Diese Reise ist in erster Linie für jene Eltern gedacht, die ein krankes Kind haben, dessen Krankheit nicht mehr umkehrbar ist (z. B. ein zuckerkrankes Kind, ein Kind mit Polio, mit einer Deformation, einer Behinderung etc.). Sie ist in zweiter Linie gedacht für jene Kranken, deren Kranksein in der Kindheit (oder bereits bei der Geburt) begann und die heute als Erwachsene noch die Auswirkungen zu tragen haben (herausragendes Beispiel: Die sogenannten "Contergan"-Kinder).
Die Reise ist also nicht für jene gedacht, die ein vorübergehendes Kranksein zu durchqueren haben. Sie ist außerdem für jene Eltern, die ein todkrankes Kind haben und die fürchten, ahnen oder wissen, daß dieses Kranksein zum Tode ihres Kindes führen kann oder wird. (z. B. krebskranke Kinder).
Teil 1
Ein lebenskrankes Kind ist ein Kind,
daß aus dem einen oder anderen Grund
sein Leben nicht so leben kann,
wie die anderen Kinder.
Es muß - mitunter - eine bestimmte Diät
oder bestimmte Medikamente zu sich nehmen.
Es muß - mitunter - bestimmte Übungen absolvieren
und es kann bestimmte Dinge,
die die anderen Kinder einfach so tun können,
nicht für sein Leben verwenden oder anwenden.
Dieses Kind bedarf in der Regel
einer größeren Aufmerksamkeit
und größerer Umstände,
die von ihm selbst und meist auch
von seinen Eltern aufgewendet werden müssen.
Kurz, ein solches Kind ist anders.
Und das erste Problem,
daß bei den Eltern entsteht,
besteht darin,
mit dieser Andersartigkeit
umgehen zu lernen.
Das Kind weiß vielleicht noch gar nichts davon,
aber die Eltern wissen davon.
Und in vielen Fällen fürchten sie sich
- ganz am Anfang - vor dieser Andersartigkeit.
Und oft ist es schnell so,
daß tief im Inneren der Eltern
ein Gefühl heranwächst
und zunehmend stärker wird:
Sie seien für diese Anderartigkeit verantwortlich.
Ja, mehr noch:
Sie seien daran schuld!
Sie hätten etwas getan
oder etwas zu tun unterlassen
und erst daraus wäre
die Schwere des Krankseins erwachsen.
Und auch bei den Kindern,
wenn sie größer geworden sind,
entsteht mitunter das gleiche Bild:
Nachdem sie ihre Andersartigkeit
wahrgenommen haben,
geben sie sich entweder selbst
die Schuld für ihr Kranksein
- scheinbar haben sie diese Krankheit verdient - ,
oder sie erheben bittere Anklagen gegen die Eltern:
Diese hätten nicht rechtzeitig das Nötige unternommen
oder sie hätten zu viel des Guten getan!
Zu viele Operationen,
zu viele Medikamente
und dergleichen mehr.
Es war einmal eine Frau
mit einer Hasenscharte
in einer therapeutischen Beratung:
Sie wollte unter Hypnose herausfinden,
was sie in einem vorherigen Leben
Schlechtes getan hätte,
das ihrer heutigen Entstellung
seinen tieferen Sinn verleihen würde.
Sie wollte für ihre heutige Krankheit
eine Begründung - dann wäre sie erleichtert.
Aber all diese Schuldzuweisungen,
sowohl die der Eltern an sich selbst,
als auch die der erwachsenen Kinder
an die Eltern oder an sich selbst,
machen sozusagen die Rechnung ohne den Wirt!
Ob ich nun Eltern bin oder erwachsenes Kind,
all diese Schuldzuweisungen leugnen,
daß es eine Gestalt im Inneren der Seele
und im Inneren der Welt geben könnte,
die größer ist als ich,
der ich etwas getan oder unterlassen habe.
Die größer ist und deren Wirken
ich durch ein Tun oder Unterlassen
eben nicht beeinflussen kann.
All diese Schuldvorwürfe
sind in Wahrheit die versteckte Form
einer Größenvorstellung:
Nämlich der Vorstellung
meines eigenen Einflusses
auf die Dinge der Welt
und die Dinge des Schicksals.
Sie verlaufen nach dem Bilde,
daß alles in meinem Leben machbar ist.
Jedoch: Die hinter meiner Krankheit liegende Gestalt,
die hinter der Krankheit meines Kindes liegende Gestalt,
der Wirt also,
unter dessen Umgehung
ich meine Rechnung selbst machen möchte,
heißt: Schicksal!
