Rainer Maria Rilke
Duineser Elegien

Aus dem Besitz der Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe
(1912/1922)

 

 

 

 

Die Erste Elegie

Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel

Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme

einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem

stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts

als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,

und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,

uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.

Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf

dunkelen Schluchzens. Ach, wen vermögen

wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht,

und die findigen Tiere merken es schon,

daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind

in der gedeuteten Welt. Es bleibt uns vielleicht

irgend ein Baum an dem Abhang, daß wir ihn täglich

wiedersähen; es bleibt uns die Straße von gestern

und das verzogene Treusein einer Gewohnheit,

der es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht.

O und die Nacht, die Nacht, wenn der Wind voller Weltraum

uns am Angesicht zehrt —, wem bliebe sie nicht, die ersehnte,

sanft enttäuschende, welche dem einzelnen Herzen

mühsam bevorsteht. Ist sie den Liebenden leichter?

Ach, sie verdecken sich nur miteinander ihr Los.

Weißt du’s noch nicht? Wirf aus den Armen die Leere

zu den Räumen hinzu, die wir atmen; vielleicht daß die Vögel

die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug.

 

Ja, die Frühlinge brauchten dich wohl. Es muteten manche

Sterne dir zu, daß du sie spürtest. Es hob

sich eine Woge heran im Vergangenen, oder

da du vorüberkamst am geöffneten Fenster,

gab eine Geige sich hin. Das alles war Auftrag.

Aber bewältigtest du’s? Warst du nicht immer

noch von Erwartung zerstreut, als kündigte alles

eine Geliebte dir an? (Wo willst du sie bergen,

da doch die großen fremden Gedanken bei dir

aus und ein gehn und öfters bleiben bei Nacht.)

Sehnt es dich aber, so singe die Liebenden; lange

noch nicht unsterblich genug ist ihr berühmtes Gefühl.

Jene, du neidest sie fast, Verlassenen, die du

so viel liebender fandst als die Gestillten. Beginn

immer von neuem die nie zu erreichende Preisung;

denk: es erhält sich der Held, selbst der Untergang war ihm

nur ein Vorwand, zu sein: seine letzte Geburt.

Aber die Liebenden nimmt die erschöpfte Natur

in sich zurück, als wären nicht zweimal die Kräfte,

dieses zu leisten. Hast du der Gaspara Stampa

denn genügend gedacht, daß irgend ein Mädchen,

dem der Geliebte entging, am gesteigerten Beispiel

dieser Liebenden fühlt: daß ich würde wie sie?

Sollen nicht endlich uns diese ältesten Schmerzen

fruchtbarer werden? Ist es nicht Zeit, daß wir liebend

uns vom Geliebten befrein und es bebend bestehn:

wie der Pfeil die Sehne besteht, um gesammelt im Absprung

mehr zu sein als er selbst. Denn Bleiben ist nirgends.

 

Stimmen, Stimmen. Höre, mein Herz, wie sonst nur

Heilige hörten: daß sie der riesige Ruf

aufhob vom Boden; sie aber knieten,

Unmögliche, weiter und achtetens nicht:

So waren sie hörend. Nicht, daß du Gottes ertrügest

die Stimme, bei weitem. Aber das Wehende höre,

die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet.

Es rauscht jetzt von jenen jungen Toten zu dir.

Wo immer du eintratst, redete nicht in Kirchen

zu Rom und Neapel ruhig ihr Schicksal dich an?

Oder es trug eine Inschrift sich erhaben dir auf,

wie neulich die Tafel in Santa Maria Formosa.

Was sie mir wollen? leise soll ich des Unrechts

Anschein abtun, der ihrer Geister

reine Bewegung manchmal ein wenig behindert.

 

Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen,

kaum erlernte Gebräuche nicht mehr zu üben,

Rosen, und andern eigens versprechenden Dingen

nicht die Bedeutung menschlicher Zukunft zu geben;

das, was man war in unendlich ängstlichen Händen,

nicht mehr zu sein, und selbst den eigenen Namen

wegzulassen wie ein zerbrochenes Spielzeug.

Seltsam, die Wünsche nicht weiterzuwünschen. Seltsam,

alles, was sich bezog, so lose im Raume

flattern zu sehen. Und das Totsein ist mühsam

und voller Nachholn, daß man allmählich ein wenig

Ewigkeit spürt. — Aber Lebendige machen

alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden.

Engel (sagt man) wüßten oft nicht, ob sie unter

Lebenden gehn oder Toten. Die ewige Strömung

reißt durch beide Bereiche alle Alter

immer mit sich und übertönt sie in beiden.

 

 

Schließlich brauchen sie uns nicht mehr, die Früheentrückten,

man entwöhnt sich des Irdischen sanft, wie man den Brüsten

milde der Mutter entwächst. Aber wir, die so große

Geheimnisse brauchen, denen aus Trauer so oft

seliger Fortschritt entspringt —: könnten wir sein ohne sie?

Ist die Sage umsonst, daß einst in der Klage um Linos

wagende erste Musik dürre Erstarrung durchdrang;

daß erst im erschrockenen Raum, dem ein beinah göttlicher Jüngling

plötzlich für immer enttrat, das Leere in jene

Schwingung geriet, die uns jetzt hinreißt und tröstet und hilft.

 

 

Die Zweite Elegie

Jeder Engel ist schrecklich. Und dennoch, weh mir,

ansing ich euch, fast tödliche Vögel der Seele,

wissend um euch. Wohin sind die Tage Tobiae,

da der Strahlendsten einer stand an der einfachen Haustür,

zur Reise ein wenig verkleidet und schon nicht mehr furchtbar;

(Jüngling dem Jüngling, wie er neugierig hinaussah).

Träte der Erzengel jetzt, der gefährliche, hinter den Sternen

eines Schrittes nur nieder und herwärts: hochauf-

schlagend erschlüg uns das eigene Herz. Wer seid ihr?

 

Frühe Geglückte, ihr Verwöhnten der Schöpfung,

Höhenzüge, morgenrötliche Grate

aller Erschaffung, — Pollen der blühenden Gottheit,

Gelenke des Lichtes, Gänge, Treppen, Throne,

Räume aus Wesen, Schilde aus Wonne, Tumulte

stürmisch entzückten Gefühls und plötzlich, einzeln,

Spiegel: die die entströmte eigene Schönheit

wiederschöpfen zurück in das eigene Antlitz.

