Krankheit und Gesundung
Eine theologisch-philosophische Sinndeutung
erschienen im
LETTNER-VERLAG, BERLIN-DALEHM
EINLEITUNG
Darf man es wagen, als Nicht-Mediziner, also etwa als Theologe oder als Philosoph, ein Buch über die Krankheit und ihre Heilung zu schreiben? Überschreitet man damit nicht seine Kompetenz, greift man damit nicht in den Kompetenzbereich der allein berufenen Fachleute ein? Ebenso sinnvoll ließe sich etwa auch fragen: ist es dem Nicht-Botaniker erlaubt, eine Blume zu malen? oder: Hat der militärische Laie das Recht, seine eigene Meinung zum Problem des Krieges zu sagen? Zweifellos hat jedes Gebiet wie auch jedes Einzelphänomen einen Aspekt, der den Gegenstand irgendeiner Spezialwissenschaft bildet, aber es gehört schon der ganze wissenschaftliche Aberglaube unserer Spätzeit dazu, um glauben zu können, daß dieser Aspekt den Gesamtumfang des betreffenden Gebietes oder des betreffenden Phänomens erfaßt. Er engt vielmehr ganz im Gegenteil das Blickfeld ein und bringt den von ihm Faszinierten in die Gefahr, vielleicht gerade das im Letzten Entscheidende zu übersehen. Hätte man von jeher z. B. das Urteil über den Krieg allein den Feldherrn und Generälen überlassen, dann wäre das Menschengeschlecht inzwischen wahrscheinlich längst ausgestorben. Ich will natürlich nicht behaupten, daß dasselbe auch dann geschehen wäre, wenn man das Urteil über die Krankheit allein den Ärzten überlassen hätte, aber irgendwelche bedenklichen Folgen hätte doch sicher auch eine solche Einschränkung gehabt, ja sie hat sie sogar in gewisser Weise bereits gehabt, sofern nämlich hier wie auch anderswo die rein rationale Wissenschaft mit ihren Hegemonieansprüchen weit über die ihr von Natur aus gesetzten Grenzen hinausgegangen ist. Davon weiß übrigens gerade die Theologie der jüngeren Zeit ein recht schwermütiges Lied zu singen.
Die Frage, was Krankheit und was Heilung oder genauer gesagt Gesundung eigentlich sei, hat schon immer die Theologen und die Philosophen kaum weniger bedrängt als die Ärzte. Ja, ursprünglich erwartete sogar der Arzt vom Priester oder vom Weisen die letzte Antwort auf diese Frage. Das gilt jedenfalls für das ganze Altertum, auch für die Antike, selbst noch über Hippokrates hinaus. Empedokles, Platon, Aristoteles, usw. wurden mit Aufmerksamkeit gehört. Das Mittelalter denkt da kaum anders. Erst die Renaissance bringt wie überall, so auch hier die Wendung. Die Wissenschaft emanzipiert sich von der Theologie wie von der Philosophie, und die Einzelwissenschaften treten aus dem gemeinsamen Zusammenhang heraus, um sich deutlich gegeneinander abzuheben, d. h. um sich zu spezialisieren. So wird eben auch die Medizin zu einer Spezialwissenschaft und zum Herrschaftsgebiet einer ihr zugeordneten Gelehrtenkaste. Man nimmt es dem Arzt jetzt sogar übel, wenn er spekuliert und philosophiert, wie etwa schon in der Frührenaissance ein langes Gedicht Petrarcas beweist. Der Arzt ist nicht mehr der universelle Geist, der er einmal war. Gestalten wie Paracelsus bilden die Ausnahme. Noch etwas später kehrt sich dann das Verhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft geradezu um. Im 19. Jahrhundert wird, wenn wir von dem relativ kurzen Zwischenspiel der Romantik absehen, der Philosoph zum Schüler des Gelehrten. Er hält sich für verpflichtet, von den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung auszugehen und sich auf sie zu stützen. Die Philosophie, ja selbst die Theologie hat den verdächtigen Ehrgeiz, gleichfalls zur Wissenschaft zu werden und damit endgültig auf ihre ursprüngliche Autorität zu verzichten, die Königskrone abzulegen.
Es gibt darum in der Neuzeit, wieder abgesehen von der Romantik, nur sehr wenige ernstzunehmende philosophische und theologische Auseinandersetzungen mit dem Problem der Krankheit. Den Theologen und Philosophen fehlen gewöhnlich die für unerläßlich gehaltenen medizinischen Fachkenntnisse, und den mit ihrer praktischen Arbeit voll belasteten Ärzten die nötige Zeit und wohl auch das Bedürfnis nach tieferer Besinnung auf Sinn und Wesen ihres Berufes. Karl Jaspers, der selbst ursprünglich Arzt war, meint: "Was gesund und was krank im allgemeinen bedeutet, darüber zerbricht sich der Mediziner am wenigsten den Kopf."1) In den letzten Jahrzehnten sind zwar zahlreiche ausgezeichnete Schriften in dieser Richtung erschienen, besonders von Psychiatern und Psychotherapeuten, ich nenne bloß die Namen v. Weizsäcker, v. Gebsattel, Binswanger, Heyer, Trüb, Boss, Müller Eckard, Schriften, die zum Teil echten philosophischen Geist atmen und auch sehr hohen Ansprüchen genügen können, aber das sind doch vorläufig nur Brocken vom Tisch der Medizin und nicht eigens für den Philosophen oder Theologen gedeckte Tafeln.
Es geht hier um das Problem, ob die Frage, was irgend etwas sei, besser von dem beantwortet wird, der damit unmittelbar zu schaffen hat, oder vielleicht gerade von dem anderen, der mehr außerhalb steht, dem die eigene Position einen unbefangeneren Überblick über das Ganze erlaubt. So setzt etwa die Konzeption einer Geschichtsphilosophie, die etwas über den Sinn der Geschichte aussagen will, zweifellos einen Standpunkt jenseits aller Geschichte und aller Voraussetzungen historiographischer Forscherarbeit voraus, weshalb ein und derselbe Mensch kaum gleichzeitig Historiker und Geschichtsphilosoph sein kann. Die sich daran unvermeidlich anknüpfende weitere Frage, ob denn dem immer in der Geschichte lebenden Menschen das Beziehen eines Beobachtungspostens jenseits der Geschichte überhaupt möglich sei, möchte ich hier, weil für unser Thema von geringer Wichtigkeit, unerörtert lassen. Wie über Wesen und Sinn der Geschichte nicht der Historiker, sondern allein der Geschichtsphilosoph das Entscheidende zu sagen hat, wo wird, um noch ein anderes Beispiel anzuführen, über Wesen und Sinn des Geldes sicher nicht der Finanzmann oder der Finanzminister die beste Auskunft geben können, sondern der, der mindestens innerlich vom Geld, von seinem Besitz oder Nicht-Besitz, von seinen Vorzügen und Tücken relativ unabhängig ist, der es also nach dem biblischen Wort nur hat, als ob er es nicht hätte. Grundsätzlich das Gleiche gilt natürlich vor allem von der besonders in jüngster Zeit so oft und dringlich gestellten Frage: "Was ist der Mensch?" Darauf kann es aus Menschenmund überhaupt keine auch nur einigermaßen zureichende Antwort geben; denn der Antwortende müßte ja als solcher aufhören Mensch zu sein.