Nein, wir haben keinen besseren Namen dafür.
Religiöse Menschen
nennen diesen Wirt mitunter auch "Gott".
Aber auch sie wissen, daß seine Wege
nicht zu durchschauen sind
und daß seine Absichten
von Menschen nur äußerst selten zu erahnen sind.
In griechischen oder römischen Kulturen,
in Kulturen also, die viele Götter hatten,
gab es eine besondere Klasse von Gottheiten:
Man nannte sie fatae oder moirai
- die Schicksalsgötter.
Und sogar von dem größten aller Götter,
von Zeus, wurde gesagt,
daß er sich ebenfalls dem Los dieser Schicksals-Götter
beugen mußte.
Freilich, damals verstand man noch etwas
vom Beugen, was nichts anderes heißt als:
Von der Verbeugung!
Und vielleicht ist das überhaupt das einzige,
was man im Hinblick auf das Schicksal
zu vollführen vermag;
Sich vor ihm zu verbeugen!
Das erste und wichtigste,
was über die große Gestalt des Schicksals
ausgesagt werden kann und muß,
besteht darin,
sich unumwunden
und ohne Wenn und Aber klarzumachen,
daß ich über das Schicksal,
gar über "mein Schicksal",
gar nichts wissen und gar nichts aussagen kann!
Niemals!
Und das zweite
- direkt aus dem ersten abgeleitet:
Ich kann dieses Schicksal auch nicht beeinflussen!
Weder kann ich es günstig stimmen,
indem ich das Richtige tue
und mir dann - wie ich glaube -
nicht vorzuwerfen habe.
Noch kann ich es ungünstig stimmen,
indem ich etwas Falsches tue
und mir dann - wie ich glaube -
etwas vorzuwerfen habe.
Jeder Glaube, man könne sein Schicksal beeinflussen,
folgt derselben - kindlichen - Logik,
die da glaubt, das Wetter würde morgen gut,
wenn man seinen Teller heute leergegessen hätte.
(Und es würde schlecht,
wenn man etwas auf ihm noch nicht aufgegessen hat).
Es ist dies in der Tat die Logik
eines von Größenvorstellungen besessenen
kleinen Kindes.
Nun, was nützt all dieses Wissen?
Wenn an meinem Kranksein
oder an dem Kranksein meines Kindes
weder ich selbst
noch meine Eltern schuld tragen,
sondern ich jetzt einen neuen Schuldigen habe:
nämlich die großen Schicksalsgestalten,
die ich weder verstehen
noch beeinflussen kann,
was bleibt mir dann noch anderes zu tun,
als mit ihnen,
mit den Schicksalsgestalten
zu hadern?
Ja, das ist in der Tat die dritte Möglichkeit,
derer wir Menschen uns ausgiebig bedienen:
Entweder sind wir selbst schuld
oder unsere Eltern sind schuld,
und wenn das nicht mehr hilft,
dann ist das Schicksal schuld
und ich kann ihm gegenüber
die Position des Anklägers übernehmen.
Jetzt klagen wir das Schicksal an!
Als wären wir in einem Gericht
und das Schicksal wäre der Angeklagte.
Und ich, der Ankläger, bin wieder einmal
- ohne es zu merken - der Größere,
und schaue auf den Angeklagten herab
und wünsche mir, ihn zu verurteilen:
Er sei grausam oder herzlos
oder - in der mildesten Form -
er sei ungerecht mit mir umgegangen.
Aber: Der "Angeklagte" hüllt sich
auch hier wieder in Schweigen
und denkt nicht daran,
sich zu verteidigen
oder auch nur sich zu erklären.
Nein, so lange ich der Ankläger bin,
höre ich von ihm kein einziges Wort.
Denn: Die ganze Verhandlung ist eine Farce!
Mehr noch, sie existiert nur in meiner Vorstellung!
Diese "Macht des Schicksals"
ein wenig zu erahnen,
dient unsere heutige Seelen-Reise.
Teil 2
Wieder gehst du als erstes zu deinem Atem.
Zu jener Gestalt in deinem Inneren also,
die dich und deine Seele schon so lange kennt.
Die dein Leben getreulich begleitet hat,
schon so viele Jahre
und der du doch bislang
nur sehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt hast.
Der Atem kennt alle Räume
und Verästelungen in deinem Inneren,
er kennt die Handlungen,
die du getan und die du unterlassen hast
und er hat sie nicht vergessen.