 

Denn wir, wo wir fühlen, verflüchtigen; ach wir

atmen uns aus und dahin; von Holzglut zu Holzglut

geben wir schwächern Geruch. Da sagt uns wohl einer:

ja, du gehst mir ins Blut, dieses Zimmer, der Frühling

füllt sich mit dir … Was hilfts, er kann uns nicht halten,

wir schwinden in ihm und um ihn. Und jene, die schön sind,

o wer hält sie zurück? Unaufhörlich steht Anschein

auf in ihrem Gesicht und geht fort. Wie Tau von dem Frühgras

hebt sich das Unsre von uns, wie die Hitze von einem

heißen Gericht. O Lächeln, wohin? O Aufschaun:

neue, warme, entgehende Welle des Herzens —;

weh mir: wir sinds doch. Schmeckt denn der Weltraum,

in den wir uns lösen, nach uns? Fangen die Engel

wirklich nur Ihriges auf, ihnen Entströmtes,

oder ist manchmal, wie aus Versehen, ein wenig

unseres Wesens dabei? Sind wir in ihre

Züge soviel nur gemischt wie das Vage in die Gesichter

schwangerer Frauen? sie merken es nicht in dem Wirbel

ihrer Rückkehr zu sich. (Wie sollten sie’s merken.)

 

Liebende könnten, verstünden sie’s, in der Nachtluft

wunderlich reden. Denn es scheint, daß uns alles

verheimlicht. Siehe, die Bäume sind; die Häuser,

die wir bewohnen, bestehn noch. Wir nur

ziehen allem vorbei wie ein luftiger Austausch.

Und alles ist einig, uns zu verschweigen, halb als

Schande vielleicht und halb als unsägliche Hoffnung.

 

Liebende, euch, ihr in einander Genügten,

frag ich nach uns. Ihr greift euch. Habt ihr Beweise?

Seht, mir geschiehts, daß meine Hände einander

inne werden oder daß mein gebrauchtes

Gesicht in ihnen sich schont. Das giebt mir ein wenig

Empfindung. Doch wer wagte darum schon zu sein?

Ihr aber, die ihr im Entzücken des anderen

zunehmt, bis er euch überwältigt

anfleht: nicht mehr —; die ihr unter den Händen

euch reichlicher werdet wie Traubenjahre;

die ihr manchmal vergeht, nur weil der andre

ganz überhandnimmt: euch frag ich nach uns. Ich weiß,

ihr berührt euch so selig, weil die Liebkosung verhält,

weil die Stelle nicht schwindet, die ihr, Zärtliche,

zudeckt; weil ihr darunter das reine

Dauern verspürt. So versprecht ihr euch Ewigkeit fast

von der Umarmung. Und doch, wenn ihr der ersten

Blicke Schrecken besteht und die Sehnsucht am Fenster,

und den ersten gemeinsamen Gang, ein Mal durch den Garten:

Liebende, seid ihrs dann noch? Wenn ihr einer dem andern

euch an den Mund hebt und ansetzt —: Getränk an Getränk:

o wie entgeht dann der Trinkende seltsam der Handlung.

 

Erstaunte euch nicht auf attischen Stelen die Vorsicht

menschlicher Geste? war nicht Liebe und Abschied

so leicht auf die Schultern gelegt, als wär es aus anderm

Stoffe gemacht als bei uns? Gedenkt euch der Hände,

wie sie drucklos beruhen, obwohl in den Torsen die Kraft steht.

Diese Beherrschten wußten damit: so weit sind wirs,

dieses ist unser, uns so zu berühren; stärker

stemmen die Götter uns an. Doch dies ist Sache der Götter.

 

Fänden auch wir ein reines, verhaltenes, schmales

Menschliches, einen unseren Streifen Fruchtlands

zwischen Strom und Gestein. Denn das eigene Herz übersteigt uns

noch immer wie jene. Und wir können ihm nicht mehr

nachschaun in Bilder, die es besänftigen, noch in

göttliche Körper, in denen es größer sich mäßigt.

 

 

Die Dritte Elegie

Eines ist, die Geliebte zu singen. Ein anderes, wehe,

jenen verborgenen schuldigen Fluß-Gott des Bluts.

Den sie von weitem erkennt, ihren Jüngling, was weiß er

selbst von dem Herren der Lust, der aus dem Einsamen oft,

ehe das Mädchen noch linderte, oft auch als wäre sie nicht,

ach, von welchem Unkenntlichen triefend, das Gotthaupt

aufhob, aufrufend die Nacht zu unendlichem Aufruhr.

O des Blutes Neptun, o sein furchtbarer Dreizack.

O der dunkele Wind seiner Brust aus gewundener Muschel.

Horch, wie die Nacht sich muldet und höhlt. Ihr Sterne,

stammt nicht von euch des Liebenden Lust zu dem Antlitz

seiner Geliebten? Hat er die innige Einsicht

in ihr reines Gesicht nicht aus dem reinen Gestirn?

 

Du nicht hast ihm, wehe, nicht seine Mutter

hat ihm die Bogen der Braun so zur Erwartung gespannt.

Nicht an dir, ihn fühlendes Mädchen, an dir nicht

bog seine Lippe sich zum fruchtbarem Ausdruck.

Meinst du wirklich, ihn hätte dein leichter Auftritt

also erschüttert, du, die wandelt wie Frühwind?

Zwar du erschrakst ihm das Herz; doch ältere Schrecken

stürzten in ihn bei dem berührenden Anstoß.

Ruf ihn … du rufst ihn nicht ganz aus dunkelem Umgang.

Freilich, er will, er entspringt; erleichtert gewöhnt er

sich in dein heimliches Herz und nimmt und beginnt sich.

Aber begann er sich je?

Mutter, du machtest ihn klein, du warsts, die ihn anfing;

dir war er neu, du beugtest über die neuen

Augen die freundliche Welt und wehrtest der fremden.

Wo, ach, hin sind die Jahre, da du ihm einfach

mit der schlanken Gestalt wallendes Chaos vertratst?

Vieles verbargst du ihm so; das nächtlich-verdächtige Zimmer

machtest du harmlos, aus deinem Herzen voll Zuflucht

mischtest du menschlichern Raum seinem Nacht-Raum hinzu.

