behielt ja seine Jugend, das war genug. Und außerdem, konnte nicht sein Charakter trotz alledem edler werden? Es war ja gar kein Grund dafür vorhanden, daß die Zukunft so schändlich sein werde. Die Liebe konnte wieder in sein Leben treten und ihn läutern und ihn vor den Sünden bewahren, die schon in seinem Geist und in seinem Blut zu gären schienen, jene seltsamen, nicht ausgesprochenen Sünden, denen gerade das Geheimnis Kraft und Reiz verlieh. Eines Tages würde vielleicht der grausame Zug von dem scharlachroten, empfindlichen Mund wieder verschwinden und dann würde er der Welt Basil Hallwards Meisterwerk zeigen können.

"Mr. Hubbard, bitte, bringen Sie es herein", sagte er zaudernd und wandte sich um. "Es tut mir leid, daß ich Sie so lange habe warten lassen. Ich dachte an etwas anderes."

"Es ist ganz angenehm, sich etwas zu verschnaufen, Mr. Gray", antwortete der Rahmenmacher, der noch immer nach Atem rang. "Wohin sollen wir es stellen?"

"Irgendwohin!... So, das genügt schon. Ich will es nicht aufgehängt haben. Bitte, lehnen Sie es nur gegen die Wand. Danke!"

"Darf man das Kunstwerk einmal betrachten?"

Dorian erschrak. "Es würde Sie doch nicht interessieren. Mr. Hubbard", sagte er und sah den Mann fest an. Er fühlte, daß er sich auf ihn stürzen und ihn zu Boden werfen würde, wenn er es wagen sollte, die prunkvolle Decke, die das Geheimnis seines Lebens barg, zu lüften. "Ich brauche sonst nichts mehr. Ich danke Ihnen, daß Sie so freundlich waren, zu kommen."

"Keine Ursache! Keine Ursache, Mr. Gray! Es ist mir immer eine Freude, etwas für Sie tun zu dürfen."

Mr. Hubbard stapfte hinunter, gefolgt von seinem Gehilfen, der mit einem Ausdruck scheuer Bewunderung in dem rohen, häßlichen Gesicht nach Dorian zurückblickte. Er hatte nie einen so wunderschönen Menschen gesehen.

Als das Geräusch ihrer Schritte verhallt war, schloß Dorian die Tür zu und steckte den Schlüssel in die Tasche. Jetzt fühlte er sich sicher. Nie würde jemand das fürchterliche Ding sehen. Kein Auge als das seine würde je seine Schande erblicken.

Als er wieder in das Bibliothekszimmer trat, sah er, daß es gerade fünf Uhr war und daß der Tee schon gebracht worden war. Auf einem kleinen Tisch aus dunklem, wohlriechendem Holz, der reich mit Perlmutter eingelegt war, einem Geschenk von Lady Radley, der Gattin seines Vormunds, einer übrigens hübschen Frau, die das Kranksein als Beruf erwählt und den vergangenen Winter in Kairo zugebracht hatte, fand er einen Brief von Lord Henry. Daneben lag ein in gelbes Papier gebundenes Buch, dessen Umschlag leicht abgenutzt und dessen Ecken abgerissen waren, und die Nachmittagsausgabe der ‘St. James' Gazette". Viktor war also zurückgekehrt. Dorian fragte sich, ob er den Leuten in der Halle wohl begegnet sei, als sie das Haus verließen, und aus ihnen herausgebracht habe, was sie gemacht hätten. Er würde sicher das Bild vermissen, hatte es ohne Zweifel schon vermißt, als er den Tee brachte. Der Schirm war nicht an seinen Ort zurückgestellt worden und ein freier Raum an der Wand war sichtbar. Vielleicht würde er den Menschen einmal in der Nacht ertappen, wie er nach oben schlich und versuchte, die Tür des Zimmers zu sprengen. Es war etwas Schreckliches, einen Spion im Hause zu haben. Er hatte von reichen Leuten gehört, die ihr ganzes Leben hindurch von den Erpressungen eines Dieners verfolgt wurden, der irgend einen Brief gelesen oder ein Gespräch mit angehört, einen Zettel mit einer Adresse gefunden oder unter einem Kissen eine welke Blüte, einen Fetzen zerknitterter Spitze entdeckt hatte.

Er seufzte tief auf, goß sich etwas Tee ein und öffnete Lord Henrys Brief. Es stand nur darin, daß er ihm die Abendzeitung schicke und ein Buch, das ihn vielleicht interessieren würde, und daß er um Viertel neun im Klub sein werde. Dorian öffnete gelangweilt die Zeitung und überflog sie. Ein Rotstiftstrich auf der fünften Seite zog seinen Blick auf sich. Die folgende Notiz war angestrichen:

"Leichenbeschau an einer Schauspielerin. Heute morgen wurde von Mr. Danby, dem Bezirksleichenbeschauer, in der Bell Tavern, Hoxton Road, die Leichenschau an dem Leichnam von Sibyl Vane, einer jungen Schauspielerin, die zuletzt am Royal Theatre, Holborn, engagiert war, abgehalten. Es wurde auf Tod durch einen Unglücksfall erkannt. Reges Mitgefühl erweckte die Mutter der Abgeschiedenen, die während ihrer Aussage sowie der von Doktor Birrel, der die Sektion der Leiche vorgenommen hatte, tief ergriffen war."

Er runzelte die Stirn, zerriß das Blatt, lief im Zimmer auf und ab und warf die Stücke weg. Wie häßlich war das alles! Und was für eine schreckliche Wirklichkeit die Häßlichkeit den Dingen gab! Er ärgerte sich ein wenig, daß ihm Lord Henry den Bericht geschickt hatte. Auf alle Fälle war es albern von ihm, die Notiz mit Rotstift anzustreichen. Viktor hätte sie ja lesen können. Dazu verstand der Mann genug Englisch.

Vielleicht hatte er sie schon gelesen und Verdacht geschöpft. Aber schließlich,- was lag daran? - Was hatte Dorian Gray mit Sibyl Vanes Tod zu tun? Es war kein Grund zur Furcht. Dorian Gray hatte sie nicht umgebracht.

Sein Auge fiel auf das gelbe Buch, das ihm Lord Henry geschickt hatte. Er war begierig, was es sein mochte. Er trat an das kleine perlfarbene, achteckige Lesepult heran, das ihm immer wie das Werk seltsamer ägyptischer Bienen, die Silber statt Honig sammelten, erschienen war, nahm den Band, warf sich in einen Sessel und begann zu blättern. Nach einigen Augenblicken wurde er durch die Lektüre gefesselt. Es war das merkwürdigste Buch, das er je gelesen hatte. Es schien ihm, als zögen in erlesenem Kostüm zum zarten Klange der Flöten die Sünden der Welt pantomimisch an ihm vorüber. Dinge, von denen er unbestimmt geträumt hatte, wurden ihm plötzlich zur Wirklichkeit. Dinge, von denen er nie geträumt hatte, wurden ihm mählich enthüllt.

Es war ein Roman ohne Handlung und mit nur einer einzigen Figur. Eigentlich war es eine psychologische Studie über einen jungen Pariser, der sein Leben damit verbrachte, im neunzehnten Jahrhundert alle Leidenschaften und Wandlungen der Lebensgefühle in Wirklichkeit umzusetzen, die jedem Jahrhundert, dem eigenen ausgenommen, angehört hatten und so in seiner eigenen Person die verschiedenartigsten Schicksale, die, die Weltseele durchgemacht hatte, zu vereinigen. Wegen ihrer Künstlichkeit hatte er jene Entsagungen geliebt, die die Menschen in ihrer Torheit Tugend genannt haben, ebenso wie jene Empörungen der menschlichen Natur, die weise Leute noch jetzt Sünde nennen. Es war in jenem sonderbaren, reich geschmückten Stil geschrieben, den die Arbeiten einiger der feinsten Künstler der französischen Symbolistenschule haben: lebendig und dunkel zugleich, voll von Argotausdrücken und altertümlichen Wendungen, von technischen Ausdrücken und sorgsam gefeilten Umschreibungen. Es waren darin Vergleiche, so sonderbar wie Orchideen und auch so fein in den Farbentönen. Das Leben der Sinne war in den Ausdrücken der mystischen Philosophie beschrieben. Man wußte manchmal kaum, ob man von den geistigen Ekstasen eines mittelalterlichen Heiligen las oder die krankhafte Beichte eines modernen Sünders. Es war ein Buch voller Gift. Ein schwerer Weihrauchduft schien über den Seiten zu schweben und das Gehirn zu verwirren. Schon der Tonfall der Sätze, die feine Monotonie ihrer Musik mit ihrer Fülle von komplizierten Wiederholungen und fortschreitenden Bewegungen, die in der raffiniertesten Weise immer wiederkamen, erzeugten im Geist des Jünglings, als er von Kapitel zu Kapitel weiterlas, eine Art Träumerei, eine förmlich krankhafte Verträumtheit, die ihn den sinkenden Tag und die einfallenden Schatten nicht merken ließ.

Wolkenlos glänzte der kupfergrüne Himmel, an dem ein einziger, einsamer Stern flimmerte, durch die Fenster herein. Er las bei diesem matten Licht, bis er nichts mehr sehen konnte. Dann, nachdem sein Diener ihn mehrere Male an die späte Stunde erinnert hatte, stand er auf, ging ins Nebenzimmer, legte das Buch auf den kleinen Florentiner Tisch, der immer neben seinem Bett stand, und begann sich zum Diner anzukleiden.

Es war fast neun Uhr, bevor er in den Klub kam, wo Lord Henry allein und sehr gelangweilt aussehend dasaß.

"Es tut mir leid, Henry, daß ich mich verspätet habe!" rief er aus. "Aber es ist nur Ihre Schuld. Das Buch, das Sie mir geschickt haben, hat mich so gefesselt, daß ich gar nicht gemerkt habe, wie die Zeit verstrich."

"Ja, ich dachte mir, daß es Ihnen gefallen würde", antwortete der Freund, sich vom Stuhle erhebend.

"Ich habe nicht gesagt, daß es mir gefällt, Henry. Ich habe gesagt, es fesselt mich. Das ist ein großer Unterschied."

"Ah, haben Sie das auch schon herausgefunden?" murmelte Lord Henry. Dann gingen sie in den Speisesaal.

 

 

Elftes Kapitel

Jahrelang konnte sich Dorian Gray von dem Einfluß dieses Buches nicht frei machen. Oder vielleicht wäre es richtiger, zu sagen: er suchte gar nicht, sich davon zu befreien. Er verschaffte sich aus Paris nicht weniger als neun Luxusausgaben der ersten Auflage, ließ sie in verschiedenen Farben einbinden, so daß sie zu seinen verschiedenen Launen und den wechselnden Einfällen seines Geistes paßten, über die er zuweilen die Herrschaft völlig verloren zu haben schien. Der Held, der wunderbare junge Pariser, in dem das romantische und das wissenschaftliche Element auf eine so merkwürdige Weise vermischt waren, wurde für ihn eine Art vorausgeahnte Gestalt seines Selbst. In der Tat schien ihm das ganze Buch die Geschichte seines Lebens zu enthalten, geschrieben, bevor er es noch gelebt hatte.

In einer Beziehung aber war er glücklicher als der phantastische Held des Romans. Er lernte nie - wozu er auch keinen Grund hatte - jene etwas groteske Angst vor Spiegeln, polierten Metallflächen und unbewegtem Wasser kennen, die den jungen Pariser so früh in seinem Leben überkam und durch den jähen Verfall einer Schönheit verursacht war, die, allem Anschein nach, vorher ganz außerordentlich gewesen war. Mit einer fast grausamen Lust - und vielleicht liegt in jeder Lust, wie sicher auch in jedem Genuß Grausamkeit - pflegte er den zweiten Teil des Buches zu lesen, der einen wirklich tragischen, wenn auch etwas übertriebenen Bericht von dem Leid und der Verzweiflung eines Menschen enthielt, der das verloren hatte, was er an sich, an anderen und an der ganzen Welt am höchsten schätzte.

Die wunderbare Schönheit, die einst Basil Hallward und nach ihm auch manchen anderen so bezaubert hatte, schien ihn nie zu verlassen. Selbst wer die häßlichsten Dinge über ihn hörte - und von Zeit zu Zeit liefen sonderbare Gerüchte über seine Lebensweise in London um und wurden das Gespräch der Klubs -, konnte nichts, was ihm zur Schande gereichte, glauben, wenn er ihn sah. Er behielt immer das Aussehen eines Menschen, der sich trotz Berührung mit der Welt unbefleckt erhalten hat. Männer, die sich in Zoten gefielen, wurden still, wenn Dorian Gray ins Zimmer trat. In der Reinheit seines Antlitzes lag etwas, das sie zurechtwies. Seine bloße Gegenwart schien in ihnen die Erinnerung an die Unschuld, die sie befleckt hatten, zurückzurufen. Sie staunten darüber, daß ein so reizender und anmutiger Mensch wie er, dem Schmutz einer Zeit, die zugleich gemein und sinnlich war, hatte entgehen können.

Oft, wenn er von einer der geheimnisvollen und ausgedehnten Reisen zurückkehrte, die so merkwürdige Vermutungen unter seinen Freunden oder denen, die sich dafür hielten, veranlaßten, schlich er hinauf in den verschlossenen Raum, öffnete die Tür mit dem Schlüssel, den er jetzt immer bei sich trug, und stand dann mit einem Spiegel vor dem Bildnis, das Basil Hallward von ihm gemalt hatte. Er sah bald in das böse, alternde Antlitz auf der Leinwand, bald in das schöne junge Gesicht, das ihm aus der glatten Spiegelfläche entgegenlächelte. Gerade dieser grelle Kontrast erhöhte seinen Genuß. Er verliebte sich mehr und mehr in seine eigene Schönheit und interessierte sich mehr und mehr für die Verderbtheit seiner Seele. Er beobachtete mit peinlicher Sorgfalt und manchmal mit einem ungeheuerlichen, schrecklichen Lustgefühl die häßlichen Linien, die die runzlige Stirn durchfurchten oder sich um den starken, sinnlichen Mund zogen. Und manchmal fragte er sich, was wohl schrecklicher sei, die Zeichen der Sünde oder die Zeichen des Alters? Oder er hielt seine weißen Hände neben die groben, gedunsenen Hände auf dem Bilde und lächelte. Er höhnte den verunstalteten Leib und die welken Glieder.

Dann aber gab es Augenblicke, in der Nacht, wenn er schlaflos in seinem Zimmer lag oder auch in der schäbigen Stube einer kleinen, berüchtigten Kneipe nahe am Hafen, in der er unter einem angenommenen Namen und verkleidet zu verkehren pflegte, daß er an das Elend dachte, das er über seine Seele gebracht hatte, mit einem Mitgefühl, das um so beklemmender wirkte, als es ganz selbstsüchtig war. Solche Augenblicke waren jedoch selten. Die Neugier auf das Leben, die Lord Henry zuerst in ihm geweckt hatte, schien mit der Befriedigung immer mehr zu wachsen. Je mehr er wußte, um so mehr wollte er wissen. Er hatte Anfälle eines tollen Lebenshungers, der immer rasender wurde, je mehr er ihn befriedigte.

Und doch war er nicht rücksichtslos, wenigstens nicht in seinen Beziehungen zur Gesellschaft. Ein oder zweimal in jedem Monat während des Winters und an jedem Mittwoch abend während der Saison öffnete er sein schönes Haus für die Welt und dann waren die berühmtesten Musiker da, um seine Gäste mit den Wundern ihrer Kunst zu entzücken. Seine kleinen Diners, bei deren Vorbereitung Lord Henry immer half, waren ebensosehr wegen der sorgsamen Auswahl und Sitzordnung der Eingeladenen, wie wegen des erlesenen Geschmackes berühmt, der sich in der Tafeldekoration mit ihren wundervoll abgetönten Anordnungen exotischer Pflanzen, gestickter Tücher und alter Gold- und Silbergeräte ausdrückte. In der Tat gab es eine große Zahl, besonders von jungen Leuten, die in Dorian Gray die vollkommene Verkörperung eines Typus sahen oder zu sehen glaubten, von dem sie oft in Eton oder Oxford geträumt hatten, eines Typus, der die wirkliche Bildung des Gelehrten mit der Anmut, Vornehmheit und den vollkommenen Manieren des Weltmannes verband. Ihnen erschien er als einer aus der Zahl derer, von denen Dante sagt, sie suchen sich durch Anbetung der Schönheit zu vervollkommnen. Wie Gautier war er einer, für den "die sichtbare Welt existierte".

Für ihn war sicher das Leben die erste, die größte Kunst, und alle übrigen Künste schienen ihm nur die Vorschulen dazu. Natürlich hatte auch die Mode, durch die das in Wahrheit Phantastische einen Augenblick Allgemeingut wird und das Dandytum, das auf eigene Weise versucht, der Schönheit ein völlig modernes Gepräge zu geben, Reiz für ihn. Seine Art, sich zu kleiden und die besonderen Stile, die er von Zeit zu Zeit aufnahm, hatten einen ausgesprochenen Einfluß auf die jungen Elegants der Bälle in Mayfair und des Pall-Mall-Klubs, die ihn in allem, was er tat, kopierten und seine anmutigen Geckereien, so wenig er sie selbst auch ernst nahm, nachzuahmen versuchten.

Während er aber nur zu bereit war, die gesellschaftliche Stellung, die sich ihm unmittelbar nach seiner Volljährigkeit bot, anzunehmen, und in der Tat einen besonderen Genuß in dem Gedanken fand, für das London seiner Zeit das zu werden, was für das Rom des Kaisers Nero der Verfasser des Satyrikon gewesen war, wünschte er doch im Innersten seines Herzens mehr zu sein als ein arbiter elegantiarum, den man über die Wahl eines Schmuckstückes, über das Binden einer Krawatte oder die Haltung des Stockes befragt. Er suchte eine neue Lebensführung darzustellen, die ihre begründende Philosophie und ihre geordneten Prinzipien haben und in der Vergeistigung der Sinne die höchste Vervollkommnung erreichen sollte.

Die Verehrung der Sinne ist oft und mit viel Berechtigung geschmäht worden, da die Menschen ein natürliches, instinktives Angstgefühl vor Leidenschaften und Empfindungen haben, die stärker scheinen als sie selbst und die mit weniger hoch organisierten Lebensformen zu teilen sie sich bewußt sind. Und doch schien es Dorian Gray, als ob die wahre Natur der Sinne noch nie verstanden worden sei und daß sie nur deshalb wild und tierisch geblieben seien, weil die Welt immer daran gedacht hätte, sie durch Aushungerung zu bändigen oder durch Schmerzen zu töten, statt bestrebt zu sein, sie zu Elementen einer neuen, vergeistigten Welt zu machen, der ein edler Schönheitstrieb ihr Gepräge geben sollte. Wenn er auf den Gang der Menschen durch die Geschichte zurückblickte, verfolgte ihn das Gefühl eines unersetzlichen Verlustes. Wieviel war aufgegeben worden und im ganzen so nutzlos! Es hatte wahnsinnige, eigenwillige Entsagungen gegeben, ungeheuerliche Formen der Selbstquälerei und der Selbstverleugnung, deren Ursprung die Furcht und deren Ergebnis Erniedrigung von unendlich schrecklicherer Art war, als jene nur eingebildete Erniedrigung, vor der die Menschen in ihrer Unwissenheit flüchten sollten, da doch die Natur in ihrer wunderbaren Ironie den Eremiten hinausjagt, daß er mit den wilden Tieren der Wüste speise und dem Einsiedler die Tiere des Feldes zu Gefährten gibt.

Einmal ging das Gerücht, er wolle den römisch-katholischen Glauben annehmen, denn der katholische Ritus besaß tatsächlich immer eine große Anziehungskraft für ihn. Das tägliche Meßopfer, das in Wirklichkeit viel gewaltiger wirkt als alle Opfer der Alten Welt, erregte ihn ebensosehr durch seinen hochmütigen Verzicht auf alle Sinnfälligkeit, wie durch die primitive Einfachheit seiner Elemente und das ewige Pathos der menschlichen Tragödie, die es zu versinnbildlichen sucht. Er liebte es, auf dem kalten Marmorboden niederzuknien und den Priester zu beobachten, wie er in seiner steifen, blumengestickten Stola langsam mit weißen Händen den Vorhang vom Tabernakel wegzieht, oder die laternenförmige, edelsteingeschmückte Monstranz in die Höhe hebt, die jene bleiche Hostie enthält, die man manchmal für das wirkliche panis coelestis, das Brot der Engel, halten möchte, oder wie er, in den Gewändern der Christuspassion, die Hostie in den Kelch taucht und um seiner Sünden willen sich an die Brust schlägt. Die rauchenden Weihrauchfässer, die ernste Knaben in ihren Spitzen- und Scharlachmänteln gleich großen vergoldeten Blumen in der Luft schwingen, übten einen tiefen Reiz auf ihn aus. Wenn er die Kirche verließ, pflegte er staunend die dunklen Beichtstühle anzublicken und dann sehnte er sich danach, im düstern Schatten eines solchen zu sitzen und den Männern und Frauen zu lauschen, die durch das abgenutzte Gitter die wahre Geschichte ihres Lebens flüsterten.

Aber er beging nie den Irrtum, seine geistige Entwicklung durch die förmliche Annahme eines Glaubens oder eines Systems zu hemmen oder irrtümlich einen Gasthof für ein Haus, in dem man leben konnte, zu halten, der nur zum kurzen Aufenthalt für eine Nacht taugt oder gar nur für einige Stunden einer Nacht, in der keine Sterne leuchten und der Mond verborgen ist. Der Mystizismus mit seiner wunderbaren Kraft, gewöhnliche Dinge uns seltsam erscheinen zu lassen, und dem innerlichen Widerstreben gegen alle äußere Gesetzmäßigkeit, das ihn immer zu begleiten scheint, reizte ihn einen Sommer lang. Dann neigte er sich den materialistischen Lehren der deutschen Darwinistischen Bewegung zu und fand einen seltsamen Genuß darin, die Gedanken und Leidenschaften der Menschen auf eine perlengroße Zelle im Gehirn zurückzuführen oder auf einen weißen Nerv im Körper. Er hatte seine Freude an der Vorstellung, daß Geist, ob krankhaft oder gesund, normal oder voller Gebrechen, von gewissen körperlichen Bedingungen durchaus abhängig sei. Aber, wie schon gesagt, keine Lebenstheorie war von irgendeiner Bedeutung für ihn, verglichen mit dem Leben selbst. Er fühlte innerlich, in welche Sackgasse alle verstandesmäßige Spekulation führt, wenn man sie von der Tat und dem Experiment trennt. Er wußte, daß die Sinne nicht weniger als die Seele ihre geistigen Geheimnisse zu offenbaren haben.

Zu anderen Zeiten wieder gab er sich ganz der Musik hin und veranstaltete in einem langen, verdunkelten Saal, dessen Wände aus olivgrünem Lack und dessen Decke rot und golden gemustert war, seltsame Konzerte, bei denen tolle Zigeunerinnen kleinen Zithern eine wilde Musik entlockten oder ernste Männer aus Tunis in gelben Burnussen die straffen Saiten ungeheurer Lauten zupften, während grinsende Neger eintönig auf kupferne Trommeln schlugen und schlanke, turbanbedeckte Inder, die auf scharlachroten Matten hockten, auf langen Schilf- oder Messingpfeifen bliesen und große Brillenschlangen oder schreckliche Hornvipern beschworen oder zu beschwören schienen. Zuweilen erregten ihn der grelle Rhythmus und die schrillen Dissonanzen barbarischer Musik, während Schuberts Anmut, Chopins süßes Schmachten oder selbst die mächtigen Harmonien Beethovens an seinem Ohr vorbeiklangen. Aus allen Teilen der Welt sammelte er die merkwürdigsten Instrumente, die sich finden ließen, in den Gräbern toter Geschlechter oder unter den wenigen wilden Stämmen, die noch die Berührung mit der westlichen Kultur überlebt haben, und er liebte es, sie zu betasten und zu versuchen. Er besaß eines jener mysteriösen Juruparis der Rio-Negro-Indianer, das die Frauen nicht anblicken dürfen und selbst junge Männer erst dann, wenn sie vorher gefastet und sich gegeißelt haben, die irdenen Klappern der Peruaner, die den schrillen Ton des Vogelschreies haben, Flöten aus Menschenknochen, wie sie Alphonso de Ovalle in Chile hörte und die klingenden, grünen Jaspissteine, die bei Cuzco gefunden werden und einen Ton von sonderbarer Süße hervorbringen. Er besaß bemalte Kürbisse, in denen Kiesel rasselten,

wenn man sie schüttelte; die lange Zinke der Mexikaner, in die der Spielende nicht hineinbläst, sondern durch die er die Luft einzieht; die rauhe "Ture" der Stämme am Amazonenstrom, die die Wachen ertönen lassen, welche den ganzen Tag auf hohen Bäumen sitzen, und die, wie man sagt, auf eine Entfernung von drei Meilen gehört werden kann; die "Teponaztli", die zwei zitternde Zungen aus Holz hat, und auf die man mit Stöcken schlägt, die mit dem milchigen Saft gewisser Pflanzen eingerieben werden; die Yotglocken der Azteken, die in Büscheln wie Trauben hängen, und eine große zylindrische Trommel, bespannt mit der Haut von großen Schlangen gleich jener, die Bernal Diaz sah, als er mit Cortez in den mexikanischen Tempel eintrat und von deren wehklagendem Tone er uns eine so lebendige Beschreibung hinterlassen hat. Die phantastische Art dieser Instrumente wirkte berückend auf Dorian und er empfand einen sonderbaren Genuß in dem Gedanken, daß die Kunst, ebenso wie die Natur, ihre Ungeheuer hat, Dinge von bestialischer Gestalt und mit gräßlichen Stimmen. Nach einiger Zeit wurde er allerdings ihrer wieder müde und saß dann wieder in seiner Loge in der Oper, entweder allein oder mit Lord Henry, hörte ergriffen und mit Genuß Tannhäuser und erkannte in der Ouvertüre dieses großen Kunstwerks eine Darstellung der Tragödie seiner Seele.

Ein anderes Mal warf er sich auf das Studium der Edelsteine und erschien bei einem Maskenfest als Anne de Joyeuse, Admiral von Frankreich, in einem Kleide, das mit fünfhundertsechzig Perlen geschmückt war. Diese Neigung nahm ihn jahrelang gefangen; ja vielleicht kann man sagen, daß sie ihn nie verließ. Er verbrachte oft einen ganzen Tag damit, die verschiedenen Steine, die er gesammelt hatte, aus ihren Schachteln zu nehmen und wieder zu ordnen. Da war der olivgrüne Chrysoberyll, der im Lampenlicht rot wird, der Cymophan mit seinen drahtgleichen Silberlinien, der pistazienfarbene Peridot, rosenrote und weingelbe Topase, scharlachfarbene Karfunkelsteine mit zitternden, vierstrahligen Sternen, flammenrote Kaneelsteine, orangene und violette Spinelle und Amethyste mit ihren wechselnden Schichten von Rubinrot und Saphirblau. Er liebte das rote Gold des Sonnensteins, die perlenfarbene Weiße des Mondsteins und die gebrochenen Regenbogenfarben des milchigen Opals. Er verschaffte sich aus Amsterdam drei Smaragde von außerordentlicher Größe und wunderbarem Reichtum der Farbe und besaß einen Türkis de la vieille roche, der den Neid aller Kenner erregte.

Er entdeckte auch wunderbare Geschichten, die sich an Edelsteine knüpften. In Alphonsos "Clericalis disciplina" war eine Schlange erwähnt, die Augen aus wirklichen Hyazinthsteinen hatte und in der romantischen Geschichte Alexanders, des Eroberers von Emathia, hieß es, er habe im Tale des Jordan Schlangen mit Ringen aus wirklichen Smaragden, die ihnen auf dem Rücken wuchsen, gefunden. Im Gehirn eines Drachen befand sich, nach der Mitteilung des Philostratus, ein Edelstein und dadurch, daß man ihm goldene Lettern und ein scharlachrotes Gewand vorhielt, konnte das Ungeheuer in einen magischen Schlaf versetzt und getötet werden. Nach der Meinung des großen Alchimisten Pierre de Boniface macht der Diamant den Menschen unsichtbar und der indische Achat ihn beredt. Der Karneol beschwichtigt den Zorn, der Hyazinth schläfert ein und der Amethyst verscheucht den Weindunst. Der Granat vertreibt die Dämonen und der Hydrophit raubt dem Monde seine Farbe. Der Selenit nimmt mit dem Monde zu und ab und der Melokens, der die Diebe entdeckt, läuft nur an, wenn ihn das Blut junger Ziegen berührt. Leonardus Camillus hat einen weißen Stein gesehen, den man aus dem Gehirn einer eben getöteten Kröte genommen hatte und der ein sicheres Mittel gegen Vergiftung war. Der Bezoar, den man im Herzen des arabischen Hirsches findet, besitzt die Zauberkraft, die Pest zu heilen. In den Nestern arabischer Vögel kommt der Aspilat vor, der, nach der Angabe des Demokrit, seinen Träger vor jeder Feuersgefahr bewahrt.

Der König von Ceilan ritt bei seiner Krönungsfeier mit einem roten Rubin in der Hand durch seine Hauptstadt. Die Tore zum Palaste Johannes des Priesters waren gefertigt aus Karneol, in den das Horn der Hornviper eingeritzt war, was die Wirkung hatte, daß kein Mensch Gift hineinbringen konnte". Über dem Giebel waren zwei goldene Äpfel, die zwei Karfunkelsteine enthielten", so daß das Gold am Tage glänzte und die Karfunkelsteine in der Nacht. In Lodges seltsamem Roman "Eine amerikanische Perle" heißt es, in den Schlafzimmer der Königin konnte man gewahren alle keuschen Frauen der Welt, getrieben in Silber, wie sie in schöne Spiegel aus Chrysolith, Karfunkelsteinen, Saphiren und grünen Smaragden blicken". Marco Polo hatte gesehen, wie die Einwohner von Zipangu den Toten rosenfarbene Perlen in den Mund steckten. Ein Seeungeheuer erglühte in Liebe zu einer Perle, die ein Taucher ihm raubte und dem König Perozes brachte; es tötete dann den Dieb und trauerte sieben Monate über den Verlust des Edelsteines. Als die Hunnen den König in eine Grube gelockt hatten, warf er den Stein fort - so erzählt Prokopins die Geschichte -, und er wurde nie wieder gefunden, obwohl der Kaiser Anastasius fünf Zentner Goldstücke dafür bot. Der König von Malabar hatte einmal einem Venezianer einen Rosenkranz aus dreihundertundvier Perlen gezeigt, eine Perle für jeden Götzen, den er verehrte.