Die Frage, die wir stellen, lautet nun: "Was ist die Krankheit und was ist die Gesundung?", und da werden sich ohne Zweifel zunächst einmal erstens die Kranken und zweitens die sie behandelnden Ärzte für zuständig halten. Aber gerade die Zuständigkeit dieser beiden Menschengruppen erscheint dubios. Gewiß wird unter bestimmten Voraussetzungen auch einmal ein Kranker oder ein Arzt etwas Hörenswertes zu dem Thema zu sagen haben, etwas, das dann sehr ernst zu nehmen sein wird, aber sofern das zutreffen sollte, wäre eben der Betreffende weder Kranker noch Arzt, sondern hätte sich als der Urteilende bereits aus der natürlichen Befangenheit seines Krankseins oder Arztseins herausgenommen. Daß gerade ihm das schwerer fallen muß als irgendeinem anderen und daß darum ihm gegenüber von vornherein Vorsicht und Argwohn am Platz ist, leuchtet ein. Bekanntlich eignet sich ja auch niemand weniger zum Kunstkritiker als der Künstler selbst. Wenn also ein Nicht-Kranker und Nicht-Arzt über Wesen und Sinn der Krankheit redet, so ist das genau so wenig Anmaßung wie wenn ein Nicht-Historiker sich über den Sinn der Geschichte oder ein Nicht-Finanzmann über den Sinn des Geldes seine Gedanken macht.
Dagegen scheint allerdings zu sprechen, daß so ziemlich alles, was gegenwärtig an philosophischen und theologischen Auseinandersetzungen mit dem Problem der Krankheit, der Gesundheit, der Heilung usw. vorliegt, von praktizierenden Ärzten stammt, aber diese philosophisch oder theologisch infizierten Mediziner sind durchweg Psychiater und nicht etwa Internisten oder gar Chirurgen, d. h. sie sind eigentlich nur zur einen Hälfte Ärzte und zur anderen, mindestens der Tendenz nach, Seelsorger. Sie haben es in den meisten Fällen mit "Krankheiten" zu tun, deren Krankheitscharakter berechtigten Zweifel unterliegt und die darum in der griechischen Antike dem Priester, in späteren Jahrhunderten dem Inquisitor als der eigentlich kompetenten Instanz überwiesen wurden. Der Psychotherapeut ist ein "Wanderer zwischen zwei Welten", er steht nur mit einem Bein in der Medizin, mit dem anderen transzendiert er sozusagen sein Arzttum und gewinnt so die Möglichkeit, von der Transzendenz her auf eben die Phänomene zu reflektieren, in die der Nur-Arzt, der Internist oder Chirurg bis über beide Ohren vergraben bleibt. Es ist ja auffallend und aufschlußreich, daß die philosophierenden Ärzte keineswegs nur über Neurosen und Psychosen, sondern ebenso über Stenosen und Sklerosen philosophieren, daß sie also dem Wesen des Krankseins auch dort auf die Spur zu kommen suchen, wo es sich gar nicht mehr um ihr besonderes Spezialgebiet handelt. Man könnte sagen, sie werden in diesem ihrem Spezialgebiet näher an den gewissen Punkt herangeführt, in dem nicht nur die Krankheit allein, sondern auch jedes andere menschliche Übel seinen letzten Ursprung findet. Wo sie als die Behandler und die von ihnen Behandelten Schicksalsgenossen sind, wo sich das Gegenüber von Arzt und Patient in das Verhältnis der Solidarität verwandelt.
Das führt zu einer weiteren Überlegung: Es könnte sein, daß jeder Mensch, ebenso wie er in der Geschichte lebt, und darum keinen Standpunkt jenseits aller Geschichte beziehen kann, als Mensch immer auch schon und unausweichlich Arzt oder Kranker, richtiger Arzt und Kranker ist und sich so seiner apriorischen Natur nach in der gleichen Situation vorfindet wie diese Beiden. Vielleicht gehört die Krankheit zum Wesen des natürlichen Menschen überhaupt, auch des scheinbar gesunden, und vielleicht gehört ebenso der Wille gegen die Krankheit zu kämpfen, bei sich wie bei anderen, also "Arzt" zu sein zu seinem Wesen. Dann wäre freilich keiner befugt und befähigt, die Frage: "Was ist Krankheit?" zu beantworten, genau so wenig wie die andere bereits erwähnte Kardinalfrage: "Was ist der Mensch?" Dann müßten wir die Antwort auf beide Fragen wahrscheinlich derselben außer- oder übermenschlichen Autorität überlassen. Ecce homo! Siehe, der Mensch! Sagt Pilatus im Blick auf den gegeißelten und dornengekrönten Jesus. Durch seinen Mund redet da offenbar ein anderer, einer, der wirklich um den Menschen Bescheid weiß, und zwar gerade um den leidenden, also um den kranken Menschen. In diesen Worten des römischen Richters verbirgt sich die Antwort auf beide Fragen: "Was ist der Mensch?" und "Was ist Krankheit?"
Der Kranke ist der mit sich selber, mit seinem eigenen Lebensgesetz in Widerspruch oder in Konflikt Geratene. Auch dann, wenn die Krankheit eindeutig durch einen Anstoß von außen, etwa durch Verwundung oder durch Infektion verursacht wurde, ist der Verwundete oder Infizierte doch erst krank, sofern sich infolge der äußeren Einwirkung in ihm ein Kampf zwischen den Mächten des Lebens und den Mächten des Todes, zwischen Sein und Nicht-Sein austobt, sofern also er als dieses einzelne Wesen sich in zwei gespalten hat und so mit sich in Gegensatz geraten ist. In jeder Krankheit bricht ein Zwiespalt des Selbst auf, und jeder Zwiespalt des Selbst &endash; sei er körperlicher oder seelischer Art &endash; ist, wenigstens im weitesten Sinn des Wortes Krankheit. Das Problem der Krankheit fällt somit mit der Problematik des Selbst zusammen; denn problematisch sein und nicht mit sich identisch sein bedeutet das Gleiche. Die Problematik des Selbst aber ist das philosophische Problem schlechthin. Philosophieren heißt fragen, und nur der Fragwürdige, der mit sich Uneinige fragt nach sich. Richtet sich der Frager mit seiner Frage nicht an sich selbst &endash; was er als reiner Philosoph allerdings immer tut &endash;, sondern an eine andere, an eine ihm überlegene und höhere Instanz, so ist damit das philosophische Problem bereits auf dem Weg in das theologische überzugehen. Die Fragwürdigkeit des Verhältnisses zu sich selbst erweitert sich zur Fragwürdigkeit auch des Verhältnisses zwischen dem Frager und dem, von dem er die Antwort erwartet.
Auch von hier aus fällt wieder ein Licht auf die zweideutige Gestalt des philosophierenden Arztes, genauer des philosophierenden Psychotherapeuten. An der besonderen Krankheit, an der besonderen Fragwürdigkeit des Patienten erfährt nämlich der Arzt, wenn er rücksichtslos konsequent vorgeht, unvermeidlich auch seine eigene Fragwürdigkeit und erfährt er zuletzt, daß er von sich aus auf die in dieser Fragwürdigkeit sich manifestierende Frage keine Antwort weiß und wissen kann. Er stößt an die Grenze des Transzendenten, er muß erkennen, daß er dem Kranken da vor ihm nur helfen kann, wenn und sofern auch ihm und vor allem ihm von dort her geholfen wird. Er findet sich über alle Möglichkeiten des bloßen Arztseins hinaus verwiesen; denn der Arzt für die Krankheit, an der alle Menschen ohne Ausnahme leiden, aus keinem anderen Grund als darum, weil sie Menschen sind, kann nicht wieder ein Mensch sein.