Nicht in die Finsternis, nein, in dein näheres Dasein

hast du das Nachtlicht gestellt, und es schien wie aus Freundschaft.

Nirgends ein Knistern, das du nicht lächelnd erklärtest,

so als wüßtest du längst, wann sich die Diele benimmt …

Und er horchte und linderte sich. So vieles vermochte

zärtlich dein Aufstehn; hinter den Schrank trat

hoch im Mantel sein Schicksal, und in die Falten des Vorhangs

paßte, die leicht sich verschob, seine unruhige Zukunft.

 

Und er selbst, wie er lag, der Erleichterte, unter

schläfernden Lidern deiner leichten Gestaltung

Süße lösend in den gekosteten Vorschlaf —:

schien ein Gehüteter … Aber innen: wer wehrte,

hinderte innen in ihm die Fluten der Herkunft?

Ach, da war keine Vorsicht im Schlafenden; schlafend,

aber träumend, aber in Fiebern: wie er sich ein-ließ.

Er, der Neue, Scheuende, wie er verstrickt war,

mit des innern Geschehns weiterschlagenden Ranken

schon zu Mustern verschlungen, zu würgendem Wachstum, zu tierhaft

jagenden Formen. Wie er sich hingab —. Liebte.

Liebte sein Inneres, seines Inneren Wildnis,

diesen Urwald in ihm, auf dessen stummem Gestürztsein

lichtgrün sein Herz stand. Liebte. Verließ es, ging die

eigenen Wurzeln hinaus in gewaltigen Ursprung,

wo seine kleine Geburt schon überlebt war. Liebend

stieg er hinab in das ältere Blut, in die Schluchten,

wo das Furchtbare lag, noch satt von den Vätern. Und jedes

Schreckliche kannte ihn, blinzelte, war wie verständigt.

Ja, das Entsetzliche lächelte … Selten

hast du so zärtlich gelächelt, Mutter. Wie sollte

er es nicht lieben, da es ihm lächelte. Vor dir

hat ers geliebt, denn, da du ihn trugst schon,

war es im Wasser gelöst, das den Keimenden leicht macht.

 

Siehe, wir lieben nicht, wie die Blumen, aus einem

einzigen Jahr; uns steigt, wo wir lieben,

unvordenklicher Saft in die Arme. O Mädchen,

dies: daß wir liebten in uns, nicht Eines, ein Künftiges, sondern

das zahllos Brauende; nicht ein einzelnes Kind,

sondern die Väter, die wie Trümmer Gebirgs

uns im Grunde beruhn; sondern das trockene Flußbett

einstiger Mütter —; sondern die ganze

lautlose Landschaft unter dem wolkigen oder

reinen Verhängnis —: dies kam dir, Mädchen, zuvor.

Und du selber, was weißt du —, du locktest

Vorzeit empor in dem Liebenden. Welche Gefühle

wühlten herauf aus entwandelten Wesen. Welche

Frauen haßten dich da. Was für finstere Männer

regtest du auf im Geäder des Jünglings? Tote

Kinder wollten zu dir … O leise, leise,

tu ein liebes vor ihm, ein verläßliches Tagwerk, — führ ihn

nah an den Garten heran, gieb ihm der Nächte

Übergewicht …

Verhalt ihn …

 

 

 

Die Vierte Elegie

O Bäume Lebens, o wann winterlich?

Wir sind nicht einig. Sind nicht wie die Zug-

vögel verständigt. Überholt und spät,

so drängen wir uns plötzlich Winden auf

und fallen ein auf teilnahmslosen Teich.

Blühn und verdorrn ist uns zugleich bewußt.

Und irgendwo gehn Löwen noch und wissen,

solang sie herrlich sind, von keiner Ohnmacht.

 

Uns aber, wo wir Eines meinen, ganz,

ist schon des andern Aufwand fühlbar. Feindschaft

ist uns das Nächste. Treten Liebende

nicht immerfort an Ränder, eins im andern,

die sich versprachen Weite, Jagd und Heimat.

Da wird für eines Augenblickes Zeichnung

ein Grund von Gegenteil bereitet, mühsam,

daß wir sie sähen; denn man ist sehr deutlich

mit uns. Wir kennen den Kontur

des Fühlens nicht: nur, was ihn formt von außen.

Wer saß nicht bang vor seines Herzens Vorhang?

Der schlug sich auf: die Szenerie war Abschied.

Leicht zu verstehen. Der bekannte Garten,

und schwankte leise: dann erst kam der Tänzer.

Nicht der. Genug! Und wenn er auch so leicht tut,

er ist verkleidet und er wird ein Bürger

und geht durch seine Küche in die Wohnung.

Ich will nicht diese halbgefüllten Masken,

lieber die Puppe. Die ist voll. Ich will

den Balg aushalten und den Draht und ihr

Gesicht aus Aussehn. Hier. Ich bin davor.

Wenn auch die Lampen ausgehn, wenn mir auch

gesagt wird: Nichts mehr —, wenn auch von der Bühne

das Leere herkommt mit dem grauen Luftzug,

wenn auch von meinen stillen Vorfahrn keiner

mehr mit mir dasitzt, keine Frau, sogar

der Knabe nicht mehr mit dem braunen Schielaug:

Ich bleibe dennoch. Es giebt immer Zuschaun.

 

Hab ich nicht recht? Du, der um mich so bitter

das Leben schmeckte, meines kostend, Vater,

den ersten trüben Aufguß meines Müssens,

da ich heranwuchs, immer wieder kostend

und, mit dem Nachgeschmack so fremder Zukunft

beschäftigt, prüftest mein beschlagnes Aufschaun, —

der du, mein Vater, seit du tot bist, oft

in meiner Hoffnung, innen in mir, Angst hast,

und Gleichmut, wie ihn Tote haben, Reiche

von Gleichmut, aufgiebst für mein bißchen Schicksal,

hab ich nicht recht? Und ihr, hab ich nicht recht,

die ihr mich liebtet für den kleinen Anfang

Liebe zu euch, von dem ich immer abkam,

weil mir der Raum in eurem Angesicht,

da ich ihn liebte, überging in Weltraum,

in dem ihr nicht mehr wart …: wenn mir zumut ist,

zu warten vor der Puppenbühne, nein,

so völlig hinzuschaun, daß, um mein Schauen

am Ende aufzuwiegen, dort als Spieler

ein Engel hinmuß, der die Bälge hochreißt.