Als der Herzog von Valentinois, der Sohn Alexanders VI., Ludwig den XII. von Frankreich besuchte, war nach der Angabe des Brantôme sein Pferd mit goldenen Blättern bedeckt und sein Barett trug doppelte Reihen von Rubinen, die ein prächtiges Licht ausstrahlten. Karl von England ritt in Steigbügeln, die mit vierhunderteinundzwanzig Diamanten besetzt waren. Richard II. hatte einen Rock, der mit Balasrubinen besetzt war und den man auf dreißigtausend Mark schätzte. Hall beschreibt Heinrich VIII. auf seinem Wege zur Krönung nach dem Tower: Er trug eine Jacke aus getriebenem Gold, die Brust bestickt mit Diamanten und anderen Edelsteinen und um den Hals ein mächtiges Gehänge aus schweren Rubinen". Die Favoritinnen Jakobs I. trugen Ohrringe aus Smaragden, die in Goldfiligran gefaßt waren. Eduard II. schenkte dem Piers Gaveston eine Rüstung aus rotem Golde, mit Hyazinthsteinen besetzt, eine Halsberge (ein Teil der Rüstung, die den Hals schützt), aus goldenen Rosen, in die Türkisse eingelassen waren und eine mit Perlen übersäte" Sturmhaube. Heinrich II. trug mit Edelsteinen besetzte Handschuhe, die bis zum Ellbogen reichten und hatte einen Falkenierhandschuh, den zwölf Rubine und zweiundfünfzig große Perlen zierten. Der Herzogshut Karls des Kühnen, des letzten Burgunderherzogs seines Geschlechts, war mit birnenförmigen Perlen behangen und mit Saphiren überstreut.

Wie erlesen war einst das Leben gewesen! Wie prächtig in seinem Pomp und Schmuck! Auch nur von dem Reichtum toter Zeiten zu lesen war schon wunderbar.

Dann wieder wandte er seine Aufmerksamkeit Stickereien und Gobelins zu, die in den frostigen Räumen der nördlichen Völker Europas die Stelle der Fresken vertraten. Als er sich in dieses Thema versenkte - und er besaß immer eine außerordentliche Fähigkeit, sich für den Augenblick von jeder Sache, die ihn beschäftigte, ganz einnehmen zu lassen -, wurde er fast traurig bei dem Gedanken, daß die Zeit schöne und wunderbare Dinge zerstört hatte. Er jedoch war diesem Fluch entronnen. Sommer folgte auf Sommer, die gelben Narzissen hatten geblüht und waren viele Male verwelkt, schreckliche Nächte wiederholten die Geschichte ihrer Schande - er aber blieb unverändert. Kein Winter zerstörte sein Antlitz oder befleckte seinen blütengleichen Reiz. Wie anders war das mit materiellen Dingen! Wohin waren sie gekommen? Wo war das krokusfarbene Gewand, auf dem die Götter die Giganten bekämpften, das von braunen Mädchen der Athene zur Freude gestickt worden war? Wo das große Zeltdach, das Nero über das Kolosseum in Rom hatte breiten lassen, dieses titanische Purpursegel, auf dem der Sternenhimmel dargestellt war und Apollo, der die weißen Hengste vor seinem Wagen mit goldenen Zügeln lenkt? ... Er sehnte sich danach, die merkwürdigen Tischdecken zu sehen, die für den Sonnenpriester gefertigt und auf denen alle Leckerbissen und Speisen eingestickt waren, die man für ein Festmahl nur wünschen kann; das Bahrtuch des Königs Hilperich mit seinen dreihundert goldenen Bienen; die phantastischen Kleider, die die Entrüstung des Bischofs von Pontus erregten und auf denen Löwen, Panther, Bären, Hunde, Wälder, Felsen, Jäger - kurz alles, was ein Maler von der Natur abmalen kann, dargestellt war; und den Rock, den Karl von Orleans einmal getragen hat, auf dessen Ärmel die Verse eines Gedichtes gestickt waren, das begann: "Madame, je suis tout joyeux", während die Noten dazu mit goldenen Fäden eingestickt waren und jeder Notenkopf - man machte sie damals noch viereckig - aus vier Perlen gebildet war. Er las von dem Zimmer, das man im Palast von Reims für den Gebrauch der Königin Johanna von Burgund eingerichtet hatte, das ausgeschmückt war mit dreizehnhunderteinundzwanzig gestickten Papageien und gekrönt mit dem Wappen des Königs, dazu fünfhunderteinundsechzig Schmetterlinge, deren Flügel auf ähnliche Weise mit dem Wappen der Königin geschmückt waren, das Ganze in Gold gearbeitet". Katharina von Medici hatte sich ein Trauerbett machen lassen aus schwarzem Samt, mit Mondsicheln und Sonnenscheiben bedeckt. Seine Vorhänge waren aus Damast und auf dem goldenen und silbernen Grunde waren Zweige und Girlanden gestickt, die Ränder waren mit Perlenstickereien eingefaßt und es stand in einem Zimmer, das mit Silbertuch bespannt war, auf dem die Devise der Königin in schwarzem Samt angebracht war. Ludwig der XIV. hatte in seinem Gemach goldgestickte, fünfzehn Fuß hohe Karyatiden. Das Staatsbett Sobieskis, des Königs von Polen, war aus Smyrna-Goldbrokat und mit Türkisen waren die Verse aus dem Koran hineingestickt. Die Füße waren aus vergoldetem Silber, schön getrieben und reich mit Medaillons aus Email und Edelsteinen besetzt. Es war bei der Belagerung von Wien im türkischen Lager erbeutet worden und die Fahne Mohammeds war unter dem schimmernden Gold seines Baldachins angebracht.

So sammelte er ein ganzes Jahr lang die auserlesensten Muster von Textilkunst und Stickereien, die er auftreiben konnte. Er bekam zierliche Delhimusseline, in die goldene Palmblätter kunstreich eingewebt und die mit irisierenden Käferflügeln benäht waren; Gazen aus Dhaka, die man im Orient ihrer Durchsichtigkeit wegen "gewebte Luft", "rinnendes Wasser" und "Abendtau" nennt; seltsam gemusterte Tücher aus Java; kunstvoll gearbeitete, gelbe chinesische Tapeten; Bücher, die in lohfarbigen Atlas oder hellblaue Seide gebunden, in die Lilienblüten, Vögel und Bilder hineingepreßt waren; gewebte Schleier mit ungarischen Spitzen; sizilianische Brokate und steife spanische Samte: georgische Arbeiten mit ihren goldenen Münzen und japanische Fukusas mit ihrem grüngetönten Gold und ihren so wunderbar gefiederten Vögeln.

Er hatte auch eine besondere Vorliebe für kirchliche Gewänder, wie überhaupt für alles, was mit dem religiösen Ritual zusammenhing. In den langen Kasten aus Zedernholz, die die westliche Galerie seines Hauses einrahmten, hatte er viele seltene, schöne Proben des echten Gewandes der "Braut Christi" angehäuft, die sich in Purpur, in Edelsteine kleiden und in zartes Linnen den bleichen, abgezehrten Körper verhüllen muß, der ermattet ist von Leiden, die sie sucht, und verwundet von Schmerzen, die sie sich selbst bereitet hat. Er besaß einen prachtvollen Chorrock aus karminroter Seide und golddurchwirktem Damast, geziert mit einem fortlaufenden Muster aus goldenen Granatäpfeln, die auf sechsblättrigen Blüten saßen und neben die auf jeder Seite ein Tannenzapfen in Staubperlen gestickt war. Die Goldborten waren in Felder geteilt, auf denen Szenen aus dem Leben der Jungfrau Maria dargestellt waren und auf den Talarüberwurf war die Krönung der Jungfrau in farbiger Seide eingestickt. Es war dies eine italienische Arbeit aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Ein anderer Chorrock war aus grünem Samt, bestickt mit herzförmigen Akanthusblättern, aus denen langgestielte weiße Blüten hervorsprühten. Die Details waren in silbernen Fäden und farbigen Kristallen ausgearbeitet. Die Spange trug den Kopf eines Seraphs in erhabener Goldarbeit. Die Goldborten waren in roter und goldener Seide kunstvoll auf geblümtem Tuch gewebt und mit den Medaillons vieler Heiligen und Märtyrer geschmückt, unter denen der heilige Sebastian hervorragte.

Diese Schätze, wie überhaupt alles, was er in seinem wunderbaren Hause sammelte, waren für ihn nur Mittel zum Vergessen, Formen, durch die er für eine Zeit der Angst entrinnen konnte, die ihm oft fast zu groß erschien, als daß er sie hätte ertragen können. An die Wand des einsamen, verschlossenen Raumes, in dem er einen so großen Teil seiner Jugend verbracht hatte, hatte er mit seinen eigenen Händen das fürchterliche Bild gehängt, dessen veränderte Züge ihm die wahrhafte Erniedrigung seines Lebens zeigten. Darüber hatte er als Vorhang die Decke aus Purpur und Gold angebracht. Wochenlang ging er nicht dorthin, vergaß das gräßlich gemalte Ding und hatte wieder sein leichtes Herz, seine wunderbare Fröhlichkeit, seine Kraft, sich leidenschaftlich ans Leben zu verlieren. Dann aber schlich er plötzlich in der Nacht aus dem Hause, ging an schaurige Orte in der Nähe von Blue Gate Fields und blieb dort tagelang, bis man ihn fortjagte. Nach seiner Rückkehr saß er dann vor dem Bilde, einmal voll Haß gegen dieses und gegen sich selbst, ein anderes Mal aber erfüllt von dem Stolz auf das eigene Wesen, der der halbe Reiz der Sünde ist und lächelte mit geheimer Lust den verunstalteten Schatten an, der die Last zu tragen hatte, die eigentlich für ihn bestimmt war.

Nach einigen Jahren konnte er es nicht aushalten, lange von England weg zu sein und gab das Landhaus auf, das er in Trouville mit Lord Henry zusammen besaß, und ebenso das kleine, weißummauerte Haus in Algier, wo sie mehr als einmal den Winter verbracht hatten. Er konnte es nicht ertragen, von dem Bilde getrennt zu sein, das ein wesentlicher Teil seines Lebens war und fürchtete auch, während seiner Abwesenheit könnte irgend jemand in das Zimmer eindringen trotz der sorgfältig gearbeiteten Riegel, die er an der Türe hatte anbringen lassen.

Trotzdem war er sich völlig bewußt, daß das Bild nichts verraten würde. Zwar bewahrte es unter all der Gemeinheit und Häßlichkeit seines Antlitzes noch eine deutliche Ähnlichkeit mit ihm, aber was konnte man daraus schließen? Er würde jeden auslachen, der versuchen wollte, ihn deswegen zu schmähen. Er hatte das Bild ja nicht gemalt. Was ging es ihn an, wie gemein und schändlich es aussah? Ja, selbst wenn er jemandem die Geschichte erzählte, - würde man ihm denn glauben?

Und doch hatte er Angst. Manchmal, wenn er in seinem großen Hause in Nottinghamshire war und die eleganten jungen Leute seines Standes, die seinen Kreis bildeten, bei sich sah und die Grafschaft durch den ausschweifenden Luxus und den prunkhaften Glanz seiner Lebensführung in Erstaunen setzte, verließ er plötzlich seine Gäste, eilte zurück in die Stadt, um nachzusehen, ob die Tür nicht nachgegeben habe und ob das Bild noch da sei. Wie, wenn es jemand gestohlen hätte? Der bloße Gedanke daran erfüllte ihn mit kaltem Schrecken. Gewiß würde dann die Welt sein Geheimnis erfahren. Vielleicht ahnte sie es schon.

Während er nämlich viele bezauberte, gab es doch nicht wenige, die ihm mißtrauten. Er wäre beinahe einmal aus einem Westend-Klub hinausgeworfen worden, zu dessen Mitgliedschaft ihn seine soziale Stellung und Geburt vollständig berechtigten. Bei einer anderen Gelegenheit, als er von einem Freund in den Churchill-Klub eingeführt worden war, seien, so erzählte man, der Herzog von Berwick und ein anderer Herr demonstrativ aufgestanden und hinausgegangen. Sonderbare Geschichten waren über ihn im Umlauf, als er sein fünfundzwanzigstes Jahr vollendet hatte. Man raunte sich zu, daß man ihn in einer elenden Kneipe in einem entlegenen Winkel von Whitechapel mit fremden Matrosen habe zechen sehen und daß er mit Dieben und Falschmünzern Umgang habe und die Geheimnisse ihres Gewerbes kenne. Seine Gewohnheit, auf geheimnisvolle Weise manchmal zu verschwinden, wurde bekannt und wenn er dann wieder in Gesellschaft erschien, flüsterten sich die Männer in den Ecken Bemerkungen zu oder gingen an ihm mit einem spöttischen Lächeln oder kühlen forschenden Augen vorüber, als hätten sie sich vorgenommen, hinter sein Geheimnis zu kommen.

Von solchen Unverschämtheiten und Versuchen, ihn zu provozieren, nahm er natürlich keine Notiz. Nach der Meinung der meisten Leute war sein offenes, heiteres Wesen, sein reizvolles, knabenhaftes Lächeln und die unendliche Grazie der wunderbaren Jugend, die ihn nie zu verlassen schien, an sich eine genügende Antwort auf die Verleumdungen, denn dafür hielt man die Gerüchte, die über ihn im Umlauf waren. Doch bemerkte man, daß häufig Menschen, die mit ihm sehr intim verkehrt hatten, ihn nach einiger Zeit zu meiden anfingen. Frauen, die ihn unbändig geliebt hatten und seinetwillen allen sozialen Vorurteilen getrotzt und die Konvention verachtet hatten, konnte man vor Scham und Entsetzen bleich werden sehen, wenn Dorian Gray eintrat.

Doch diese Skandale, die man sich zuraunte, erhöhten in den Augen vieler nur seinen seltsamen und gefährlichen Reiz. Auch sein großer Reichtum bot eine gewisse Sicherheit. Die Gesellschaft, wenigstens die zivilisierte Gesellschaft, glaubt nie gern etwas Schlechtes von denen, die zugleich reich und anziehend sind. Sie begreift instinktiv, daß Manieren wichtiger sind als Moral und nach ihrer Meinung ist die höchste Ehrbarkeit weniger wert als der Besitz eines guten Küchenchefs. Schließlich ist es auch ein sehr armseliger Trost, wenn man hört, daß ein Mann, der einem ein schlechtes Diner mit elendem Wein gegeben hat, in seinem Privatleben unantastbar ist. "Selbst die größten Tugenden können nicht für lauwarme Vorgerichte entschädigen", bemerkte Lord Henry einmal, als man über diese Sache sprach, und für seine Ansicht läßt sich vielleicht sehr viel sagen. Die Gesetze der guten Gesellschaft sind oder sollten doch dieselben sein wie die der Kunst. Form ist für sie das unbedingte Wesentliche.

Das war wenigstens die Meinung Dorian Grays. Er wunderte sich über die fade Psychologie derer, die die Individualität eines Menschen als etwas Einfaches, Beständiges, Verläßliches und Einheitliches auffassen. Für ihn war der Mensch ein Wesen mit unendlich vielem Leben und unzähligen Gefühlen, ein kompliziertes, vielgestaltiges Geschöpf, das eine seltsame Erbschaft überkommener Gedanken und Leidenschaften in sich trug und dessen Fleisch durchtränkt war von der ungeheuerlichen Krankheit der schon Verstorbenen. Er liebte es, durch die kahle, kalte Ahnengalerie seines Landsitzes zu schlendern und die Porträts all der verschiedenen Menschen zu betrachten, deren Blut in seinen Adern floß. Da war Philip Herbert, den Francis Osborne in seinen "Denkwürdigkeiten aus der Regierungszeit der Königin Elisabeth und des Königs Jakob" als einen Mann beschreibt, "den der ganze Hof seines hübschen Gesichtes wegen liebte, der es aber nicht lange behielt". War es das Leben des jungen Herbert, das er manchmal führte? Hatte irgendein merkwürdiger Giftkeim von Körper zu Körper seinen Weg genommen, bis er ihn selbst erreicht hatte? War es irgendeine dumpfe Erinnerung an diese verwelkte Anmut gewesen, die ihn damals in Basil Hallwards Atelier so jäh, eigentlich ohne Grund, jenen wahnsinnigen Wunsch hatte aussprechen lassen, der sein Leben so verändert hatte? Dann war da in einem goldgestickten, roten Wams, einem mit Edelsteinen geschmückten Überrock mit goldgesäumter Krause und Stulphandschuhen Sir Anthona Sherard; zu seinen Füßen lag seine Rüstung, silbern und schwarz. Was war das Vermächtnis dieses Mannes? Hatte ihm der Geliebte der Johanna von Neapel ein Erbteil von Sünde und Schande hinterlassen? Waren seine eigenen Handlungen nur die Träume, die der Tote nicht in Handlungen umzusetzen gewagt hatte? Hier lächelte von einer verblaßten Leinwand Lady Elisabeth Devereux in ihrer Gazehaube, dem Brustschmuck aus Perlen und den roten Schlitzärmeln. Sie hielt eine Blume in der rechten Hand und die linke umschloß eine emaillierte Halskette aus weißen und Damaszener Rosen. Auf einem Tisch an ihrer Seite lag eine Mandoline und ein Apfel. Auf ihren kleinen, spitzen Schuhen saßen große, grüne Rosetten. Er kannte ihr Leben und die seltsamen Geschichten, die man über ihre Liebhaber erzählte. Hatte er etwas von ihrem Temperament? Diese mandelförmigen Augen mit den schweren Lidern schienen ihn neugierig anzublicken. Wie war es mit George Willoughby mit seinem gepuderten Haar und seinen phantastischen Schönheitspflästerchen? Wie böse er aussah! Das Gesicht war mürrisch und düster, die sinnlichen Lippen schienen voll Verachtung zusammengekniffen. Feine Spitzenmanschetten fielen über die mageren, gelben Hände, die mit Ringen überladen waren. Er war ein Stutzer des achtzehnten Jahrhunderts gewesen und in seiner Jugend ein Freund von Lord Ferrars. Wie war es mit dem zweiten Lord Beckenham, dem Genossen des Prinzregenten in seinen wildesten Tagen und einem der Zeugen bei seiner geheimen Heirat mit Mrs. Fitzherbert? Wie stolz und hübsch war er mit seinen kastanienbraunen Locken und der anmaßenden Haltung! Welche Leidenschaften hatte er ihm vermacht? Die Welt hatte ihn für verrucht gehalten. Er hatte die Orgien in Carlton House veranstaltet. Der Stern des Hosenbandordens strahlte auf seiner Brust. Neben ihm hing das Bild seiner Gemahlin, einer bleichen Frau mit schmalen Lippen in Schwarz. Auch ihr Blut kreiste in ihm. Wie merkwürdig schien das alles! Da war seine Mutter mit ihrem Lady Hamilton-Gesicht und ihren feuchten, wie vom Wein benetzten Lippen - er wußte, was er von ihr hatte. Von ihr hatte er seine Schönheit und seine Leidenschaft für die Schönheit anderer. Sie lachte ihn an in ihrem weiten Bacchantinnenkleide. Im Haar trug sie Weinlaub, über den Becher, den sie hielt, schäumte purpurner Wein. Die Fleischtöne der Malerei waren verblaßt, aber noch waren die Augen wunderbar in ihrer Tiefe und ihrem Farbenglanz. Sie schienen ihm überall hin zu folgen.

Aber man hatte Vorfahren in der Literatur ebensogut wie in der eigenen Rasse und viele von ihnen standen einem vielleicht näher in ihrer Art, in ihrem Temperament und hatten einen Einfluß, dessen man sich noch viel bewußter war. Es gab Zeiten, da es Dorian Gray erschien, als ob die ganze Weltgeschichte nur ein Bericht seines eigenen Lebens sei, nicht wie er es in der Tat und durch die Zufälle bestimmt lebte, sondern wie es seine Phantasie für ihn erschaffen hätte, so wie es in seinem Gehirn und in seinen Leidenschaften lebte. Er fühlte, daß er sie alle gekannt hatte, diese merkwürdigen, schrecklichen Gestalten, die über die Bühne des Lebens geschritten waren und der Sünde einen so hellen Glanz gegeben hatten und das Böse so reich an tiefen Reizen erscheinen ließen. Er fühlte, daß auf irgendeine geheimnisvolle Weise ihr Leben auch das seine gewesen sei.

Der Held jenes wunderbaren Romans, der sein Leben so beeinflußt hatte, hatte diesen merkwürdigen Einfall auch gekannt. Im siebenten Kapitel erzählt er, wie er mit Lorbeer bekränzt, damit ihn der Blitz nicht treffe, als Tiberius in einem Garten von Capri gesessen und die schamlosen Bücher der Dichterin Elephantis gelesen habe, während Zwerge und Pfauen um ihn herum stolzierten und der Flötenspieler den Schwinger der Weihrauchpfanne verspottete; wie er als Caligula mit den grünblusigen Jockeys in ihren Ställen gezecht und aus einer elfenbeinernen Krippe zusammen mit einem edelsteinbestirnten Rosse gegessen habe; wie er als Domitian durch einen Gang mit Marmorspiegeln gewandert sei und mit tief in ihren Höhlen liegenden Augen nach dem Widerschein des Schwertes gesucht habe, das seine Tage enden sollte, krank vor Langweile, dem schrecklichen taedium vitae, das jene überkommt, denen das Leben nichts versagt hat; und wie er durch einen hellen Smaragd auf die blutroten Schlächtereien des Zirkus geblickt habe und, dann in einer Sänfte, geschmückt mit Perlen und Purpur, von silberbeschlagenen Maultieren durch die Granatäpfelstraße zu einem goldenen Hause getragen worden sei und als er vorbeikam, die Leute habe "Nero Cäsar!" rufen hören; und wie er sich als Heliogabal das Gesicht geschminkt, unter Weibern am Spinnrocken gewebt und die Mondgöttin aus Karthago habe holen lassen, um sie in mystischer Ehe dem Sonnengott zu vermählen.

Immer und immer wieder las Dorian dieses phantastische Kapitel und die zwei anderen, die ihm unmittelbar folgten, in denen, wie auf wunderlichen Gobelins oder kunstreich gearbeiteten Emaillen, die greulich schönen Gestalten jener dargestellt waren, die Laster und Blut und Überdruß zu Ungeheuern oder Narren gemacht hatten: Filippo, der Herzog von Malland, der sein Weib getötet und ihre Lippen mit scharlachrotem Gift gefärbt hatte, damit ihr Geliebter von dem Leichnam, den er liebkoste, den Tod saugen möge; der Venezianer Pietro Barbi, bekannt als Paul II., der in seiner Eitelkeit den Beinamen Formosus annehmen wollte und dessen Tiara im Werte von zweimalhunderttausend Gulden mit einer furchtbaren Sünde erkauft worden war; Gian Maria Visconti, der mit Hunden lebende Menschen jagte und dessen Leiche von einer Dirne, die ihn geliebt hatte, mit Rosen bedeckt wurde; der Borgia auf seinem Schimmel, der Brudermord neben ihm zu Roß und sein Mantel mit dem Blute Perottos besudelt; Pietro Riario, der junge Kardinal-Erzbischof von Florenz, das Kind und der Liebling Sixtus' IV., dessen Schönheit nur noch von seiner Lasterhaftigkeit übertroffen wurde und der Leonora von Aragon in einem Zelt aus weißer und karmesinfarbener Seide empfing, das voll Nymphen und Zentauren war und der einen Knaben vergoldete, damit er bei dem Feste als Ganymed oder Hylas aufwarte; Ezzelin, dessen Schwermut nur durch den Anblick des Todes geheilt werden konnte, der eine Leidenschaft für rotes Blut hatte, wie andere Menschen für roten Wein, den man den Sohn des Teufels nannte und der seinen eigenen Vater beim Würfeln betrogen hatte, als er mit ihm um seine Seele spielte; Giambattista Gibo, der aus Hohn den Namen Innocentius annahm und in dessen erstarrte Adern ein jüdischer Arzt das Blut von drei Jünglingen spritzte; Sigismondo Malatesta, der Liebhaber der Isotta, der Herr von Rimini, dessen Bild in Rom verbrannt wurde, weil er ein Feind Gottes und der Menschen sei, der Polyssena mit einem Tuche erdrosselte, der Ginevra d'Este in einem Smaragdbecher Gift gab und einer schändlichen Leidenschaft zu Ehren einen heidnischen Tempel zur Anbetung durch die Christen erbaute; Karl VI., der das Weib seines Bruders so ungestüm liebte, daß ihn ein Aussätziger vor dem Irrsinn, der ihn überkommen werde, warnte und der, als sein Geist krank geworden war und sich verwirrt hatte, nur durch sarazenische Karten, auf denen Liebe, Tod und Wahnsinn abgebildet waren, Linderung finden konnte; und in seinem gestickten Wams, seinem edelsteingeschmückten Barett und den akanthusgleichen Locken Grifonetto Baglioni, der Astorre mit seiner Braut umbrachte und Simonetto mit seinem Pagen, dessen Liebreiz so groß war, daß, als er sterbend im Sande von Perugia lag, seine Widersacher das Schluchzen überkam und Atalanta, die ihn verflucht hatte, ihn segnete.

In alldem war für Dorian ein schrecklicher Reiz. Er sah diese Gestalten bei Nacht und auch am Tage verwirrten sie seine Phantasie. Die Renaissance kannte seltsame Arten, zu vergiften: durch den Helm, den man aufsetzte, oder eine angezündete Fackel, einen bestickten Handschuh oder einen edelsteinbesetzten Fächer, eine vergoldete Riechbüchse oder eine Bernsteinkette. Dorian Gray war von einem Buche vergiftet worden. Es gab Augenblicke, in denen er die Sünde lediglich als eine Art ansah, seinen Schönheitsbegriff zu verwirklichen.

 

 

Zwölftes Kapitel

Es war am 9. November, dem Vorabend seines achtunddreißigsten Geburtstages, wie er sich oft nachher erinnerte.

Er ging gegen elf Uhr von Lord Henry, bei dem er gespeist hatte, nach Hause und war, da die Nacht kalt und neblig war. in einen schweren Pelz gehüllt. An der Ecke von Grosvenor Square und der South-Audley-Straße ging im Nebel ein Mann sehr eilig an ihm vorbei, der den Kragen seines grauen Ulsters hochgeschlagen hatte. Er trug eine Reisetasche in der Hand. Dorian erkannte ihn. Es war Basil Hallward. Ein seltsames Angstgefühl, für das er keinen Grund angeben konnte, überkam ihn. Er ließ nichts merken, daß er ihn erkannt hatte und ging rasch in der Richtung auf sein Haus weiter.

Aber Hallward hatte ihn gesehen. Dorian hörte, wie er auf dem Trottoir stehenblieb und ihm dann nacheilte. Ein paar Augenblicke später lag eine Hand auf seinem Arm.

"Dorian, was für ein außerordentlich glücklicher Zufall! Ich habe seit neun Uhr in Ihrem Bibliothekzimmer auf Sie gewartet. Schließlich habe ich mit Ihrem müden Diener Mitleid gehabt und ihn zu Bett geschickt, als er mich hinausließ. Ich fahre mit dem Mitternachtszuge nach Paris und hatte den ganz besonderen Wunsch, Sie noch vor meiner Abreise zu sehen. Als Sie vorbeigingen, erkannte ich Sie oder vielmehr Ihren Pelz. Aber ich war doch nicht ganz sicher. Haben Sie mich nicht erkannt?"

"Bei dem Nebel, lieber Basil? Ich kann kaum die Straße hier erkennen. Ich denke, mein Haus ist irgendwo in der Nähe, aber ich bin ganz und gar nicht sicher. Es tut mir recht leid, daß Sie verreisen. Ich habe Sie ja eine Ewigkeit nicht gesehen. Aber Sie kommen doch wohl bald wieder?"

"Nein; ich bleibe sechs Monate von England fort. Ich will mir ein Atelier in Paris nehmen und mich dort einschließen, bis ich ein großes Bild, das ich, im Kopfe habe, fertig habe.

Aber ich wollte nicht über mich mit Ihnen reden. Da sind wir an Ihrer Tür. Lassen Sie mich einen Augenblick eintreten, ich habe Ihnen etwas zu sagen."

"Es wird mir eine große Freude sein. Aber versäumen Sie Ihren Zug auch nicht?" sagte Dorian Gray langsam, als er die Treppe hinaufging und mit seinem Schlüssel die Tür öffnete.

Im Schein der Laterne, deren Licht mit dem Nebel kämpfte, sah Hallward auf die Uhr. "Ich habe noch eine Menge Zeit", antwortete er. "Der Zug fährt zwölf Uhr fünfzehn und es ist elf. Um die Wahrheit zu sagen: ich war gerade auf dem Weg zum Klub, um Sie zu suchen, als ich Sie traf. Mein Gepäck wird mich, wie Sie sehen, nicht sehr aufhalten. Die schweren Sachen habe ich vorausgeschickt; hier in der Tasche ist alles, was ich bei mir habe. Die Victoria-Station erreiche ich in höchstens zwanzig Minuten!"

Dorian sah ihn lächelnd an. "Für einen Maler von Welt eine merkwürdige Art, zu reisen! Eine Handtasche und einen Ulster! Kommen Sie herein, sonst dringt der Nebel ins Haus! Und merken Sie sich: über Ernsthaftes wird nicht gesprochen. Denn nichts ist heutzutage ernst, wenigstens sollte es nichts sein."

Hallward schüttelte, während er eintrat, den Kopf und folgte Dorian in die Bibliothek. Dort brannte in dem offenen Kamin ein helles Holzfeuer. Die Lampen waren angezündet und ein offener holländischer silberner Likörkasten stand mit ein paar Sodawassersiphons und großen geschliffenen Glasbechern auf einem kleinen eingelegten Tisch.

"Sie sehen, Ihr Diener hat es mir bequem gemacht, Dorian. Er hat mir alles gegeben, was ich wollte, sogar Ihre besten Zigaretten mit Goldmundstück. Er ist ein gastfreundliches Wesen. Ich mag ihn viel lieber als den Franzosen, den Sie früher hatten. Was ist übrigens aus dem geworden?"

Dorian zuckte die Achseln. "Ich glaube, er hat Lady Radleys Kammerjungfer geheiratet und sie in Paris als englische Schneiderin etabliert. Anglomanie ist, wie ich höre, drüben gegenwärtig sehr in Mode. Scheint mir recht albern von dem Franzosen, nicht wahr?. . . Er war übrigens, wie Sie sich erinnern werden, gar kein schlechter Diener. Ich mochte ihn zwar nie, aber ich hatte keinen Grund zur Klage. Man bildet sich eben oft ganz verrückte Dinge ein. Er war mir wirklich sehr ergeben und schien ganz traurig, als er fortging. Wollen Sie noch einen Brandy und Soda? Oder würden Sie lieber Rheinwein und Selterwasser haben? Ich nehme immer Rheinwein und Selterwasser. Es ist also gewiß welcher im Nebenzimmer."

"Danke, ich nehme nichts mehr", sagte der Maler, legte seine Mütze und seinen Mantel ab und warf sie auf die Reisetasche, die er in eine Ecke des Zimmers gestellt hatte. "Und jetzt, mein lieber Freund, möchte ich mit Ihnen ernsthaft sprechen. Runzeln Sie nur nicht so die Stirne, Sie machen es mir sonst nur noch schwerer."