Für den Mediziner im engeren Sinn ist nur der krank, der gewisse Symptome erkennen läßt, für den Theologen aber wie für den tiefer blickenden Philosophen auch der symptomlose sogenannte Gesunde. Daraus wäre schon zu schließen, daß es die medizinische Wissenschaft eigentlich gar nicht mit der Krankheit selbst, sondern lediglich mit einigen ihrer Symptome zu tun hat, nämlich mit solchen, die an den Organen des Leibes in Erscheinung treten und Störungen des biologischen Prozesses bedingen. Dagegen wird der Theologe immer sagen müssen: "Krankheit gehört geradezu zur Natur des Menschen. Menschsein und Kranksein sind nicht voneinander zu trennen." "Darum wird auch der Christus der Arzt genannt, und wenn von ihm gesagt wird, die Gesunden bedürfen seiner nicht, sondern die Kranken, so will das bedeuten: für den Christus und vor ihm gibt es keine Gesunden."2)
Unter einem Symptom versteht man die äußerliche und unmittelbar sinnlich wahrzunehmende Erscheinungsweise von etwas, das sich seinem eigentlichen Wesen nach hinter der bloßen Erscheinung verbirgt und der Wahrnehmung wenigstens vorläufig entzogen bleibt. Im engeren medizinischen Sinn ist demnach ein Symptom die sich dem untersuchenden Arzt zunächst darbietende krankhafte Ausdrucksform, von welcher aus dann die Diagnose zu der sich in ihr ausdrückenden Krankheit, zum Krankheitsherd vorzudringen sucht. Wäre damit das Wesen des Symptoms wirklich erschöpfend definiert und wäre die Voraussetzung richtig, daß es für alle Symptome als letzte Ursache eine Krankheit gibt, über die weiter hinaus zu fragen keine Nötigung vorliegt, dann hätte allerdings der Mediziner allein die Befugnis, zum Problem der Krankheit sein Wort zu sprechen. Wenn aber der diagnostische Regressus vom Symptom zum Krankheitsherd niemals zu einem endgültigen Abschluß kommen, d. h. wenn sich die jeweils aufgespürte Krankheit am Ende doch auch wieder nur als das Symptom einer noch tiefer liegenden Störung erweisen sollte, einer Störung vielleicht, die jenseits der Grenze dessen liegt, was dem üblichen Wortsinn nach Krankheit heißt, dann wäre an eben dieser Grenze auch die Zuständigkeit der medizinischen Wissenschaft aufgehoben und müßte eine andere Zuständigkeit an ihre Stelle treten, nicht eine andere wissenschaftliche Instanz natürlich, sondern eine, die das ganze Gebiet der Wissenschaft ebenso hinter sich läßt wie jene tiefer gelegene Störung den Komplex der Symptome und überhaupt die Krankheit als bloß pathologisches Phänomen.
In Platons Dialog "Charmides" erzählt Sokrates von einem thrakischen Arzt, der ihm gesagt habe, die griechischen Ärzte hätten zwar recht, wenn sie meinten, man könne nicht ein einzelnes Organ gesondert behandeln, aber Zamolxis, der König von Thrazien, "der ein Gott ist, sagt, daß, wie man nicht versuchen dürfe, die Augen ohne den Kopf zu heilen, noch den Kopf ohne den Leib, so auch nicht den Leib ohne die Seele; auch sei nur dieses schuld daran, daß die Ärzte bei den Hellenen über so viele Krankheiten nicht Meister werden, weil sie das Große nicht kennen, das man in Pflege nehmen müsse, während doch, wenn dieses sich nicht gut befindet unmöglich der Teil sich wohl befinden könne. Denn, sagt er, von der Seele gehe alles, sowohl Gutes als Böses, aus für den Körper und den ganzen Menschen, und von da aus fließe es ihm zu, sowie aus dem Kopf den Augen." Man sieht, daß das heute so viel diskutierte "psychosomatische" Problem bereits der klassischen Antike durchaus geläufig war, und zwar offenbar in der Auseinandersetzung mit Hippokrates und seiner Schule, die dem Arzt nur die körperlichen Leiden, die seelischen aber dem Priester zur Behandlung anvertraute.
Der König als Philosoph und auch als Arzt, das ist echt platonisch gedacht. Die Könige müssen Philosophen oder Philosophen Könige sein, weil nur der Philosoph allein Einblick hat in die transzendente Welt der Ideen, aus der der empirischen Welt alle aufbauenden Kräfte zuströmen. Der Philosophenkönig wird so zum Ventil des Lebens für den Staat, den er regiert, ähnlich wie der dem Himmel verbundene chinesische Kaiser. Indem er sich der höheren Welt der Wahrheit und des Guten erschließt, empfängt er von dort oben, was er dann nach unten zum Segen und Heil der Menschen weitergibt. Aber eben damit ist er auch schon der eigentliche Arzt, der das "Große", die "Seele", den Sinn des Ganzen verwaltet, damit sich die Teile wohlbefinden können. Der falsche Arzt wäre nach der Meinung Platons also der, der nur das sich den Sinnen unmittelbar darbietende Sein beachtet, nicht aber auch den Sinn, von dem zuletzt alles abhängt, das heißt mit etwas anderen Worten: der nur an den Symptomen herumkuriert und das, wovon die Symptome Symptome sind, gar nicht sieht. Wie der Staat nur gesund sein kann, wenn er durch den König auf seinen transzendenten, auf seinen ideellen Sinn hin ausgerichtet ist, so auch der einzelne menschliche Leib nur, wenn zwischen ihm und der Seele und das meint ja wieder dem Sinn, Harmonie besteht. Der rechte Arzt muß darum mit dem Körper des Patienten genau so verfahren wie der rechte König mit der Politeia. Hier wie dort gilt es, das Sein unter die Herrschaft des Sinnes zu bringen, die Wirklichkeit sinnvoll zu gestalten.
So denkt, wie gesagt, Platon und nicht etwa auch noch der Christ; denn so unbefangen und so optimistisch ist man post Christum natum nicht mehr, um glauben zu können, es bedürfe nur eines guten Königs oder eines guten Arztes, um die gestörte Harmonie des organischen Leibes oder des Staatswesens wieder in Ordnung zu bringen. Immerhin hat doch auch Platon begriffen, und das müssen wir ihm sehr hoch anrechnen, daß es kein gesundes Sein ohne Sinn geben kann, daß der Sinn als Richtung auf ein Telos unabdingbar zur Wirklichkeit des Wirklichen gehört. Das Geheimnis des sinnhaften Wirklichen ist nicht zu fassen, solange man nur wie gebannt auf das allein objektivierbare Sein hinstarrt, und das heißt, wo es sich um die Krankheit handelt, bloß den Symptomen seine Aufmerksamkeit schenkt und ihre eventuellen kausalen Bedingungen zu ergründen sucht. Der wahre Grund alles Übels und damit auch der Krankheit ist die Abweichung des Seienden vom Sinn, und diese Abweichung zeigt sich nicht dem medizinischen Diagnostiker. Soll der Arzt bis dahin vordringen, dann muß er mehr sein als Arzt, ebenso wie nach Platon der König mehr sein muß als König, nämlich als politischer Regent, wenn er wissen will, aus welchen Quellen das Leben des Staates je nachdem seine Nahrung oder sein Gift bezieht.