Du magst viele Teile deines Lebens "vergessen" haben,
du weißt nicht, wo in deinem Inneren
sie gespeichert und registriert sind,
aber dein Atem weiß es - sehr genau!
Und deshalb ist es wichtig,
daß du dich von ihm führen läßt.
Daß du selbst nicht zu suchen beginnst,
sondern daß du deinem Atem die Suche überläßt.
Er muß nämlich gar nicht suchen,
er weiß mehr von dir als du ahnst.
Und mit dem Ein und Aus
trägt dein Atem dich heute als erstes
auf die nächtlichen Straßen
einer großen Stadt.
Du atmest tief ein und tief aus
und die leeren Straßen der nächtlichen Großstadt
entstehen ganz von allein vor deinem inneren Auge.
Es ist ein wenig kühl hier
und während du durch die Straßen gehst
ziehst du deinen Mantelkragen
ein wenig wärmer um deinen Hals zusammen.
Die Gebäude der Stadt sind schon älter
- sie stammen aus der Zeit der Jahrhundertwende.
Und jetzt merkst du, daß dein Atem deine Füße
in Richtung auf ein besonders großes
und schwergewichtiges Gebäude lenkt.
Und schnell erhebt es sich vor dir
in seiner ganzen imposanten Größe und Dunkelheit.
Über dem Eingang befindet sich eine Empore.
Zwei in Stein gehauene athletische Männer
tragen die Empore auf ihren gebeugten Schultern.
Und du weißt sogleich:
Es ist das Gerichtsgebäude der Stadt!
Hier wird Recht gesprochen!
Eine Freitreppe führt dich
zu der großen und hohen Einganstür.
Sie ist viel größer als sie sein müßte.
Sie ist so groß, daß du dir ganz klein vorkommst,
zumal die Klinke der Tür
sich in Höhe deines Kopfes befindet.
Aber du mußt die Klinke gar nicht niederdrücken,
die Tür ist nur angelehnt,
so als wüßte jemand, daß du heute kommst.
Ohne Anstrengung kannst du die Tür
nach innen aufdrücken und betrittst jetzt das Innere.
Eine große Eingangshalle liegt
im dämmrigen Licht vor dir.
Nur durch die Fenster, von außen,
fällt das Licht der Strassenlaternen
in diesen Vorraum.
Marmorne Säulen gibt es hier
und die Wände und der Fußboden
sind ebenfalls aus dunklem Marmor gearbeitet.
Ein wenig beklommen gehtst du weiter.
Du spürst, daß diese Mauern die Angst
schon sehr viele arme Sünder
in sich aufgenommen haben.
Aber du gehst weiter.
Eine Marmortreppe ist hier
und sie führt nach oben.
Du betrittst sie und auf halber Höhe teilt sie sich.
Ein Strang der Treppe führt nach links,
und ein Strang der Treppe führt nach rechts.
Und du bist dir unschlüssig darüber,
welchen Weg du wählen sollst.
Sollst du nach links gehen?
Sollst du nach rechts gehen?
Du läßt deinen Atem entscheiden
und gehst dann weiter.
Als du in der ersten Etage ankommst,
siehst du, daß auch der andere Treppenaufgang hier endet.
Jede Entscheidung auf der Mitte der Treppe
hätte also zu dem gleichen Ergebnis geführt!
(10 Sekunden)
Flure führen auf dieser Etage
nach rechts, nach links und geradeaus.
Flure, gekachelt mit dunklen Fliesen
und Türen auf den Fluren - unzählige Türen.
Aber du weißt: Hier ist noch nicht
die richtige Etage, du mußt noch höher.
In der Mitte zwischen beiden
von unten heraufkommenden Treppen
befindet sich eine dritte,
weiter nach oben führende Treppe.
Diese betrittst du und wieder steigst du
mit dem Ein und Aus deines Atems weiter nach oben.
Wieder gabelt sich die Treppe in der Mitte
aber diesmal weißt du schon,
es spielt keine Rolle,
auf welchem Strang du nach oben gehst.
Und so gelangst du in die zweite Etage.
Wieder dasselbe Bild:
Korridore und Türen wohin dein Auge blickt.
Aber du läßt auch sie liegen
und steigst weiter - auf die nächste Treppe - nach oben.
Ein und Aus.
Immer höher und höher führt dich dein Atem.
Auf die dritte Etage.
Ein und Aus.
Auf die vierte Etage
- und noch weiter - nach oben.