"Was soll das alles?" rief Dorian verdrießlich und warf sich auf das Sofa. "Ich hoffe, es handelt sich nicht um mich. Ich habe heute nacht genug von mir. Ich wünschte, ich wäre ein anderer."

"Es handelt sich um Sie", antwortete Hallward mit seiner ernsten, tiefen Stimme. "Und ich muß mit Ihnen darüber sprechen. Ich werde Sie nur eine halbe Stunde aufhalten."

Dorian seufzte und zündete eine Zigarette an. "Eine halbe Stunde!" murmelte er.

Das ist nicht zuviel von Ihnen verlangt, Dorian, da ich wirklich nur um Ihretwillen rede. Ich halte es für notwendig, daß Sie endlich die Dinge wissen, die schrecklichen Dinge, die man sich über Sie in London erzählt."

"Ich will absolut nichts davon wissen. Ich habe Klatsch über andere Leute sehr gern, aber Tratsch über mich interessiert mich gar nicht. Er hat nicht mehr den Reiz der Neuheit."

"Es muß Sie aber interessieren, Dorian. Jeder Gentleman ist an seinem guten Ruf interessiert. Sie können doch nicht wollen, daß die Leute von Ihnen wie von einem niedrigen und gemeinen Menschen reden. Natürlich, Sie haben Ihre Stellung, Ihren Reichtum und so weiter, aber Stellung und Reichtum sind nicht alles. Auf mein Wort, ich glaube von den Gerüchten nichts. Wenigstens kann ich es nicht glauben. wenn ich Sie sehe. Die Sünde steht jedem Menschen auf dem Gesicht geschrieben, man kann sie nicht verbergen. Die Menschen schwatzen manchmal von geheimen Lastern. So etwas gibt es nicht. Wenn ein unseliger Mensch ein Laster hat, so erkennt man es an den Linien seines Mundes, an seinen herabfallenden Augenlidern, selbst an der Form seiner Hände. Jemand - ich will seinen Namen nicht nennen, aber Sie kennen ihn -kam voriges Jahr zu mir und wollte sich von mir malen lassen. Ich hatte ihn nie vorher gesehen und damals auch nie etwas von ihm gehört; erst seitdem hat man mir eine Menge von ihm erzählt. Er bot mir einen fabelhaften Preis. Ich habe ihn zurückgewiesen. An der Form seiner Finger war etwas, was ich haßte. Jetzt weiß ich, daß ich ganz recht mit dem hatte, was ich über ihn dachte. Das Leben, das er führt, ist fürchterlich. Aber von Ihnen, Dorian, mit Ihrem reinen, hellen, unschuldigen Gesicht und Ihrer wunderbar unberührten Jugend kann ich nichts Böses glauben. Aber ich sehe Sie jetzt sehr selten, Sie kommen ja nicht mehr in mein Atelier, und wenn ich nicht mit Ihnen zusammen bin und alle die gräßlichen Dinge höre, die die Leute sich über Sie zuflüstern, dann weiß ich nicht, was ich sagen soll. Dorian, warum verläßt ein Mann wie der Herzog von Berwick im Klub das Zimmer, wenn Sie eintreten? Warum wollen so viele Leute in London nicht zu Ihnen kommen und Sie nicht mehr in ihr Haus laden? Sie waren doch früher mit Lord Staveley befreundet? Ich traf ihn vorige Woche bei einem Diner. Ihr Name wurde zufällig im Gespräch in Verbindung mit den Miniaturen genannt, die Sie der Dudley-Ausstellung geliehen haben. Staveley zog die Lippen kraus und sagte: er mag ja einen sehr künstlerischen Geschmack haben, aber er ist ein Mann, den kein reines Mädchen kennenlernen sollte und mit dem keine anständige Frau im selben Zimmer bleiben sollte. Ich gab ihm zu bedenken, daß ich Ihr Freund sei und fragte ihn, was er damit meine. Er sagte es mir, sagte es mir vor allen Leuten gerade heraus. Es war schrecklich. Warum ist Ihre Freundschaft solch ein Unglück für junge Leute? Da war der unselige Bursch in der Leibgarde, der Selbstmord begangen hat. Sie waren sein bester Freund. Da war Sir Henry Ashton, der England mit einem befleckten Namen verlassen mußte. Sie und er waren unzertrennlich. Wie war es mit Adrian Singleton und seinem furchtbaren Ende? Wie mit dem einzigen Sohn des Lord Kent und seiner Karriere? Ich traf seinen Vater gestern in der St.-James-Straße: er schien von der Schande und dem Unglück gebrochen. Wie mit dem jungen Herzog von Perth? Was für ein Leben führt er jetzt? Welcher Gentleman will noch mit ihm verkehren?"

"Hören Sie auf, Basil! Sie sprechen von Dingen, von denen Sie nichts wissen", sagte Dorian Gray, sich auf die Lippen beißend, in einem Ton unsäglicher Verachtung. "Sie fragen mich, warum Berwick aus dem Zimmer geht, wenn ich eintrete. Er tut das, weil ich jeden Winkel seines Lebens kenne, nicht, weil er etwas von mir wüßte! Wie kann bei dem Blut, das er in den Adern hat, seine Vergangenheit rein sein?... Sie fragen mich nach Henry Ashton und dem jungen Perth. Habe ich den einen seine Laster, den anderen seine Ausschweifungen gelehrt? Wenn Kents ungeratener Sohn sich sein Weib von der Straße holt, was geht das mich an? Wenn Adrian Singleton den Namen seines Freundes auf einen Wechsel schreibt, bin ich sein Hüter? Ich weiß, wie die Leute in England klatschen! Der Mittelstand führt seine moralischen Vorurteile bei plumpen Diners spazieren und tuschelt über das, was er die Ausschweifungen der Aristokratie nennt, um den Anschein zu erwecken, als ob er in der guten Gesellschaft verkehrt und mit den Leuten, die er durchhechelt, intim ist. In unserem Lande genügt es, daß ein Mann Vornehmheit und Geist hat, damit sich jede gemeine Zunge an ihm wetzt. Was für eine Art Leben führen denn diese Leute, die die Moralischen spielen, selbst? Mein lieber Freund, Sie vergessen, daß wir im Mutterland der Heuchelei leben."

"Dorian!" rief Hallward. "Darum handelt es sich nicht. Ich weiß selbst, wie schlecht es um England bestellt ist und daß die englische Gesellschaft verrottet ist. Gerade deshalb aber will ich, daß Sie gut sind, und das sind Sie nicht gewesen. Man hat das Recht, einen Mann nach der Wirkung zu beurteilen, die er auf seine Freunde ausübt. Ihre Freunde scheinen alles Gefühl für Ehre, für Tugend, für Reinheit zu verlieren. Die haben Sie mit einer wahnsinnigen Genußsucht angesteckt, durch Ihre Schuld sind sie so tief gesunken. Und doch können Sie lächeln, wie Sie jetzt lächeln!... Und es kommt noch Schlimmeres! Ich weiß, daß Sie und Henry unzertrennlich sind. Schon aus dem Grunde, wenn aus keinem anderen, hätten Sie den Namen seiner Schwester nicht zum Schimpfwort machen dürfen!"

"Nehmen Sie sich in acht, Basil. Sie gehen zu weit!"

"Ich muß sprechen und Sie müssen zuhören! Ja, Sie sollen zuhören. Als Sie Lady Gwendolen kennenlernten, hatte sie nicht der leiseste Hauch übler Nachrede berührt. Gibt es jetzt eine einzige anständige Frau in London, die sich mit ihr im Park zeigen würde? Ja, sogar ihre Kinder sind ihr genommen worden! . . . Dann sind da noch andere Geschichten - Gerüchte, daß man Sie in der Dämmerung aus schrecklichen Häusern hat herausschleichen sehen, daß Sie sich verkleidet in den elendesten Kneipen von London herumtreiben. Ist das wahr? Kann das wahr sein? Als ich es zum erstenmal hörte, lachte ich. Jetzt höre ich es und schaudere. Wie ist es mit Ihrem Landhause und dem Leben, das dort geführt wird? Dorian, Sie wissen nicht, was man alles über Sie sagt. Ich will nicht behaupten, daß ich Ihnen keine Predigt halten will. Ich erinnere mich nämlich, daß Henry einmal gesagt hat, jeder Mensch, der den Pastor spielen will, sagt zunächst immer, er wolle nicht predigen und bricht dann sofort sein Wort. Ich will Ihnen eine Predigt halten. Ich möchte Sie ein solches Leben führen sehen, daß die Welt Sie achtet. Ich will, daß Sie einen reinen Namen und einen guten Ruf haben. Ich will, daß Sie sich von den gräßlichen Menschen, mit denen Sie jetzt verkehren, losmachen. Zucken Sie nicht so mit den Achseln. Seien Sie nicht so gleichgültig. Sie üben einen wunderlichen Einfluß aus, lassen Sie ihn zum Guten und nicht zum Bösen wirken. Man sagt, Sie verderben jeden Menschen, mit dem Sie intim werden, und im Augenblick, da Sie ein Haus betreten, folge Ihnen Schande irgendeiner Art. Ich weiß nicht, ob das so ist oder nicht. Wie soll ich es auch wissen? Aber man sagt es von Ihnen. Man erzählt mir Dinge, die ich nicht mehr anzweifeln kann. Lord Gloucester war einer meiner besten Freunde in Oxford. Er hat mir den Brief gezeigt, den ihm seine Frau geschrieben hat, als sie allein in ihrer Villa in Mentone starb. Ihr Name war da in die fürchterlichste Beichte, die ich je gelesen habe, verwickelt. Ich sagte ihm, daß das lächerlich sei. daß ich Sie durch und durch kenne und daß Sie unfähig wären, so etwas zu tun. Doch kenne ich Sie denn? Immer wieder fragte ich mich: Kenne ich Sie denn? Bevor ich darauf eine Antwort geben kann, müßte ich Ihre Seele sehen."

"Meine Seele sehen?" murmelte Dorian Gray und stand vom Sofa auf, fast weiß vor Schrecken.

"Ja", antwortete Hallward ernst in tiefschmerzlichem Ton. ..Ihre Seele sehen! Aber das kann nur Gott."

Ein höhnisches Lächeln umspielte die Lippen des Jüngeren.

Sie sollen Sie sehen, noch heute nacht!" rief er aus und nahm eine Lampe vom Tisch. "Kommen Sie, es ist ja das Werk Ihrer eigenen Hand. Warum sollen Sie es also nicht sehen? Sie können nachher allen Leuten davon erzählen, wenn Sie wollen. Niemand wird Ihnen glauben. Und wenn man Ihnen glaubte, würde man mich nur um so lieber haben. Ich kenne unsere Zeit besser als Sie, obwohl Sie so langweilig darüber schwätzen. Kommen Sie, sage ich. Sie haben genug über Verderbnis geredet. Jetzt sollen Sie sie von Angesicht zu Angesicht sehen."

In jedem Wort, das er sprach, klang wahnsinniger Stolz. Er stampfte in seiner knabenhaften, unverschämten Art mit dem Fuß auf den Boden. Er empfand eine schreckliche Lust bei dem Gedanken, daß ein anderer jetzt sein Geheimnis teilen solle und daß nun der Maler des Bildes, das der Ursprung all seiner Schande gewesen war, für den Rest seines Lebens mit der gräßlichen Erinnerung an das, was er getan, belastet sein sollte.

Er trat näher zu ihm heran und sah ihm fest in die ernsten Augen. "Ja, ich werde Ihnen meine Seele zeigen. Sie sollen sehen, was, wie Sie glauben, nur Gott sehen kann."

Hallward schrak zurück. "Das ist Blasphemie, Dorian, Sie dürfen solche Dinge nicht aussprechen. Sie sind schrecklich und sinnlos."

"Glauben Sie?" Er lachte wieder.

"Ich weiß es. Was ich heute abend gesagt habe, habe ich zu Ihrem Besten gesagt. Sie wissen, daß ich Ihnen immer ein zuverlässiger Freund gewesen bin!"

"Rühren Sie mich nicht an. Sagen Sie, was Sie noch zu sagen haben."

Ein schmerzliches Zucken ging über das Gesicht des Malers.

Er hielt einen Augenblick inne, jähes Mitleid überkam ihn. Welches Recht hatte er schließlich, in Dorian Grays Leben einzugreifen? Wenn er nur den kleinsten Teil von dem getan hatte, was die Gerüchte behaupteten, wie mußte er gelitten haben!... Er richtete sich auf, ging zum Kamin hinüber und blieb dort stehen, versunken in den Anblick der brennenden Holzscheite mit ihrer schneeweißen Asche und ihren zuckenden Feuerherzen.

"Ich warte, Basil", sagte der junge Mann mit harter, klarer Stimme.

Der Maler drehte sich um. "Was ich noch zu sagen habe, ist das: Sie müssen mir eine Antwort auf die fürchterlichen Anklagen geben, die gegen Sie erhoben werden. Wenn Sie mir sagen, daß Sie von Anfang bis zum Ende unwahr sind, dann werde ich Ihnen glauben. Leugnen Sie doch ab, Dorian Sagen Sie, daß nichts Wahres daran ist! Können Sie nicht sehen, was ich durchmache? O Gott, sagen Sie nicht, daß Sie schlecht sind, verderbt und schändlich!"

Dorian lächelte. Er zog verächtlich die Lippen kraus. "Kommen Sie mit, Basil", sagte er ruhig. "Ich führe ein Tagebuch meines Lebens, Tag für Tag, und es verläßt das Zimmer, in dem es geschrieben wird, niemals. Ich will es Ihnen zeigen, wenn Sie mit mir kommen.

"Ich komme mit Ihnen, Dorian, wenn Sie es wollen. Ich sehe, daß ich meinen Zug versäumt habe. Aber daran liegt nichts, ich kann ja morgen fahren... Doch verlangen Sie nicht von mir, daß ich heute nacht noch irgend etwas lese. Was ich will, ist eine einfache Antwort auf meine Frage."

"Die soll Ihnen oben werden. Ich könnte sie Ihnen hier nicht geben. Sie werden nicht lange daran zu lesen haben."

 

 

Dreizehntes Kapitel

Er verließ das Zimmer und begann die Treppe hinaufzusteigen. Basil Hallward folgte ihm dicht auf dem Fuße. Sie gingen leise, wie es Menschen bei Nacht instinktiv tun. Die Lampe warf phantastische Schatten auf die Mauer und die Treppe. Der Wind, der sich erhoben hatte, ließ einige Fenster klappern.

Als sie den letzten Absatz erreicht hatten, stellte Dorian die Lampe auf den Boden, nahm den Schlüssel aus der Tasche und drehte ihn im Schloß. "Sie bestehen darauf, eine Antwort zu bekommen, Basil?" fragte er mit leiser Stimme.

"Ja."

"Ich freue mich, sie Ihnen geben zu können", antwortete er lächelnd. Dann fügte er ziemlich hart hinzu: "Sie sind der einzige Mensch auf der Welt, der alles über mich wissen darf. Sie haben mehr mit meinem Leben zu schaffen gehabt, als Sie glauben." Er nahm die Lampe, öffnete die Tür und ging voraus. Ein kalter Luftzug strich an ihnen vorbei und das Licht zuckte einen Augenblick in einer düsteren, gelben Farbe auf. Er erzitterte. "Schließen Sie die Tür hinter sich", flüsterte er, während er die Lampe auf den Tisch stellte.

Hallward blickte sich erstaunt um. Das Zimmer sah aus, als sei es seit Jahren nicht bewohnt worden. Ein verblaßter flämischer Gobelin, ein verhängtes Bild, ein alter italienischer Cassone, ein fast leerer Bücherschrank, das war, außer einem Stuhl und einem Tisch, die ganze Einrichtung. Als Dorian Gray eine halb niedergebrannte Kerze, die auf dem Kamin stand, angezündet hatte, sah er, daß der ganze Raum mit Staub bedeckt und der Teppich durchlöchert war. Eine Maus raschelte hinter der Täfelung. Dumpfer Modergeruch lag in der Luft.

"Sie glauben also, daß Gott allein die Seele sehen kann. Basil? Ziehen Sie den Vorhang zurück und Sie werden die meine sehen."

Er sprach das mit einer Stimme, die kalt und grausam klang. "Sie sind verrückt, Dorian, oder Sie spielen Komödie!" murmelte Hallward stirnrunzelnd.

"Sie wollen nicht? Dann muß ich es selbst tun!" sagte der Jüngere, riß den Vorhang von der Stange und schleuderte ihn zu Boden.

Ein Schreckensschrei kam von den Lippen des Malers, als er im düsteren Licht das gräßliche Gesicht auf der Leinwand ihn angrinsen sah. In diesen Zügen war etwas, das ihn mit Ekel und Abscheu erfüllte. Gott im Himmel, es war ja Dorian Grays eigenes Antlitz, das er sah! Das Schreckliche, was es auch bedeuten mochte, hatte die prachtvolle Schönheit noch nicht ganz zerstört. Noch war etwas Gold in dem gelichteten Haar und etwas Scharlachrot auf dem sinnlichen Mund. Die verquollenen Augen hatten noch etwas von ihrem lieblichen Blau behalten, die edlen Linien waren von den geschwungenen Nasenflügeln und dem schön gebauten Hals noch nicht ganz verschwunden. Ja, es war Dorian selbst. Aber wer hatte das Bild gemalt? Er glaubte, den Strich seines eigenen Pinsels zu erkennen und der Rahmen war von ihm selbst gezeichnet. Der Gedanke war ungeheuerlich und erschreckte ihn. Er nahm die brennende Kerze und hob sie gegen das Bild. In der linken Ecke stand sein eigener Name in großen zinnoberroten Lettern.

Es war irgend eine elende Parodie, eine niederträchtige, gemeine Satire. Er hatte dies Bild nicht gemalt. Und doch, es war sein eigenes Bild. Er wußte es jetzt. Ihm war, als ob sich sein Blut in einem Augenblick aus Feuer in starres Eis verwandelt hätte. Sein eigenes Bild! Er drehte sich um und sah Dorian Gray mit den Augen eines Kranken an. Sein Mund zuckte und seine trockene Zunge schien keinen Laut hervorbringen zu können. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Sie klebte von feuchtem Schweiß.

Der junge Mann lehnte gegen den Kamin und beobachtete ihn mit jenem merkwürdigen Ausdruck, den man auf den Gesichtern von Menschen sieht, die von dem Spiel eines großen Künstlers gefesselt sind. In seinem Gesicht war weder wirklicher Schmerz noch wirkliche Lust, nur die Leidenschaft des Zuschauers und höchstens in den Augen ein triumphierendes Leuchten. Er hatte die Blume aus dem Knopfloch genommen und roch an ihr, oder tat doch so.

"Was bedeutet das?" rief Hallward schließlich. Seine eigene Stimme klang ihm schrill und seltsam in den Ohren.

"Vor vielen Jahren, als ich noch ein Knabe war", sagte Dorian Gray, während er die Blume in seiner Hand zerdrückte, "haben Sie mich kennengelernt, mir geschmeichelt und mich gelehrt, auf meine Schönheit eitel zu sein. Eines Tages stellten Sie mich einem Ihrer Freunde vor, der mir das Wunder der Jugend erklärte. Damals beendeten Sie gerade ein Bild von mir, das mir das Wunder der Schönheit offenbarte. In einem Augenblick des Wahnsinus - ich weiß jetzt noch nicht, ob ich ihn bedaure oder nicht -, sprach ich einen Wunsch aus, vielleicht würden Sie es ein Gebet nennen..."

"Ich erinnere mich. Wie gut erinnere ich mich!... Nein, das ist unmöglich. Das Zimmer ist feucht, Stockflecken sind in die Leinwand gekommen. In den Farben, die ich benutzt habe, war irgend ein elendes Gift. Ich sage Ihnen, so etwas ist unmöglich."

"Ach, was ist unmöglich?" flüsterte Dorian, ging zum Fenster hinüber und preßte seine Stirn gegen die kalte, nebelfeuchte Scheibe.

"Sie haben mir doch einmal gesagt, Sie hätten das Bild zerstört."

"Das war ein Irrtum: es hat mich zerstört."

"Ich kann nicht glauben, daß es meine Arbeit ist."

"Erkennen Sie denn nicht Ihr Ideal darin?" fragte Dorian bitter.

"Mein Ideal, wie Sie es nennen..."

"Wie Sie es nannten."

"In dem war nichts Böses, nichts Schändliches. Sie waren für mich ein Ideal, wie ich ihm nie wieder begegnen werde. Das da aber ist das Gesicht eines Fauns."

"Es ist das Gesicht meiner Seele."

"Herr im Himmel, was für ein Ding habe ich angebetet Es hat die Augen eines Teufels."

"Ein jeder von uns trägt Himmel und Hölle in sich, Basil", rief Dorian mit einer wilden, verzweifelten Gebärde.

Hallward wendete sich wieder dem Bilde zu und starrte es an. "Mein Gott, wenn es wahr ist?" rief er aus. "Und wenn Sie das aus Ihrem Leben gemacht haben, dann müssen Sie noch schlechter sein als die, die gegen Sie sprechen, glauben." Er hielt das Licht wieder vor die Leinwand und betrachtete sie. Die Oberfläche schien völlig unzerstört und so, wie er sie zum letztenmal gesehen hatte. Von innen war also offenbar die Fäulnis, das Entsetzliche gekommen. Durch eine sonderbare innere Belebung zerfraß der Aussatz der Sünde die ganze Gestalt. Die Verwesung eines Leichnams in einem feuchten Grabe konnte nicht so fürchterlich sein.

Seine Hand zitterte und die Kerze fiel aus dem Leuchter zu Boden und lag flackernd da. Er trat mit dem Fuß darauf und löschte sie aus. Dann warf er sich in den wackligen Stuhl, der neben dem Tisch stand und vergrub sein Gesicht in den Händen.

"Großer Gott, Dorian, was für eine Lehre, was für eine furchtbare Lehre!"

Es kam keine Antwort, aber er konnte den andern am Fenster schluchzen hören.

"Beten Sie, Dorian, beten Sie?" flüsterte er. "Was war es doch, was man uns in unserer Kindheit gelehrt hat? ,Führe uns nicht in Versuchung! Vergib uns unsere Schuld! Nimm von uns unsere Missetat!' Wir wollen das zusammen beten. Das Gebet Ihres Stolzes ist erfüllt worden, das Gebet Ihrer Reue wird auch erfüllt werden. Ich habe Sie zu sehr geliebt. Dafür bin ich jetzt gestraft. Sie haben sich selbst zu sehr geliebt. Wir haben beide unsere Strafe."

Dorian Gray drehte sich langsam um und sah ihn mit tränenschimmernden Augen an. "Es ist zu spät, Basil", stammelte er.

"Es ist nie zu spät, Dorian! Wir wollen niederknien und sehen, ob wir uns nicht an ein Gebet erinnern können. Steht nicht irgendwo geschrieben: ,Und wäre deine Sünde wie Scharlach, so will ich sie weiß machen wie Schnee'?"

"Diese Worte haben für mich keinen Sinn mehr."

"Still, sagen Sie das nicht, Sie haben schon genug Böses in Ihrem Leben getan. Mein Gott, sehen Sie nicht, wie uns das fürchterliche Ding anstarrt?"

Dorian Gray blickte nach dem Bild und plötzlich überkam ihn ein zügelloser Haß auf Basil Hallward, als sei er ihm von dem Bild auf der Leinwand eingegeben, von diesen grinsenden Lippen in sein Ohr geflüstert worden. Die wilde Wut eines gehetzten Tieres wallte in ihm auf und er haßte den Mann, der da an dem Tisch saß, mehr, als er jemals im Leben etwas gehaßt hatte. Er sah sich grimmig um. Auf der Platte des bemalten Kastens, der ihm gegenüberstand, glitzerte etwas. Sein Blick fiel darauf. Er erkannte, was es war: ein Messer, das er vor Tagen einmal mit heraufgenommen hatte, um ein Stück Schnur durchzuschneiden und das er hier vergessen hatte. Er ging langsam darauf los, an Hallward vorbei. Sobald er hinter ihm stand, ergriff er das Messer und drehte sich um. Hallward machte in seinem Stuhl eine Bewegung, als wollte er aufstehen. Er stürzte sich auf ihn, stieß ihm das Messer tief in die große Halsschlagader und drückte den Kopf auf den Tisch nieder, immer und immer wieder zustoßend.

Man hörte ein unterdrücktes Stöhnen und den fürchterlichen Todeslaut eines Menschen, der in seinem Blute erstickt. Dreimal schlugen die ausgestreckten Arme zuckend hoch, fuhren grotesk steife Finger durch die Luft. Er stieß noch zweimal zu, aber der Mann rührte sich nicht mehr. Etwas begann auf den Boden zu tröpfeln. Er wartete einen Augenblick, den Kopf immer noch hinabdrückend. Dann warf er das Messer auf den Tisch und lauschte.

Er konnte nichts hören als das eintönige Tröpfeln auf dem fadenscheinigen Teppich. Er öffnete die Tür und trat auf den Flur hinaus. Das Haus war vollständig ruhig. Niemand war mehr auf. Über die Brüstung gebeugt, stand er einige Augenblicke da und sah hinab in die schwarze Dunkelheit. Dann zog er den Schlüssel aus dem Schloß, ging in das Zimmer zurück und schloß sich darin ein.

Der Tote saß noch immer im Stuhl mit gebeugtem Kopf über den Tisch gelehnt, mit gekrümmtem Rücken und langen phantastischen Armen. Wäre nicht der rote, klaffende Riß im Nacken gewesen und die dunkle Lache, die sich allmählich auf dem Tisch ausbreitete, hätte man glauben können, der Mann schliefe.

Wie schnell war das alles geschehen! Dorian fühlte sich merkwürdig ruhig, ging zur Balkontür, öffnete sie und trat hinaus. Der Wind hatte den Nebel zerrissen und der Himmel sah aus wie der Schweif eines ungeheuren Pfaus, besetzt mit Myriaden von goldenen Augen. Er blickte hinab und sah, wie ein Polizist seine Runde machte und den langen Strahl seiner Laterne über die Türen der schweigsamen Häuser gleiten ließ. Das rotgelbe Licht eines vorbeifahrenden Wagens tauchte an der Straßenecke auf und verschwand. Ein Weib in einem wehenden Schal schob sich langsam an dem Gitter des Platzes entlang. Sie taumelte im Gehen. Dann und wann blieb sie stehen und blickte zurück. Einmal begann sie mit heiserer Stimme zu singen. Der Schutzmann ging auf sie zu und sagte etwas. Sie humpelte lachend davon. Ein scharfer Luftzug fuhr über den Platz. Die Gasflammen zuckten und wurden blau und die entlaubten Bäume schüttelten ihre schwarzen Zweige hin und her. Er schauderte und trat ins Zimmer zurück.

Als er die Tür erreicht hatte, drehte er den Schüssel um und öffnete sie. Er blickte den Ermordeten nicht mehr an. Er fühlte, daß das Geheimnis der ganzen Sache darin bestehe, sich die Situation nicht klarzumachen. Der Freund, der das verhängnisvolle Bild gemalt hatte, dem er all sein Elend zu danken hatte, war aus seinem Leben verschwunden. Das mußte genügen.

Dann dachte er an die Lampe. Es war eine sehr merkwürdige maurische Arbeit aus mattem Silber mit eingelegten Arabesken aus glänzend poliertem Stahl, besetzt mit ungeschliffenen Türkisen. Sie könnte von seinem Diener vermißt werden. Er könnte vielleicht danach fragen. Er zögerte einen Augenblick, dann ging er zurück und nahm sie vom Tisch. Er mußte dabei den Leichnam ansehen. Wie ruhig er war, wie furchtbar weiß die schmalen Hände! Er sah aus wie eine gräßliche Wachsfigur.

Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, schlich er langsam hinunter. Das Holz der Treppen knarrte, schien im Schmerz aufzustöhnen. Er blieb mehrere Male stehen und wartete. Nein, alles war still. Nur den Widerhall seiner eigenen Schritte hörte er.

Als er wieder in seinem Bibliothekszimmer war, erblickte er die Tasche und den Mantel im Winkel. Die mußten irgendwo verborgen werden. Er öffnete ein Geheimfach, das in der Täfelung war, das Fach, in dem er seine eigenen Verkleidungen aufbewahrte und schob die Sachen hinein. Er konnte sie später einmal verbrennen. Dann zog er seine Uhr aus der Tasche: es war zwanzig Minuten vor zwei.

Er setzte sich hin und begann nachzudenken. Jahr für Jahr, fast jeden Monat, werden in England Menschen für das, was sie getan haben, gehenkt. Irgendein mörderischer Wahnsinn mußte in der Luft gelegen sein. Irgendein blutroter Stern war der Erde zu nahe gekommen. . . Vor allem: konnte man ihm etwas nachweisen? Basil Hallward hatte das Haus um elf Uhr verlassen. Niemand hatte ihn wieder zurückkommen sehen. Die meisten seiner Leute waren in Selby Royal. Sein Kammerdiener war schlafen gegangen... Basil war einfach nach Paris gefahren. Mit dem Mitternachtszug, wie es seine Absicht gewesen war. Bei seinen merkwürdigen Gewohnheiten, seiner Zurückgezogenheit, würden Monate vergehen, bevor ein Verdacht wach würde. Monate! Alle Spuren konnten lange vorher beseitigt werden.

Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Er zog seinen Pelz an, setzte seinen Hut auf und ging in die Halle hinaus. Dort blieb er stehen, da er den langsamen, schweren Tritt des Schutzmanus draußen auf dem Pflaster hörte und das Flackern der Laterne sich im Fenster spiegeln sah. Er wartete und hielt den Atem an.

Nach einigen Augenblicken zog er den Riegel zurück und schlüpfte hinaus, das Tor ganz leise hinter sich zumachend. Dann zog er die Klingel. Nach etwa fünf Minute kam sein Diener, halb angezogen und sehr verschlafen.

"Es tut mir leid, daß ich Sie wecken mußte, Francis, sagte er eintretend, "aber ich habe meinen Hausschlüssel vergessen. Wieviel Uhr ist es?"

"Zehn Minuten nach zwei, gnädiger Herr", sagte der Diener mit einem blinzelnden Blick auf die Uhr.

"Zehn Minuten nach zwei? So spät schon?!... Sie müssen mich morgen um neun Uhr wecken. Ich habe zu tun."

"Zu Befehl, gnädiger Herr."

"Hat irgend jemand heute abend nach mir gefragt?"

"Mr. Hallward. Er hat hier bis elf Uhr gewartet und ging dann weg, um seinen Zug nicht zu versäumen."

"Das tut mir aber leid, daß ich ihn nicht noch gesehen habe. Hat er etwas für mich hinterlassen?"

"Nur, daß er von Paris aus schreiben würde, wenn er den gnädigen Herrn nicht im Klub treffen sollte."

"Gut, Francis. Vergessen Sie nicht, mich morgen um neun zu wecken."

Der Mann schlurfte in seinen Pantoffeln die Treppe hinab.