"Menschsein und Kranksein sind nicht voneinander zu trennen" haben wir uns eben früher von einem Theologen sagen lassen. Stimmt das, und unter christlichen Voraussetzungen ist dieses Urteil gar nicht zu vermeiden, dann haftet die radikale Krankheit nicht nur dem natürlichen Leib, sondern auch dem natürlichen Erkennen und Wollen, dem natürlichen Verhalten und Handeln des Menschen a priori an, der Theorie wie der Praxis des täglichen Lebens, also unter anderem auch allen natürlichen Heilmethoden, der Diagnose wie der Therapie. Das will sagen, daß der Arzt unter den gleichen Vorgegebenheiten behandelt, unter welchen der Kranke krank wird. Und wenn, wie wir sagten, die Krankheit als solche bereits Symptom einer tiefer liegenden Störung ist, so steht auch das Tun des Arztes, das derselben Welt angehört wie die Krankheit des Kranken, unter dem Vorzeichen der Störung. Was der Mediziner Heilung nennt, ist darum immer mindestens zweideutig, d. h. es hat die Richtung auf den Sinn des Lebens nur insoweit, als das empirische Leben selbst noch sinnhaft ist. Sofern das aber nicht zutrifft, sofern also das Leben seinen Sinn bereits verfehlt hat, so daß es der Gefährdung durch die Krankheit ausgesetzt erscheint, hat auch die Heilung an der Sinnverfehlung, an der Sinnverkennung teil, bewirkt sie in letzter Konsequenz das Gegenteil dessen, was sie zu bewirken meint.
Es ist also nicht etwa so, daß die medizinische Wissenschaft oder die ärztliche Kunst innerhalb eines genau abzugrenzenden Bereiches unbedingt zuständig wäre, daß sie erst jenseits der fraglichen Grenzen ihre Zuständigkeit verlöre und an eine andere Instanz abzugeben hätte, sondern es ist so, daß von dem Jenseits der Grenzen her ein ganz unerwartetes Licht auch auf die Wissenschaft und die ärztliche Therapie fällt, ein Licht, das gerade das verdächtig erscheinen läßt, was sich diesseits der Grenzen über alle Zweifel erhaben dünkt. Es sind die alles bis in die kleinsten Einzelheiten hinein bestimmenden Voraussetzungen, die sich im Übergang aus der Immanenz in die Transzendenz verändern. Ob diese Transzendenz Gegenstand des Glaubens oder vielleicht nur ein philosophisches Postulat ist, etwa die platonische Idee oder der absolute Geist Hegels, spielt gewiß für die Art, nicht aber für das Faktum der Veränderung eine entscheidende Rolle; denn da wie dort handelt es sich um eine die gesamte Wirklichkeit neu qualifizierende Voraussetzung, um eine, von der hergebrachten völlig abweichende Sinngebung. So kann es etwa geschehen, daß nun als Krankheit erscheint, was vorher für Gesundheit oder daß als Heilung erscheint, was vorher für Erkrankung gehalten wurde und umgekehrt. Eine solche Sinnverkehrung muß nicht unbedingt eintreten, sie muß auch nicht die Totalität des fraglichen Phänomens betreffen, sondern kann sich unter Umständen bloß auf gewisse Seiten desselben beschränken, aber auch dann, wenn äußerlich alles beim Alten bleiben sollte, steht dieses Alte nun doch unter einem anderen Aspekt.
Der Satz "Menschsein und Krankheit sind nicht voneinander zu trennen" besagt keineswegs, daß der natürliche lebendige Mensch überhaupt nur krank ist, daß also die Krankheit geradezu sein Wesen oder seine Substanz ausmacht. Vor solchen Übertreibungen wird immer wieder zu warnen sein. Wäre es nämlich so, dann könnte der Mensch auch nicht einen Augenblick lang existieren. Der Satz besagt aber allerdings, daß die empirische Gesundheit bestenfalls nur eine relative sein kann und auch als Gesundheit den Keim des Todes in sich hat. Weil es kein zeitliches Leben ohne die mit ihm selbst gegebene Vorbedingung des Sterbens gibt, gibt es auch keinen Gesundheitszustand ohne die mit ihm selbst gegebene Vorbedingung des Krankwerdens, ja gibt es keine Heilung, die nicht von einer anderen Seite her gesehen notwendig die Grundlage für eine spätere und schwerere Erkrankung, wenn auch nicht unbedingt des gleichen Individuums, mit sich bringen würde. Das ist das Verhängnis, dem sich auf keine Weise ausweichen läßt und das sich jedem offenbart, sobald er an die Grenze des Transzendenten stößt. Wir können daraus nur den Schluß ziehen, daß zwischen dem Sein und dem Sinn des Menschen ein Konflikt besteht, daß da ein Widersinn den Sinn allmählich verschlingt und am Ende auch das Sein zerstört.
Man hat sich wiederholt damit zu trösten versucht, daß Tod und Krankheit ebenso "natürlich" seien, wie Leben und Gesundheit, daß wir es da und dort nur mit zwei verschiedenen, aber durchaus gleichwertigen Ansichtsseiten der Existenz zu tun hätten. Aber dieser Trost hat noch keinen wirklich trösten können; denn ihm widersetzt sich einfach unser unmittelbares Wissen um die Positivität des Lebens und die Negativität des Todes. Gerade die Tatsache, daß es eine medizinische Wissenschaft gibt, die darauf aus ist, das Leben so lange wie möglich zu erhalten, widerspricht jener Theorie von der Natürlichkeit der Krankheit und des Sterbens. Was heißt überhaupt "Natürlichkeit"? Das Wort wird hier zu einem vagen Symbol eines nicht weniger vagen Begriffes, der zwischen zwei verschiedenen in einem gewissen Sinn sogar einander widersprechenden Bedeutungen schillert; und eben diese schillernde Zweideutigkeit ist der geheime Trick, mit dem sich der trostbedürftige Mensch selbst zu trösten sucht. "Natürlich", das meint einmal den empirischen Tatsachen, den Gesetzen der empirischen Existenz angemessen und dann wieder der Natur des Daseins wie es sein soll entsprechend. Was aber in jenem ersten Sinn natürlich ist, das kann in diesem zweiten sehr unnatürlich sein und ist es auch in Wahrheit; denn ein sterbendes, ein vergehendes Leben bedeutet nichts anderes als ein vergehendes Werden und also ein sich widersprechendes, ein unnatürliches Leben, etwas, das ist, indem es nicht ist und nicht ist, indem es ist.
Dieser dialektische Selbstwiderspruch zwingt zu seiner eigenen Transzendierung. Man kann sich nicht bei ihm beruhigen. Und der eklatante Beweis dafür, daß man das nicht kann, ist ja eben, wie schon gesagt, allein die Tatsache, daß es so etwas wie die Medizin als Wissenschaft und als Therapie in unserer Welt gibt. Freilich fehlt der Medizin, da sie ja dem gleichen Immanenzbereich angehört wie der unaufhebbare Selbstwiderspruch des sterbenden Lebens, die Möglichkeit zur Überwindung seiner Dialektik und also zur Verwirklichung ihres angestrebten Zieles. Eben darum aber hat sie von vornherein die Tendenz sich zu transzendieren, über ihr bloßes Medizinsein hinauszukommen, in den Bereich der Philosophie oder der Theologie hinüberzuwechseln. Wer Leben will, will immer ewiges Leben, ob er sich das eingesteht oder nicht und ewiges Leben ist innerhalb der Wirklichkeit, für die die Kategorien des wissenschaftlichen Denkens gelten, nicht zu haben.
Damit sind wir wieder zum Ausgang unserer Überlegungen zurückgekehrt, zu der Frage, ob es der Philosophie und der Theologie erlaubt ist, sich in verbindlicher Weise zu den Problemen der Krankheit und der Gesundung zu äußern. Die Frage kann schon deshalb nur mit Ja beantwortet werden, weil die Medizin selbst, auch wenn sie sich dessen gar nicht bewußt sein sollte, nach philosophischen oder theologischen Lösungen sucht. Ob es dann solche Lösungen gibt und geben kann, das ist freilich eine weitere und ganz andere Frage, um deren Beantwortung sich die folgenden Kapitel bemühen werden.