(10 Sekunden)
So lange, bis du schließlich
die letzte Etage erreicht hast.
Das Dachgeschoß dieses
großen alten und düsteren Gebäudes!
Hier gibt es nur noch einen Flur;
er führt von der Treppe geradeaus
in den Hintergrund des Gebäudes.
Es ist ein langer Korridor
und rechts und links dieses Flures
sind diesmal keine Türen.
Mit deinem Atem betrittst du ihn
und schreitest auf ihm zu seinem Ende fort.
Und als dein Blick nach oben fällt,
siehst du, daß er ein gläsernes Dach hat.
Und über dir ist der gestirnte Himmel
- in seiner ganzen Majestät.
(10 Sekunden)
Und dir fällt der Spruch
eines alten deutschen Philosophen ein,
der sinngemäß etwas so lautet:
"Für mich gibt es nur zwei Dinge,
die mein Handeln leiten:
Das Gesetz in mir
und der gestirnte Himmel über mir!"
(10 Sekunden)
Und jetzt bist du
am Ende des Korridores angelangt.
Eine Tür befindet sich hier:
Sie ist relativ klein und mit
Glasscheiben versehen,
hinter denen du sogar
kleine Gardinen erblicken kannst.
Und auf einem Messingschild,
auf dem normalerweise der Name des
Bewohners steht, sind zwei Worte eingraviert:
"Mein Gesetz"
Auch diese Tür ist nur angelehnt.
Sie ist für dich geöffnet,
so als hätte der Bewohner,
der in den Räumen hinter der Tür wohnt,
gewußt, daß du heute kommen würdest.
Du holst tief Luft - um dir Mut zu machen
und dann trittst du ein.
Teil 3
Der Raum, den du jetzt erblickst,
ist eine riesengroße alte Bibliothek.
Mit großen, dunklen Regalen an den Wänden,
die alte Folianten, Schriftrollen
und das eine oder andere alte Meßinstrument
aus poliertem Messing enthalten.
Ein Feuer brennt im Kamin
und hier und da lehnen Leitern,
um die Bücher in den oberen Regalen zu erreichen.
(10 Sekunden)
In einer Ecke der Raumes
steht auf einer kleinen Erhöhung
ein großer hölzerner Schreibtisch.
Und hinter dem Schreibtisch
sitzt ein alter Mann
mit spärlichem weißen Haar.
Er hat eine Art Kneifer auf der Nase
und er schreibt etwas mit einer Gänsefeder
in ein großes Buch.
Er schaut nicht zu dir hin,
so als hätte er dich
noch gar nicht wahrgenommen.
Aber du spürst genau,
daß er weiß: Du bist da!
(10 Sekunden)
Und jetzt spürst du auch
eine Art Ehrfurcht vor diesem alten Mann.
Und langsam, ganz langsam
- du weißt nicht genau, ob du es darfst -
näherst du dich der kleinen Erhöhung
mit dem Schreibtisch.
Und hättest du jetzt eine Hut
oder eine Mütze auf dem Kopf,
so würdest du sie schleunigst abnehmen
und ein wenig nervös in den Händen
hin und herbewegen.
Langsam näherst du dich dem Schreibtisch.
(10 Sekunden)
Und jetzt stehst du vor der hölzernen Erhöhung.
Der Kopf des sitzenden alten Mannes
befindet sich - durch die Empore -
höher als dein Kopf.
Aber der Alte schreibt weiter.
Und du weißt nicht, was du machen sollst.
Du denkst noch einmal darüber nach,
warum du überhaupt hier bist.
Du kamst wegen deiner Krankheit
oder wegen der Krankheit deines Kindes.
Du wolltest etwas tun,
du wolltest das Kranksein beenden
(wenn das möglich ist),
du wolltest das Kranksein mildern
(wenn das möglich ist)
und wenn das alles nicht gelingt,
dann wolltest du dein Kranksein
oder das Kranksein deines Kindes
wenigstens verstehen.
Deshalb stehst du vor den Schranken
dieses Schreibtisches.
Aber der Alte rührt sich nicht.
Er schreibt seelenruhig weiter.
Und du weißt immer noch nicht,
was du tun sollst.
Der Alte sieht nicht so aus,
als wäre mit ihm gut Kirschen essen.
(10 Sekunden)
Nach einer Weile, du bist immer noch unschlüssig,
sagt der Alte, ohne von seinem Schreiben aufzublicken:
"Ich weiß, warum du gekommen bist!"