Dorian Gray warf Hut und Rock auf den Tisch und trat ins Bibliothekszimmer. Eine Viertelstunde ging er mit zusammengekniffenen Lippen auf und ab und dachte nach. Dann nahm er das Adressbuch von einem der Regale und begann darin zu blättern. "Alan Campbel Hertlord-Straße 152, Mayfair." Ja, das war der Mann, den er brauchte.

 

 

Vierzehntes Kapitel

Am nächsten Morgen um neun Uhr kam sein Diener mit einer Tasse Schokolade herein und öffnete die Vorhänge. Dorian schlief noch ganz friedlich; er lag auf der rechten Seite, eine Hand unter seiner Wange. Er sah aus wie ein Knabe, der beim Spiel oder beim Lernen müde geworden ist.

Der Diener mußte ihn zweimal an der Schulter berühren, bevor er aufwachte und als er dann die Augen öffnete, ging ein leichtes Lächeln über seine Lippen, als wäre er noch in einem entzückenden Traum befangen. Er hatte aber überhaupt nicht geträumt. Seine Ruhe war weder von Bildern der Freude noch von Bildern des Schmerzes gestört worden. Doch die Jugend lächelt auch ohne Grund. Das ist einer ihrer größten Reize.

Er drehte sich um, stützte sich auf den Ellbogen und begann die Schokolade zu schlürfen. Die milde Novembersonne strömte in das Zimmer. Der Himmel war klar, eine belebende Wärme lag in der Luft. Es war fast wie ein Maimorgen.

Allmählich schlichen sich die Geschehnisse der vergangenen Nacht auf leisen, blutbedeckten Sohlen in sein Gehirn und gewannen wieder eine fürchterliche Wirklichkeit. Er erschauerte bei der Erinnerung an alles, was er erlitten hatte und einen Augenblick lang kehrte dasselbe sonderbare Haßgefühl gegen Basil Hallward wieder zurück, das ihn dazu getrieben hatte, den Freund, als er im Stuhl saß, zu töten; ihm wurde, trotz seiner Erregung, kalt. Der Tote saß noch da oben und jetzt im hellen Sonnenlicht. Wie schrecklich das war! Zu so gräßlichen Dingen gehörte die Dunkelheit, nicht der Tag.

Er fühlte, daß er krank oder wahnsinnig werden würde, wenn er länger darüber nachdachte. Es gibt Sünden, deren Reiz mehr in der Erinnerung liegt als in dem Augenblicke, da man sie begeht und seltsame Siege, die dem Stolz mehr schmeicheln als der Leidenschaft und dem Geist ein stärkeres Lustgefühl geben, als es die Sinne je gewähren können. Aber das Geschehen der Nacht war keines von diesen. Er mußte die Vorstellung davon aus dem Gedächtnis vertreiben, sie mit Mohnsaft vergiften, sie ersticken, da sie ihn sonst ersticken würde.

Als es halb zehn schlug, fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, stand dann rasch auf und zog sich mit fast noch größerer Sorgfalt als gewöhnlich an, indem er sehr viel Aufmerksamkeit auf die Wahl seiner Krawatte und seiner Nadel verwandte und seine Ringe mehrmals wechselte. Er verbrachte auch beim Frühstück lange Zeit, kostete verschiedene Platten, sprach mit seinem Diener über neue Livreen, die er für die Dienerschaft in Selby machen lassen wollte und sah seine Briefe durch. Bei einigen lächelte er. Drei langweilten ihn. Einen las er mehrmals und zerriß ihn dann mit einem leichten Ausdruck der Verärgerung im Gesicht. "Was für ein gräßliches Ding das Gedächtnis einer Frau ist!" hatte Lord Henry einmal gesagt.

Nachdem er noch eine Schale schwarzen Kaffees getrunken hatte, trocknete er sich die Lippen langsam mit einer Serviette ab, bedeutete dem Diener, zu warten, ging zum Schreibtisch hinüber und schrieb zwei Briefe. Einen steckte er in die Tasche, den anderen gab er dem Diener.

"Bringen Sie den nach der Hertford-Straße 152, Francis, und wenn Mr. Campbell nicht in London ist, lassen Sie sich seine Adresse geben."

Sobald er allein war, zündete er eine Zigarette an und begann gedankenlos auf einem Blatt Papier zu zeichnen, zuerst Blumen, dann architektonische Motive und schließlich menschliche Gesichter. Plötzlich bemerkte er, daß jedes Gesicht, das er zeichnete, eine phantastische Ähnlichkeit mit Basil Hallward zu haben schien. Er runzelte die Stirn, stand auf, ging zum Bücherschrank und nahm, ohne zu wählen, ein Buch heraus. Er war fest entschlossen, an das Geschehene nicht früher zu denken, als es unbedingt notwendig war.

Als er sich auf das Sofa ausgestreckt hatte, sah er auf den Titel des Buches. Es waren Gautiers "Emaux et Camees", die Ausgabe von Charpentier auf Japan-Papier, mit Radierungen von Jacquemart. Der Einband war aus zitronengelbem Leder mit einem Muster von goldenem Fächerwerk und überstreut mit Granatäpfeln. Es war ein Geschenk Adrian Singletons. Als er darin blätterte, fiel sein Auge auf das Gedicht über die Hand Lacenaires, die kalte gelbe Hand "du supplice encore mal lavee", mit ihrem roten Flaumhaar und ihren "doigts de faune". Er blickte auf seine eigenen weißen, spitzen Finger und schauderte unwillkürlich zusammen. Dann las er weiter, bis er zu den wunderbaren Versen auf Venedig kam:

"Sure une gamme chromatique,

Le sein de perles ruisselant,

La Venus de l'Adriatique

Sort de l'eau son corps rose et blanc.

Les dômes, sur l'azur des ondes

Suivant la phrase au pur contour,

S'enflent comme des gorges rondes

Que soulève un soupir d'amour.

L'esquif aborde et me dépose,

Jetant son amarre au pilier,

Devant une facade rose,

Sur le marbre d'un escalier."

Wie schön doch diese Verse waren! Wenn man sie las, hatte man die Empfindung, in einer schwarzen Gondel mit silbernem Bug und lang herabhängenden Vorhängen durch die grünen Wasserstraßen dieser rosenroten und perlenfarbigen Stadt zu gleiten. Schon die Zeilen allein sahen aus wie jene geraden, türkisblauen Linien, die einem folgen, wenn man nach dem Lido hinausfährt. Das plötzliche Aufblitzen der Farben erinnerte an den Glanz jener Vögel mit opal- und irisfarbenen Hälsen, die um den schlanken, wie eine Wabe durchlöcherten Campanile flattern oder mit so vornehmer Anmut durch die düstern, staubigen Arkaden stelzen. Zurückgelehnt mit halbgeschlossenen Augen, sagte er immer und immer wieder zu sich:

"Devant une facade rose,

Sur le marbre d'un escalier."

Das ganze Venedig war in diesen zwei Zeilen enthalten. Er dachte an den Herbst, den er dort verbracht hatte und eine wunderbare Liebe, die ihn zu wahnsinnigen, entzückenden Torheiten getrieben hatte. Es gab wohl Romantik an jedem Ort. Venedig aber hatte, wie Oxford, den Hintergrund für Romantik bewahrt und für die wahre Romantik ist der Hintergrund alles oder doch fast alles. Einen Teil der Zeit war Basil mit ihm dort gewesen, ganz toll vor Bewunderung für Tintoretto. Der arme Basil! Was für eine schreckliche Art, zu sterben!

Er seufzte, nahm das Buch wieder auf und suchte zu vergessen. Er las von den Schwalben, die aus und ein fliegen in dem kleinen Cafe in Smyrna, wo die Hadjis sitzen und ihre Bernsteinperlen zählen und die Kaufleute im Turban ihre langen, quastenbehängten Pfeifen rauchen und ernst miteinander sprechen; er las von dem Obelisk auf der Place de la Concorde, der in seiner einsamen, sonnenlosen Verbannung granitene Tränen weint und sich zurücksehnt nach dem heißen, lotusbedeckten Nil, wo es Sphinxe gibt, rosenrote Ibisse, und weiße Geier mit goldenen Klauen, Krokodile mit kleinen Beryll-Augen, die durch den grünen, dampfenden Schlamm kriechen; er fing an, über die Verse nachzugrübeln, die dem kußbefleckten Marmor Musik entlocken und von jener sonderbaren Statue erzählen, die Gautier einer Altstimme vergleicht, von dem "monstre charmant", das in dem Porphyrraum des Louvre steht. Aber nach einiger Zeit entfiel das Buch seiner Hand. Er wurde nervös und ein gräßlicher Angstanfall überkam ihn. Was sollte geschehen, wenn Alan Campbell nicht in England war? Tage konnten unter Umständen vergehen, bevor er zurückkehrte. Vielleicht weigerte er sich, zu kommen. Was konnte er dann tun? Jeder Augenblick entschied über Leben und Tod.

Sie waren einmal sehr gute Freunde gewesen, vor fünf Jahren fast unzertrennlich. Dann war die Freundschaft plötzlich aus. Wenn sie sich jetzt in Gesellschaft trafen, lächelte nur Dorian Gray, niemals Alan Campbell.

Er war ein außerordentlich gescheiter junger Mann, wenn er auch kein wirkliches Gefühl für die Kunst hatte und das bißchen Sinn für die Schönheit der Poesie, das er besaß, vollständig von Dorian stammte. Die intellektuelle Leidenschaft, die ihn beherrschte, war die Wissenschaft. In Cambridge hatte er einen großen Teil seiner Zeit mit Arbeiten im Laboratorium verbracht und war mit einem guten Examen in den Naturwissenschaften abgegangen. Noch jetzt war er dem Studium der Chemie ergeben. Er hatte ein eigenes Laboratorium, in das er sich den ganzen Tag einzuschließen pflegte, zum Kummer seiner Mutter, die sich in den Kopf gesetzt hatte, daß er fürs Parlament kandidieren müsse und die die unklare Vorstellung hatte, ein Chemiker sei ein Mensch, der Rezepte ausführt. Außerdem war er ein ausgezeichneter Musiker und spielte Geige und Klavier besser als sonst Dilettanten. Die Musik war es auch, die ihn zuerst mit Dorian Gray zusammengebracht hatte, die Musik und die unerklärliche Anziehungskraft, die Dorian ausüben konnte, wenn er es wünschte und auch oft ausübte, ohne sich dessen bewußt zu sein. Sie hatten sich bei Lady Berkshire eines Abends getroffen, als Rubinstein dort spielte und man sah sie dann immer zusammen in der Oper und überall dort, wo gute Musik gemacht wurde. Achtzehn Monate dauerte diese Freundschaft. Campbell war stets entweder in Selby Royal oder am Grosvenor Square. Für ihn, wie für viele andere, war Dorian Gray die Verkörperung alles Wunderbaren und Reizvollen, das es im Leben gibt. Ob dann ein Streit zwischen ihnen vorgefallen war oder nicht, wußte niemand; aber plötzlich bemerkte man, daß sie kaum miteinander sprachen, wenn sie sich trafen und daß Campbell aus jeder Gesellschaft, in der Dorian anwesend war, früh aufbrach. Er war verändert, merkwürdig melancholisch bisweilen und schien die Musik fast zu hassen; er spielte nie mehr und gab, wenn man ihn darum bat, als Entschuldigung an, die Wissenschaft beschäftige ihn so, daß er keine Zeit zum Üben habe. Das war auch sicher wahr. Er schien sich jeden Tag mehr für biologische Studien zu interessieren und sein Name war ein- oder zweimal in wissenschaftlichen Zeitschriften in Verbindung mit gewissen merkwürdigen Experimenten genannt worden.

Das war der Mann, auf den Dorian wartete. Jede Sekunde blickte er auf die Uhr. Als Minuten vergangen waren, wurde er furchtbar erregt. Schließlich stand er auf und begann im Zimmer hin und her zu gehen wie ein schönes Tier im Käfig. Er schritt weit aus und hatte etwas Lauerndes in seinem Gang. Seine Hände waren merkwürdig kalt.

Das Warten wurde unerträglich. Die Zeit schien auf bleiernen Füßen zu schleichen, während es ihm vorkam, als würde er von ungeheuren Stürmen einem jähen, schwarzen Abgrund zugetrieben. Er wußte, was dort seiner harrte, er sah es leibhaftig und schaudernd preßte er die feuchten Hände auf seine brennenden Lider, als wolle er sein Gehirn der Sehkraft berauben und die Augäpfel in ihre Höhlen zurückdrängen. Umsonst. Das Gehirn hat seine eigene Nahrung, an der es sich mästet und seine Phantasie, durch den Schrecken ins Groteske gesteigert, wand und krümmte sich vor Schmerz wie ein lebendes Wesen, tanzte wie eine wahnsinnige Puppe auf einem Schaugerüst und grinste ihn unter wechselnden Masken an. Dann blieb die Zeit auf einmal für ihn stehen. Ja, dieses blinde, langsam atmende Wesen kroch nicht mehr vorwärts, die Zeit war tot und nun stürzten gräßliche Gedanken hervor, zerrten eine greuliche Zukunft aus dem Grabe und zeigten sie ihm. Er starrte sie an. Der Schrecken versteinerte ihn.

Endlich öffnete sich die Tür und der Diener trat ein. Dorian sah ihn mit gläsernen Augen an.

"Mr. Campbell, gnädiger Herr", sagte der Diener.

Ein Seufzer der Erleichterung kam von seinen trockenen Lippen und die Farbe kehrte in seine Wangen zurück.

"Bitten Sie ihn, sofort hereinzukommen, Francis." Er fühlte, daß er wieder er selbst war. Der Anfall von Feigheit war vorüber.

Der Diener verbeugte sich und ging. Nach einigen Augenblicken trat Alan Campbell ein, mit finsterem Gesicht und sehr bleich. Seine blasse Farbe wurde durch das kohlschwarze Haar und die dunklen Augenbrauen noch betont.

"Alan, das ist lieb von Ihnen... Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind."

"Ich hatte die Absicht, nie wieder Ihr Haus zu betreten, Gray. Aber Sie schrieben, es handle sich um Leben oder Tod."

Seine Stimme war kalt und hart, seine Sprache langsam und überlegt. Ein Zug von Verachtung lag in den forschenden Augen, die er fest auf Dorian richtete. Er behielt die Hände in den Taschen seines Astrachanpelzes und schien die Bewegung der Hand, die ihn begrüßt hatte, nicht bemerkt zu haben.

"Ja, es handelt sich um Leben oder Tod. Und für mehr als einen, Alan. Setzen Sie sich."

Campbell nahm einen Stuhl am Tisch und Dorian setzte sich ihm gegenüber. Die Augen der beiden Männer trafen sich. In denen Dorians lag unendliches Mitleid. Er wußte, daß das, was er beabsichtigte, schrecklich sei.

Nach einem peinlichen Augenblick des Schweigens beugte er sich vor und sagte sehr ruhig, die Wirkung jedes Wortes auf dem Gesicht des Mannes, den er hatte holen lassen, beobachtend: "Alan, in einem verschlossenen Giebelzimmer dieses Hauses, in einem Zimmer, zu dem kein Mensch außer mir Zutritt hat, sitzt ein toter Mann an einem Tisch. Er ist jetzt seit zehn Stunden tot. Regen Sie sich nicht auf und sehen Sie mich nicht so an. Wer der Mann ist, warum er starb, wie er starb, das sind Dinge, die Sie nichts angehen. Was Sie zu tun haben, ist..."

"Hören Sie auf, Gray. Ich will nichts mehr wissen. Ob das, was Sie gesagt haben, wahr ist oder nicht, geht mich nichts an. Ich lehne es entschieden ab, in Ihr Leben verwickelt zu werden. Behalten Sie Ihre fürchterlichen Geheimnisse für sich Sie interessieren mich nicht mehr."

"Alan, sie werden Sie interessieren müssen. Dies eine wenigstens. Es tut mir sehr leid um Sie, Alan, aber ich kann Ihnen nicht helfen. Sie sind der einzige Mensch, der imstande ist, mich zu retten. Ich bin gezwungen, Sie in diese Sache zu ziehen. Ich habe keine Wahl. Alan, Sie sind ein Mann der Wissenschaft. Sie verstehen etwas von Chemie und solchen Dingen. Sie haben Experimente gemacht. Was Sie zu tun haben, ist, den Leichnam da oben zu zerstören, so zu zerstören, daß keine Spur von ihm übrig bleibt. Niemand hat diesen Menschen in mein Haus kommen sehen. Man vermutet ihn im Augenblick in Paris. Monatelang wird er nicht vermißt werden. Wenn er vermißt wird, darf keine Spur von ihm hier gefunden werden. Alan, Sie müssen ihn verwandeln, ihn und alles, was ihm gehört, zu einer Handvoll Asche machen, die ich in die Luft streuen kann."

"Sie sind wahnsinnig, Dorian!"

"Ach, wie ich darauf gewartet habe, daß Sie mich wieder Dorian nennen!"

"Sie sind wahnsinnig, sage ich Ihnen, wahnsinnig, daß Sie sich einbilden, ich rühre auch nur einen Finger, um Ihnen zu helfen, wahnsinnig, daß Sie mir dies ungeheuerliche Geständnis machen. Was es auch ist, ich will nichts damit zu tun haben. Glauben Sie, ich setze meine Ehre für Sie aufs Spiel? Was geht es mich an, was für ein Teufelswerk Sie angerichtet haben?!"

"Es war ein Selbstmord, Alan."

"Das freut mich. Aber wer hat ihn dazu getrieben? Sie, vermute ich."

"Weigern Sie sich noch immer, das für mich zu tun?"

"Natürlich weigere ich mich. Ich will absolut nichts damit zu tun zu haben. Es liegt mir gar nichts daran, was für ein Unheil über Sie kommt. Sie verdienen es sicher! Es würde mir durchaus nicht leid tun, wenn ich Sie entehrt, öffentlich entehrt sähe. Wie können Sie es wagen, mich, gerade mich von allen Menschen auf der Welt, in diese schrecklichen Dinge hineinzuziehen? Ich hätte geglaubt, Sie wüßten mehr vom Charakter des Menschen. Ihr Freund, Lord Henry Wotton, kann Sie nicht gerade viel Psychologie gelehrt haben, was er Sie auch sonst gelehrt hat. Nichts wird mich dazu bringen, auch nur einen Schritt zu tun, um Ihnen zu helfen. Sie sind an einen falschen Mann geraten! Gehen Sie zu Ihren Freunden, nicht zu mir."

"Alan, es war Mord. Ich habe ihn umgebracht. Sie ahnen nicht, was ich durch ihn gelitten habe. Er hat mein Leben zu dem gemacht, was es geworden ist, es mehr zerstört als der arme Henry. Er mag das nicht gewollt haben, aber die Wirkung ist dieselbe."

"Mord! Guter Gott, Dorian, sind Sie so weit gekommen? Ich werde Sie nicht anzeigen. Das ist nicht mein Amt. Aber auch, wenn ich mich nicht in die Sache mische, werden Sie gewiß gefaßt werden. Niemand begeht ein Verbrechen, ohne dabei eine Dummheit zu machen. Ich will nichts damit zu tun haben."

"Sie müssen etwas damit zu tun haben. Warten Sie noch einen Augenblick, hören Sie mich an. Nur anhören sollen Sie mich, Alan. Alles, was ich von Ihnen verlange, ist ein wissenschaftliches Experiment. Sie gehen in Spitäler und Leichenhäuser und das Schreckliche, das Sie dort tun, rührt Sie nicht. Wenn Sie in irgend einem gräßlichen Seziersaal oder in einem stinkenden Laboratorium den Mann auf einem blechbeschlagenen Tisch mit richtigen Abflußrinnen, in die das Blut fließen kann, liegen sähen, dann würden Sie ihn einfach als ein wunderbares Studienobjekt betrachten. Kein Härchen würde sich Ihnen sträuben. Sie hätten nicht das Gefühl, etwas Unrechtes zu tun. Im Gegenteil. Sie würden wahrscheinlich glauben, damit dem Menschengeschlecht eine Wohltat zu erweisen, die Summe der menschlichen Kenntnisse zu bereichern, den Wissensdrang zu befriedigen oder sonst etwas Ähnliches. Ich will nur, daß Sie etwas tun sollen, das Sie schon oft getan haben. In Wirklichkeit muß es viel weniger schrecklich sein, einen Leichnam zu zerstören, als das, was Sie gewöhnlich machen. Und bedenken Sie: es ist der einzige Beweis gegen mich. Wenn der Körper entdeckt wird, bin ich verloren; und er wird gewiß entdeckt werden, wenn Sie mir nicht helfen."

"Ich habe keinerlei Wunsch, Ihnen zu helfen. Sie vergessen das. Die ganze Sache ist mir einfach gleichgültig. Ich habe nichts mit ihr zu tun."

"Alan, ich beschwöre Sie. Denken Sie an die Lage, in der ich mich befinde. Gerade ehe Sie gekommen sind, war ich fast ohnmächtig vor Schrecken. Vielleicht lernen Sie selbst eines Tages diesen Schrecken kennen... Nein, denken Sie nicht daran! Sehen Sie die Sache nur vom wissenschaftlichen Standpunkt an. Sie forschen doch sonst nicht nach, woher die Toten kommen, mit denen Sie experimentieren. Fragen Sie auch jetzt nicht. Ich habe Ihnen sowieso zu viel gesagt. Aber ich bitte Sie, tun Sie es. Wir waren doch einmal Freunde, Alan."

"Sprechen Sie nicht von jenen Tagen, Dorian, die sind tot.

"Die Toten verweilen manchmal. Der Mann oben geht nicht weg. Er sitzt am Tisch mit vorgebeugtem Haupt und ausgestreckten Armen. Alan! Alan, wenn Sie mir nicht zu Hilfe kommen, bin ich verloren. Man wird mich aufhängen, Alan. Begreifen Sie denn nicht? Man wird mich hängen, für das, was ich getan habe."

"Es hat keinen Sinn, diese Szene zu verlängern. Ich lehne es durchaus ab, etwas mit der Angelegenheit zu tun zu haben. Es ist wahnsinnig von Ihnen, mich darum zu bitten!"

"Sie lehnen meine Bitte also ab?"

"Ja."

"Ich beschwöre Sie, Alan."

"Das ist vergeblich."

Wiederum kam der Ausdruck des Mitleids in Dorian Grays Augen. Dann streckte er die Hand aus, nahm ein Stück Papier und schrieb etwas darauf. Er überlas es zweimal, faltete es sorgfältig zusammen und schob es über den Tisch. Nachdem er das getan hatte, stand er auf und ging zum Fenster.

Campbell sah ihm verwundert nach, nahm dann das Papier und öffnete es. Als er es las, wurde sein Gesicht gespenstisch bleich und er fiel in seinen Stuhl zurück. Ein fürchterliches Gefühl der Schwäche überkam ihn. Ihm war, als ob sein Herz stillstände.

Nach zwei oder drei Minuten eines furchtbaren Schweigens drehte sich Dorian um, ging zu dem anderen hin, stellte sich hinter ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter.

"Es tut mir leid für Sie", flüsterte er. "Aber Sie haben mir keine Wahl gelassen. Ich habe schon einen Brief geschrieben. Hier ist er. Sie sehen die Adresse. Wenn Sie mir nicht helfen, muß ich ihn abschicken. Sie wissen, was dann geschieht. Aber Sie werden mir helfen. Jetzt können Sie nicht mehr nein sagen. Ich habe versucht, Ihnen das zu ersparen. Sie werden gerecht genug sein, das zuzugeben. Sie waren hart, scharf, beleidigend. Sie haben mich behandelt, wie kein Mensch je gewagt hat, mich zu behandeln - wenigstens kein lebender Mensch. Ich habe alles ertragen. Jetzt ist es an mir, Bedingungen zu diktieren."

Campbell vergrub sein Gesicht in den Händen und schauerte zusammen.

"Ja, jetzt ist an mir die Reihe, Alan. Sie wissen, was ich verlange. Die Sache ist ganz einfach. Kommen Sie, regen Sie sich nicht auf. Die Sache muß geschehen, finden Sie sich damit ab!"

Ein Stöhnen kam von Campbells Lippen und er zitterte am ganzen Körper. Das Ticken der Uhr auf dem Kamin schien ihm die Zeit in einzelne Atome eines Todeskampfes zu zerteilen, von denen jedes zu schrecklich war, als daß er es hätte ertragen können. Er hatte das Gefühl, als ob ein eiserner Ring um seine Stirn langsam angezogen würde, als ob die Schande, mit der man ihn bedrohte, schon auf ihm läge. Die Hand auf seiner Schulter hatte das Gewicht von Blei. Sie war unerträglich. Sie schien ihn zu zerdrücken.

"Alan, Sie müssen sich sofort entscheiden."

"Ich kann es nicht tun", sagte er mechanisch, als könnten Worte etwas ändern.

"Sie müssen. Sie haben keine Wahl. Zögern Sie nicht!"

Er überlegte einen Augenblick. "Ist eine Feuerstelle in dem Raum oben?"

"Ja, ein Gasofen mit Asbest."

"Ich muß nach Hause gehen und verschiedenes aus meinem Laboratorium holen."

"Nein, Alan, Sie dürfen das Haus nicht verlassen. Schreiben Sie auf ein Blatt Papier, was Sie brauchen und mein Diener wird einen Wagen nehmen und Ihnen die Sachen holen."

Campbell kritzelte ein paar Zeilen, trocknete sie und schrieb auf das Kuvert den Namen seines Assistenten. Dorian nahm den Brief und las ihn sorgfältig durch. Dann klingelte er und gab ihn dem Diener mit dem Auftrag, so rasch als möglich zurückzukommen und die Sachen mitzubringen.

Als die Haustür ins Schloß fiel, zuckte Campbell nervös zusammen, stand von seinem Stuhl auf und ging zum Kamin hinüber. Er zitterte wie im Schüttelfrost. Nahezu zwanzig Minuten sprach keiner der beiden Männer. Eine Fliege summte laut durch das Zimmer und der Schlag der Uhr war wie der Fall eines Hammers.

Als es eins schlug, wandte sich Campbell um und sah, daß die Augen Dorian Grays mit Tränen gefüllt waren. In den reinen, edlen Zügen dieses traurigen Gesichtes lag etwas, das ihn wütend machte. "Sie sind ehrlos, vollkommen ehrlos!", flüsterte er.

"Ruhig, Alan. Sie haben mir das Leben gerettet", sagte Dorian.

"Ihr Leben? Gott im Himmel, was für ein Leben ist das! Sie sind von Verderbnis zu Verderbnis geschritten und jetzt haben Sie im Mord den Gipfel erreicht. Wenn ich tue, was ich jetzt tun werde, was Sie mich zu tun zwingen, so denke ich gewiß nicht an Ihr Leben."

"Ach, Alan", murmelte Dorian seufzend. "Ich wünschte, Sie hätten den tausendsten Teil des Mitleids mit mir, das ich mit Ihnen habe." Er drehte sich während dieser Worte um und blickte in den Garten hinaus. Campbell gab keine Antwort.

Etwa nach zehn Minuten klopfte es an die Tür und der Diener trat ein; er trug einen großen Mahagonikasten mit Chemikalien, dazu eine lange Rolle Stahl- und Platindraht und zwei merkwürdig geformte Eisenklammern.

"Soll ich die Sachen hier lassen, gnädiger Herr?" fragte er Campbell.

"Ja", antwortete Dorian. "Es tut mir leid, Francis, aber ich habe noch einen Auftrag für Sie. Wie heißt doch der Mann in Richmond, der die Orchideen für Selby besorgt?"

"Harden, gnädiger Herr."

"Richtig, Harden. Sie müssen gleich nach Richmond fahren, Harden selbst aufsuchen und ihm sagen, er soll doppelt so viel Orchideen schicken als ich bestellt habe, und zwar so wenig wie möglich weiße. Eigentlich will ich überhaupt keine weißen. Es ist ein schöner Tag, Francis, und Richmond ist ein hübscher Ort, sonst würde ich Sie damit nicht belästigen."

"Ganz wie der gnädige Herr befehlen! Um wieviel Uhr soll ich zurück sein?"

Dorian sah Campbell an. "Wie lange wird Ihr Experiment dauern, Campbell?" fragte er mit ruhiger, gleichgültiger Stimme. Die Gegenwart einer dritten Person im Zimmer schien ihm außerordentlich Mut zu verleihen.

Campbell runzelte die Stirn und biß sich auf die Lippen. "Es wird ungefähr fünf Stunden in Anspruch nehmen", antwortete er.

"Dann genügt es, wenn Sie um halb acht zurück sind, Francis. Doch halt: legen Sie meine Kleider zurecht, dann können Sie den Abend für sich haben. Ich speise nicht zu Hause, brauche Sie also nicht."

"Ich danke, gnädiger Herr", sagte der Diener und verließ das Zimmer.

"Alan, jetzt ist kein Augenblick zu verlieren. Wie schwer der Kasten ist! Ich werde ihn tragen, nehmen Sie die anderen Sachen." Er sprach sehr rasch und in befehlendem Tone. Campbell fühlte sich völlig von ihm beherrscht. Sie verließen zusammen das Zimmer.

Als sie die oberste Treppe erreicht hatten, nahm Dorian den Schlüssel aus der Tasche und drehte ihn im Schloß um. Dann blieb er stehen. Ein verstörter Ausdruck kam in seinen Blick. Er schauderte. "Ich glaube, ich kann nicht hineingehen, Alan", flüsterte er.

"Das ist mir ganz gleichgültig. Ich brauche Sie nicht", sagte Campbell kalt.

Dorian öffnete die Tür zur Hälfte. Er sah, wie ihn das Gesicht seines Bildes im Sonnenlicht anschielte. Vor ihm lag auf dem Boden der herabgerissene Vorhang. Er erinnerte sich, daß er in der vergangenen Nacht zum ersten Male vergessen hatte, die verhängnisvolle Leinwand zu verhüllen und wollte eben vorwärtsstürzen, als er schaudernd zurückprallte.

Was war das für ein widerlicher roter Fleck, der naß und glänzend auf einer der Hände schimmerte, als hätte die Leinwand Blut geschwitzt? Wie schrecklich das war! In diesem Augenblick schien er ihm weit schrecklicher, als das schweigsame Wesen, das, wie er wußte, über den Tisch gebeugt war, das Wesen, dessen grotesker, mißgestalteter Schatten auf dem befleckten Teppich ihm zeigte, daß es sich nicht bewegt hatte, sondern noch so war, wie er es verlassen hatte.

Er holte tief Atem, öffnete die Tür etwas weiter und ging mit halbgeschlossenen Augen und abgewendetem Kopf rasch hinein, entschlossen, den Toten gar nicht anzusehen. Er bückte sich dann, nahm den Vorhang aus Gold und Purpur auf und warf ihn über das Bild.

Dann blieb er stehen, voll Angst, sich umzudrehen und seine Augen richteten sich auf das verschlungene Tapetenmuster. Er hörte Campbell den schweren Kasten hereinbringen, die Eisenklammern und die anderen Sachen, die er für seine fürchterliche Arbeit verlangt hatte. Er fragte sich, ob Campbell und Basil Hallward einander wohl gekannt hätten, und wenn ja, welche Meinung sie voneinander gehabt hätten.