Der Mensch als Geschöpf
Nur in Gott allein sind, ebenso wie Essenz und Existenz oder Potentialität und Aktualität, auch Sein und Sinn Eines. Im Geschöpf dagegen sind sie, wenn auch nicht voneinander zu scheiden, so doch zwei, weil das Geschöpf als dieses Seiende erstens von seinem Schöpfer her und zweitens zu ihm hin ist. Das eben macht seine Endlichkeit aus. Endlich sein muß nicht unbedingt heißen und heißt auch ursprünglich gar nicht von begrenzter zeitlicher Dauer sein, es heißt aber ganz sicher, weder seinen Daseinsgrund noch seinen Daseinszweck in sich selber haben.
Der Mensch als ein Geschöpf, das seine Existenz jedenfalls nicht einer eigenen Entscheidung verdankt, hat also Grund und Zweck außer sich, seine Gegründetheit wie seine Gerichtetheit aber trägt er als Merkmale an sich, und zwar bestimmt ihn die Gegründetheit seinem Sein, die Gerichtetheit seinem Sinn nach. Er erscheint dadurch gekennzeichnet, daß er eine Herkunft und eine Hinkunft, eine Arché und ein Telos hat. Er kommt von ebendort her, wohin er auch ist, oder er ist eben dort hin, woher her kommt: von Gott und zu Gott. Die Einheit Gottes bringt die Zweiheit seines Wesens zwar nicht zur Einheit &endash; denn dazu müßte er selber Gott sein &endash;, aber zum Einklang, zur Harmonie oder sollte sie doch wenigstens dazu bringen, d. h. er, der Mensch, sollte als der Seiende Sinn und als der Sinnhafte Sein haben. Solange beide Sein und Sinn, Gegründetheit und Gerichtetheit, obgleich zwei, dennoch von der Einheit des Archegos und Teleiotes, des Urhebers und Vollenders getragen werden, ist alles in Ordnung. Die Seinshaftigkeit des Menschen drückt sich aus in seiner Leiblichkeit, die Sinnhaftigkeit in seinem Seelischen, welchen Ausdruck wir vorläufig noch ganz allgemein und unkritisch anwenden, ohne auf den sehr wichtigen Unterschied zwischen Seele im engeren Sinn und Geist einzugehen. Zwischen dem Leiblichen und dem Seelischen besteht kein Gegensatz, wenn Sein und Sinn auf die gleiche Einheit bezogen bleiben.
Unter den Gesichtspunkten des Seins und des Sinnes lassen sich auch die beiden biblischen Schöpfungsberichte der Gen. 1 und Gen. 2 verstehen. Im ersten dieser Berichte erscheint Gott als der Weltbaumeister, als der Daseinsgrund oder die Daseinsursache des Geschaffenen von der anorganischen Natur angefangen bis zum Menschen und erscheint der Mensch einfach als das zum Ebenbild Gottes geschaffene Wesen. Nur Gott ist hier der Redende und Handelnde. Von ihm gehen alle Worte aus. Der Mensch verhält sich vollkommen passiv. Er wird nur erwähnt als der von Gott her Seiende. Im zweiten Bericht ist zwar auch Gott der Schöpfer und der Mensch das Geschöpf, aber ,wie ausdrücklich gesagt wird, das vom göttlichen Geist angehauchte und so mit einer "lebendigen Seele" begabte Geschöpf, d. h. einer, an dem nicht nur gehandelt wird, sondern der selbst zum Handeln oder zum Nicht-Handeln, sowie zum Reden aufgerufen ist. Er soll den Tieren Namen geben, er benennt sein Weib und er tut etwas, allerdings etwas, das er gerade nicht hätte tun sollen. Jedenfalls liegt hier der Nachdruck der Erzählung auf der Entscheidungsmacht des Menschen und nicht wie vorher auf der schöpferischen Entscheidung des demiurgischen Gottes. Es geht also um die Frage nicht nach dem Woher, sondern nach dem Wozu des Menschen, nach seinem Daseins-Sinn. Vom Sein als dem Verursachten her gesehen gehört alles, was außer dem Menschen noch geschaffen wurde, der Vergangenheit an, und steht Gott selbst als der Urheber am Anfang, vom Sinn her gesehen ist der Mensch der unmittelbar Gesetzte, dem die Pflanzen und die Tiere erst folgen und dem Gott gegenübersteht als der zukünftige Vollender, für oder gegen den sich zu entscheiden dem Mensch überlassen wird. Im Sein wurzelt die Bedingtheit, im Sinn die Freiheit des Menschen. Als der Seiende ist er sich einfach gegeben, ist er nach dem bekannten Wort Heideggers "geworfen", als der Sinnbegabte hat er die Möglichkeit zu wählen, sich zu "entwerfen", sich auszurichten nach dem gewählten Ziel. Als Seiender ist er Objekt oder Leib, als Sinnhafter Subjekt oder Seele.
Das geschöpfliche Sein kommt zwar aus der Dynamik Gottes, aber indem es gegründet wurde, ist es ein Statisches. Der Sinn, die Gerichtetheit jedoch ist dynamisch. Dem Sein als solchem haftet das Moment der Diskontinuität an; denn es ist ja, da es vom Urheber herausgestellt wurde als ein Anderes, von ihm und zu ihm in Diskontinuität gesetzt. Der Sinn, das Hin-zu aber bringt dasselbe Sein in Kontinuität mit dem, auf das oder auf den es sich richtet. Sein bedeutet also Besonderung, Sinn Bezogenheit oder Verbundenheit. Die leere Form der Diskontinuität, des seinem Wesen nach diskontinuierlichen Seins, des Beharrens ist der Raum, die Form der Kontinuität, des Sinnes, der Verwandlung die Zeit. Zeit und Raum verhalten sich demnach auch zueinander wie Seele und Leib, wie Subjektivität und Objektivität, wie Sich-Entwerfen und Geworfenheit. Dem entsprechen die alten Gegensatzpaare von res cogitans und res extensa bei Descartes und den anderen Philosophen des 17. Jahrhunderts, sowie von Form des inneren und Form des äußeren Sinnes bei Kant.
Mit dem Sinn hängen auch die "Sinne" zusammen; denn durch sie sind wir auf das Andere, auf das außer uns Seiende bezogen und mit ihm verbunden. Jede Sinneswahrnehmung ist ein zeitlicher Vorgang, der die Kontinuität des Wahrnehmenden mit dem Wahrgenommenen herstellt, die räumliche Getrenntheit zwischen beiden aufhebt. Die Sinnesorgane stehen der Seele, dem Bewußtsein näher als die anderen Organe des Leibes, sie sind eben seelenhafter, sinnhafter. Da wir als leiblicher Wesen im Raum, als seelische in der Zeit existieren, überbrückt der Sinn den Raum vermöge seiner zeitlichen Natur. Hier und Dort blieben ewig geschieden, wenn sie nicht in ein Jetzt und Dann verwandelt werden könnten, wenn es nicht dem zeitlichen Kontinuum möglich wäre, das räumliche Diskontinuum zu überwinden. Eine Seele haben oder einen Sinn haben heißt, über die Einzelexistenz hinaus mit den anderen Einzelexistenzen und zuletzt mit dem alles begründenden Grund kommunizieren, ja es heißt überhaupt alles Gesonderte miteinander verknüpfen, miteinander in Einklang bringen. Das Seiende seinem bloßen Sein nach ist das von Gott wie von dem übrigen Seienden Geschiedene und auch in sich selbst Geteilte. Demgemäß besteht der Körper aus einzelnen Gliedern und Organen. Die Seele aber fügt die Teile sinnvoll zum Ganzen, sie richtet sie aus auf ein gemeinsames Telos. Dieser doppelte Aspekt findet seinen Ausdruck auch noch in den verschiedenen Gottesnamen der Genesis. Im ersten Schöpfungsbericht trägt Gott als der Urheber des pluralistischen Seins den gleichfalls pluralistischen Namen Elohim, im zweiten dagegen den betont singularistischen Jahwe, der ja eben die Selbstidentität bedeutet. Aber Elohim und Jahwe sind der Eine, in dem Arché und Telos zusammenfallen und von dem der Mensch sowohl seinen seinshaften Leib wie auch seine sinnhafte Seele hat.