(10 Sekunden)
"Und ich kenne alle deine Fragen!"
"Und sie sind alle falsch gestellt!"
Der Alte sagt diese Worte ziemlich streng.
Und während er redet und während du
- ein wenig beklommen - zuhörst,
denn du merkst, gegen seine Worte gibt es
keine Berufung;
während du also zuhörst,
geht eine Verwandlung mit dir vor.
Und - unabhängig davon, ob du heute
als Elternteil gekommen bist,
mit einem kranken Kind auf deiner Seele,
oder ob du als Erwachsener gekommen bist,
der oder die seit der Kindheit krank ist,
- während du jetzt vor den Schranken
deines Schicksals stehst,
geht eine Verwandlung mit dir vor:
Du wirst selbst wieder zu einem Kind.
Der Alte mit seinen Worten und dein Atem
führen dich zurück in deinen Kindheit.
Du wirst jetzt selbst zu dem kranken Kind.
(10 Sekunden)
Und du spürst, wie du zu dem kranken Kind wirst.
Und wie du kleiner wirst.
Und weil der Alte dich jetzt nicht mehr
so gut sehen kann, steht er auf aus seinem Stuhl.
Und jetzt schaut er dich auch an.
Und während er dir vorher streng und unnahbar erschien,
schaut er dich jetzt sehr verständnisvoll an.
Und er sagt:
"Ich werde es dir nicht leicht machen,
mein Kind!"
"Dein Leben wird anders sein,
als das der Anderen!"
"Dein Weg wird anders sein,
als der der Anderen."
"Und ich weiß,
du wirst die anderen beneiden,
um ihren Weg!"
"Aber du mußt wissen:
Es gibt zwei Arten von Menschen!"
"Die einen, die ihren Weg im Außen gehen sollen!
Und die sich dort etwas erarbeiten müssen."
"Und die anderen, die ihren Weg im Inneren gehen sollen!
Und die sich dort etwas erarbeiten müssen."
"Der zweite Weg ist der schwerere!
Dein Weg ist der zweite Weg!"
"Und es sind dir alle Gaben gegeben worden
für diesen zweiten Weg.
Und es ist dir die Kraft gegeben worden
für diesen zweiten Weg!"
Und der Alte wischt mit einer Handbewegung
ein Bild in die Luft:
"Ich zeige dir jetzt einen Menschen,
der aus seinem Rollstuhl heraus
vielen tausend Menschen den
Mut zum Leben gegeben hat."
Und du siehst, als wäre es
ein alter Schwarz-Weiß-Film,
einen alten Mann in einem Rollstuhl
vor einer Gruppe von Menschen,
denen er seine Hypnose-Techniken beibringt.
"Sein Name," sagt der Alte,
"war Milton Erickson!"
"Er ist den Weg des Inneren gegangen
und was er dort gefunden hat,
das hat er an andere weitergegeben
und ihnen damit viel Leid erleichtert."
"Versteh' mich nicht falsch", sagt der Alte,
"das ist nur ein Beispiel,
wie man seinen inneren Weg gehen kann."
"Jeder muß diesen Weg für sich allein finden!"
"Jeder Mensch hat aber auch
bei diesem inneren Weg zwei Möglichkeiten:
Du kannst lernen, ihn zu gehen
und dann bekommst du Hilfestellungen!"
"Oder du bleibst stehen und machst Vorwürfe."
"Dann gehst du den Weg der Anklage!"
"Du klagst deine Eltern an.
Oder du klagst dich an.
Oder du klagst mich an!"
"Das ist der Weg des Wortes: "Warum?""
"Warum habe ich ...? oder
Warum haben meine Eltern...? oder
Warum hat das Schicksal...?"
"Und ich kann dir versprechen:
Du wirst auf diesem zweiten Weg
tausend verschiedene Antworten bekommen.
"Und jede neue Antwort wird
eine neue Warum-Frage in dir aufwerfen.
Bis ans Ende deiner Tage!"
"Und all diese Warum-Fragen
haben in Wahrheit nur ein Ziel."
"Du möchtest nicht
die Verantwortung dafür übernehmen,
daß es so ist, wie es ist!"
"Du möchtest, daß ein anderer
die Schuld dafür hat,
mit dem du dann hadern kannst."
"Daß deine Eltern Schuld haben -
daß du selbst schuld bist -
oder daß ich schuld bin."
"Verantwortung aber ist etwas ganz anderes!"
"Verantwortung hat zu tun
mit einem einzigen Satz!"