"Lassen Sie mich jetzt allein", sagte eine strenge Stimme hinter ihm.

Er drehte sich um und lief hinaus, eben noch gewahrend, daß der Tote auf dem Stuhl zurückgelehnt worden war und daß Campbell in ein gelb schimmerndes Gesicht starrte. Als er hinunterging, hörte er, wie der Schlüssel im Schloß umgedreht wurde.

Es war lange nach sieben Uhr, als Campbell wieder in das Bibliothekszimmer trat. Er war bleich, aber vollständig ruhig. "Ich habe getan, was Sie von mir verlangt haben", sagte er leise. "Und jetzt adieu. Wir wollen uns nie wiedersehen."

"Sie haben mich vor dem Untergang gerettet, Alan. Ich werde Ihnen das nicht vergessen", sagte Dorian schlicht.

Sobald ihn Campbell verlassen hatte, ging er nach oben. Ein schrecklicher Geruch von Salpetersäure herrschte im Zimmer. Aber der Leichnam, der am Tisch gesessen war, war verschwunden.

 

Fünfzehntes Kapitel

Am selben Abend um halb neun Uhr wurde Dorian Gray, der aufs sorgsamste angezogen war und im Knopfloch einen großen Strauß Parmaveilchen trug, von sich tief verbeugenden Lakaien im Salon der Lady Narborough gemeldet. Auf seiner Stirne zitterten die überreizten Nerven und er fühlte eine wahnsinnige Erregung, aber seine Gebärde, als er sich über die Hand der Dame des Hauses beugte, war ebenso leicht und anmutig wie stets. Vielleicht sieht man nie so gelassen und sicher aus, als wenn man eine Rolle spielen muß. Gewiß hätte niemand, der Dorian Gray an diesem Abend sah, geglaubt, daß er soeben eine Tragödie durchgemacht habe, die so schrecklich war wie irgend eine unserer Zeit. Diese feingeformten Finger konnten doch nie ein Messer zum Mord umklammert haben, diese lächelnden Lippen nie Gott und die Tugend geschmäht haben. Er selbst mußte sich über die Ruhe seines Benehmens wundern. Einen kurzen Augenblick fühlte er lebhaft die grauenvolle Lust eines Doppellebens.

Es war nur eine kleine Gesellschaft, ziemlich eilig von Lady Narborough veranstaltet, einer sehr gescheiten Frau mit Spuren einer wirklich bemerkenswerten Häßlichkeit, wie Lord Henry zu sagen pflegte. Sie war einem unserer langweiligsten Botschafter eine ausgezeichnete Frau gewesen, und nachdem sie ihren Gemahl, wie es sich geziemte, in einem marmornen Mausoleum, das nach ihren eigenen Zeichnungen erbaut worden war, beigesetzt und ihre Töchter an reiche, ziemlich ältliche Männer verheiratet hatte, widmete sie sich jetzt den Genüssen französischer Romane, französischer Kochkunst und französischem Esprit, wenn sie ihn bekommen konnte.

Dorian war einer ihrer besonderen Lieblinge und sie sagte ihm immer, sie sei sehr froh darüber, ihm nicht früher im Leben begegnet zu sein. "Ich weiß, mein Lieber, ich hätte mich fürchterlich in Sie verliebt", pflegte sie zu sagen. "Ich hätte Ihnen schlankweg die Rose von der Brust zugeworfen. Es ist ein großes Glück, daß man zu der Zeit noch gar nicht an Sie dachte. Wie damals die Dinge lagen, habe ich nicht einmal die unschuldigste Liebelei gehabt. Aber das war nur die Schuld Narboroughs. Er war fürchterlich kurzsichtig und es ist gar kein Vergnügen, einen Mann zu betrügen, der nie etwas sieht."

Ihre Gäste an diesem Abend waren ziemlich langweilig. Die Sache war, so erklärte sie Dorian hinter einem sehr schäbigen Fächer: die eine ihrer verheirateten Töchter sei plötzlich unerwartet zu Besuch gekommen und habe, was die Dinge noch ärger machte, ganz einfach ihren Mann mitgebracht. "Ich finde das sehr unfreundlich von ihr, mein Lieber", flüsterte sie ihm zu. "Natürlich bin ich jeden Sommer mit ihnen zusammen, wenn ich von Homburg zurückkomme. Aber eine alte Frau wie ich muß eben manchmal frische Luft haben und außerdem rüttle ich sie dann etwas auf. Sie haben keine Ahnung, was für ein Leben sie dort führen, das reine, unverfälschte Landleben. Sie stehen früh auf, weil sie so viel zu tun haben, und gehen früh zu Bett, weil sie so wenig zu denken haben. In der ganzen Umgebung hat es seit der Zeit der Königin Elisabeth keinen Skandal gegeben und infolgedessen schlafen sie alle miteinander nach dem Diner ein. Sie sollen aber nicht neben einem von den beiden sitzen, Sie sollen neben mir sitzen und mich amüsieren."

Dorian flüsterte ein anmutiges Kompliment und sah sich im Zimmer um. Ja, es war in der Tat eine langweilige Gesellschaft. Zwei von den Anwesenden hatte er noch nie gesehen und die anderen - da war Ernest Harrowden, eine jener Mittelmäßigkeiten in mittleren Jahren, denen man in Londoner Klubs so häufig begegnet, die keine Feinde haben, die aber keiner ihrer Freunde leiden kann; dann Lady Ruxton, ein aufgeputztes Weib von siebenundvierzig Jahren mit einer Hakennase, die sich immer anstrengte, sich zu kompromittieren, aber so ausgesprochen häßlich war, daß zu ihrem großen Leidwesen kein Mensch etwas Schlechtes von ihr glauben wollte; Mrs. Erlynne, eine aufdringliche Null mit einem entzückenden Lispeln und venezianisch-rotem Haar; Lady Alice Chapman, die Tochter der Wirtin, eine schlecht gekleidete, langweilige Person, mit einem jener charakteristischen englischen Gesichter, an die man sich nie mehr erinnert, wenn man sie einmal gesehen hat; und ihr Mann ein rotwangiger, weißbärtiger Mensch, der, wie so viele seiner Kaste, sich einbildete, daß übertriebene Jovialität für den vollständigen Mangel an Einfällen entschädigen könne.

Es tat ihm beinahe leid, daß er hergekommen war, bis Lady Narborough mit einem Blick auf die große goldene Pendeluhr, die sich in geschmacklosen Linien auf dem mauvebehängten Kamin spreizte, ausrief: "Wie häßlich von Henry Wotton, zu spät zu kommen! Ich habe heute früh auf gut Glück zu ihm hinübergeschickt und er hat fest versprochen, mich nicht sitzen zu lassen."

Es war für Dorian wenigstens ein Trost, daß Henry kommen sollte, und als sich die Tür dann öffnete und er seine langsame, musikalische Stimme irgend eine läppische Ausrede bezaubernd vorbringen hörte, schwand sein Unbehagen.

Trotzdem konnte er bei Tisch nichts essen. Platte nach Platte ließ er unberührt vorübergehen. Lady Narborough schalt ihn unaufhörlich, weil sie darin eine Beleidigung für den armen Adolphe sah, der das ganze Menü eigens für ihn zusammengestellt habe". Dann und wann blickte Lord Henry zu ihm hinüber, erstaunt über sein Schweigen und sein zerstreutes Wesen. Von Zeit zu Zeit füllte der Diener sein Glas mit Champagner. Er trank hastig und sein Durst schien zu wachsen.

"Dorian", sagte Lord Henry schließlich, als man das Chaudfroid herumreichte. "Was ist heute abend mit Ihnen los? Sie sind ja ganz verstimmt."

"Ich glaube, er ist verliebt", sagte Lady Narborough. "Und hat Angst, es mir zu sagen, aus Furcht, mich eifersüchtig zu machen. Er hat auch ganz recht, ich würde es bestimmt sein!"

"Liebe Lady Narborough", flüsterte Dorian lächelnd. "Ich bin seit einer ganzen Woche nicht verliebt gewesen, genau gesagt, nicht, seitdem Madame de Ferrol fort ist."

"Wie ihr Männer euch in diese Frau verlieben könnt!" rief die alte Dame. "Ich kann das wirklich nicht verstehen."

"Sie begreifen es nur deshalb nicht, weil sie Sie an die Zeit erinnert, als Sie noch ein kleines Mädchen waren, Lady Narborough", sagte Lord Henry. "Sie ist das einzige Band zwischen uns und Ihren kurzen Kleidern."

"Sie erinnert sich wirklich nicht an meine kurzen Kleider, Lord Henry, Aber ich erinnere mich sehr gut an sie in Wien vor dreißig Jahren und wie dekolletiert sie damals war."

"Sie ist noch immer dekolletiert", antwortete er und nahm eine Olive in seine schlanken Finger. "Und wenn sie ein sehr schönes Kleid anhat, sieht sie aus wie eine Luxusausgabe eines schlechten französischen Romans. Sie ist wirklich wunderbar und voller Überraschungen. Ihre Begabung für Familienliebe ist ganz außerordentlich. Als ihr dritter Mann starb, wurde ihr Haar vor Trauer ganz goldgelb."

"Wie können Sie so etwas sagen, Henry!" rief Dorian.

"Es ist eine höchst romantische Erklärung", meinte die Wirtin lächelnd. "Aber ihr dritter Mann, Lord Henry? Sie wollen doch nicht sagen, daß Ferrol ihr vierter ist?"

"Doch, Lady Narborough!"

"Ich glaube kein Wort davon."

"Dann fragen Sie Mr. Gray. Er ist einer ihrer intimsten Freunde."

"Ist es wahr, Mr. Gray?"

"Sie selbst sagt es, Lady Narborough", erwiderte Dorian. "Ich fragte, ob sie wie Margarete von Navarra die Herzen ihrer Männer einbalsamiert und am Gürtel trägt. Sie sagte mir, sie tue das nicht, weil keiner von ihnen überhaupt ein Herz gehabt habe."

"Vier Männer! Auf mein Wort, das ist trop de zéle."

"Trop d'audace habe ich ihr gesagt!"

"Oh, sie hat wirklich Mut, mein Lieber. Und was für ein Mensch ist Ferrol? Ich kenne ihn nicht!"

"Die Männer sehr schöner Frauen gehören zur Verbrecherklasse", sagte Lord Henry und nippte an seinem Weine.

Lady Narborough schlug nach ihm mit dem Fächer. "Lord Henry, ich wundere mich wirklich nicht mehr, daß alle Welt darüber klagt, wie schlecht Sie sind."

"Welche Welt sagt das?" fragte Lord Henry, seine Augenbrauen hebend. "Es kann höchstens die Nachwelt sein, denn diese Welt und ich stehen ausgezeichnet miteinander."

"Alle meine Bekannten sagen, daß Sie sehr schlecht sind!" rief die alte Dame, den Kopf schüttelnd.

Lord Henry blickte einige Augenblicke ganz ernsthaft drein. "Es ist wirklich ungeheuerlich", sagte er schließlich, "daß die Leute heutzutage herumgehen und hinter unserem Rücken Dinge über uns sagen, die durchaus und vollständig wahr sind."

"Ist er nicht unverbesserlich?" rief Dorian und beugte sich in seinem Stuhl vor.

"Ich hoffe", sagte die Wirtin lachend. "Aber im Ernst, wenn Sie alle Madame de Ferrol in dieser lächerlichen Weise anbeten, werde ich mich noch einmal verheiraten müssen, um wieder in Mode zu kommen."

"Sie werden sich nie wieder verheiraten, Lady Narborough", unterbrach sie Lord Henry. "Sie waren zu glücklich. Wenn eine Frau sich wieder verheiratet, so tut sie es, weil sie ihren ersten Mann verabscheut hat. Wenn ein Mann sich wieder verheiratet, weil er seine erste Frau angebetet hat. Die Frauen versuchen ihr Glück, die Männer setzen das ihre aufs Spiel."

"Narborough war durchaus nicht vollkommen!" rief die alte Dame.

"Wenn er es gewesen wäre, hätten Sie ihn nicht geliebt, teure Frau", war die Antwort. "Die Frauen lieben uns um unserer Fehler willen. Wenn wir genügend davon haben, vergeben sie uns alles, sogar unseren Geist. Ich fürchte, Sie werden mich nie wieder zum Diner einladen, nachdem ich das gesagt habe, Lady Narborough, aber es ist trotzdem wahr."

"Natürlich ist es wahr, Lord Henry. Wenn wir Frauen euch nicht um eurer Fehler willen liebten, wohin kämet ihr? Nicht ein einziger von euch würde verheiratet sein, ihr wäret eine Gesellschaft unglücklicher Junggesellen. Das heißt, bei Ihnen würde das keinen großen Unterschied ausmachen. Heutzutage leben alle Ehemänner wie Junggesellen und alle Junggesellen wie Ehemänner."

"Fin de siecle", flüsterte Lord Henry.

"Fin du globe", entgegnete die Wirtin.

"Ich wollte, es wäre fin du globe", seufzte Dorian. "Das Leben ist eine große Enttäuschung."

"Aber, mein Lieber!" rief Lady Narborough und zog ihre Handschuhe an. "Sagen Sie mir nur nicht, daß Sie das Leben erschöpft hätten. Wenn ein Mann das sagt, weiß man, daß das Leben ihn erschöpft hat. Lord Henry ist ein sehr schlechter Mensch und ich wünsche manchmal, ich wäre es auch gewesen. Aber Sie sind geschaffen, um gut zu sein - Sie sehen so gut aus. Ich muß für Sie eine hübsche Frau finden. Lord Henry, meinen Sie nicht, daß Mr. Gray heiraten sollte?"

"Ich sage ihm das auch immer, Lady Narborough!" erwiderte Lord Henry mit einer Verbeugung.

"Dann müssen wir uns also nach einer guten Partie für ihn umsehen. Ich werde den Adelskalender heute nacht sorgfältig durchgehen und eine Liste der in Frage kommenden jungen Damen aufstellen."

"Mit ihrem Alter, Lady Narborough?" fragte Dorian.

"Natürlich mit ihrem Alter, höchstens ein wenig retuschiert. Aber man darf nichts übereilen. Ich will, daß es genau das ist, was die ,Morning Post' eine passende Partie nennen würde, und ihr sollt beide glücklich werden."

"Was für einen Unsinn die Menschen doch über glückliche Ehen reden!" rief Lord Henry. "Ein Mann kann mit jeder Frau glücklich sein, solang er sie nicht liebt."

"Was für ein Zyniker Sie sind!" rief die alte Dame, schob ihren Stuhl zurück und nickte Lady Ruxton zu. "Sie müssen recht bald wiederkommen und mit mir speisen. Sie sind wirklich eine wunderbare Nervenstärkung, viel besser als alles, was mir mein Hausarzt verschreibt. Sie müssen mir sagen, was für Leute Sie treffen wollen. Es soll ein entzückender Abend werden."

"Ich liebe Männer, die eine Zukunft, und Frauen, die eine Vergangenheit haben", antwortete er. "Oder meinen Sie, daß auf diese Weise nur eine Damengesellschaft zustande käme?"

"Ich fürchte fast", sagte sie lachend, während sie aufstand. "Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Lady Ruxton", fuhr sie fort. "Ich habe nicht bemerkt, daß Sie Ihre Zigarette noch nicht zu Ende geraucht haben."

"Das tut nichts, Lady Narborough. Ich rauche sowieso viel zuviel. Ich werde mich in Zukunft einschränken müssen."

"Bitte, tun Sie das nicht, Lady Ruxton", sagte Lord Henry. "Mäßigung ist eine unangenehme Sache. Genug ist so schlecht wie eine Mahlzeit, mehr als genug ist so gut wie ein Fest."

Lady Ruxton sah ihn neugierig an. "Lord Henry, Sie müssen einmal an einem Nachmittag kommen und mir das erklären. Es klingt wie eine verlockende Theorie", sagte sie, während sie aus dem Zimmer rauschte.

"Bleiben Sie mir ja nicht zu lange bei Politik und Klatsch sitzen!" rief Lady Narborough von der Tür aus. "Sonst geraten wir uns oben sicher in die Haare!"

Die Herren lachten und Mr. Chapman stand feierlich von dem Ende des Tisches auf und setzte sich oben an. Dorian Gray wechselte seinen Platz und setzte sich neben Lord Henry. Mr. Chapman begann mit sehr lauter Stimme über die parlamentarische Lage zu sprechen. Er kläffte seine Gegner an. Das Wort "doktrinär" - ein Wort voller Schrecken für den britischen Geist - tauchte von Zeit zu Zeit in seinen Wutausbrüchen auf. Eine alliterierende Vorsilbe diente ihm als Redeschmuck. Er hißte den Union Jack am Maste des Gedankens. Die angestammte Dummheit der Rasse - gesunder Menschenverstand, nannte er sie wohlwollend - wurde als das Hauptbollwerk der Gesellschaft hingestellt.

Lord Henry zog lächelnd die Lippen kraus. Er drehte sich um und blickte Dorian an.

"Geht es Ihnen besser, mein Freund? Sie schienen beim Diner nicht in Ordnung zu sein."

"Ich fühle mich ganz wohl, ich bin nur etwas müde."

"Sie waren gestern abend entzückend. Die kleine Herzogin betet Sie an. Sie hat mir erzählt, daß sie nach Selby kommt."

"Sie hat mir versprochen, am zwanzigsten zu kommen."

"Wird Monmouth auch da sein?"

"Natürlich, Henry."

"Er langweilt mich fürchterlich, fast so sehr wie er sie langweilt. Sie ist sehr klug, eigentlich zu klug für eine Frau. Ihr fehlt der unbeschreibliche Reiz der Schwäche. Die Tonfüße machen erst das Gold des Götzen wertvoll. Ihre Füße sind sehr hübsch, aber es sind keine Tonfüße. Weiße Porzellanfüße, wenn Sie wollen. Sie sind schon im Feuer gewesen, und was das Feuer nicht zerstört, härtet es. Sie hat ihre Erfahrungen hinter sich."

"Wie lange ist sie verheiratet?" fragte Dorian.

"Sie sagt, eine Ewigkeit. Nach dem Adelskalender sind es wohl zehn Jahre. Aber zehn Jahre mit Monmouth müssen für sie eine Ewigkeit plus zehn Jahre gewesen sein. Wer kommt sonst noch?"

"Die Willoughbys, Lord Rugby und seine Frau, unsere Wirtin, Geoffrey Clouston, die gewöhnliche Gesellschaft. Ich habe auch Lord Grotrian gebeten."

"Ich habe ihn sehr gern", sagte Lord Henry. "Viele Leute können ihn nicht leiden, ich finde ihn aber reizend. Daß seine Kleidung manchmal etwas überladen ist, macht er dadurch wieder gut, daß er immer übergebildet ist. Er ist ein ganz moderner Typus."

"Ich weiß nicht, ob er kommen kann, Henry. Vielleicht muß er mit seinem Vater nach Monte Carlo."

"Was für eine Plage doch die Familie ist! Sehen Sie nur zu, daß er kommt! . . . Übrigens, Dorian, Sie sind gestern abend sehr früh weggegangen. Sie haben uns vor elf verlassen. Was haben Sie dann getan? Sind Sie direkt nach Hause gegangen?"

Dorian ,sah rasch zu ihm hinüber und runzelte die Stirn. "Nein, Henry", sagte er schließlich. "Es war schon fast drei, als ich nach Hause kam."

"Waren Sie im Klub?"

"Ja", antwortete er. Dann biß er sich auf die Lippen. "Nein, das stimmt nicht, ich war nicht im Klub. Ich bin nur so herumgebummelt. Ich habe vergessen, was ich getan habe. Wie neugierig Sie sind, Henry! Sie wollen immer wissen, was man getan hat. Ich will immer vergessen, was ich getan habe. Wenn Sie die genaue Zeit wissen wollen, ich bin um halb drei nach Hause gekommen. Ich hatte meinen Torschlüssel vergessen und mein Diener mußte mir Öffnen. Wenn Sie eine Zeugenaussage zu meinen Gunsten wünschen, können Sie ihn ja fragen."

Lord Henry zuckte die Achseln. "Mein lieber Freund, was soll mir daran liegen? Wir wollen in den Salon hinauf. Nein, danke, Mr. Chapman, keinen Sherry!... Dorian, Ihnen ist etwas zugestoßen. Sagen Sie mir, was es ist. Sie sind heute abend nicht Sie selbst."

"Kümmern Sie sich nicht um mich, Henry. Ich bin gereizt und schlecht gelaunt. Ich komme morgen oder an einem der nächsten Tage zu Ihnen. Bitte, entschuldigen Sie mich bei Lady Narborough. Ich gehe nicht mehr hinauf. Ich gehe nach Hause. Ich muß nach Hause gehen!"

"Schön, Dorian. Ich hoffe, ich sehe Sie morgen zum Tee. Die Herzogin kommt."

"Ich will versuchen, zu kommen, Henry", sagte er und verließ das Zimmer.

Als er nach Hause fuhr, merkte er, daß das Angstgefühl, das er erstickt zu haben glaubte, wiedergekehrt war. Lord Henrys zufällige Fragen hatten ihm die Ruhe genommen und er brauchte seine Kaltblütigkeit. Es gab noch Dinge, die Gefahr bringen konnten und vernichtet werden mußten. Er schauerte zusammen. Der Gedanke, sie nur zu berühren, war ihm furchtbar.

Und doch mußte es geschehen. Er war sich darüber klar, und als er die Tür seines Bibliothekzimmers verschlossen hatte, öffnete er das geheime Fach, in das er Basil Hallwards Mantel und Tasche versteckt hatte. Ein mächtiges Feuer brannte. Er legte noch einige Scheite Holz nach. Der Geruch der glimmenden Kleider und des verkohlten Leders war entsetzlich. Er brauchte drei Viertelstunden, um alles zu verbrennen. Schließlich fühlte er sich schwach und krank, und nachdem er einige algerische Räucherkerzen in einer durchbrochenen Kupferpfanne angezündet hatte, wusch er sich die Hände mit einem kühlen, moschusduftenden Essig.

Plötzlich schrak er zusammen. Seine Augen wurden merkwürdig hell und er nagte nervös an der Unterlippe. Zwischen zwei Fenstern stand ein großer Florentiner Ebenholzschrank, mit Elfenbein und blauem Lapislazuli eingelegt. Er beobachtete ihn, als wäre er ein lebendes Wesen, das fesseln und ängstigen könne, als schließe er etwas ein, das er zugleich sehnsüchtig begehrte und haßte. Sein Atem ging schnell. Eine wilde Gier überkam ihn. Er zündete eine Zigarette an und warf sie sofort wieder weg. Seine Augenlider senkten sich so tief, daß die langen Wimpern fast die Wangen berührten. Aber er sah den Schrank immer wieder an. Schließlich erhob er sich von dem Sofa, auf dem er gelegen war, ging zum Schrank, schloß ihn auf und berührte eine geheime Feder. Ein dreieckiges Fach kam langsam zum Vorschein. Seine Finger bewegten sich instinktiv ihm entgegen, griffen hinein und faßten etwas. Es war eine kleine chinesische Schachtel aus schwarzem Lack mit goldenen Tupfen, sehr sorgfältig gearbeitet, die Ecken mit gekrümmten Wellenlinien geziert, an seidenen Schnüren hingen runde Kristalle und Troddeln aus Metalldraht. Er öffnete sie. Eine grüne, glänzende, wachsartige Masse von eigenartig schwerem und durchdringendem Geruch lag darin.

Er zögerte einige Momente mit einem seltsam unbeweglichen Lächeln auf dem Gesicht. Dann schauerte er zusammen, obwohl die Luft im Zimmer fürchterlich heiß war, straffte sich und sah nach der Uhr. Es fehlten zwanzig Minuten auf zwölf. Er legte die Schachtel zurück, schloß die Türen des Schrankes und ging in sein Schlafzimmer.

Als die metallenen Schläge der Mitternacht durch die dumpfe Luft zitterten, schlich Dorian Gray in ordinären Kleidern, ein Tuch um den Hals, leise aus dem Hause. In der Bond-Straße fand er einen Wagen mit einem guten Pferd. Er winkte dem Kutscher und sagte ihm mit leiser Stimme eine Adresse.

Der Mann schüttelte den Kopf. "Das ist zu weit für mich", brummte er.

"Da haben Sie einen Sovereign. Sie sollen noch einen halben haben, wenn Sie rasch fahren."

"Schön, Herr!" antwortete der Mann. "In einer Stunde sind wir dort." Nachdem er sein Geld eingesteckt hatte, drehte er um und fahr rasch der Themse zu.

 

 

Sechzehntes Kapitel

Ein kalter Regen begann zu fallen. Die flackernden Laternen sahen im tropfenden Nebel gespenstisch aus. Zahlreiche Schenken wurden gerade geschlossen und Männer und Frauen standen in einzelnen Gruppen vor den Türen. Aus einigen Wirtschaften drang das Geräusch fürchterlichen Lachens. In anderen schimpften und grölten Betrunkene. In den Wagen zurückgelehnt, den Hut in die Stirn gezogen, beobachtete Dorian Gray mit gleichgültigen Blicken das gemeine Elend der Großstadt. Dann und wann wiederholte er sich die Worte, die ihm Lord Henry an jenem ersten Tage, als sie sich kennengelernt hatten, gesagt hatte: "Man muß die Seele durch die Sinne, die Sinne durch die Seele heilen." Ja, das war das Geheimnis. Er hatte es oft versucht und wollte es jetzt wieder versuchen. Es gab Opiumkneipen, wo man Vergessen kaufen konnte. Orte des Grauens, wo die Erinnerung an alte Sünden durch den Wahnsinn neuer zerstört wurde.

Der Mond hing tief am Himmel wie ein gelber Schädel. Von Zeit zu Zeit streckte eine große, unförmige Wolke einen langen Arm nach ihm aus und verbarg ihn. Die Gaslaternen wurden seltener und die Straßen enger und düsterer. Einmal verlor der Kutscher den Weg und mußte eine halbe Meile zurückfahren. Das Pferd dampfte, als es in die Pfützen patschte. Die Seitenfenster des Wagens waren mit grauem Dunst beschlagen.

"Die Seele durch die Sinne heilen und die Sinne durch die Seele . . ." Wie ihm die Worte in den Ohren klangen! Ja, seine Seele war todkrank. Könnten die Sinne sie wirklich heilen? Unschuldiges Blut war vergossen worden. Welche Buße konnte es dafür geben? Ach, dafür gab es keine Sühne! Aber wenn auch Vergebung unmöglich war, Vergessen war doch möglich. Und er war fest entschlossen, zu vergessen, die ganze Sache auszulöschen, sie zu zertreten, wie man eine Natter, die einen gebissen hat, zertritt. Welches Recht hatte. Basil denn gehabt, zu ihm zu sprechen, wie er es getan hatte? Wer hatte ihn zum Richter über andere gemacht? Er hatte Dinge gesagt, die schrecklich waren, furchtbar, unerträglich.

Der Wagen rollte weiter und weiter und schien ihm mit jedem Schritt langsamer zu fahren. Er riß die Klappe auf und rief dem Kutscher zu, schneller zu fahren. Der gräßliche Hunger nach Opium fing an, in ihm zu nagen. Seine Kehle brannte, die feinen Hände krampften sich nervös ineinander. Er schlug wie toll mit seinem Stock auf das Pferd los. Der Kutscher lachte und schwang die Peitsche. Er lachte zur Antwort und der Mann schwieg.

Der Weg schien nicht zu enden, die Straßen waren wie das Netz einer ausgestreckt daliegenden Spinne. Die Eintönigkeit wurde unerträglich und als der Nebel dichter wurde, empfand er Furcht.

Dann fuhren sie an einsamen Ziegeleien vorüber. Der Nebel wurde hier leichter und er konnte die merkwürdigen, flaschenförmigen Trockenöfen mit ihren orangefarbigen, fächerartigen Feuerzungen sehen. Ein Hund bellte, als sie vorüberfuhren und weit weg in der Dunkelheit schrie eine Möve im Flug. Das Pferd stolperte in einer Radspur, machte einen Seitensprung und fing dann an, zu galoppieren.

Nach einiger Zeit verließen sie den Lehmweg und der Wagen ratterte durch schlechtgepflasterte Gassen. Die meisten Fenster waren dunkel, dann und wann aber sah man die Sillouetten phantastischer Schatten hinter einem erleuchteten Fenster. Neugierig blickte er nach ihnen. Sie bewegten sich wie ungeheuerliche Marionetten, obwohl sie Gebärden machten wie lebende Wesen. Er haßte sie. Ein dumpfer Zorn kochte in seinem Herzen. Als sie um die Ecke bogen, kreischte ihm ein Weib aus einer offenen Tür etwas zu und zwei Männer rannten fast hundert Meter hinter dem Wagen her. Der Kutscher schlug nach ihnen mit der Peitsche.

Man sagt, die Leidenschaft führe die Gedanken im Kreise umher. In fürchterlicher ewiger Wiederholung formten die zerbissenen Lippen Dorian Grays jene feinen Worte von der Seele und den Sinnen wieder und wieder, bis er in ihnen den vollsten Ausdruck seiner Stimmung gefunden und so durch die Zustimmung des Verstandes Leidenschaften gerechtfertigt hatte, die auch ohne solche Rechtfertigung sein Gefühl beherrscht hatten. Von Zelle zu Zelle seines Gehirns schlich der eine Gedanke. Wilde Lebensgier, noch schrecklicher als jeder andere menschliche Hunger, gab jedem zitternden Nerv und Muskel frische Kraft. Das Häßliche, das er einst verabscheut hatte, weil es den Dingen Wirklichkeit gibt, wurde ihm jetzt aus demselben Grunde teuer. Das Häßliche war das einzig Wirkliche. Das rohe Geschrei, die ekelhafte Kneipe, die wilde Heftigkeit eines zügellosen Lebens, die tiefe Verkommenheit der Diebe und Verbrecher waren in der intensiven Wirklichkeit ihrer Eindrücke mehr vom Leben erfüllt als alle anmutigen Formen der Kunst, die Traumschatten der Dichtung. Sie waren das, was er zum Vergessen brauchte. In drei Tagen würde er frei sein.

Plötzlich hielt der Wagen mit einem Ruck am Ende einer schwarzen Gasse. Über den niedrigen Dächern und den Zacken der Schornsteine konnte man die schwarzen Masten von Schiffen sehen. Fetzen von weißem Nebel hingen wie gespenstische Segel in den Rahen.

"Hier herum muß es wohl irgendwo sein?" fragte die rauhe Stimme des Kutschers.

Dorian schrak auf und blickte sich um. "Schon gut", antwortete er, stieg hastig aus, gab dem Kutscher das Geld, das er ihm versprochen hatte, und ging rasch dem Kai zu. Hier und da flammte eine Lampe am Heck eines großen Kauffahrers. Das Licht zitterte und glitzerte in den Pfützen. Ein roter Schein kam von einem Überseedampfer, der Kohlen lud. Das schlüpfrige Pflaster sah aus wie ein nasser Gummimantel.