Engel und Puppe: dann ist endlich Schauspiel.

Dann kommt zusammen, was wir immerfort

entzwein, indem wir da sind. Dann entsteht

aus unsern Jahreszeiten erst der Umkreis

des ganzen Wandelns. Über uns hinüber

spielt dann der Engel. Sieh, die Sterbenden,

sollten sie nicht vermuten, wie voll Vorwand

das alles ist, was wir hier leisten. Alles

ist nicht es selbst. O Stunden in der Kindheit,

da hinter den Figuren mehr als nur

Vergangnes war und vor uns nicht die Zukunft.

Wir wuchsen freilich und wir drängten manchmal,

bald groß zu werden, denen halb zulieb,

die andres nicht mehr hatten, als das Großsein.

Und waren doch, in unserem Alleingehn,

mit Dauerndem vergnügt und standen da

im Zwischenraume zwischen Welt und Spielzeug,

an einer Stelle, die seit Anbeginn

gegründet war für einen reinen Vorgang.

 

Wer zeigt ein Kind, so wie es steht? Wer stellt

es ins Gestirn und giebt das Maß des Abstands

ihm in die Hand? Wer macht den Kindertod

aus grauem Brot, das hart wird, — oder läßt

ihn drin im runden Mund, so wie den Gröps

von einem schönen Apfel? … Mörder sind

leicht einzusehen. Aber dies: den Tod,

den ganzen Tod, noch vor dem Leben so

sanft zu enthalten und nicht bös zu sein,

ist unbeschreiblich.

 

Die Fünfte Elegie

Frau Hertha Koenig zugeeignet

Wer aber sind sie, sag mir, die Fahrenden, diese ein wenig

Flüchtigern noch als wir selbst, die dringend von früh an

wringt ein wem, wem zu Liebe

niemals zufriedener Wille? Sondern er wringt sie,

biegt sie, schlingt sie und schwingt sie,

wirft sie und fängt sie zurück; wie aus geölter,

glatterer Luft kommen sie nieder

auf dem verzehrten, von ihrem ewigen

Aufsprung dünneren Teppich, diesem verlorenen

Teppich im Weltall.

Aufgelegt wie ein Pflaster, als hätte der Vorstadt-

Himmel der Erde dort wehe getan.

Und kaum dort,

aufrecht, da und gezeigt: des Dastehns

großer Anfangsbuchstab …, schon auch, die stärksten

Männer, rollt sie wieder, zum Scherz, der immer

kommende Griff, wie August der Starke bei Tisch

einen zinnenen Teller.

 

Ach und um diese

Mitte, die Rose des Zuschauns:

blüht und entblättert. Um diesen

Stampfer, den Stempel, den von dem eignen

blühenden Staub getroffnen, zur Scheinfrucht

wieder der Unlust befruchteten, ihrer

niemals bewußten, — glänzend mit dünnster

Oberfläche leicht scheinlächelnden Unlust.

 

Da: der welke, faltige Stemmer,

der alte, der nur noch trommelt,

eingegangen in seiner gewaltigen Haut, als hätte sie früher

zwei Männer enthalten, und einer

läge nun schon auf dem Kirchhof, und er überlebte den andern,

taub und manchmal ein wenig

wirr, in der verwitweten Haut.

 

Aber der junge, der Mann, als wär er der Sohn eines Nackens

und einer Nonne: prall und strammig erfüllt

mit Muskeln und Einfalt.

 

Oh ihr,

die ein Leid, das noch klein war,

einst als Spielzeug bekam, in einer seiner

langen Genesungen …

 

Du, der mit dem Aufschlag,

wie nur Früchte ihn kennen, unreif,

täglich hundertmal abfällt vom Baum der gemeinsam

erbauten Bewegung (der, rascher als Wasser, in wenig

Minuten Lenz, Sommer und Herbst hat) —

abfällt und anprallt ans Grab:

manchmal, in halber Pause, will dir ein liebes

Antlitz entstehn hinüber zu deiner selten

zärtlichen Mutter; doch an deinen Körper verliert sich,

der es flächig verbraucht, das schüchtern

kaum versuchte Gesicht. Und wieder

klatscht der Mann in die Hand zu dem Ansprung, und eh dir

jemals ein Schmerz deutlicher wird in der Nähe des immer

trabenden Herzens, kommt das Brennen der Fußsohln

ihm, seinem Ursprung, zuvor mit ein paar dir

rasch in die Augen gejagten leiblichen Tränen.

Und dennoch, blindlings,

das Lächeln …

 

Engel! o nimms, pflücks, das kleinblütige Heilkraut.

Schaff eine Vase, verwahrs! Stells unter jene, uns noch nicht

offenen Freuden; in lieblicher Urne

rühms mit blumiger schwungiger Aufschrift:

›Subrisio Saltat.‹.

Du dann, Liebliche,

du, von den reizendsten Freuden

stumm Übersprungne. Vielleicht sind

deine Fransen glücklich für dich —,

oder über den jungen

prallen Brüsten die grüne metallene Seide

fühlt sich unendlich verwöhnt und entbehrt nichts.

Du,

immerfort anders auf alle des Gleichgewichts schwankende Waagen

hingelegte Marktfrucht des Gleichmuts,

öffentlich unter den Schultern.

 

Wo, o wo ist der Ort — ich trag ihn im Herzen —,

wo sie noch lange nicht konnten, noch voneinander

abfieln, wie sich bespringende, nicht recht

paarige Tiere; —

wo die Gewichte noch schwer sind;

wo noch von ihren vergeblich

wirbelnden Stäben die Teller

torkeln …

 

Und plötzlich in diesem mühsamen Nirgends, plötzlich

die unsägliche Stelle, wo sich das reine Zuwenig

unbegreiflich verwandelt —, umspringt

in jenes leere Zuviel.

Wo die vielstellige Rechnung

zahlenlos aufgeht.

 

Plätze, o Platz in Paris, unendlicher Schauplatz,

wo die Modistin, Madame Lamort,

die ruhlosen Wege der Erde, endlose Bänder,

schlingt und windet und neue aus ihnen

Schleifen erfindet, Rüschen, Blumen, Kokarden, künstliche Früchte —, alle

unwahr gefärbt, — für die billigen

Winterhüte des Schicksals.