"Mit dem Satz:
"Ich trage es!"
"Es ist meins!"
Und jetzt kommt der Alte
um seinen Schreibtisch herum,
steigt von der Erhöhung herunter
und stellt sich vor dich.
Er ist sehr groß.
Und du bist sehr klein.
(10 Sekunden)
Und wieder macht er
eine wischende Bewegung in die Luft.
Und jetzt siehst du
- wieder als wäre es einer dieser
alten Schwarz-Weiß-Filme -
deinen Vater und deine Mutter im Raum stehen.
(10 Sekunden)
Und du siehst, sie machen sich Sorgen.
Sie fragen sich ebenfalls,
ob sie alles richtig gemacht haben.
Und es kann sein, du siehst,
daß Schuldgefühle sie quälen:
Sie hätten etwas getan
oder unterlassen
- sie hätten damals
auf der Mitte der Treppe
nicht den richtigen Treppenstrang
genommen.
Ja, sie schauen dich liebevoll
aber vielleicht auch mit einem
schlechten Gewissen an.
(10 Sekunden)
Und du schaust den Alten an
und der Alte schaut dich ermutigend an
und deutet auf die beiden,
so als wollte er sagen:
"Du kannst es!"
Und dann blickst du wieder auf die beiden,
die so vieles für dich getan haben.
So vieles, um dir dein Los zu erleichtern.
Und du sagst zu ihnen, du sagst es wirklich laut:
"Lieber Papa,
liebe Mama,
danke, daß ihr mir geholfen habt."
"Wenn ich Euch Vorwürfe gemacht habe,
so tut es mir leid!"
"Heute weiß ich:
Ihr hattet nichts damit zu tun!"
"Es ist mein Schicksal!"
"Ich trage es!"
(10 Sekunden)
Und dann verschwinden deine Eltern wieder.
Der Alte hat sie einfach fortgewischt.
Und er schaut dich jetzt fast liebevoll an.
(10 Sekunden)
Aber du merkst, daß noch etwas fehlt.
Du bist auch dem Alten noch etwas schuldig!
Aber du weißt nicht, wie du es ausdrücken kannst.
Irgendwie scheinen Worte nicht richtig zu sein.
Und so machst du das,
was dir in deiner Seele
immer weiterhelfen kann und wird:
Du gehst zu deinem Atem
und du läßt dich von ihm leiten und führen.
Und dein Atem zeigt dir die einzig
angemessene Haltung
diesem alten weisen Mann gegenüber:
Du stellst dich vor ihn
und du verneigst dich - ganz tief!
Du schließt deine Augen
und du atmest
und du verbeugst dich ganz tief,
so als wolltest du damit das Wort "Danke"
in einer ganz fremden Sprache ausdrücken.
(10 Sekunden)
Und während der Verneigung
spürst du auch, wie du wieder größer wirst.
Es verneigen sich jetzt nämlich sowohl das Kind
als auch der Erwachsene.
Denn jetzt wirst du wieder erwachsen,
wirst wieder der, der diesen inneren Raum
vor einiger Zeit betreten hat.
Und als deine Verbeugung zu ende ist,
sitzt der Alte wieder an seinem Schreibtisch.
Und schreibt in seinem großen Buche.
Er schaut dich nicht mehr an.
Aber es will dir so scheinen,
als ob er bei seinem Schreiben
leise, ganz leise in sich hineinlächelt.
(10 Sekunden)
Und du weißt jetzt,
deine Zeit ist jetzt um.
Deine Audienz ist zuende.
Und du gehst.
Du verläßt den großen Raum
mit den vielen Büchern
und hinter dir fällt die Tür ins Schloss.
Teil 4
Jetzt bist du wieder in dem langen Flur.
Die gehst zur Treppe
und du willst gerade die Treppe hinabsteigen,
da siehst du - in einer Nische neben der Treppe -
einen hölzernen Paternoster.
Langsam schweben die Kabinen nach unten.
Und du siehst das an als eine Aufforderung.
Du betrittst die nächste Kabine.
Und läßt dich langsam
- in die Wachheit und in die Munterkeit -
hinabtragen.
Je tiefer die Kabine dich nach unten führt,
desto wacher wirst du.
Und kurz bevor du deine Glieder wieder regst,
wunderst du dich noch, warum dieser
Fahrstuhl "Pater noster" also "Vater unser" heißt.
Aber auch hierauf bekommst du keine Antwort,
sondern du wirst WACH!
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