Er ging rasch nach links zu und blickte sich dann und wann um, ob ihm niemand folge. Nach sieben oder acht Minuten erreichte er ein kleines, schäbiges Haus, das zwischen düsteren Fabriken eingekeilt war. In einem der obersten Fenster war Licht. Er blieb stehen und klopfte auf eine besondere Art an.

Nach einer kleinen Weile hörte er Schritte im Flur und die Kette wurde losgemacht. Die Tür öffnete sich ruhig und er trat hinein, ohne ein Wort zu der kauernden, unförmigen Gestalt zu sagen, die sich in den Schatten drückte, als er vorbeiging. Am Ende des Flurs hing ein zerlumpter grüner Vorhang, der in dem stürmischen Luftzug, der von der Straße hereingedrungen war, hin und her flatterte. Er schob ihn beiseite und trat in einen langen, niedrigen Raum, der aussah, als wäre er früher ein Tanzsaal dritten Ranges gewesen. Grell flackernde Gasflammen, die sich stumpf und entstellt in den fliegenbeschmutzten Spiegeln ihm gegenüber widerspiegelten, hingen rundherum an den Wänden. Schmierige Reflektoren aus geripptem Zinn befanden sich hinter ihnen und brachten zitternde Lichtreflexe hervor. Der Boden war mit ockerfarbigen Sägespänen bedeckt, die an einzelnen Stellen zu Schmutz zertreten waren und in denen sich schwarze Ringe von vergossenen Getränken abzeichneten. Ein paar Malaien kauerten vor einem kleinen Kohlenofen, spielten mit knöchernen Spielmarken und zeigten, wenn sie sprachen, weiße Zähne. In einer Ecke, den Kopf in die Hände vergraben, lümmelte sich ein Matrose über den Tisch und an dem bunt bemalten Büfett, das eine ganze Seite des Zimmers einnahm, standen zwei hagere Weiber und lachten über einen alten Mann, der mit einem Ausdruck des Ekels die Ärmel seines Rockes bürstete. "Er denkt, er hat sich Läuse geholt", lachte die eine, als Dorian an ihnen vorüberging. Der Mann sah sie erschreckt an und begann zu wimmern.

Am Ende des Raumes war eine kleine Stiege, die in eine dunkle Kammer führte. Als Dorian rasch die drei wackeligen Stufen hinaufging, schlug ihm der schwere Geruch des Opiums entgegen. Er holte tief Atem und seine Nasenflügel zitterten vor Lust. Als er eintrat, sah ihn ein junger Mann mit weichem Blondhaar an; er beugte sich gerade über eine Lampe, an der er eine lange, dünne Pfeife anzündete und nickte zögernd.

"Sie hier, Adrian?" flüsterte Dorian.

"Wo soll ich sonst sein?" antwortete er gleichgültig. "Keiner will ja mehr mit mir sprechen."

"Ich dachte, Sie hätten England verlassen?"

"Darlington wird nichts gegen mich tun. Mein Bruder hat den Wechsel schließlich gezahlt. George spricht auch nicht mehr mit mir... Es liegt mir nichts daran", fügte er seufzend hinzu. "So lang man das Zeug da hat, braucht man keine Freunde. Ich denke, ich habe schon zu viele Freunde gehabt." Dorian zuckte zusammen und sah sich nach den grotesken Wesen um, die da in so phantastischen Stellungen auf den zerlumpten Matratzen lagen. Die verdrehten Glieder, der klaffende Mund, die starren, glanzlosen Augen zogen ihn unwiderstehlich an. Er kannte das seltsame Paradies, in dem sie ihr Leid vergaßen, und die dumpfe Hölle, die sie das Geheimnis einer neuen Lust lehrte. Und doch ging es denen da besser als ihm. Ihn hielten seine Gedanken gefangen. Die Erinnerung zerfraß wie eine fürchterliche Krankheit seine Seele. Von Zeit zu Zeit glaubte er die Augen Basil Hallwards auf sich gerichtet zu sehen. Er spürte, daß er hier nicht bleiben konnte. Die Anwesenheit von Adrian Singleton störte ihn. Er wollte irgendwo sein, wo niemand wußte, wer er war. Er wollte sich selber entfliehen.

"Ich gehe in das andere Lokal!" sagte er nach einer Weile.

"Auf der Werft?"

"Ja."

"Die tolle Katze ist sicher dort. Sie wollen sie jetzt hier nicht mehr haben."

Dorian zuckte die Achseln. "Ich habe die Weiber, die einen lieben, satt. Weiber, die einen hassen, sind viel interessanter. Übrigens ist das Zeug dort besser."

"So ziemlich dasselbe."

"Mir schmeckt's besser. Kommen Sie mit, wir wollen etwas trinken. Ich muß etwas nehmen."

"Ich mag nichts", flüsterte der junge Mann.

"Kommen Sie nur."

Adrian Singleton stand träge auf und folgte Dorian zum Büfett. Ein Mischling in zerfetztem Turban und schäbigem Ulster grinste ihnen einen widerlichen Gruß zu, als er zwei Gläser und eine Brandyflasche vor sie hinstellte. Die Weiber schwankten herbei und begannen zu schwatzen. Dorian drehte ihnen den Rücken zu und sagte leise etwas zu Adrian Singleton.

Ein Grinsen, gekrümmt wie ein malaiischer Dolch, verzerrte das Gesicht eines der Weiber. "Wir fühlen uns sehr geehrt heute nacht", höhnte sie.

"Um Gottes willen, redet nicht mit mir!" schrie Dorian und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. "Was wollt ihr? Geld? Da! Aber sprecht kein Wort mehr zu mir!"

Zwei rote Funken blitzten einen Moment in den verquollenen Augen des Weibes auf, dann verloschen sie wieder und ließen sie stumpf und verglast erscheinen. Sie warf den Kopf zurück und raffte mit gierigen Händen die Münzen auf dem Bartisch zusammen. Ihre Gefährtin beobachtete sie neidisch.

"Es hat keinen Zweck", sagte Adrian Singleton Seufzend. "Ich will nicht mehr zurück. Was liegt daran? Ich bin hier ganz glücklich."

"Wollen Sie mir schreiben, wenn Sie etwas brauchen?" fragte Dorian nach einer Weile.

"Vielleicht."

"Dann gute Nacht!"

"Gute Nacht!" antwortete der junge Mann, schritt die Treppe hinauf und wischte sich den ausgedörrten Mund mit dem Taschentuch ab.

Dorian schritt zur Tür, einen schmerzlichen Zug im Gesicht. Als er den Vorhang beiseite zog, kam ein greuliches Lachen von den geschminkten Lippen des Weibes, das sein Geld genommen hatte. "Da geht der Teufelsbraten!" stieß sie mit einer rauhen Stimme hervor.

"Der Teufel soll dich holen!" antwortete er. "Wenn du mich noch einmal so nennst!"

Sie schnippte mit den Fingern. "Der Märchenprinz willst du genannt sein, was?!" schrie sie hinter ihm her.

Bei diesen Worten sprang der schläfrige Matrose auf und blickte sich wild um. Das Geräusch der zufallenden Tür schlug an sein Ohr. Er stürzte hinaus, als ob er den anderen verfolgen wollte.

Dorian Gray ging rasch in dem stäubenden Regen den Kai entlang. Das Zusammentreffen mit Adrian Singleton hatte ihn seltsam bewegt und er fragte sich, ob der Untergang dieses jungen Lebens wirklich seine Schuld war, wie ihm Basil Hallward mit so schändlicher Beschimpfung gesagt hatte. Er biß sich auf die Lippen und einige Augenblicke verdüsterte sich sein Blick. Aber schließlich, was ging es ihn an? Das Dasein war zu kurz, als daß man die Last fremder Sünden auf seine Schultern nehmen konnte. Jedermann mußte sein eigenes Leben leben und seinen eigenen Preis für das Leben zahlen. Das einzige Unglück war, daß man so oft für jedes einzelne Vergehen zu zahlen hatte. Man mußte immer und immer wieder zahlen. In seinem Verkehr mit dem Menschen schloß das Schicksal die Rechnung nie ab.

Die Psychologen sagen, daß es Augenblicke gibt, in denen das Verlangen nach Sünde oder dem, was die Welt Sünde nennt, einen Menschen so beherrscht, daß jeder Nerv des Körpers, jede Zelle des Gehirns von fürchterlichen Trieben erfüllt zu sein scheint. Männer und Frauen verlieren in solchen Augenblicken die Freiheit ihres Willens. Sie bewegen sich wie Automaten ihrem schrecklichen Ende zu. Die Wahl ist ihnen genommen und das Gewissen ist entweder tot oder, wenn es überhaupt lebt, so lebt es nur, um der Empörung Reiz und dem Ungehorsam einen besonderen Zauber zu verleihen. Denn alle Sünden sind, wie die Psychologen uns zu sagen nicht müde werden, Sünden des Ungehorsams. Als jener hohe Geist, der Morgenstern des Bösen, vom Himmel fiel, da fiel er als Rebell herab.

Verhärtet, die Gedanken allein auf das Böse gerichtet, mit beflecktem Geist, einer Seele, die nach Empörung lechzte, eilte Dorian weiter und beschleunigte seine Schritte immer mehr. Als er aber in einen düsteren Torweg einbog, der ihm oft genug als abgekürzter Weg zu dem übel berüchtigten Ort, den er jetzt aufsuchen wollte, gedient hatte, fühlte er sich plötzlich von rückwärts gepackt. Bevor er Zeit hatte, sich zu verteidigen, wurde er gegen eine Mauer geworfen und sein Hals von einer brutalen Hand umspannt.

Er kämpfte wie ein Wahnsinniger um sein Leben, und mit furchtbarer Anstrengung machte er sich aus den ihn umklammernden Fingern frei. Einen Augenblick später hörte er den Hahn eines Revolvers knacken und sah den glänzenden glatten Metallauf gerade gegen seinen Kopf gerichtet und die dunkle Gestalt eines kleinen, untersetzten Mannes vor sich.

"Was wollen Sie?" keuchte er.

"Bleiben Sie stehen!" sagte der Mann. "Wenn Sie sich rühren, schieße ich Sie nieder!"

"Sie sind wahnsinnig. Was habe ich Ihnen getan?"

"Sie haben das Leben Sibyl Vanes vernichtet!" war die

Antwort. "Und Sibyl Vane war meine Schwester. Sie hat sich getötet, ich weiß es. Ihr Tod ist aber Ihre Schuld. Ich habe geschworen, daß ich Sie dafür töten werde. Jahrelang habe ich Sie gesucht, ich hatte ja keinen Anhaltspunkt, keine Spur. Die zwei Menschen, die mir Sie hätten beschreiben können, waren tot. Ich wußte nichts von Ihnen als den Kosenamen, den sie Ihnen gab. Den habe ich heute nacht durch Zufall gehört. Machen Sie Ihren Frieden mit Gott! Heute nacht müssen Sie sterben."

Dorian Gray wurde fast ohnmächtig vor Furcht. "Ich habe sie nie gekannt", stammelte Er. "Ich habe nie von ihr gehört. Sie sind verrückt."

"Sie täten besser, Ihre Sünden zu beichten, ,denn, so gewiß ich James Vane bin, so gewiß sollen Sie jetzt sterben."

Es war ein schrecklicher Augenblick. Dorian wußte nicht, was er sagen oder tun sollte.

"Auf die Knie!" knurrte der Mann. "Ich gebe Ihnen eine Minute, Ihren Frieden mit Gott zu machen, nicht mehr! Ich muß heute nacht noch an Bord, ich fahre nach Indien, aber vorher muß unsere Angelegenheit erledigt werden! ... Eine Minute, nicht eine Sekunde länger!"

Dorians Arme sanken herab. Vom Schrecken gelähmt, wußte er nicht, was er tun sollte. Plötzlich zuckte eine jähe Hoffnung durch sein Gehirn. "Warten Sie!" schrie er. "Wie lang ist es her, daß Ihre Schwester gestorben ist? Rasch, sagen Sie!"

"Achtzehn Jahre", sagte der Mann. "Warum fragen Sie mich? Was haben die Jahre damit zu tun?!"

"Achtzehn Jahre!" lachte Dorian mit einem triumphierenden Ton in der Stimme auf. "Achtzehn Jahre! Führen Sie mich unter die Laterne da und sehen Sie mir ins Gesicht!"

James Vane zögerte einen Augenblick und begriff nicht, was er meinte. Dann packte er Dorian Gray und schleifte ihn aus dem Torweg.

So trübe und flackernd auch das windverwehte Licht war, es genügte doch, ihm den furchtbaren Irrtum, in dem er befangen zu sein schien, zu zeigen. Das Antlitz des Mannes, den er töten wollte, hatte all den Blütenreiz der Jugend, all die unbefleckte Reinheit der Jugend. Er schien kaum älter als ein Jüngling von zwanzig Sommern, kaum älter, als die Schwester damals gewesen war, als sie vor so vielen Jahren Abschied genommen hatten. Es war klar, daß das nicht der Mann war, der ihr Leben zerstört hatte.

Er ließ ihn los und taumelte zurück. "O Gott, o Gott!" rief er aus. "Und ich hätte Sie beinahe ermordet!"

Dorian Gray holte tief Atem. "Sie waren dicht daran, ein furchtbares Verbrechen zu begehen, Mann", sagte er mit einem strengen Blick. "Lassen Sie sich das eine Warnung sein, die Rache nicht selbst zu übernehmen."

"Verzeihen Sie mir, Herr!" stammelte James Vane. "Ich habe mich täuschen lassen. Ein Wort, das ich zufällig in der verfluchten Kneipe gehört habe, hat mich auf die falsche Spur geführt."

"Sie sollten lieber nach Hause gehen und den Revolver wegtun, sonst kommen Sie noch in Ungelegenheiten", sagte Dorian, drehte sich um und ging langsam die Straße hinunter.

James Vane stand schaudernd da. Er zitterte vom Kopf bis zu den Füßen. Nach einer kleinen Weile trat ein schwarzer Schatten, der längs der triefenden Wand hingeglitten war, ins Licht hinaus und kam verstohlen dicht zu ihm heran. Er fühlte eine Hand, die sich auf seinen Arm legte und sah sich mit jähem Ruck um. Es war eines der Weiber, die an der Bar getrunken hatten.

"Warum haben Sie ihn nicht umgebracht?" stieß sie hervor, ihr hageres Gesicht ganz nahe an dem seinen. "Ich wußte, daß Sie ihm folgten, als Sie aus der Kneipe fortrannten. Sie Narr! Sie hätten ihn umbringen sollen. Er hat einen Haufen Geld und ist so schlecht als irgendeiner."

"Er ist nicht der Mann, den ich suche", murmelte er. "Und ich will keines Menschen Geld. Ich will das Leben eines Menschen. Der Mann, dessen Leben ich will, muß jetzt an die Vierzig sein. Der da ist kaum mehr als ein Knabe. Ich danke Gott, daß sein Blut nicht an meinen Händen klebt."

Das Weib stieß ein bitteres Lachen aus. "Kaum mehr als ein Knabe?!" höhnte sie. "Mensch, es ist fast achtzehn Jahre her, daß der Märchenprinz mich zu dem gemacht hat, was ich jetzt bin!"

"Das ist eine Lüge!" schrie James Vane.

Sie hob ihre Hand zum Himmel. "Bei Gott, ich sage die Wahrheit!" rief sie.

"Bei Gott?"

"Sie können mich kalt machen, wenn es nicht so ist. Er ist der schlimmste von allen, die herkommen. Man sagt, er habe sich dem Teufel für ein schönes Gesicht verkauft. Es sind nahe an achtzehn Jahre, daß ich ihn getroffen habe. Seitdem hat er sich kaum verändert. Ich um so mehr", fügte sie mit schmerzlichem Lächeln hinzu.

"Können Sie das beschwören?"

"Ich schwöre es", wiederholte heiser ihr dünner Mund. "Aber verraten Sie mich ihm nicht", winselte sie. "Ich habe Angst vor ihm. Geben Sie mir ein paar Groschen fürs Nachtquartier."

Mit einem Fluch stürzte er davon und rannte bis zur Straßenecke. Aber Dorian Gray war verschwunden. Als er zurückblickte, war auch das Weib schon weg.

 

 

Siebzehntes Kapitel

Eine Woche später saß Dorian Gray im Wintergarten von Selby Royal und sprach mit der hübschen Herzogin von Monmouth, die mit ihrem Gatten, einem müde aussehenden Manne von sechzig Jahren zu seinen Gästen gehörte. Es war um die Teezeit und das warme Licht der großen, spitzenverhängten Lampe, die auf dem Tische stand, erleuchtete das erlesene Porzellan und das gehämmerte Silber des Tafelgeschirrs. Die Herzogin schenkte den Tee ein; ihre weißen Hände bewegten sich zierlich zwischen den Tassen und ihre vollen, roten Lippen lächelten über etwas, das Dorian ihr zugeflüstert hatte. Lord Henry lehnte sich in einen Rohrsessel, der mit Seide überzogen war, zurück und sah sie an. Auf einem pfirsichfarbenen Diwan saß Lady Narborough und tat, als ob sie auf die Beschreibung höre, die der Herzog von einem seltenen brasilianischen Käfer gab, den er seiner Sammlung einverleibt hatte. Drei elegante junge Leute boten den Damen Kuchen an. Die Gesellschaft bestand aus zwölf Personen und für den nächsten Tag wurden noch mehr erwartet.

"Worüber sprecht ihr beide?" fragte Lord Henry, während er zu dem Teetisch hinüberging und seine Tasse hinsetzte. "Ich hoffe, Dorian hat Ihnen von meinem Plan, alles umzutaufen, erzählt, Gladys. Ich glaube, es ist eine ausgezeichnete Idee."

"Aber ich will keinen anderen Namen, Henry", erwiderte die Herzogin und sah ihn mit ihren wundervollen Augen an. "Ich bin ganz zufrieden mit dem, den ich habe und ich denke, auch Mr. Gray kann mit dem seinen zufrieden sein."

"Meine liebe Gladys, ich möchte beide Namen um keinen Preis ändern, denn sie sind beide vollendet! Ich dachte auch in der Hauptsache an Blumen. Gestern zum Beispiel pflückte ich mir eine Orchidee für mein Knopfloch. Es war eine prachtvoll gesprenkelte Blume, so wirkungsvoll wie die sieben Todsünden. In einem gedankenlosen Augenblick fragte ich einen der Gärtner, wie sie heiße. Er sagte mir, es sei ein schönes Exemplar einer Robinsoniana oder irgendeine ähnliche gräßliche Bezeichnung. Es ist eine traurige Wahrheit, aber wir haben die Fähigkeit, den Dingen schöne Namen zu geben, verloren. Und doch sind Namen alles. Ich rege mich nie über Handlungen auf. Mein einziger Kampf geht um Worte. Das ist auch der Grund, weshalb ich den vulgären Realismus in der Literatur hasse. Der Mann, der imstande ist, einen Spaten einen Spaten zu nennen, sollte gezwungen werden, selbst einen zu handhaben. Das ist die einzige Sache, zu der er gut wäre."

"Wie sollen wir Sie also nennen, Henry?" fragte sie.

"Er heißt Fürst Paradox", sagte Dorian.

"An dem Namen muß ihn jeder sofort erkennen!" rief die Herzogin.

"Ich will ihn nicht", sagte Lord Henry lachend, während er in einen Fauteuil sank. "Einer solchen Etikette kann man nie wieder entgehen. Ich weise den Titel zurück."

"Könige können nicht abdanken", antworteten ihm schöne Lippen.

"Sie verlangen also, daß ich meinen Thron verteidige?"

"Ja."

"Ich sage die Wahrheiten von morgen."

"Ich ziehe die Irrtümer von heute vor", antwortete sie.

"Sie entwaffnen mich, Gladys!" rief er, indem er sich von ihrer übermütigen Laune anstecken ließ.

"Ich nehme Ihnen nur Ihren Schild, Henry, nicht Ihren Speer."

"Ich kämpfe nie gegen die Schönheit", sagte er mit einer leichten Bewegung seiner Hand.

"Das ist Ihr Hauptfehler, Henry, glauben Sie mir. Sie schätzen die Schönheit viel zu hoch ein."

"Wie können Sie das sagen? Ich gebe gern zu, daß ich es für besser halte, schön zu sein als gut. Aber auf der anderen Seite ist niemand eher bereit zuzugeben als ich, daß es besser ist, gut zu sein als häßlich."

"Häßlichkeit ist also eine der sieben Todsünden?" fragte die Herzogin. "Wie steht es nun um das Gleichnis von den Orchideen?"

"Häßlichkeit ist eine von den sieben Tod-Tugenden, Gladys. Sie als gute Tory dürfen sie nicht unterschätzen. Das Bier, die Bibel und die sieben tödlichen Tugenden haben aus England gemacht, was es ist.

"Sie lieben also Ihre Heimat nicht?" fragte sie.

"Ich lebe ja in ihr."

"Damit Sie sie besser kritisieren können."

"Wollen Sie, daß ich mir das Urteil Europas über meine Heimat zu eigen mache?" fragte er.

"Was sagt man denn von uns?"

"Daß Tartüff nach England ausgewandert ist und dort einen Laden aufgemacht hat."

"Ist das Wort von Ihnen, Henry?"

"Ich schenke es Ihnen."

"Ich könnte nichts damit anfangen. Es ist zu wahr.

"Sie brauchen keine Angst zu haben. Unsere Landsleute fühlen sich von einer wahren Bemerkung nie getroffen.

"Sie sind zu praktisch."

"Eher gerissen als praktisch. Wenn sie ihr Hauptbuch aufmachen, gleichen sie Dummheit durch Reichtum und Laster durch Heuchelei aus."

"Und doch haben wir große Dinge vollbracht."

"Große Dinge sind auf unsere Schultern gelegt worden, Gladys."

"Wir haben ihre Last aber zu tragen vermocht."

"Nur bis zur Börse."

Sie schüttelte den Kopf. "Ich glaube an unsere Rasse!" rief sie.

"Sie repräsentiert das Überleben des Rücksichtslosen."

"Sie hat das Zeug zur Entwicklung."

"Der Verfall reizt mich mehr."

"Und die Kunst?" fragte sie.

"Ist eine Krankheit."

"Die Liebe?"

"Eine Einbildung."

"Religion?"

"Der moderne Ersatz für den Glauben."

"Sie sind ein Skeptiker!"

"Niemals, denn Skeptizismus ist der Anfang des Glaubens."

"Was sind Sie denn?"

"Definieren heißt beschränken."

"Geben Sie mir den Ariadnefaden.

"Fäden reißen. Sie würden Ihren Weg in dem Labyrinth verlieren."

"Sie verwirren mich. Wir wollen von etwas anderem sprechen."

"Unser Wirt ist ein entzückendes Gesprächsthema. Vor vielen Jahren nannte man ihn den Märchenprinzen."

"Oh, erinnern Sie mich nicht daran!" rief Dorian Gray.

"Unser Wirt ist recht unangenehm heute abend", antwortete die Herzogin und wechselte die Farbe. "Er denkt wohl, Monmouth habe mich nur aus wissenschaftlichen Gründen geheiratet, weil ich das beste Exemplar eines modernen Schmetterlings bin."

Dorian lachte. "Ich hoffe doch, er wird Sie nicht auf Stecknadeln aufspießen, Herzogin."

"Das besorgt meine Kammerjungfer zur Genüge, Mr. Gray, wenn sie sich über mich ärgert."

"Und worüber ärgert sie sich bei Ihnen, Herzogin?"

"Über die trivialsten Dinge, Mr. Gray. In der Regel, wenn ich zehn Minuten vor neun nach Hause komme und sage, daß ich um halb neun angezogen sein muß."

"Wie unvernünftig von ihr! Sie sollten ihr kündigen!"

"Ich traue mich nicht, Mr. Gray. Sie erfindet meine Hüte. Erinnern Sie sich an den Hut, den ich auf Lady Hilstones Gartengesellschaft getragen habe? Sie erinnern sich natürlich nicht, aber es ist nett von Ihnen, daß Sie so tun. Also, der war geradezu aus nichts gemacht. Alle guten Hüte werden aus nichts gemacht."

"Wie jeder gute Ruf", Gladys unterbrach Lord Henry. "Jeder Erfolg, den man erzielt, schafft uns einen Feind. Man muß mittelmäßig sein, wenn man beliebt sein will."

"Nicht bei den Frauen", sagte die Herzogin und schüttelte den Kopf. "Und die Frauen regieren die Welt. Ich versichere Ihnen, wir können Mittelmäßigkeiten nicht vertragen. Wir Frauen, hat einmal jemand gesagt, lieben mit den Ohren, während ihr Männer mit den Augen liebt, wenn ihr überhaupt lieben könnt."

"Es scheint mir, daß wir überhaupt nichts anderes tun", flüsterte Dorian.

"Ach, Sie, Mr. Gray, Sie lieben nie wirklich", antwortete sie mit spöttischer Trauer.

"Meine liebe Gladys!" rief Lord Henry. "Wie können Sie das sagen? Die romantische Liebe lebt von der Wiederholung und die Wiederholung verwandelt eine Begierde in Kunst. Übrigens, jedesmal, wenn man liebt, ist es das erstemal, daß man überhaupt liebt. Die Verschiedenheit des Objektes verändert die Einzigkeit der Leidenschaft nicht, sie verstärkt sie nur. Wir können im Leben bestenfalls nur ein einziges großes Erlebnis haben und das Geheimnis des Lebens ist es, dieses Erlebnis so oft wie möglich zu wiederholen."

"Selbst wenn es eines ist, das einen verwundet hat, Henry?" fragte die Herzogin nach einer Pause.

"Dann erst recht", entgegnete Lord Henry.

Die Herzogin wandte sich um und sah Dorian Gray mit einem seltsamen Blick an. "Was sagen Sie dazu, Mr. Gray?" fragte sie.

Dorian zögerte einen Augenblick. Dann warf er den Kopf zurück und lachte. "Ich gebe Henry immer recht, Herzogin."

"Selbst wenn er unrecht hat?

"Henry hat nie unrecht, Herzogin."

"Und macht seine Weisheit Sie glücklich?"

"Ich habe nie das Glück gesucht. Wer braucht Glück? Ich habe den Genuß gesucht."

"Und gefunden, Mr. Gray?"

"Oft, zu oft."

Die Herzogin seufzte. "Ich suche Frieden", sagte sie. "Und wenn ich jetzt nicht gehe und mich anziehe, finde ich ihn heute abend nicht mehr!

"Erlauben Sie, daß ich Ihnen ein paar Orchideen hole, Herzogin!" rief Dorian, sprang auf und in den Wintergarten hinab.

"Sie flirten ganz schändlich mit ihm", sagte Lord Henry zu seiner Cousine. "Sie sollten sich lieber in acht nehmen. Er kann sehr bezaubern.

"Wenn er das nicht könnte, gäbe es keinen Kampf."

"Sind sich also zwei Griechen begegnet?"

"Ich bin auf Seite der Trojaner. Sie fochten für ein Weib. "Aber sie wurden besiegt."

"Es gibt ärgere Dinge, als gefangengenommen werden", erwiderte sie.

"Sie lassen dem Pferd die Zügel schießen."

"Das Tempo macht das Leben", war die Antwort.

"Ich werde heute abend etwas in mein Tagebuch schreiben."

"Was?"

"Daß ein gebranntes Kind das Feuer liebt."

"Ich bin noch nicht einmal versengt. Meine Flügel sind unberührt.

"Sie benützen sie zu allem, nur nicht zum Fliegen."

"Der Mut ist von den Männern zu den Frauen gewandert. Er ist ein neues Erlebnis für uns."

"Sie haben eine Rivalin."

"Wen?"

Er lachte. "Lady Narborough", flüsterte er. "Sie betet ihn an."

"Sie machen mir Furcht. Altertumswerte sind für uns Romantiker stets gefährlich."

"Romantiker? Sie benützen alle Methoden der exakten Wissenschaft."

"Die Männer haben uns erzogen."

"Aber nicht erklärt."

"Geben Sie eine Erklärung für uns als Geschlechtswesen", forderte sie heraus.

"Sphinxe ohne Geheimnisse."

Sie sah ihn lächelnd an. "Wie lange Mr. Gray wegbleibt?" sagte sie. "Wir wollen gehen und ihm helfen. Ich habe ihm nicht einmal die Farbe meines Kleides angegeben."

"Sie müssen Ihr Kleid seinen Blumen anpassen, Gladys."

"Das wäre eine vorzeitige Übergabe."

"Die romantische Kunst beginnt mit der höchsten Steigerung."

"Ich muß mir eine Möglichkeit zum Rückzug offenhalten."

"Wie die Parther?"

"Sie fanden Schutz in der Wüste. Ich könnte das nicht."

"Frauen haben nicht immer die Wahl", antwortete er. Aber er hatte den Satz noch kaum zu Ende gesprochen, als aus dem äußersten Winkel des Wintergartens ein unterdrücktes Stöhnen kam, dem das dumpfe Geräusch eines schweren Falles folgte. Alle schraken auf. Die Herzogin stand reglos vor Schrecken da. Mit angstvollen Augen stürzte Lord Henry durch die wehenden Palmen und fand Dorian Gray mit dem Gesicht auf den Ziegeln des Boden liegend in einer todesähnlichen Ohnmacht.

Er wurde sofort in den blauen Salon gebracht und auf eines der Sofa gelegt. Nach kurzer Zeit kam er zu sich und sah sich erstaunt um.

"Was ist geschehen?" fragte er. "Ach ja - jetzt fällt mir's ein. Bin ich hier sicher, Henry?" Er begann zu zittern.

"Mein lieber Dorian, antwortete Henry, "Sie haben nur eine Ohnmacht gehabt. Sie müssen sich übermüdet haben. Sie sollten nicht zum Diner kommen. Ich will Ihre Stelle vertreten.

"Nein, ich will selbst kommen", sagte er, während er sich mühte, auf den Füßen zu stehen. "Ich komme lieber hinunter. Ich darf nicht allein sein."

Er ging in sein Zimmer und zog sich an. Als er bei Tisch saß, war in seinem Benehmen eine wilde, unruhige Lustigkeit; dann und wann aber überlief ihn ein Angstschauer, wenn er sich erinnerte, daß er, gegen das Fenster des Wintergartens gepreßt wie ein weißes Tuch, das Gesicht James Vanes, der ihm auflauerte, erblickt hatte.

 

 

Achtzehntes Kapitel

Am nächsten Tag verließ er das Haus nicht; er verbrachte den größten Teil der Zeit in seinem Zimmer, erschüttert von einer wilden Todesfurcht und doch dem Leben selbst gegenüber gleichgültig. Das Bewußtsein, verfolgt, gejagt, aufgespürt zu werden, begann ihn zu beherrschen. Wenn die Vorhänge nur im Wind erzitterten, schrak er zusammen. Die toten Blätter, die gegen die Butzenscheiben geweht wurden, schienen ihm seine eigenen vergeblichen Entschlüsse und wilden Gewissensbisse zu sein. Wenn er die Augen schloß, sah er wieder das Gesicht des Matrosen, wie es durch das nebelbeschlagene Glas blickte und das Entsetzen schien ihm noch einmal die Hand aufs Herz zu legen.