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — —

Engel!: Es wäre ein Platz, den wir nicht wissen, und dorten,

auf unsäglichem Teppich, zeigten die Liebenden, die’s hier

bis zum Können nie bringen, ihre kühnen

hohen Figuren des Herzschwungs,

ihre Türme aus Lust, ihre

längst, wo Boden nie war, nur aneinander

lehnenden Leitern, bebend, — und könntens,

vor den Zuschauern rings, unzähligen lautlosen Toten:

Würfen die dann ihre letzten, immer ersparten,

immer verborgenen, die wir nicht kennen, ewig

gültigen Münzen des Glücks vor das endlich

wahrhaft lächelnde Paar auf gestilltem

Teppich?

 

 

Die Sechste Elegie

Feigenbaum, seit wie lange schon ists mir bedeutend,

wie du die Blüte beinah ganz überschlägst

und hinein in die zeitig entschlossene Frucht,

ungerühmt, drängst dein reines Geheimnis.

Wie der Fontäne Rohr treibt dein gebognes Gezweig

abwärts den Saft und hinan: und er springt aus dem Schlaf,

fast nicht erwachend, ins Glück seiner süßesten Leistung.

Sieh: wie der Gott in den Schwan. … Wir aber verweilen,

ach, uns rühmt es zu blühn, und ins verspätete Innre

unserer endlichen Frucht gehn wir verraten hinein.

Wenigen steigt so stark der Andrang des Handelns,

daß sie schon anstehn und glühn in der Fülle des Herzens,

wenn die Verführung zum Blühn wie gelinderte Nachtluft

ihnen die Jugend des Munds, ihnen die Lider berührt:

Helden vielleicht und den frühe Hinüberbestimmten,

denen der gärtnernde Tod anders die Adern verbiegt.

Diese stürzen dahin: dem eigenen Lächeln

sind sie voran, wie das Rossegespann in den milden

muldigen Bildern von Karnak dem siegenden König.

 

Wunderlich nah ist der Held doch den jugendlich Toten. Dauern

ficht ihn nicht an. Sein Aufgang ist Dasein; beständig

nimmt er sich fort und tritt ins veränderte Sternbild

seiner steten Gefahr. Dort fänden ihn wenige. Aber,

das uns finster verschweigt, das plötzlich begeisterte Schicksal

singt ihn hinein in den Sturm seiner aufrauschenden Welt.

Hör ich doch keinen wie ihn. Auf einmal durchgeht mich

mit der strömenden Luft sein verdunkelter Ton.

 

Dann, wie verbärg ich mich gern vor der Sehnsucht: O wär ich,

wär ich ein Knabe und dürft es noch werden und säße

in die künftigen Arme gestützt und läse von Simson,

wie seine Mutter erst nichts und dann alles gebar.

 

War er nicht Held schon in dir, o Mutter, begann nicht

dort schon, in dir, seine herrische Auswahl?

Tausende brauten im Schooß und wollten er sein,

aber sieh: er ergriff und ließ aus —, wählte und konnte.

Und wenn er Säulen zerstieß, so wars, da er ausbrach

aus der Welt deines Leibs in die engere Welt, wo er weiter

wählte und konnte. O Mütter der Helden, o Ursprung

reißender Ströme! Ihr Schluchten, in die sich

hoch von dem Herzrand, klagend,

schon die Mädchen gestürzt, künftig die Opfer dem Sohn.

Denn hinstürmte der Held durch Aufenthalte der Liebe,

jeder hob ihn hinaus, jeder ihn meinende Herzschlag,

abgewendet schon, stand er am Ende der Lächeln, — anders.

 

 

Die Siebente Elegie

Werbung nicht mehr, nicht Werbung, entwachsene Stimme,

sei deines Schreies Natur; zwar schrieest du rein wie der Vogel,

wenn ihn die Jahreszeit aufhebt, die steigende, beinah vergessend,

daß er ein kümmerndes Tier und nicht nur ein einzelnes Herz sei,

das sie ins Heitere wirft, in die innigen Himmel. Wie er, so

würbest du wohl, nicht minder —, daß, noch unsichtbar,

dich die Freundin erführ, die stille, in der eine Antwort

langsam erwacht und über dem Hören sich anwärmt, —

deinem erkühnten Gefühl die erglühte Gefühlin.

 

O und der Frühling begriffe —, da ist keine Stelle,

die nicht trüge den Ton der Verkündigung. Erst jenen kleinen

fragenden Auflaut, den, mit steigernder Stille,

weithin umschweigt ein reiner bejahender Tag.

Dann die Stufen hinan, Ruf-Stufen hinan, zum geträumten

Tempel der Zukunft —; dann den Triller, Fontäne,

die zu dem drängenden Strahl schon das Fallen zuvornimmt

im versprechlichen Spiel … Und vor sich, den Sommer.

 

Nicht nur die Morgen alle des Sommers —, nicht nur

wie sie sich wandeln in Tag und strahlen vor Anfang.

Nicht nur die Tage, die zart sind um Blumen, und oben,

um die gestalteten Bäume, stark und gewaltig.

Nicht nur die Andacht dieser entfalteten Kräfte,

nicht nur die Wege, nicht nur die Wiesen im Abend,

nicht nur, nach spätem Gewitter, das atmende Klarsein,

nicht nur der nahende Schlaf und ein Ahnen, abends …

sondern die Nächte! Sondern die hohen, des Sommers,

Nächte, sondern die Sterne, die Sterne der Erde.

O einst tot sein und sie wissen unendlich,

alle die Sterne: denn wie, wie, wie sie vergessen!

 

Siehe, da rief ich die Liebende. Aber nicht sie nur

käme … Es kämen aus schwächlichen Gräbern

Mädchen und ständen … Denn, wie beschränk ich,

wie, den gerufenen Ruf? Die Versunkenen suchen

immer noch Erde. — Ihr Kinder, ein hiesig

einmal ergriffenes Ding gälte für viele.

Glaubt nicht, Schicksal sei mehr, als das Dichte der Kindheit;

wie überholtet ihr oft den Geliebten, atmend,

atmend nach seligem Lauf, auf nichts zu, ins Freie.