Was hier der "Sinn" genannt wird, ist dem mindestens nahe verwandt, was weithin in der antiken Philosophie Logos heißt. So etwa wenn Heraklit / Fragment B 45 / sagt: "Der Seele Grenzen kannst du nicht finden, indem du jeden Weg abschreitest; solch tiefen Sinn / Logos / hat sie." Logos bedeutet auch das "Wort"; denn das Wort verbindet Sein mit Sein noch viel enger als das die physischen Sinne jemals vermögen. Im sinnhaften Wort, das es spricht und mit dem es sich sprechend an einen Anderen wendet, transzendiert sich das Sein. Indem ein Seiendes redet, drückt es seine eigene Einheit, seine Ganzheit, seine Geschlossenheit aus und stellt gleichzeitig die Beziehung zum Angesprochenen her, schließ also dieses mit sich zu einer höheren Ganzheit zusammen. Wenn Goethe seinen Faust das Wort Logos im Johannesprolog mit "Sinn" übersetzen läßt, so ist das nicht nur durchaus sinnvoll, sondern hebt auch die Bedeutung "Wort" in keiner Weise auf. Man kann sehr wohl das Wort "so hoch schätzen" und trotzdem "Sinn" sagen oder umgekehrt.
Durch das Wort Gottes, den logos toy theoy sind alle Dinge geschaffen. Er ist das ins Sein Setzende, der schöpferische Akt. Das Wort des Menschen ist oder sollte sein die Antwort darauf, das den göttlichen Sinn Erfassende und ihn Erwidernde. Das in der Zeitlichkeit des lebendigen Geschöpfes beschlossene Zu-hin, der "Selbstentwurf des Daseins" könnte gar nicht sein ohne ein Vor-her, auf das es antwortet. Insofern hat die Zukunft vor der Vergangenheit keinen Vorzug, sondern ist eher umgekehrt durch sie ermöglicht. Theologisch findet das seine Formulierung etwa in den Worten, daß ich nur mit der Liebe lieben kann, mit der ich zuerst geliebt bin. Wer versuchen wollte, alles allein aus dem Zu-hin, aus der Willenstendenz der lebendigen Existenz zu erklären, käme allen Anstrengungen zum Trotz niemals über den Subjektivismus und Solipsismus hinaus. Nicht das macht die Grundstruktur meines Daseins aus, daß ich will oder mich entwerfe, da ich sorge und besorge, sondern das, daß ich immer schon gewollt und besorgt bin. Erst von hier aus erwächst dann mein eigenes
Zu-hin. Hätte ich den Urheber nicht immer gleichsam hinter mir, dann könnte ich den Vollender niemals vor mir haben, dann bliebe jedes Ziel, auf das ich mich angeblich sinnhaft ausrichte, doch nur ein unwirkliches, weil selbstgesetztes Phantom, ein phantasierter Gott. Geht man dem genauer nach, so wird sich am Ende zeigen, daß eine zureichende Deutung der menschlichen Existenz überhaupt nur von theologischen und nicht von rein philosophischen Voraussetzungen ausgehen kann.
In seiner seinshaften Gesetztheit, in seiner allein gottbedingten Geschaffenheit steht der Mensch vor einer Aufgabe, die er in der Sinnfindung zu lösen hat. Dem Sein seinen Sinn zu geben, dazu und zu nichts außerdem wurde der Mensch geschaffen. Hier steht er vor der Entscheidung, hier ist er nicht mehr der Bedingte, sondern der Bedingende. Das heißt mit anderen Worten: Von ihm, dem Angesprochenen wird die Antwort erwartet, und erst indem er antwortet, nämlich auf das göttliche Schöpferwort antwortet, wird er aus einem bloß Seienden zu einem sinnvollen Seienden, macht er Gebrauch von dem ihm eingehauchten göttlichen Geist, verleibt er diesen sich ein. Man könnte darum auch sagen, dem Menschen ist sein Leib als Material, seine Seele als Mittel gegeben, um die ihm gestellte Aufgabe erfüllen zu können. Zum "Leib" gehört aber nicht nur der individuelle Körper, sondern darüber hinaus die ganze objektive Außenwelt, die "Paradieseswelt", damit er sie sich "untertan" mache oder, was dasselbe sagt, damit er sie "baue und bewahre" / Gen. 2, 15 /, d. h. als die, die sie ist, als die Schöpfung der Gottebenbildlichkeit entgegenführe. Es geht dabei darum, das vorläufig der Freiheit und dem Bewußtsein noch Entzogene, das Vorbewußte, weil seines Sinnes noch nicht Gewärtige in das Reich des Bewußtseins einzubeziehen, anders ausgedrückt, Leib und Seele so aneinander zu binden, daß nichts mehr im außergeistigen Bereich verbleibt und kein sinnfremdes Sein erübrigt.
Innerhalb des Menschen verhält sich das Subjektive zum Objektiven, das Zeitbestimmte zum Raumbestimmten, die Seele zum Körper genau so wie sich im Kosmos der Mensch als Krone der Schöpfung zu seiner Umwelt, zur Natur und wie sich zuletzt Gott, der Schöpfer zu seiner eigenen Schöpfung, zu seinem eigenen Werk verhält. Gott hat die Welt geschaffen, um sie an sich heranzuziehen, um sie in das "Reich Gottes" zu verklären. Diese Verklärung bedeutet durchaus nicht ein Nein zu der Welt wie sie zunächst ist, sondern ganz im Gegenteil das bedingungsloseste Ja zu ihr; denn eben das göttliche Ja ermöglicht ihr die Verklärung, den Schritt zur Vollendung, und dieses Ja wurde mit der Einhauchung des Geistes in den Erdenkloß gesprochen. Genau so wie für Gott der Kosmos, wäre für den Menschen erstens sein eigener Leib und zweitens die Natur das zu Bejahende, aber zu bejahen im Blick auf den Sinn und auf das Telos. Ausgang und Ende stehen da in einer synthetischen und nicht etwa in einer dialektisch-antithetischen Beziehung zueinander, und das ist nur möglich, solange die Richtung auf das Urtelos, auf Gott also, eingehalten wird. Andernfalls muß sich notwendig entweder der leibliche oder der seelische Pol als das Aufzuhebende oder zu Negierende darstellen. Der Mensch verneint sich dann entweder als Leib, indem er sich als Seele bejaht, oder als Seele, indem er sich als Leib bejaht, bzw. er tut beides in einem dialektischen Hin und Her. Er hat eben in diesem Fall vom "Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen", des Nein im Gegensatz zum Ja und des Ja im Gegensatz zum Nein, statt vom "Baum des Lebens", des uneingeschränkten und bedingungslosen Ja gegessen. Und die Folge, die Vergiftungserkrankung, die sich aus diesem Fehltritt ergibt, ist von ihm aus irreversibel.