Aber vielleicht war es nur seine Phantasie gewesen, die die Rache aus der Nacht heraufbeschworen und die gräßlichen Gestalten der Straße sich vorgestellt hatte. Das wirkliche Leben war ein Chaos, aber die Einbildungskraft arbeitete mit einer furchtbaren Logik. Die Einbildungskraft hetzte die Gewissensbisse hinter der Sünde her, die Einbildungskraft zeugte aus jedem Verbrechen neue scheußliche Ungeheuer. In der gewöhnlichen Welt der Tatsachen werden die Schlechten so wenig bestraft, wie die Guten belohnt. Der Erfolg gehört den Starken. Unglück trifft die Schwachen. Das ist alles... Übrigens, wäre ein Fremder um das Haus herumgeschlichen, so hätte ihn einer der Diener oder Wächter entdeckt. Wären irgend welche Fußstapfen auf den Beeten gefunden worden, so hätten es die Gärtner gemeldet. Ja, es war nur eine Einbildung gewesen. Sibyl Vanes Bruder war nicht zurückgekommen, um ihn zu töten. Er war auf seinem Schiff fortgesegelt, um in irgend einem winterlichen Meer zu scheitern. Vor ihm war er sicher. Der wußte nicht, wer er war, konnte es nicht wissen. Die Maske Jugend hatte ihn gerettet.

Und doch, wenn es auch bloß Einbildung gewesen war, wie schrecklich war der Gedanke, daß das Gewissen so fürchterliche Phantome erstehen lassen, ihnen sichtbare Form geben und sie vor seinen Augen bewegen konnte! Was für ein Leben würde er führen, wenn Tag und Nacht die Schatten seiner Verbrechen aus stillen Winkeln nach ihm spähen, ihn von geheimen Verstecken aus höhnen, ihm in die Ohren flüstern würden, wenn er beim Mahle saß, ihn mit eisigen Fingern weckten, wenn er schlief! Als dieser Gedanke durch sein Hirn zuckte, wurde er blaß vor Schrecken und die Luft um ihn her schien ihm plötzlich kälter zu sein. In welcher wild-wahnsinnigen Stunde hatte er den Freund umgebracht?! Wie gespenstisch war schon allein die Erinnerung an diese Szene! Er sah jetzt alles wieder. Jede gräßliche Einzelheit kam mit erhöhtem Schrecken ihm ins Gedächtnis zurück. Aus den schwarzen Höhlen der Zeit, schrecklich und in Scharlachrot gehüllt, erstand das Bild seines Verbrechens... Als Lord Henry um sechs Uhr eintrat, fand er den Freund schluchzend, wie wenn ihm das Herz brechen wollte.

Erst am dritten Tage wagte er auszugehen. In der klaren tannendurchdufteten Luft des Wintermorgens schien etwas zu liegen, das ihm seine Fröhlichkeit und seine Lebenslust wiedergab. Aber nicht nur die physischen Bedingungen seiner Umgebung hatten diesen Wechsel veranlaßt. Sein innerstes Wesen hatte sich gegen das Übermaß von Angst empört, das seine sonst vollendete Ruhe vollkommen zu zerstören versucht hatte. Bei feinen, empfindlich organisierten Naturen ist das immer so. Für ihre heftigen Leidenschaften gibt es nur ein Biegen oder Brechen. Entweder sie erschlagen einen Menschen oder sie sterben selbst. Oberflächliche Leiden, oberflächliche Liebe können weiterleben, große Liebe und große Leiden werden durch ihre eigene Fülle vernichtet. Außerdem war er vollkommen davon überzeugt, daß er das Opfer einer durch Schrecken verwirrten Einbildungskraft gewesen war und sah jetzt auf seine Angst mit einer Art Mitleid und nicht geringer Verachtung zurück.

Nach dem Frühstück ging er eine Stunde mit der Herzogin im Garten spazieren und fuhr dann durch den Park, um mit einer Jagdgesellschaft zusammenzutreffen. Ein leichter Reif lag wie Salz auf dem Rasen. Der Himmel sah aus wie eine umgestülpte blaue Metallschale. Eine dünne Eisschicht deckte den seichten, schilfbewachsenen Teich.

Am Eingang des Tannenwaldes erblickte er Sir Geoffrey Clouston, den Bruder der Herzogin, der eben zwei abgeschossene Patronen aus seiner Flinte stieß. Er sprang aus dem Wagen, sagte dem Groom, er solle nach Hause fahren und ging dann durch das welke Farnkraut und das rauhe Gestrüpp auf seinen Gast zu.

"Gute Jagd gehabt, Geoffrey?" sagte er.

"Nicht besonders, Dorian. Die meisten Vögel sind wohl nach den Feldern gewechselt. Vielleicht wird es am Nachmittag etwas besser, wenn wir in ein anderes Revier kommen."

Dorian schlenderte neben ihm her. Die starke, aromatische Luft, die braunen und roten Lichter, die im Wald schimmerten, die heiseren Schreie der Treiber, die von Zeit zu Zeit laut wurden, und der scharfe Knall der Flinten, der dann folgte, das alles fesselte ihn und erfüllte ihn mit einem Gefühl wunderbarer Freiheit. Ein unbekümmertes Glück, das Hochgefühl froher Unbesorgtheit erfüllte ihn.

Plötzlich sprang aus dem dürren, vorjährigen Gras, vielleicht zwanzig Meter von ihnen entfernt, ein Hase auf, die schwarzgesprenkelten Löffel hoch erhoben und die langen Hinterläufe nach vorn werfend. Er lief nach einem Erlendickicht. Sir Geoffrey riß das Gewehr an die Schulter. Aber in den anmutigen Bewegungen des Tieres lag etwas, das Dorian auf seltsame Weise entzückte, und er rief: "Schießen Sie ihn nicht, Geoffrey, lassen Sie ihn leben!"

"Was für ein Unsinn, Dorian", sagte sein Begleiter lachend, und als der Hase in das Dickicht setzte, schoß er. Man hörte zwei Schreie: den Schrei eines verwundeten Hasen, der schrecklich ist, und den Schrei eines sterbenden Menschen, der weit furchtbarer ist.

"Herr Gott, ich habe einen Treiber getroffen!" schrie Sir Geoffrey. "Wie kann so ein Esel auch vor die Büchsen laufen. Hört auf zu schießen!" rief er, so laut er konnte. "Ein Mann ist verwundet."

Der Obertreiber kam mit einem Stock in der Hand herbeigelaufen.

"Wo, Herr? Wo ist er?" schrie er. Im selben Augenblick hörte das Schießen auf der ganzen Linie auf.

"Hier!" antwortete Sir Geoffrey ärgerlich und rannte auf das Dickicht zu. "Warum, um Himmels willen, halten Sie Ihre Leute nicht zurück? Jetzt ist die ganze Jagd für heute zum Teufel."

Dorian beobachtete die Leute, wie sie in die Erlenpflanzung eindrangen und die biegsamen, schwankenden Zweige zur Seite stießen. Nach ein paar Minuten kamen sie wieder heraus und trugen einen Körper ins Freie. Er wandte sich entsetzt ab. Es schien ihm, als folge ihm das Unglück überall hin. Er hörte Sir Geoffreys Frage, ob der Mann wirklich tot sei und die bejahende Antwort des Treibers. Der Wald schien sich jäh mit Gesichtern zu beleben. Man hörte das Getrampel von unzähligen Füßen und das leise Summen von Stimmen. Ein großer Fasan mit kupferfarbiger Brust flog flatternd durch die Äste über ihren Köpfen.

Nach einigen Augenblicken, die ihm, verstört wie er war, endlose schmerzliche Stunden schienen, fühlte er eine Hand auf seiner Schulter. Er schrak zusammen und wandte sich um.

"Dorian", sagte Lord Henry. "Ich würde den Leuten lieber sagen, daß die Jagd für heute zu Ende ist. Es macht keinen guten Eindruck, wenn wir weiterjagen!"

"Ich wollte, sie wäre für immer zu Ende", antwortete er bitter. "Die ganze Sache ist gräßlich und grausam. Ist der Mann . . . ?" Er konnte den Satz nicht vollenden.

"Ich fürchte", antwortete Lord Henry. "Er hat die ganze Ladung in die Brust bekommen. Er muß sofort gestorben sein. Kommen Sie, wir wollen nach Hause gehen."

Sie schritten nebeneinander auf die Allee zu, vielleicht fünfzig Meter, ohne zu sprechen. Dann sah Dorian Lord Henry an und sagte mit einem tiefen Seufzer: "Henry, das ist ein böses Vorzeichen, ein sehr böses Vorzeichen."

"Was?" fragte Lord Henry. "Ach so, der Unglücksfall! Mein lieber Freund, dagegen kann man nichts machen. Der Mann war ganz allein schuld, warum ist er vor die Flinten gelaufen?! . . . Übrigens ist das nicht unsere Sache, für Geoffrey ist es natürlich ziemlich unangenehm. Es geht nicht an, Treiber niederzupfeffern. Die Leute denken dann, daß man ein Sonntagsjäger ist - und Geoffrey ist es nicht, sondern schießt ganz ordentlich. Aber es hat keinen Sinn, über die Sache weiter zu reden."

Dorian schüttelte den Kopf. "Es ist ein böses Vorzeichen, Henry. Ich habe das Gefühl, daß einem von uns etwas Schreckliches zustoßen wird. Mir selbst vielleicht", fügte er hinzu und fuhr sich mit der Hand über die Augen, wie einer, der Schmerzen hat.

Der Ältere lachte. "Die einzige schreckliche Sache in der Welt ist Langeweile, Dorian. Das ist die einzige Sünde, für die es keine Vergebung gibt. Aber wir werden darunter schwerlich zu leiden haben, außer, wenn die guten Leute noch beim Diner über die Sache schwätzen. Ich muß ihnen sagen, daß das Thema tabu ist. Und Vorzeichen?... So etwas gibt es nicht. Das Schicksal schickt uns keine Herolde. Es ist zu weise oder zu grausam dazu. Übrigens, was auf der Welt sollte Ihnen geschehen, Dorian? Sie haben alles, was ein Mann wünschen kann. Es gibt niemand, der nicht gern mit Ihnen tauschen würde."

"Es gibt niemand, mit dem ich nicht tauschen würde, Henry Lachen Sie nicht so. Ich spreche die Wahrheit. Der armselige Bauer, der da gerade gestorben ist, ist besser dran als ich. Ich habe keine Angst vor dem Tod. Vor dem Sterben ängstige ich mich. Die ungeheuerlichen Flügel des Todes scheinen rings um mich her in der bleiernen Luft zu schweben. Herr im Himmel, sehen Sie denn nicht, daß dort hinter dem Baum ein Mann auf mich lauert, mich beobachtet?

Lord Henry sah in die Richtung, in die die zitternde Hand wies. "Ja", sagte er lächelnd. "Ich sehe, daß der Gärtner auf Sie wartet. Er will Sie wohl fragen, welche Blumen Sie heute für die Tafel wünschen. Wie lächerlich nervös Sie sind, mein Lieber! Sie müssen zu meinem Arzt gehen, wenn wir wieder in London sind."

Dorian seufzte erleichtert auf, als er den Gärtner näherkommen sah. Der Mann zog den Hut, blickte zuerst zögernd auf Lord Henry und holte dann einen Brief heraus, den er seinem Herrn übergab. "Ihre Gnaden hat mir aufgetragen, auf Antwort zu warten", flüsterte er.

Dorian steckte den Brief in die Tasche. "Sagen Sie Ihrer Gnaden, daß ich selbst komme!" sagte er kühl. Der Mann drehte sich um und ging rasch dem Hause zu.

"Wie gerne die Frauen gefährliche Dinge tun!" sagte Lord Henry lachend. "Es ist eine ihrer Eigenschaften, die ich am meisten bewundere. Jede Frau ist bereit, mit jedem Menschen auf der Welt zu flirten, solange andere Leute zuschauen."

"Wie gerne Sie gefährliche Dinge sagen, Henry! In diesem Falle aber sind Sie auf dem Holzwege. Ich habe die Herzogin sehr gern, aber ich liebe sie nicht."

"Die Herzogin liebt Sie sehr, aber Sie haben sie weniger gern. Sie beide passen also ausgezeichnet zusammen."

"Was Sie da sagen, ist Klatsch, Henry, und man hat eigentlich nie eine Grundlage für Klatsch."

"Die Grundlage für jeden Klatsch ist die Verläßlichkeit der Unmoral", sagte Lord Henry und zündete sich eine Zigarette an.

"Sie würden jeden von uns opfern, Henry, um ein Epigramm zu machen."

"Die Welt legt sich freiwillig auf den Opferaltar", war die Antwort.

"Ich wollte, ich könnte lieben!" rief Dorian, einen tiefen, pathetischen Ton in der Stimme. "Aber es scheint, ich habe die Kraft zur Leidenschaft verloren und vergessen, wie man begehrt. Ich habe mich zu sehr auf mich selbst konzentriert. Meine eigene Persönlichkeit ist eine Last für mich geworden. Ich möchte fliehen, weggehen, vergessen. Es war albern, daß ich überhaupt hierhergekommen bin. Ich glaube, ich werde nach Harvey telegraphieren, man soll die Yacht instandsetzen. Auf einer Yacht ist man sicher."

"Wovor sicher, Dorian? Sie haben Sorgen. Warum sagen Sie mir nicht, was es ist? Sie wissen, daß ich Ihnen helfen möchte."

"Ich kann es nicht sagen", antwortete er traurig. "Ich vermute, es ist alles nur Einbildung. Der Unglücksfall hat mich aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich habe die schreckliche Ahnung, daß mir etwas Ähnliches zustoßen wird.

"Was für ein Unsinn!"

"Ich hoffe, es ist Unsinn, aber ich habe nun einmal das Gefühl. Ach, da kommt die Herzogin und sieht aus wie Artemis in einem Tailor-made-Kostüm. Sie sehen, wir sind zurück, Herzogin."

"Ich habe schon alles gehört, Mr. Gray", antwortete sie. Der arme Geoffrey ist fürchterlich aufgeregt. Wie seltsam, daß Sie ihn gebeten haben, den Hasen nicht zu schießen!"

"Ja, es war sehr merkwürdig. Ich kann nicht einmal sagen, was mich zu der Bitte veranlaßt hat! Irgend eine Laune, vermute ich. Es sah so entzückend aus, das kleine Wesen. Aber es tut mir leid, daß man Ihnen von dem Manne erzählt hat. Es ist ein peinliches Thema."

"Es ist ein langweiliges Thema", unterbrach Lord Henry. "Es hat keinerlei psychologischen Wert. Wenn noch Geoffrey die Sache absichtlich getan hätte, dann wäre er interessant. Ich würde gern jemand kennenlernen, der einen wirklichen Mord begangen hat."

"Wie schrecklich von Ihnen", antwortete die Herzogin. "Nicht wahr, Mr. Gray? Henry, Mr. Gray ist krank. Er wird ohnmächtig."

Dorian hielt sich mit aller Kraft aufrecht und lächelte. "Es ist nichts, Herzogin!" sagte er. "Meine Nerven sind sehr in Unordnung, das ist alles. Ich fürchte, ich bin heute morgen zu viel gegangen. Ich habe nicht gehört, was Henry gesagt hat. War es sehr arg? Sie müssen mir es ein anderesmal erzählen. Ich muß Sie jetzt verlassen und mich hinlegen. Sie entschuldigen mich, nicht wahr?"

Sie waren an die große Treppe gekommen, deren Stufen aus dem Wintergarten auf die Terrasse führten. Als die Tür hinter Dorian geschlossen war, drehte sich Lord Henry um und sah die Herzogin mit seinen müden Augen an. "Lieben Sie ihn sehr?" fragte er.

Sie gab eine Weile keine Antwort, sondern stand, die Landschaft betrachtend, da. "Ich möchte es selber wissen", sagte sie schließlich.

Er schüttelte den Kopf. "Wissen wäre ein Unglück. Nur die Ungewißheit hat Reiz. Der Nebel macht die Dinge wunderbar."

"Man kann aber in ihm den Weg verlieren."

"Alle Wege führen schließlich auf denselben Punkt, meine liebe Gladys."

"Wie heißt der?"

"Enttäuschung."

"Sie war mein Debüt im Leben", seufzte sie.

"Sie kam mit einer Krone zu Ihnen."

"Ich bin der Herzogskrone überdrüssig."

"Sie steht Ihnen gut."

"Nur in der Öffentlichkeit."

"Sie würde Ihnen fehlen", sagte Lord Henry.

"Ich werde mich ja von keiner Zinke trennen."

"Monmouth hat Ohren."

"Alter ist schwerhörig."

"War er nie eifersüchtig?"

"Ich wollte, er wäre es gewesen."

Er blickte sich um, als suche er etwas.

"Was suchen Sie?" fragte sie.

"Den Knopf Ihres Floretts", antwortete Er. "Sie haben ihn fallenlassen."

Sie lächelte.

"Ich habe noch die Maske."

"Sie macht allerdings Ihre Augen noch schöner", war die Antwort.

Sie lachte wieder. Ihre Zähne sahen aus wie weiße Kerne in einer scharlachroten Frucht.

Oben in seinem Zimmer lag Dorian Gray auf einem Sofa, Schrecken in jeder Fiber seines zuckenden Körpers. Das Leben war plötzlich für ihn eine so schwere Last geworden, daß er sie nicht mehr tragen konnte. Der gräßliche Tod des unglücklichen Treibers, der in dem Dickicht wie ein wildes Tier erschossen worden war, schien ihm selbst den Tod vorauszusagen. Er war fast ohnmächtig geworden bei dem zynischen Scherz, den Lord Henry rein zufällig gemacht hatte.

Um fünf Uhr klingelte er seinem Diener und gab ihm den Auftrag, die Koffer für den Nachtschnellzug nach London zu packen und den Wagen auf halb neun zu bestellen. Er war entschlossen, nicht noch eine Nacht in Selby Royal zu schlafen. Es war ein Ort der bösen Vorzeichen. Der Tod ging dort am hellen Tage um. Das Gras des Waldes war mit Blut bedeckt.

Dann schrieb er ein paar Zeilen an Lord Henry, teilte ihm mit, daß er in die Stadt fahre, um seinen Arzt zu konsultieren und bat ihn, seine Gäste während seiner Abwesenheit zu unterhalten. Als er gerade den Brief in ein Kuvert steckte, klopfte es an die Tür und der Diener teilte ihm mit, daß der Obertreiber ihn sprechen wolle. Dorian runzelte die Stirn und biß sich auf die Lippen. "Lassen Sie ihn herein", murmelte er nach einigem Zögern.

Als der Mann eingetreten war, nahm Dorian sein Scheckbuch aus einer Lade und legte es vor sich hin.

"Ich vermute, Sie kommen wegen des Unglücksfalles von heute morgen, Thornton", sagte er und nahm eine Feder.

"Ja, Herr", antwortete der Waldhüter.

"War der arme Kerl verheiratet? Hatte er für Angehörige zu sorgen?" fragte Dorian mit einem gelangweilten Gesicht. "Wenn ja, möchte ich nicht, daß sie in Not geraten und will ihnen jede Summe geben, die Sie für notwendig halten."

"Wir wissen nicht, wer es ist, gnädiger Herr. Deshalb habe ich mir die Freiheit genommen, herzukommen."

"Sie wissen nicht, wer es ist?" sagte Dorian gleichgültig. "Wie meinen Sie das? War es nicht einer von Ihren Leuten?"

"Nein, Herr, ich habe ihn nie früher gesehen. Er sieht aus wie ein Matrose."

Die Feder fiel aus Dorian Grays Hand und er hatte das Gefühl, als höre sein Herz plötzlich zu schlagen auf. "Ein Matrose?!" schrie er auf. "Sagten Sie, ein Matrose?"

"Ja, gnädiger Herr. Er sieht aus wie ein Matrose, die beiden Arme tätowiert und überhaupt die ganze Art..."

"Hat man irgend etwas bei ihm gefunden?" fragte Dorian, beugte sich vor und sah den Mann mit erstaunten Augen an. "Irgend etwas, das seinen Namen verrät?"

"Nur Geld, gnädiger Herr, nicht viel, und einen sechsläufigen Revolver. Keinerlei Namen. Der Mann sieht sonst anständig aus, aber etwas roh. Wir halten ihn für einen Matrosen."

Dorian sprang auf die Füße. Eine furchtbare Hoffnung durchzuckte ihn. Er klammerte sich wie wahnsinnig an sie. "Wo ist der Leichnam? Rasch, ich muß ihn sofort sehen."

"Er liegt in einem leeren Stall, drüben bei den Wirtschaftsgebäuden, gnädiger Herr. Die Leute wollen so etwas nicht in ihren Häusern haben. Sie sagen, ein Leichnam bringt Unglück."

"Gehen Sie sofort hin und warten Sie dort auf mich. Sagen Sie einem der Stallknechte, er solle mein Pferd herbringen. Nein, lassen Sie das, ich werde selbst in den Stall gehen, es geht schneller so!"

Kaum eine Viertelstunde später galoppierte Dorian die lange Allee, so rasch er konnte, hinunter. Die Bäume schienen an ihm in gespenstischem Zuge vorbeizufliegen und wilde Schatten über den Weg zu werfen. Einmal scheute die Stute vor einem weißen Pflock und warf ihn fast ab. Er peitschte sie mit der Gerte auf den Hals. Sie durchschnitt die dunkle Luft wie ein Pfeil. Die Steine stoben unter ihren Hufen.

Schließlich erreichte er den Hof, auf dem zwei Männer warteten. Er sprang aus dem Sattel und warf einem von ihnen die Zügel zu. In dem fernsten Stall schimmerte ein Licht. Irgend etwas schien ihm zu sagen, daß der Leichnam dort liege und er ging rasch auf die Tür zu und legte die Hand aufs Schloß.

Dann zögerte er einen Augenblick, da er fühlte, daß er vor einer Entdeckung stand, die ihm entweder das Leben neu geben oder es zerstören würde. Schließlich stieß er die Tür auf und trat ein.

Auf einem Haufen von Säcken im entferntesten Winkel lag der tote Körper eines Mannes, bekleidet mit einem rauhen Hemd und blauen Hosen. Ein geblümtes Taschentuch war über sein Gesicht gebreitet. Eine elende Kerze, in eine Flasche gesteckt, flackerte daneben.

Dorian Gray schauerte zusammen. Er fühlte, daß er mit eigener Hand dieses Taschentuch nicht wegziehen könne und rief nach einem der Leute.

"Nehmen Sie das Ding vom Gesicht weg, ich will es sehen", sagte er und mußte sich dabei an dem Türpfosten festhalten. Als es der Knecht getan hatte, machte Dorian einen Schritt nach vorn. Ein Freudenschrei kam von seinen Lippen, Der Mann, der im Dickicht erschossen worden war, war James Vane.

Er stand einige Minuten da und sah auf den Leichnam nieder. Als er nach Hause ritt, waren seine Augen voll Tränen, denn er wußte jetzt, daß er sicher war.

 

 

Neunzehntes Kapitel

"Es hat gar keinen Sinn, mir zu sagen, daß Sie jetzt gut werden wollen!" rief Lord Henry und tauchte seine weißen Finger in eine rote, mit Rosenwasser gefüllte Kupferschale. "Sie sind vollkommen, wie Sie sind. Bitte, ändern Sie sich nicht."

Dorian Gray schüttelte den Kopf. "Nein, Henry, ich habe zu viele gräßliche Dinge in meinem Leben getan. Ich will keine mehr tun. Ich habe gestern mit den guten Taten begonnen."

"Wo waren Sie denn gestern?"

"Auf dem Lande, Henry. Ich wohne jetzt ganz allein in einem kleinen Gasthof."

"Mein lieber Freund", sagte Lord Henry lächelnd, "auf dem Lande kann jeder Mensch gut sein. Es gibt dort keine Versuchungen. Das ist auch der Grund, warum Leute, die nicht in der Stadt wohnen, so vollständig unzivilisiert sind. Zivilisation ist wahrhaftig nicht leicht zu erlangen. Es gibt nur zwei Wege zu ihr. Der eine ist Bildung, der andere Verderbtheit. Die Leute auf dem Lande haben zu beiden keine Gelegenheit, deshalb kommen sie nicht vorwärts."

"Bildung und Verderbtheit?" wiederholte Dorian. "Ich habe beide kennengelernt. Es scheint mir jetzt schrecklich, daß sie je zusammen gefunden werden, denn ich habe ein neues Ideal, Henry. Ich will mich ändern. Ich glaube, ich habe mich schon geändert."

"Sie haben mir noch nicht gesagt, was Ihre gute Handlung war. Oder sagten Sie, daß Sie mehr als eine getan haben?" fragte der Freund, während er eine kleine rote Pyramide Erdbeeren mit großen Samenkörnern auf seinen Teller schüttete und durch einen muschelförmigen Sieblöffel weißen Zucker darüberstreute.

"Das kann ich Ihnen sagen, Henry. Es ist eine Geschichte, die ich keinem anderen erzählen würde. Ich habe jemanden geschont. Das klingt sehr eitel, aber Sie verstehen, was ich meine. Sie war sehr schön und Sibyl Vane seltsam ähnlich. Ich glaube, das war der erste Reiz, den sie auf mich ausübte. Sie erinnern sich doch noch an Sibyl? Wie lang das her ist! Also Hetty gehört natürlich nicht unserem Stand an. Sie ist nur eine Dorfschöne. Aber ich habe sie wirklich geliebt. Ich weiß es bestimmt, daß ich sie geliebt ,habe. Den ganzen wunderbaren Mai, den wir jetzt gehabt haben, hindurch habe ich sie zwei oder dreimal in der Woche besucht. Gestern erwartete sie mich in einem kleinen Obstgarten. Die Apfelblüten fielen immer wieder auf ihr Haar herab und sie lachte. Wir wollten heute früh in der Dämmerung zusammen fortgehen. Plötzlich entschloß ich mich, sie so blumengleich unberührt zu verlassen, wie ich sie gefunden hatte."

Ich vermute, die Neuheit der Empfindung muß Ihnen ein ganz außerordentliches Lustgefühl verschafft haben, Dorian", unterbrach Lord Henry. "Aber ich kann Ihre Idylle für Sie zu Ende erzählen. Sie gaben ihr gute Lehren und brachen ihr das Herz. Das war der Anfang zu Ihrer Besserung."

"Henry, Sie sind schrecklich. Sie dürfen so furchtbare Dinge nicht sagen. Hettys Herz ist nicht gebrochen. Natürlich weinte sie und so weiter, aber keine Schande liegt auf ihr. Sie kann weiter leben wie Perdita in ihrem Garten, wo Pfefferminzkraut und Ringelblumen blühen."

"Und einem treulosen Florizel nachweinen", rief Lord Henry lachend und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. "Mein lieber Dorian, Sie haben die sonderbarsten Knabenlaunen. Glauben Sie, dieses Mädchen wird jemals mit einem Manne ihres eigenen Standes zufrieden sein? Vermutlich wird sie sich eines schönen Tages mit einem rohen Fuhrmann oder einem grinsenden Bauernlümmel verheiraten, aber die Tatsache, daß sie Sie gekannt und geliebt hat, wird sie lehren, ihren Gatten zu verachten und sie wird unglücklich sein. Wenn ich die Sache vom moralischen Standpunkt aus betrachte, kann ich also nicht finden, daß Ihre Entsagung sehr wertvoll war. Selbst als Anfang steckt nichts dahinter. Außerdem, woher wissen Sie, daß Hetty nicht in diesem Augenblick auf einem sternbeglänzten Mühlteich treibt, von lieblichen Wasserlilien umkränzt wie Ophelia?"

"Ich kann das nicht aushalten, Henry. Erst spotten Sie über alles und dann deuten Sie die ernsthaftesten Tragödien an. Es tut mir jetzt leid, daß ich Ihnen davon erzählt habe. Es ist mir auch gleich, was Sie sagen. Ich weiß, ich habe recht gehandelt. Die arme Hetty! Als ich heute früh an der Farm vorüberritt, sah ich ihr Gesicht am Fenster, weiß wie einen Jasminzweig. Wir wollen nicht weiter darüber sprechen und Sie sollen nicht versuchen, mir einzureden, daß die erste gute Handlung, die ich seit Jahren getan habe, das erste kleine Opfer, das ich gebracht habe, in Wirklichkeit eine Art Sünde ist. Ich will mich jetzt bessern. Und ich werde mich bessern. Erzählen Sie mir etwas von Ihnen. Was geht in der Stadt vor? Ich war seit Tagen nicht im Klub."

"Die Leute sprechen noch über das Verschwinden des armen Basil."

"Man sollte denken, sie wären dessen allmählich müde geworden", sagte Dorian, während er sich etwas Wein einschenkte, mit leichtem Stirnrunzeln.

"Mein lieber Freund, sie reden erst seit sechs Wochen davon. Das englische Publikum ist wirklich der geistigen Anstrengung, mehr als ein Gesprächsthema alle drei Monate zu haben, nicht gewachsen. Immerhin, es hat in der letzten Zeit Glück gehabt. Es hat meine eigene Scheidung und Alan Campbells Selbstmord erlebt. Jetzt hat es ‘das geheimnisvolle Verschwinden eines Künstlers’. In Scotland Yard behauptet man steif und fest, daß der Mann mit dem grauen Ulster, der mit dem Mitternachtszug am neunten November nach Paris fuhr, der arme Basil war, und die französische Polizei erklärt, daß Basil nie in Paris angekommen sei. Ich vermute, man wird uns etwa in vierzehn Tagen erzählen, daß er in San Franzisko gesehen worden ist. Es ist sonderbar, aber von jedem Menschen, der verschwindet, sagt man uns, daß er in San Franzisko gesehen worden ist. Das muß also eine entzückende Stadt sein, die alle Reize des Jenseits besitzt."

"Was glauben Sie, ist mit Basil geschehen?" fragte Dorian, hielt seinen Burgunder gegen das Licht und wunderte sich, daß er über die Sache so ruhig sprechen konnte.

"Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Wenn Basil es für gut hält, sich zu verbergen, so ist das nicht meine Sache.

"Wenn er tot ist, so will ich nicht mehr an ihn denken. Der Tod ist das einzige, was mich in Schrecken versetzt. Ich hasse ihn."

"Warum?" fragte der Jüngere müde.