 

Hiersein ist herrlich. Ihr wußtet es, Mädchen, ihr auch,

die ihr scheinbar entbehrtet, versankt —, ihr, in den ärgsten

Gassen der Städte, Schwärende, oder dem Abfall

Offene. Denn eine Stunde war jeder, vielleicht nicht

ganz eine Stunde, ein mit den Maßen der Zeit kaum

Meßliches zwischen zwei Weilen —, da sie ein Dasein

hatte. Alles. Die Adern voll Dasein.

Nur, wir vergessen so leicht, was der lachende Nachbar

uns nicht bestätigt oder beneidet. Sichtbar

wollen wirs heben, wo doch das sichtbarste Glück uns

erst zu erkennen sich giebt, wenn wir es innen verwandeln.

 

Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen. Unser

Leben geht hin mit Verwandlung. Und immer geringer

schwindet das Außen. Wo einmal ein dauerndes Haus war,

schlägt sich erdachtes Gebild vor, quer, zu Erdenklichem

völlig gehörig, als ständ es noch ganz im Gehirne.

Weite Speicher der Kraft schafft sich der Zeitgeist, gestaltlos

wie der spannende Drang, den er aus allem gewinnt.

Tempel kennt er nicht mehr. Diese, des Herzens, Verschwendung

sparen wir heimlicher ein. Ja, wo noch eins übersteht,

ein einst gebetetes Ding, ein gedientes, geknietes —,

hält es sich, so wie es ist, schon ins Unsichtbare hin.

Viele gewahrens nicht mehr, doch ohne den Vorteil,

daß sie’s nun innerlich baun, mit Pfeilern und Statuen, größer!

 

Jede dumpfe Umkehr der Welt hat solche Enterbte,

denen das Frühere nicht und noch nicht das Nächste gehört.

Denn auch das Nächste ist weit für die Menschen. Uns soll

dies nicht verwirren; es stärke in uns die Bewahrung

der noch erkannten Gestalt. — Dies stand einmal unter Menschen,

mitten im Schicksal stands, im vernichtenden, mitten

im Nichtwissen-Wohin stand es, wie seiend, und bog

Sterne zu sich aus gesicherten Himmeln. Engel,

dir noch zeig ich es, da! in deinem Anschaun

steh es gerettet zuletzt, nun endlich aufrecht.

Säulen, Pylone, der Sphinx, das strebende Stemmen,

grau aus vergehender Stadt oder aus fremder, des Doms.

 

War es nicht Wunder? O staune, Engel, denn wir sinds,

wir, o du Großer, erzähls, daß wir solches vermochten, mein Atem

reicht für die Rühmung nicht aus. So haben wir dennoch

nicht die Räume versäumt, diese gewährenden, diese

unseren Räume. (Was müssen sie fürchterlich groß sein,

da sie Jahrtausende nicht unseres Fühlns überfülln.)

Aber ein Turm war groß, nicht wahr? O Engel, er war es, —

groß, auch noch neben dir? Chartres war groß —, und Musik

reichte noch weiter hinan und überstieg uns. Doch selbst nur

eine Liebende —, oh, allein am nächtlichen Fenster …

reichte sie dir nicht ans Knie —? Glaub nicht, daß ich werbe.

Engel, und würb ich dich auch! Du kommst nicht. Denn mein

Anruf ist immer voll Hinweg; wider so starke

Strömung kannst du nicht schreiten. Wie ein gestreckter

Arm ist mein Rufen. Und seine zum Greifen

oben offene Hand bleibt vor dir

offen, wie Abwehr und Warnung,

Unfaßlicher, weitauf.

 

 

Die Achte Elegie

Rudolf Kassner zugeeignet

Mit allen Augen sieht die Kreatur

das Offene. Nur unsre Augen sind

wie umgekehrt und ganz um sie gestellt

als Fallen, rings um ihren freien Ausgang.

Was draußen ist, wir wissens aus des Tiers

Antlitz allein; denn schon das frühe Kind

wenden wir um und zwingens, daß es rückwärts

Gestaltung sehe, nicht das Offne, das

im Tiergesicht so tief ist. Frei von Tod.

Ihn sehen wir allein; das freie Tier

hat seinen Untergang stets hinter sich

und vor sich Gott, und wenn es geht, so gehts

in Ewigkeit, so wie die Brunnen gehen.

Wir haben nie, nicht einen einzigen Tag,

den reinen Raum vor uns, in den die Blumen

unendlich aufgehn. Immer ist es Welt

und niemals Nirgends ohne Nicht: das Reine,

Unüberwachte, das man atmet und

unendlich weiß und nicht begehrt. Als Kind

verliert sich eins im Stilln an dies und wird

gerüttelt. Oder jener stirbt und ists.

Denn nah am Tod sieht man den Tod nicht mehr

und starrt hinaus, vielleicht mit großem Tierblick.

Liebende, wäre nicht der andre, der

die Sicht verstellt, sind nah daran und staunen …

Wie aus Versehn ist ihnen aufgetan

hinter dem andern … Aber über ihn

kommt keiner fort, und wieder wird ihm Welt.

Der Schöpfung immer zugewendet, sehn

wir nur auf ihr die Spiegelung des Frein,

von uns verdunkelt. Oder daß ein Tier,

ein stummes, aufschaut, ruhig durch uns durch.

Dieses heißt Schicksal: gegenüber sein

und nichts als das und immer gegenüber.

 

Wäre Bewußtheit unsrer Art in dem

sicheren Tier, das uns entgegenzieht

in anderer Richtung —, riß es uns herum

mit seinem Wandel. Doch sein Sein ist ihm

unendlich, ungefaßt und ohne Blick

auf seinen Zustand, rein, so wie sein Ausblick.

Und wo wir Zukunft sehn, dort sieht es Alles

und sich in Allem und geheilt für immer.

 

Und doch ist in dem wachsam warmen Tier

Gewicht und Sorge einer großen Schwermut.

Denn ihm auch haftet immer an, was uns

oft überwältigt,- die Erinnerung,

als sei schon einmal das, wonach man drängt,

näher gewesen, treuer und sein Anschluß

unendlich zärtlich. Hier ist alles Abstand,

und dort wars Atem. Nach der ersten Heimat

ist ihm die zweite zwitterig und windig.

O Seligkeit der kleinen Kreatur,

die immer bleibt im Schooße, der sie austrug;

o Glück der Mücke, die noch innen hüpft,

selbst wenn sie Hochzeit hat: denn Schooß ist Alles.