Die sinnhafte Vollendung des Menschen, seine Verklärung oder auch Verwandlung, darf nicht verstanden werden als eine Art Übergang aus dieser niederen Welt in eine andere höhere oder aus einem vergänglichen Daseinszustand in einen unvergänglichen, sondern bedeutet vielmehr die Zuendeführung des Werdeganges, auf den diese Welt und dieser Leib angelegt sind. Das Ziel steht also nicht im Widerspruch zum Anfang, sondern ist das vom Anfang Gemeinte selbst. Nur wenn bereits etwas nicht mehr stimmt, wenn bereits eine Störung der Urordnung, eine Korrumpierung des Seins vorliegt, etwa in der Weise, daß sich das, was Grundlage und Anfang sein sollte, als das Endgültige und keiner Verwandlung mehr Bedürftige festgelegt hat, stellt sich die Vollendung als ein Transzendieren in ein Anderes dar, nämlich als Verneinung der ersten, in jener Sinnverweigerung enthaltenen Verneinung. Die Seele des Menschen, der "inwendige Mensch", von dem Paulus
Röm. 7, 22 und Eph. 3, 16 redet, ist ursprünglich die im noch Unvollendeten vorweggenommene Vollendung des ganzen Menschen. Bei Paulus steht dann freilich dieser inwendige Mensch im schroffen Widerspruch zum auswendigen, weil nun seine Verwirklichung an das Vergehen des bereits verkehrten gebunden ist. Durch Christus und den Glauben an ihn erfährt nämlich der innere Mensch eine Wiedergeburt. "Ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur" &endash; 2. Kor. 5, 17 &endash;. Er wird dem ursprünglichen wieder gleich, während der auswendige Mensch der alten Gestalt des status corruptionis verhaftet bleibt, wobei allerdings inwendig nicht gleich seelisch und auswendig nicht gleich leiblich gesetzt werden darf. Der inwendige Mensch ist vielmehr eine neue Seele.
Gilt für den Menschen der Imperativ: "Werde, der du bist" oder der andere: "Werde, der du nicht bist!"? Darauf ist zu antworten: Für den noch unversehrten Menschen gilt ohne Zweifel der erste. Da wir aber niemals unversehrte Menschen sind, wäre es gefährlich und irreführend, ihn, wie das gelegentlich geschehen ist, als allgemeines Gesetz aufzustellen; denn die Versehrtheit besteht ja gerade darin, daß ein falsches oder verkehrtes Sein die Stelle des rechten einnimmt. Dem Versehrten und Verkehrten könnte darum nur gesagt werden: "Werde, der du nicht bist!", aber diese Aufforderung hätte in solcher, bloß negativer Form gar keinen Sinn; denn wer ist denn der, der ich nicht bin und der ich erst werden soll? Einen Sinn gewinnt die Forderung nur, wenn der Angesprochene bereits vom falschen zum rechten Seinsverständnis bekehrt, wenn er also "innerlich wiedergeboren" ist. In diesem Fall aber gelten dann beide Imperative zugleich; denn das Werden, was man ist &endash; als inwendiger Mensch &endash; bedeutet dann auch das Werden, was man nicht ist, nämlich als der auswendige nicht ist. Christlich ausgedrückt würde das heißen: durch das Kreuz zur Auferstehung kommen.
Da der göttliche Geist der Daseinsgrund sowohl des Leibes wie der Seele ist, bedeutet die Vollendung auf ihn hin keine Veränderung in dem Sinn, daß da ein Altes zu bestehen aufhört und ein Neues beginnt, sondern bloß die Offenbarwerdung, das In-Erscheinung-Treten des bereits gegenwärtigen Inbegriffes. Das Ganze übersetzt sich in sein eigenes Wesen und bleibt so als das, was es ist unzerstört, ja es bringt überhaupt erst sich selber zur Wahrheit seines Daseins, es bringt sich zum Vorschein, es vollzieht die Entscheidung innerhalb seiner sein-sinnhaften Existenz. Das eben ist ausgedrückt in den schon einmal zitierten Worten der Genesis, nach welchen der Mensch beauftragt wurde, die ihm anvertraute Schöpfung zu bauen und zu bewahren, sie also einem Ziel zuzuführen, das ihre Erhaltung in sich schließt.
Es gehört zum Wesen des Lebendigen, auf etwas hin zu sein, als Seiendes einen Sinn, als Leibliches eine Seele zu haben. Der Sinn also macht das Sein, die Seele den Leib lebendig. Darin liegt ein gewisser Vorrang des Seelischen vor dem Leiblichen. Natürlich kann man auch ein lebendiges Wesen unter den Kategorien seines bloßen Seins, seiner Gewordenheit, seines Von-her, seiner kausalen Bedingtheit betrachten und beurteilen und also vom Sinn abstrahieren, aber dann bekommt man es gerade nicht als Lebendiges in den Blick, dann sieht man vorbei an dem, wodurch es lebt. Unter allen Wesen ist der Mensch dasjenige, von dem das im höchsten Grad gilt. Er ist nur Mensch als der, der eine Bestimmung, der eine Aufgabe zu erfüllen hat, nämlich die, sich und den "Garten Eden" zu bauen und im Bauen zu bewahren, was so viel bedeutet wie nach Gottes Plan zuzubereiten. Der Garten Eden ist zunächst freilich Raum, aber doch ein der Zeit gnädig anheimgegebener, auf ihre und seine Erfüllung entworfener Raum, d. h. Zeit-Raum. Wo sich aber das Sein dem Sinn versagt, wo sich der Mensch weigert, das ihm gegebene und Anvertraute auf das göttliche Telos hin zu bauen, dort entgleitet der Raum der Zeit, dort entartet er zum Nur-Raum, zum starren und toten Raum. Das Gleiche gilt vom Leib, von uns aus gesehen einmal jenseits und einmal diesseits des von den Cherubim bewachten Tores. Diesseits des Tores ist auch er ein sich entzeitlichender und verräumlichender, ein dem Telos entgleitender sterbender Leib. Wird das Ziel der sinnhaften Entscheidung aus der Transzendenz in die Immanenz verlegt, entscheidet sich die Seele nicht über sich hinaus, sondern für sich, dann macht sie sich selbst zu einem bloßen Sein, als Subjekt zu ihrem eigenen Objekt und tritt so in Gegensatz zu ihrer naturgegebenen Objektivität, zum Leiblichen, als dessen Konkurrentin und negiert damit die Leiblichkeit. Ihre Selbstverwirklichung muß sich ihr darstellen als Vergehen des Leibes, als etwas, das sie gerade nicht will. Die falsche Entscheidung bedeutet den Schritt in eine Zukunft, der gegenüber sich das Negierte in die Vergangenheit absetzt, in das Nicht-mehr-Sein. Mit anderen Worten: das Bauen erweist sich hier als das Gegenteil des Bewahrens, es wird zur Zerstörung. Was Sinn sein sollte, hat sich zum Sein gemacht und damit gleichsam das ursprüngliche Sein zum Sinn, aber eben zu einem verkehrten Sinn, zu einem Sinn, dessen Telos nicht die Vollendung, sondern das Nichts ist. Während die Seele werden sollte, vergeht nun der Leib. Während der Leib bewahrt werden sollte, bewahrt sich die Seele, aber als bloß bewahrte erstarrt sie im Tod.