Lord Henry führte die vergoldete, gitterförmige Öffnung eines Riechbüchschens an die Nase und sagte dann: "Ja, weil man heutzutage alles überleben kann, nur nicht den Tod. Der Tod und die Gewöhnlichkeit sind die beiden einzigen Tatsachen des neunzehnten Jahrhunderts, die man nicht wegerklären kann. Wir wollen den Kaffee im Musikzimmer trinken. Dorian, Sie müssen mir Chopin vorspielen. Der Mann, mit dem meine Frau durchgegangen ist, spielte wunderbar Chopin. Die arme Viktoria! Ich habe sie sehr gern gehabt. Das Haus ist ohne sie recht einsam. Natürlich, das Eheleben ist nur eine Gewohnheit, eine schlechte Gewohnheit. Aber man bedauert den Verlust selbst der schlechtesten Gewohnheiten. Vielleicht bedauert man die am meisten. Sie sind ein so wesentlicher Teil unserer Persönlichkeit."

Dorian sagte nichts, sondern stand vom Tisch auf, ging in das Nebenzimmer, setzte sich ans Klavier und ließ seine Finger über das weiße und schwarze Elfenbein der Tasten gleiten. Als der Kaffee gebracht worden war, hörte er auf zu spielen, sah zu Lord Henry hinüber und sagte:

"Henry, ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, daß Basil ermordet worden ist?"

Lord Henry gähnte. "Basil war sehr beliebt und trug immer eine billige amerikanische Uhr, warum hätte man ihn also ermorden sollen? Er war nicht klug genug, um Feinde zu haben. Gewiß, er hatte ein wunderbares Genie als Maler. Aber ein Mensch kann malen wie Velasquez und doch unerhört geistlos sein. Basil war wirklich ziemlich dumm. Er hat mich nur ein einziges Mal interessiert und das war, als er mir vor vielen Jahren einmal erzählte, daß er eine so ungestüme Leidenschaft für Sie habe und daß Sie das Leitmotiv seiner Kunst seien."

"Ich habe Basil auch sehr gern gehabt", sagte Dorian mit traurigem Klang in der Stimme. "Aber sagen denn die Leute nicht, daß er ermordet worden ist?"

"Ja, in einigen Zeitungen steht es. Es scheint mir aber durchaus nicht wahrscheinlich. Ich weiß, daß es fürchterliche Orte in Paris gibt, aber Basil war nicht der Mensch, dorthin zu gehen. Er war nicht neugierig. Das war sein Hauptfehler."

"Was würden Sie sagen, Henry, wenn ich Ihnen gestände, daß ich Basil ermordet habe?" fragte der Jüngere. Nachdem er das ausgesprochen hatte, beobachtete er ihn scharf.

"Mein lieber Freund, ich würde sagen, Sie nehmen eine Pose an, die nicht zu Ihnen paßt. Jedes Verbrechen ist ordinär, so wie alles Ordinäre ein Verbrechen ist. Die Fähigkeit, einen Mord zu begehen, liegt nicht in Ihnen, Dorian. Es sollte mir leid tun, wenn ich Ihre Eitelkeit durch dieses Urteil verletzte, aber ich versichere Ihnen, es ist wahr. Das Verbrechen ist ein ausschließliches Vorrecht der niederen Stände. Ich will damit durchaus keinen Tadel aussprechen. Ich vermute, daß das Verbrechen für sie ist, was die Kunst für uns, einfach eine Methode, sich außergewöhnliche Empfindungen zu verschaffen."

"Eine Methode, sich Empfindungen zu verschaffen? Glauben Sie etwa, daß ein Mensch, der einmal einen Mord begangen hat, imstande wäre, dasselbe Verbrechen zu wiederholen? Das wollen Sie mir doch nicht einreden?!"

"Alles wird zu einem Vergnügen, wenn man es öfters tut!" rief Lord Henry lachend. "Das ist auch eines der wichtigsten Geheimnisse des Lebens. Dennoch bin ich der Meinung, daß der Mord immer ein Fehler ist. Man sollte nie etwas tun, worüber man nicht nach dem Essen reden kann. Aber wir wollen jetzt den armen Basil sein lassen. Es wäre mir angenehm, wenn ich glauben könnte, daß er ein so romantisches Ende genommen hat, wie Sie durchblicken lassen; aber ich kann es nicht. Ich vermute, er ist auf einer Seinebrücke vom Omnibus ins Wasser gefallen und der Kondukteur hat die ganze skandalöse Geschichte vertuscht. Ja, ich glaube wirklich, daß das sein Ende war. Ich sehe ihn jetzt auf dem Rücken liegen in dem trüben, grünen Wasser und die schweren Barken fahren über ihn hin und lange Tangfäden verwickeln sich in sein Haar. Übrigens glaube ich nicht, daß er noch viel Gutes geschaffen hätte. In den letzten zehn Jahren ist seine Malerei recht mäßig geworden."

Dorian seufzte, Lord Henry ging im Zimmer auf und ab und begann dann einem ,merkwürdigen Papageien aus Java, einem großen, graugefiederten Vogel mit rotem Schopf und Schwanz, der sich auf einer Bambusstange schaukelte, den Kopf zu streicheln. Als seine spitzen Finger ihn berührten, ließ er die weiße Haut seiner runzligen Lider über die schwarzen, verglasten Augen fallen und begann hin- und herzuschwingen.

"Ja", fuhr er fort, während er sich umdrehte und sein Taschentuch aus der Tasche nahm. "Seine Malerei war ganz heruntergekommen. Ich hatte den Eindruck, als ob sie etwas eingebüßt hätte. Sie hat ihr Ideal verloren. Als ihr beide aufhörtet, intime Freunde zu sein, hörte er auf, ein großer Künstler zu sein. Was hat Sie eigentlich auseinander gebracht? Ich vermute, er langweilte Sie. Wenn das der Fall war, dann hat er es Ihnen nie verziehen. Das ist eine Gewohnheit langweiliger Menschen. Was ist übrigens aus dem wunderbaren Porträt geworden, das er von Ihnen gemalt hat? Ich kann mich nicht erinnern, es je wiedergesehen zu haben, seit er es beendet hat. Ja, ich erinnere mich jetzt, Sie haben mir vor Jahren erzählt, Sie hätten es nach Selby geschickt und es sei unterwegs gestohlen oder verloren worden. Haben Sie es nie wiederbekommen? Wie schade! Es war tatsächlich ein Meisterwerk. Ich erinnere mich, daß ich es kaufen wollte. Ich wünschte, ich hätte es getan. Es gehörte in Basils beste Zeit. Seitdem waren alle seine Arbeiten jene merkwürdige Mischung von schlechter Malerei und guten Absichten, die einen Mann berechtigt, ein repräsentativer britischer Künstler genannt zu werden. Haben Sie eigentlich deswegen annonciert? Sie hätten das tun sollen"

"Ich kann mich nicht mehr erinnern", antwortete Dorian. "Ich glaube, ich habe es getan. Aber, um die Wahrheit zu sagen, ich habe das Bild nie gemocht. Es tut mir leid, daß ich ihm gesessen bin. Schon die bloße Erinnerung daran ist mir verhaßt. Warum sprechen Sie davon? Es hat mich immer an ein paar merkwürdige Zeilen aus einem Theaterstück erinnert - aus Hamlet, glaube ich. Wie heißen sie doch gleich?

,Gleich dem Bilde eines Leides,

ein Antlitz ohne Herz.' - -

Ja, so war es."

Lord Henry lachte. "Wenn ein Mann das Leben künstlerisch behandelt, dann ist sein Hirn das Herz", antwortete er und ließ sich in einen Sessel fallen.

Dorian Gray schüttelte den Kopf und schlug ein paar zarte Akkorde auf dem Klavier an. "Gleich dem Bilde eines Leides; ein Antlitz ohne Herz", wiederholte er.

Der ältere Freund saß zurückgelehnt und sah ihn mit halbgeschlossenen Augen an. "Übrigens, Dorian", sagte er nach einer Weile. "Was nützte es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne und - wie heißt die Stelle doch? - nähme Schaden an seiner Seele?"

Die Musik brach jäh ab. Dorian fuhr auf und starrte seinen Freund an. "Warum fragen Sie mich das, Henry?"

"Mein lieber Freund", sagte Lord Henry und zog verwundert die Augenbrauen in die Höhe. "Ich habe Sie gefragt, weil ich dachte, Sie könnten mir eine Antwort geben. Das ist alles. Ich ging letzten Sonntag durch den Park und nahe bei dem Marble Arch stand eine kleine Gruppe schäbig aussehender Menschen, die irgendeinem ordinären Straßenprediger lauschten. Als ich vorüberging, hörte ich, wie der Mann seinen Zuhörern diese Frage entgegenschrie. Die Sache berührte mich geradezu dramatisch. London ist sehr reich an sonderbaren Wirkungen dieser Art. Ein nebelfeuchter Sonntag, ein ungeschlachter Christ in einem Regenmantel, ein Kreis von kränklich-blassen Gesichtern unter zerrissenen, tropfenden Regenschirmen und der wundervolle Satz, von schrillen, hysterischen Lippen in die Luft geschmettert, das war in seiner Art wirklich sehr gut, geradezu eine Offenbarung. Ich dachte einen Augenblick daran, dem Propheten zu sagen, daß die Kunst eine Seele habe, aber nicht der Mensch; doch er hätte mich wohl nicht verstanden."

"Nein, Henry. Die Seele ist eine furchtbare Wirklichkeit. Sie kann gekauft und verkauft und umgetauscht werden. Sie kann vergiftet werden oder vervollkommnet. In jedem von uns lebt eine Seele. Ich weiß es."

"Sind Sie dessen ganz sicher, Dorian?"

"Ganz sicher."

"Dann ,muß es eine Einbildung sein. Die Dinge, von deren Wahrheit man ganz fest überzeugt ist, sind nie wahr. Das ist das Schicksal des Glaubens und die Weisheit der Romantik. Wie ernst Sie sind! Seien Sie nicht so ernsthaft. Was haben Sie oder ich mit dem Aberglauben unserer Zeit zu tun? Nein, wir haben den Glauben an die Seele aufgegeben... Spielen Sie mir etwas vor. Spielen Sie ein Notturno, Dorian, und während Sie spielen, erzählen Sie mir mit ganz leiser Stimme, wie Sie sich Ihre Jugend erhalten haben. Sie müssen irgendein Geheimnis besitzen. Ich bin nur zehn Jahre älter als Sie und ich bin runzlig, welk und gelb. Sie sind wirklich ein Wunder, Dorian. Sie haben nie entzückender ausgesehen als heute abend. Sie erinnern mich an den Tag, an dem ich Sie zum erstenmal gesehen habe. Sie waren damals etwas frech, sehr scheu und ganz außergewöhnlich. Seitdem haben Sie sich natürlich verändert, aber nicht im Aussehen. Ich wünschte, Sie würden mir Ihr Geheimnis verraten. Meine Jugend zurückzubekommen, würde ich alles auf der Welt tun, außer mir Bewegung machen, früh aufstehen oder ein ehrsames Leben führen. Jugend, nichts kommt ihr gleich! Es ist absurd, von der Unwissenheit der Jugend zu reden. Die einzigen Leute, deren Meinung ich jetzt mit einigem Respekt anhöre, sind die, die viel jünger sind als ich selbst. Die scheinen mir weit voraus zu sein. Das Leben hat ihnen seine letzten Wunder enthüllt. Den Alten widerspreche ich immer. Ich tue es aus Prinzip. Wenn Sie einen von ihnen um seine Meinung über etwas, das gestern geschehen ist, fragen, dann gibt er ihnen feierlich Aufschluß über die Meinungen, die im Jahre 1820 umliefen, als die Leute hohe Halsbinden trugen, an alles glaubten und absolut nichts wußten. Wie hübsch das ist, was Sie spielen! Ich möchte wissen, ob es Chopin in Majarka geschrieben hat, während das Meer die Villa umklagte und der Gischt klatschend gegen die Fensterscheiben sprühte. Es ist prachtvoll romantisch. Was ist es für ein Segen, daß es eine einzige Kunst wenigstens gibt, die nicht Nachahmung ist! Hören Sie nicht auf. Ich brauche heute abend Musik. Ich bilde mir ein, daß Sie der junge Apollo sind und ich Marsyas, der Ihnen zuhört. Dorian, ich habe auch meine Sorgen, von denen nicht einmal Sie etwas wissen. Die Tragödie des Alters ist nicht, daß wir alt sind, sondern daß wir jung sind. Ich bin jetzt manchmal ganz erschrocken, wie aufrichtig ich sein kann. Ach, Dorian, wie glücklich Sie sind! Was für ein erlesenes Leben haben Sie gelebt! Sie haben tief aus allen Quellen getrunken! Sie haben die Trauben an Ihrem Gaumen zerdrückt. Nichts ist Ihnen verschlossen geblieben. Und all das ist Ihnen nicht mehr gewesen als der Klang der Musik. Es hat Sie nicht zerstört. Sie sind heute noch derselbe."

"Ich bin nicht derselbe, Henry."

"Ja, Sie sind derselbe. Ich frage mich, wie Ihr Leben weiter gehen wird. Verderben Sie es nicht, indem Sie entsagen. Jetzt sind Sie ein vollkommener Typus. Machen Sie sich nicht selbst unvollkommen. Sie sind jetzt ganz fehlerlos. Sie brauchen den Kopf nicht zu schütteln. Sie wissen es selbst. Und dann, Dorian, betrügen Sie sich nicht selbst. Das Leben wird nicht vom Willen oder von Motiven beherrscht. Das Leben ist eine Angelegenheit der Nerven und Muskeln und der langsam herangebildeten Zellen, in denen sich die Gedanken verbergen und die Leidenschaft ihre Träume träumt. Sie mögen sich noch so sehr einbilden, sicher zu sein und sich für stark halten. Ein zufälliger Farbenton in einem Zimmer oder am Morgenhimmel, ein sonderbarer Geruch, den Sie einmal geliebt haben und der versteckte Erinnerungen weckt, eine Zeile aus einem vergessenen Gedicht, auf die Sie plötzlich stoßen, ein paar Töne aus einem Musikstück, das Sie längst nicht mehr spielen, glauben Sie mir, Dorian, von solchen Dingen hängt unser Leben ab. Browning hat einmal darüber geschrieben, aber unsere eigenen Empfindungen lehren es uns sehen. Es gibt Augenblicke, da durchzuckt mich der Geruch von weißem Flieder und ich muß den sonderbarsten Monat meines Lebens wieder durchleben. Ich wollte, ich könnte mit Ihnen tauschen, Dorian. Die Welt hat gegen uns beide gewettert, aber sie hat Sie immer angebetet. Sie wird Sie immer vergöttern. Sie sind der Typus dessen, was unsere Zeit sucht und was sie fürchtet, gefunden zu haben. Ich freue mich sehr, daß Sie nie etwas getan haben, nie eine Statue gemeißelt oder ein Bild gemalt oder irgend etwas aus sich heraus produziert haben. Das Leben war Ihre Kunst. Sie haben sich selbst in Musik gesetzt. Ihre Tage sind Ihre Sonette."

Dorian stand vom Klavier auf und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. "Ja, das Leben ist köstlich gewesen", sagte er leise. "Aber ich werde dieses Leben nicht mehr führen. Und Sie sollen mir nicht mehr solche überspannte Dinge sagen. Sie wissen nicht alles von mir. Ich glaube, wenn Sie alles wüßten, würden selbst Sie von mir gehen. Sie lachen... Lachen Sie nicht!"

"Warum haben Sie aufgehört zu spielen, Dorian? Gehen Sie wieder ans Klavier und spielen Sie mir noch einmal das Notturno. Betrachten Sie den großen, honigfarbenen Mond, der jetzt in der dunklen Luft schwebt. Er wartet, daß Sie ihn bezaubern und wenn Sie spielen, wird er sich der Erde nähern. Sie mögen nicht? Dann wollen wir in den Klub gehen. Es war ein reizender Abend und wir müssen ihn schön beenden. Bei White wartet jemand, der Sie durchaus kennenzulernen wünscht: Der junge Lord Pool, der älteste Sohn von Bournemouth. Er kopiert schon Ihre Krawatten und hat mich angefleht, ihn Ihnen vorzustellen. Er ist ganz entzückend und erinnert mich sogar ein wenig an Sie."

"Hoffentlich nicht", sagte Dorian mit einem traurigen Blick in den Augen. "Aber ich bin heute abend müde, Henry. Ich gehe nicht mehr in den Klub. Es ist fast elf und ich will früh zu Bett."

"Bleiben Sie. Sie haben nie so schön gespielt wie heute abend. In Ihrem Anschlag lag etwas Wunderbares. Mehr Ausdruck, als ich je von Ihnen gehört habe."

"Das ist, weil ich gut werden will", antwortete er Lächelnd. "Ich bin schon etwas verändert."

"Für mich können Sie sich nie ändern, Dorian", sagte Lord Henry. "Wir beide werden immer Freunde sein."

"Und doch haben Sie mich einmal mit einem Buche vergiftet. Ich sollte Ihnen das nicht vergeben. Henry, versprechen Sie mir, daß Sie nie mehr dieses Buch jemand leihen werden. Es stiftet Unheil."

"Mein lieber Junge, jetzt fangen Sie wirklich an, Moralpredigten zu halten. Bald werden Sie herumgehen wie ein Bekehrter, ein Wanderprediger, und die Menschen vor all den Sünden warnen, deren Sie müde geworden sind. Aber dazu sind Sie viel zu entzückend. Und außerdem hat es keinen Zweck. Sie und ich, wir sind, was wir sind und werden immer sein, was wir sein werden. Und vergiftet werden durch ein Buch, das gibt es nicht. Die Kunst hat keinen Einfluß auf das Handeln, sie vernichtet das Bedürfnis, zu handeln. Sie ist auf eine herrliche Art steril. Bücher, die die Welt unmoralisch nennt, sind die Bücher, die der Welt ihre eigene Schande vorhalten. Das ist alles. Aber wir wollen nicht weiter über Literatur reden. Kommen Sie morgen zu mir! Ich will um elf ausreiten. Wir könnten zusammen reiten und ich nehme Sie dann zum Lunch zu Lady Branksome mit. Sie ist eine entzückende Frau und will Ihren Rat über ein paar Gobelins, die sie kaufen möchte. Vergessen Sie nicht, zu kommen. Oder wollen wir mit unserer kleinen Herzogin zusammen lunchen? Sie sagt, sie sieht Sie jetzt nie mehr. Sind Sie Gladys müde geworden? Ich dachte es mir. Ihre kluge Zunge geht einem auf die Nerven. Aber jedenfalls kommen Sie um elf."

"Soll ich wirklich kommen, Henry?"

"Auf jeden Fall. Der Park ist jetzt reizend. Ich glaube, solchen Flieder hat es seit dem Jahr nicht gegeben, als ich Sie kennenlernte."

"Gut. Ich werde also um elf hier sein", sagte Dorian. "Gute Nacht, Henry!"

Als er auf der Türschwelle war, zögerte er einen Augenblick, als hätte er noch etwas zu sagen. Dann seufzte er und ging fort.

 

 

Zwanzigstes Kapitel

Es war eine wunderschöne Nacht, so warm, daß er den Überrock über den Arm nahm und nicht einmal das Seidentuch um den Hals legte. Als er, eine Zigarette rauchend, nach Hause schlenderte, gingen zwei Herren im Frack an ihm vorüber. Er hörte, wie der eine dem anderen zuflüsterte: "Das ist Dorian Gray." Er erinnerte sich, wie er sich früher gefreut hatte, wenn man ihn sich zeigte, anstarrte oder über ihn sprach. Jetzt war er es müde, seinen Namen zu hören. Der halbe Reiz des Dorfes, in dem er kürzlich so häufig gewesen war, lag darin, daß niemand dort wußte, wer er war.

Als er nach Hause kam, wartete der Diener auf ihn. Er schickte ihn zu Bett, warf sich auf das Sofa in dem Bibliothekszimmer und begann über einiges von dem, was ihm Lord Henry gesagt hatte, nachzudenken.

War es wirklich wahr, daß man nie anders werden konnte? Er fühlte eine brennende Sehnsucht nach der makellosen Reinheit seiner Jugend, seiner rosenweißen Jugend, wie Lord Henry einmal gesagt hatte. Er wußte, daß er sich befleckt hatte, seinen Geist mit Verderbnis erfüllt und sein Gewissen mit Schrecken; daß er einen verderblichen Einfluß auf andere gehabt und eine schreckliche Lust bei solchem Tun verspürt hatte; daß von allen Leben, die das seine gekreuzt hatten, es die schönsten und meistversprechenden gewesen waren, die er in Schande gebracht hatte. Aber war das alles unabänderich? Gab es keine Hoffnung mehr für ihn?

Ach, in was für einem ungeheuerlichen Augenblick von Stolz und Leidenschaft hatte er gebetet, daß das Bildnis die Last seiner Tage tragen und er den ungetrübten Glanz ewiger Jugend bewahren möge. Das Gebet war an all seinem Unglück schuld. Es wäre besser für ihn gewesen, wenn jede Sünde seines Lebens ihre sichtbare und schnelle Strafe mit sich gebracht hätte. In der Strafe lag Läuterung. Nicht "Vergib uns unsere Schuld!", sondern "Züchtige uns für unsere Missetaten" sollte das Gebet des sündigen Menschen lauten!... Der merkwürdig geschnitzte Spiegel, den ihm Lord Henry vor so vielen Jahren geschenkt hatte, stand auf dem Tisch und die weißgliedrigen Liebesgötter umlachten ihn wie ehedem. Er nahm ihn, so wie er es in jener schrecklichen Nacht getan hatte, als er zum ersten Male die Wandlung auf dem Bildnis bemerkt hatte und mit unruhigen, tränenfeuchten Augen blickte er in die glatte Fläche. Einmal hatte ihm jemand, der ihn wahnsinnig geliebt hatte, in einem tollen Brief geschrieben: "Die Welt ist anders geworden, weil Du aus Elfenbein und Gold gemacht bist. Die Linien Deiner Lippen schreiben die Weltgeschichte aufs neue." Diese Sätze kamen ihm ins Gedächtnis und er wiederholte sie immer und immer wieder. Er haßte jetzt seine eigene Schönheit, warf den Spiegel auf den Boden und bohrte seinen Absatz in die silbernen Splitter. Seine Schönheit war es, die ihn zugrunde gerichtet hatte, seine Schönheit und die Jugend, um die er gefleht hatte. Wären sie nicht gewesen, sein Leben hätte fleckenlos sein können. Die Schönheit war für ihn nur eine Maske gewesen, die Jugend nur ein Hohn. Was war denn die Jugend im besten Falle? Eine grüne, unreife Zeit, eine Zeit alberner Launen und krankhafter Einfälle. Warum hatte er ihre Tracht angelegt? Die Jugend hatte ihn zugrunde gerichtet.

Es war besser, nicht an die Vergangenheit zu denken, die nichts ändern konnte. Er mußte an sich selbst und seine Zukunft denken. James Vane war in einem namenlosen Grabe auf dem Kirchhof in Selby eingescharrt. Alan Campbell hatte sich eines Nachts in seinem Laboratorium erschossen, aber das Geheimnis, das ihm aufgezwungen worden war, hatte er nicht verraten. Die Erregung über Basil Hallwards Verschwinden würde bald vorübergehen, ja, sie ging schon vorbei. Er war jetzt vollständig sicher. Es war auch nicht der Tod Basil Hallwards, der am schwersten auf seinem Gemüt lastete. Es war der lebendige Tod seiner eigenen Seele, der ihn bedrückte. Basil hatte das Bildnis gemalt, das sein Leben verdorben hatte. Er konnte ihm das nicht vergeben. Das Bild allein hatte alles getan. Basil hatte unerträgliche Dinge zu ihm gesprochen und doch hatte er sie geduldig ertragen. Der Mord war nur der Wahnsinn eines Augenblicks gewesen. Alan Campbells Selbstmord war sein eigener Entschluß gewesen. Er hatte ihn veranlaßt, ihn ging er nichts an!

Ein neues Leben! Das war es, was er brauchte. Das war es, worauf er wartete. Ja, er hatte es schon begonnen. Ein unschuldiges Wesen hatte er jedenfalls geschont. Nun wollte er nie wieder die Unschuld in Versuchung bringen.

Als er an Hetty Merton dachte, fragte er sich, ob sich das Bild in dem verschlossenen Raum oben wohl geändert habe. Es konnte sicher nicht mehr so schrecklich sein, wie es gewesen war. Vielleicht, wenn jetzt sein Leben rein würde, könnte es möglich sein, daß jedes Zeichen böser Leidenschaften aus dem gemalten Antlitz gelöscht wurde. Er wollte hinauf und nachsehen.

Er nahm die Lampe vom Tisch und schlich sich hinauf. Als er die Tür aufriegelte, huschte ein frohes Lächeln über sein seltsam junges Gesicht und verweilte einen Augenblick auf seinen Lippen. Ja, er wollte gut sein und das gräßliche Ding, das er hatte verbergen müssen, würde dann keinen Schrecken mehr für ihn haben. Ihm war, als wäre diese Last schon von ihm genommen.

Ruhig trat er ein, schloß die Tür hinter sich, wie das seine Gewohnheit war, und zog den Purpurvorhang von dem Bildnis. Ein Schrei voll Schmerz und Empörung kam von seinen Lippen. Er konnte keine Änderung sehen, außer daß in den Augen ein schlauer Ausdruck war und um den Mund die verlogenen Züge des Heuchlers. Das Ding war ekelhaft, vielleicht noch widerlicher als vorher, und der scharlachrote Tau, der die Hand bedeckte, schien heller, mehr wie frisch vergossenes Blut. Er zitterte. War es also nur Eitelkeit gewesen, die ihn veranlaßt hatte, seine einzige gute Tat zu begehen? Oder die Begierde nach einer neuen Sensation, wie Lord Henry mit seinem spöttischen Lachen angedeutet hatte? Oder der leidenschaftliche Hang, eine Rolle zu spielen, aus dem wir manchmal Dinge tun, die edler sind als wir selbst? Vielleicht all das zusammen?... Warum war der rote Fleck jetzt größer, als er gewesen war? Er schien sich wie eine fürchterliche Krankheit über die runzligen Finger ausgebreitet zu haben. Es war Blut auf den gemalten Füßen, als wäre es herabgetropft - Blut selbst auf der Hand, die das Messer nicht gehalten hatte. Sollte er bekennen? Sollte das heißen, daß er bekennen sollte? Sich selbst angeben und zum Tode geführt werden? Er lachte auf. Er fühlte, daß der Einfall ungeheuerlich sei. Und dann, selbst wenn er bekannte, wer würde ihm glauben? Nirgends war eine Spur des Ermordeten. Alles, was ihm gehörte, war zerstört. Er selbst hatte, was unten war, verbrannt. Die Welt würde einfach sagen, daß er wahnsinnig geworden sei. Sie würden ihn irgendwo einsperren, wenn er bei seiner Erzählung blieb... Und doch, es war seine Pflicht, zu bekennen, öffentlich Buße zu tun, das Urteil der Gesellschaft auf sich zu nehmen. Es gab einen Gott, der die Menschen zwang, auf Erden so gut wie im Himmel ihre Sünden zu bekennen. Nichts sonst würde ihn reinigen, ehe er seine Sünde bekannt hätte. Seine Sünde? Er zuckte die Achseln. Der Tod Basil Hallwards lastete nur wenig auf ihm. Er dachte an Hetty Merton. Dieser Spiegel seiner Seele, auf den er blickte, war ein ungerechter Spiegel. Eitelkeit? Neugier? Heuchelei? War sonst nichts in seiner Entsagung gewesen? Es war noch etwas darin gewesen. Er glaubte es wenigstens. Aber wer konnte das sagen? ... Nein, es war sonst nichts gewesen. Aus Eitelkeit hatte er sie geschont. Aus Heuchelei hatte er die Maske der Güte getragen, aus Neugier hatte er Entsagung versucht. Jetzt erkannte er es.

Aber sollte dieser Mord ihn sein ganzes Leben verfolgen? Sollte er immer die Last seiner Vergangenheit tragen müssen? Sollte er lieber bekennen? Niemals. Es gab nur einen Beweis gegen ihn: Das Bildnis selbst, das war ein Beweis. Er wollte es zerstören. Warum hatte er es so lange aufbewahrt? Früher einmal hatte es ihm ein Vergnügen bereitet, zu beobachten, wie es sich änderte, wie es alterte. In der letzten Zeit hatte er diese Lust nicht mehr gespürt. Es hatte ihm den Schlaf der Nacht gestohlen. Wenn er fort war, übermannte ihn Schrecken, daß ein anderes Auge es erblicken könnte. Es hatte Melancholie in seine Leidenschaften gegossen. Die bloße Erinnerung daran hatte ihm manchen frohen Augenblick vergällt. Es hatte die Rolle des Gewissens für ihn gespielt. Ja, es war sein Gewissen gewesen. Er wollte es zerstören.

Er sah sich um und erblickte das Messer, das Basil Hallward erstochen hatte. Oft genug hatte er es gereinigt, so daß kein Fleck mehr darauf war. Es war blank und glänzte. So wie es den Maler getötet hatte, sollte es des Malers Werk töten und alles, was es bedeutete. Es sollte die Vergangenheit töten. Wenn die erst tot war, würde er frei sein. Es sollte dieses ungeheuerliche Seelenleben töten und ohne seine gräßlichen Warnungen würde er Frieden haben. Er ergriff es und durchbohrte damit das Bildnis.

Ein Schrei ertönte und ein Fall. Der Schrei war in seinem Todesröcheln so schrecklich, daß die erschreckten Diener aufwachten und aus ihren Zimmern stürzten. Zwei Herren, die auf dem Platze unten vorübergingen, blieben stehen und sahen an dem großen Hause empor. Sie gingen weiter, bis sie einen Schutzmann trafen und kamen mit ihm zurück. Der Mann zog mehrmals die Klingel, aber es erfolgte keine Antwort. Bis auf ein Licht in einem der Giebelfenster war das Haus vollkommen dunkel. Nach einiger Zeit ging er weg, stellte sich unter einen Torweg in der Nähe und wartete.

"Wem gehört das Haus, Schutzmann?" fragte der ältere der beiden Herren.

"Mr. Dorian Gray", antwortete der Schutzmann.

Sie sahen einander an, gingen weiter und lachten. Einer von ihnen war Sir Henry Ashtons Onkel.

Drinnen in den Dienerräumen flüsterten die halbangezogenen Leute leise miteinander. Die alte Mrs. Leaf weinte und rang die Hände. Francis war bleich wie der Tod.

Nach einer Viertelstunde holte er den Kutscher und einen der Lakaien und sie schlichen hinauf. Sie klopften, aber es kam keine Antwort. Sie riefen. Alles war still. Nachdem sie schließlich vergeblich versucht hatten, die Tür zu sprengen, kletterten sie auf das Dach und ließen sich auf den Balkon herab. Die Fenster gaben leicht nach. Ihre Riegel waren alt.

Als sie eintraten, sahen sie an der Wand ein wunderbares Bildnis ihres Herrn hängen, so wie sie ihn zuletzt gesehen hatten, in all der Pracht seiner köstlichen Jugend und Schönheit. Auf dem Boden lag ein toter Mann im Frack mit einem Messer im Herzen. Er war welk, runzlig und abscheuerregend von Angesicht. Erst als sie die Ringe sahen, erkannten sie, wer es war.

 

E n d e.