Und sieh die halbe Sicherheit des Vogels,

der beinah beides weiß aus seinem Ursprung,

als wär er eine Seele der Etrusker,

aus einem Toten, den ein Raum empfing,

doch mit der ruhenden Figur als Deckel.

Und wie bestürzt ist eins, das fliegen muß

und stammt aus einem Schooß. Wie vor sich selbst

erschreckt, durchzuckts die Luft, wie wenn ein Sprung

durch eine Tasse geht. So reißt die Spur

der Fledermaus durchs Porzellan des Abends.

 

Und wir: Zuschauer, immer, überall,

dem allen zugewandt und nie hinaus!

Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt.

Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.

 

Wer hat uns also umgedreht, daß wir,

was wir auch tun, in jener Haltung sind

von einem, welcher fortgeht? Wie er auf

dem letzten Hügel, der ihm ganz sein Tal

noch einmal zeigt, sich wendet, anhält, weilt —,

so leben wir und nehmen immer Abschied.

 

Die Neunte Elegie

Warum, wenn es angeht, also die Frist des Daseins

hinzubringen, als Lorbeer, ein wenig dunkler als alles

andere Grün, mit kleinen Wellen an jedem

Blattrand (wie eines Windes Lächeln) —: warum dann

Menschliches müssen —und, Schicksal vermeidend,

sich sehnen nach Schicksal? …

 

Oh, nicht, weil Glück ist,

dieser voreilige Vorteil eines nahen Verlusts.

Nicht aus Neugier, oder zur Übung des Herzens,

das auch im Lorbeer wäre

Aber weil Hiersein viel ist, und weil uns scheinbar

alles das Hiesige braucht, dieses Schwindende, das

seltsam uns angeht. Uns, die Schwindendsten. Ein Mal

jedes, nur ein Mal. Ein Mal und nicht mehr. Und wir auch

ein Mal. Nie wieder. Aber dieses

ein Mal gewesen zu sein, wenn auch nur ein Mal:

irdisch gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar.

 

Und so drängen wir uns und wollen es leisten,

wollens enthalten in unsern einfachen Händen,

im überfüllteren Blick und im sprachlosen Herzen.

Wollen es werden. — Wem es geben? Am liebsten

alles behalten für immer … Ach, in den andern Bezug,

wehe, was nimmt man hinüber? Nicht das Anschaun, das hier

langsam erlernte, und kein hier Ereignetes. Keins.

Also die Schmerzen. Also vor allem das Schwersein,

also der Liebe lange Erfahrung, — also

lauter Unsägliches. Aber später,

unter den Sternen, was solls: die sind besser unsäglich.

Bringt doch der Wanderer auch vom Hange des Bergrands

nicht eine Hand voll Erde ins Tal, die Allen unsägliche, sondern

ein erworbenes Wort, reines, den gelben und blaun

Enzian. Sind wir vielleicht hier, um zu sagen: Haus,

Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster, —

höchstens: Säule, Turm … aber zu sagen, verstehs,

oh zu sagen so, wie selber die Dinge niemals

innig meinten zu sein. Ist nicht die heimliche List

dieser verschwiegenen Erde, wenn sie die Liebenden drängt,

daß sich in ihrem Gefühl jedes und jedes entzückt?

Schwelle: was ists für zwei

Liebende, daß sie die eigne ältere Schwelle der Tür

ein wenig verbrauchen, auch sie, nach den vielen vorher

und vor den Künftigen …, leicht.

 

Hier ist des Säglichen Zeit, hier seine Heimat.

Sprich und bekenn. Mehr als je

fallen die Dinge dahin, die erlebbaren, denn,

was sie verdrängend ersetzt, ist ein Tun ohne Bild.

Tun unter Krusten, die willig zerspringen, sobald

innen das Handeln entwächst und sich anders begrenzt.

Zwischen den Hämmern besteht

unser Herz, wie die Zunge

zwischen den Zähnen, die doch,

dennoch, die preisende bleibt.

 

Preise dem Engel die Welt, nicht die unsägliche, ihm

kannst du nicht großtun mit herrlich Erfühltem; im Weltall,

wo er fühlender fühlt, bist du ein Neuling. Drum zeig

ihm das Einfache, das, von Geschlecht zu Geschlechtern gestaltet,

als ein Unsriges lebt, neben der Hand und im Blick.

Sag ihm die Dinge. Er wird staunender stehn; wie du standest

bei dem Seiler in Rom, oder beim Töpfer am Nil.

Zeig ihm, wie glücklich ein Ding sein kann, wie schuldlos und unser,

wie selbst das klagende Leid rein zur Gestalt sich entschließt,

dient als ein Ding, oder stirbt in ein Ding —, und jenseits

selig der Geige entgeht. — Und diese, von Hingang

lebenden Dinge verstehn, daß du sie rühmst; vergänglich,

traun sie ein Rettendes uns, den Vergänglichsten, zu.

Wollen, wir sollen sie ganz im unsichtbarn Herzen verwandeln

in — o unendlich — in uns! Wer wir am Ende auch seien.

 

Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar

in uns erstehn? — Ist es dein Traum nicht,

einmal unsichtbar zu sein? — Erde! unsichtbar!

Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag?

Erde, du liebe, ich will. Oh glaub, es bedürfte

nicht deiner Frühlinge mehr, mich dir zu gewinnen —, einer,

ach, ein einziger ist schon dem Blute zu viel.

Namenlos bin ich zu dir entschlossen, von weit her.

Immer warst du im Recht, und dein heiliger Einfall

ist der vertrauliche Tod.

Siehe, ich lebe. Woraus? Weder Kindheit noch Zukunft

werden weniger … Überzähliges Dasein

entspringt mir im Herzen.

 

 

Die Zehnte Elegie

Dass ich dereinst, an dem Ausgang der grimmigen Einsicht,

Jubel und Ruhm aufsinge zustimmenden Engeln.

Daß von den klar geschlagenen Hämmern des Herzens

keiner versage an weichen, zweifelnden oder

reißenden Saiten. Daß mich mein strömendes Antlitz

glänzender mache; daß das unscheinbare Weinen

blühe. O wie werdet ihr dann, Nächte, mir lieb sein,

gehärmte. Daß ich euch knieender nicht, untröstliche Schwestern,

hinnahm, nicht in euer gelöstes

Haar mich gelöster ergab. Wir, Vergeuder der Schmerzen

Wie wir sie absehn voraus, in die traurige Dauer,

ob sie nicht enden vielleicht. Sie aber sind ja

unser winterwähriges Laub, unser dunkeles Sinngrün,

eine der Zeiten des heimlichen Jahres —, nicht nur

Zeit —, sind Stelle, Siedelung, Lager, Boden, Wohnort.

 

Freilich, wehe, wie fremd sind die Gassen der Leid-Stadt,

wo in der falschen, aus Übertönung gemachten

Stille, stark, aus der Gußform des Leeren der Ausguß

prahlt: der vergoldete Lärm, das platzende Denkmal.

O, wie spurlos zerträte ein Engel ihnen den Trostmarkt,

den die Kirche begrenzt, ihre fertig gekaufte:

reinlich und zu und enttäuscht wie ein Postamt am Sonntag.

Draußen aber kräuseln sich immer die Ränder von Jahrmarkt.

Schaukeln der Freiheit! Taucher und Gaukler des Eifers!

Und des behübschten Glücks figürliche Schießstatt,

wo es zappelt von Ziel und sich blechern benimmt,

wenn ein Geschickterer trifft. Von Beifall zu Zufall

taumelt er weiter; denn Buden jeglicher Neugier

werben, trommeln und plärrn. Für Erwachsene aber

ist noch besonders zu sehn, wie das Geld sich vermehrt, anatomisch,

nicht zur Belustigung nur: der Geschlechtsteil des Gelds,

alles, das Ganze, der Vorgang —, das unterrichtet und macht

fruchtbar …

.....Oh aber gleich darüber hinaus,

hinter der letzten Planke, beklebt mit Plakaten des ›Todlos‹,

jenes bitteren Biers, das den Trinkenden süß scheint,

wenn sie immer dazu frische Zerstreuungen kaun …,

gleich im Rücken der Planke, gleich dahinter, ists wirklich.

Kinder spielen, und Liebende halten einander,- abseits,

ernst, im ärmlichen Gras, und Hunde haben Natur.

Weiter noch zieht es den Jüngling; vielleicht, daß er eine junge

Klage liebt … Hinter ihr her kommt er in Wiesen. Sie sagt:

— Weit. Wir wohnen dort draußen … Wo? Und der Jüngling

folgt. Ihn rührt ihre Haltung. Die Schulter, der Hals —, vielleicht

ist sie von herrlicher Herkunft. Aber er läßt sie, kehrt um,

wendet sich, winkt … Was solls? Sie ist eine Klage.

 

Nur die jungen Toten, im ersten Zustand

zeitlosen Gleichmuts, dem der Entwöhnung,

folgen ihr liebend. Mädchen

wartet sie ab und befreundet sie. Zeigt ihnen leise,

was sie an sich hat. Perlen des Leids und die feinen

Schleier der Duldung. — Mit Jünglingen geht sie schweigend.

 

Aber dort, wo sie wohnen, im Tal, der Älteren eine, der Klagen,

nimmt sich des Jünglinges an, wenn er fragt: — Wir waren,

sagt sie, ein Großes Geschlecht, einmal, wir Klagen. Die Väter

trieben den Bergbau dort in dem großen Gebirg; bei Menschen

findest du manchmal ein Stück geschliffenes Ur-Leid

oder, aus altem Vulkan, schlackig versteinerten Zorn

Ja, das stammte von dort. Einst waren wir reich. —

 

Und sie leitet ihn leicht durch die weite Landschaft der Klagen,

zeigt ihm die Säulen der Tempel oder die Trümmer

jener Burgen, von wo Klage-Fürsten das Land

einstens weise beherrscht. Zeigt ihm die hohen

Tränenbäume und Felder blühender Wehmut,

(Lebendige kennen sie nur als sanftes Blattwerk);

zeigt ihm die Tiere der Trauer, weidend, — und manchmal

schreckt ein Vogel und zieht, flach ihnen fliegend durchs Aufschaun,

weithin das schriftliche Bild seines vereinsamten Schreis. —

Abends führt sie ihn hin zu den Gräbern der Alten

aus dem Klage-Geschlecht, den Sibyllen und Warn-Herrn.

Naht aber Nacht, so wandeln sie leiser, und bald

mondets empor, das über Alles

wachende Grab-Mal. Brüderlich jenem am Nil,

der erhabene Sphinx —: der verschwiegenen Kammer Antlitz.

Und sie staunen dem krönlichen Haupt, das für immer,

schweigend, der Menschen Gesicht

auf die Waage der Sterne gelegt.

 

Nicht erfaßt es sein Blick, im Frühtod

schwindelnd. Aber ihr Schaun,

hinter dem Pschent-Rand hervor, scheucht es die Eule. Und sie,

streifend im langsamen Abstrich die Wange entlang,

jene der reifesten Rundung,

zeichnet weich in das neue

Totengehör, über ein doppelt

aufgeschlagenes Blatt, den unbeschreiblichen Umriß.

 

Und höher, die Sterne. Neue. Die Sterne des Leidlands.

Langsam nennt sie die Klage: — Hier,

siehe: den Reiter, den Stab, und das vollere Sternbild

nennen sie: Fruchtkranz. Dann, weiter, dem Pol zu:

Wiege; Weg; Des Brennende Buch; Puppe; Fenster.

Aber im südlichen Himmel, rein wie im Innern

einer gesegneten Hand, das klar erglänzende ›M‹,

das die Mütter bedeutet … —

 

Doch der Tote muß fort, und schweigend bringt ihn die ältere

Klage bis an die Talschlucht,

wo es schimmert im Mondschein:

die Quelle der Freude. In Ehrfurcht

nennt sie sie, sagt: — Bei den Menschen

ist sie ein tragender Strom. —

 

Stehn am Fuß des Gebirgs.

Und da umarmt sie ihn, weinend.

 

Einsam steigt er dahin, in die Berge des Ur-Leids.

Und nicht einmal sein Schritt klingt aus dem tonlosen Los.

Aber erweckten sie uns, die unendlich Toten, ein Gleichnis,

siehe, sie zeigten vielleicht auf die Kätzchen der leeren

Hasel, die hängenden, oder

meinten den Regen, der fällt auf dunkles Erdreich im Frühjahr. —

 

Und wir, die an steigendes Glück

denken, empfänden die Rührung,

die uns beinah bestürzt,

wenn ein Glückliches fällt.