Wir haben damit den Punkt erreicht, der die Grundlage für alle weiteren Überlegungen abgeben muß. Gefragt wird nach Ursprung und Wesen der Krankheit, d. h. der Gefährdung und Zerstörung leiblicher Existenz. Warum stirbt der Mensch als körperliches Geschöpf? Warum steht er unter der ständigen Bedrohung durch die Krankheit, die ihn am Ende unausweichlich dem Tod überliefert? Unsere vorläufige und im folgenden immer wieder zu begründende Antwort lautet: Weil sein Leib einer Verkehrung unterliegt, nämlich einer Vertauschung von Sein und Sinn, und das zwar dergestalt, da0 durch fortschreitende Selbstverhärtung oder Erstarrung der ursprünglichen Sinnregion, der "Seele", die Seinsregion, der Leib, in die Rolle des Sinnes gedrängt und damit um seine Bestimmung gebracht wird. Die Lebensrichtung verkehrt sich zur Todesrichtung. In dieser verkehrten Richtung wird der Leib nicht sinnhaft vollendet wie das seiner Uranlage entsprechen würde, sondern aufgelöst. Der Zeiger des Werdeganges weist gleichsam nach unten statt nach oben, rückwärts statt vorwärts, in die Vergangenheit statt in die Zukunft, das Geschöpf kehrt zurück zu dem Staub, von dem es genommen wurde.
Der Mensch hat die ihm gestellte Aufgabe der Sinnfindung von vornherein verfehlt. Er hat nicht den Sinn gewählt, sondern den Widersinn. Er hat dem Wort des Schöpfers die Antwort verweigert, sich nicht nach dem ihm gesetzten Telos ausgestreckt. Er hat seine Subjektivität, die Offenheit sein sollte, auf sich zurückgenommen und in sich verschlossen. Er war von allem Anfang an nicht dazu geschaffen, unverändert der zu bleiben, der er zunächst war. Er hatte vielmehr die Bestimmung, sich zu transzendieren, über sein unmittelbar gegebenes So-Sein hinauszuwachsen. Insofern haftete diesem So-Sein unter allen Umständen der Charakter der Endlichkeit an, aber doch einer Endlichkeit, die in Erfüllung ihrer Aufgabe sich nicht nur bewahren, sondern sogar verewigen konnte. Im Zustand der Sinnverkehrung aber verwandelt sich der dem Endlichen unerläßliche Schritt aus der Endlichkeit zur Vollendung in den negativen aus der Endlichkeit in die Vorgeschaffenheit und das bedeutet in den Tod. So ist also der Tod nichts anderes als das verkehrte Abbild der Vollendung in der gefallenen Welt, und sind die Krankheiten, auch wenn sie nicht sogleich zum Tode führen, Stationen auf dem Weg zu ihm hin oder Teil-Tode, wie man vielleicht auch sagen könnte. Damit soll nicht behauptet sein, daß der Mensch vom Augenblick seiner Geburt an eindeutig die verkehrte Richtung eingeschlagen hätte. Sofern er überhaupt lebt, hat er auch die rechte Richtung, ist sein leibliches Sein seelisch orientiert. Wohl aber hat er vom Augenblick einer Geburt an die Tendenz, diese rechte Richtung umzukehren, als Sinn fortschreitend Sein und als Sein fortschreitend Sinn zu werden in ihm überschneiden sich demnach beide Richtungen, die rechte und die verkehrte, aber das in der Weise, daß die zweite zunimmt, während die erste abnimmt, anders ausgedrückt, daß das Gesetz der Krankheit und des Todes das Gesetz der Gesundheit und des Lebens mehr und mehr übermächtigt. Diese Andeutungen mögen zunächst genügen. Es wird später noch hinreichend Gelegenheit sein, das hier berührte Grundproblem ausführlicher zu behandeln.
Wir haben bisher nur von Leib und Seele des Menschen gesprochen und dabei den Leib als die Seins-Seite, die Seele als die Sinn-Seite definiert. Mit dieser allzu einfachen Zweiteilung läßt sich aber auf die Dauer nicht auskommen. Die Frage nach dem eventuellen Dritten, nach dem Geist muß erst noch gestellt werden. Dichotomie oder Trichotomie, das ist ja bekanntlich ein schon sehr altes Problem. Manche haben Seele und Geist einfach identisch gesetzt, andere haben den Geist lediglich als Sonderfunktion der Seele verstehen wollen, die Dritten nahmen wohl eine Dreiheit von Soma, Psyche und Pneuma an, aber in Form einer Stufenfolge, so daß der Geist die Seele in gleicher Weise überhöht wie die Seele den Leib, und wieder andere verstanden unter dem Geist ein die Seele ebenso wie den Leib transzendierendes und beide erst zueinander in Beziehung bringendes synthetisches Prinzip. Wir bekennen uns hier zu dieser letzten Auffassung, gestehen dabei allerdings dem Seelischen ein engeres Verhältnis zum Geistigen zu als dem Leiblichen, so wie ja auch in einer echten lebendigen und nicht nur abstrakt logischen Dialektik die Thesis der Synthesis näher steht als der Antithesis.
Der Geist ist die Synthese von Seele und Leib, d. h. die sinnhafte Gerichtetheit des ganzen Menschen auf sein Telos und, was dasselbe sagt, seinen ihm transzendenten Daseinsgrund. Im Geist nimmt sich der Mensch auf Gott hin zusammen. Wird der Geist "aufgegeben", dann scheidet sich der Mensch von Gott und scheidet sich auch die Seele vom Leib; der Mensch stirbt. Die Seele hält den Leib zusammen, so wie der Geist Leib und Seele. Insofern eben hat die Seele zum Geist eine intimere Beziehung als der Leib, der nur mittelbar und nicht mittelbar zum Geist ist.
Nach einem Wort Kierkegaards ist der Mensch "eine Synthesis des Seelischen und des Leiblichen. Aber eine Synthesis ist nicht denkbar, wenn die zwei nicht in einem Dritten vereinigt werden. Dies Dritte ist der Geist."1) Ähnlich denkt übrigens auch Hegel: Das An-sich und das Für-sich finden ihre Synthesis im An-und-für-sich des absoluten Geistes, wobei freilich hier zum Unterschied von Kierkegaard der absolute Geist mit Gott zusammenfällt. Genau so wie bei Hegel das Für-sich ist aber bei Kierkegaard die Seele als das Subjektive im Menschen im Gegensatz zu seinem Objektiven zu verstehen, die beide durch den Geist miteinander verbunden sind, also anders als bei den Griechen, vor allem bei Plato, wo Leib, Seele und Geist drei Stockwerke bilden, von welchen der Geist das höchste und die eigentliche Subjektivität darstellt. Die Seele befindet sich hier in der Mitte, dort, wo nach Kierkegaard der Geist seinen Platz hat. Die platonische Anschauung wurde auch vom Abendland übernommen und sie ist bis heute die eigentlich populäre geblieben. Wenn dagegen etwa Ludwig Klages vom Geist als dem "Widersacher der Seele" redet, so meint er mit "Geist" auch die bloße Subjektivität, also eben das, was bei Kierkegaard "Seele" heißt. Diese Subjektivität, die das Ich usurpiert, ist dann tatsächlich der Widersacher der Mitte, die Thesis als Widersacher der Synthesis, also gerade dessen, was wir hier in Übereinstimmung mit Kierkegaard Geist nennen. Es wäre demnach richtiger von der Seele als dem Widersacher des Geistes zu sprechen als umgekehrt.
Der Geist verhält sich zur Seele wie die Seele zum Leib, d. h. das Ganze zum Größeren wie das Größere zum Kleineren oder die Synthesis zur Thesis wie die Thesis zur Antithesis. Das aber ist das bekannte Verhältnis des "goldenen Schnittes", der sich so als die sinnfällige Darstellungsform der nicht abstrakt logischen, sondern lebendigen Dialektik erweist. Der Geist ist der Sinn des Ganzen, die Seele der Sinn des Leibes. Schon daraus erhellt sich die prinzipielle Ungleichwertigkeit von Thesis und Antithesis. Die Synthesis als das Erste gliedert sich auf in Thesis und Antithesis und kommt nicht etwa umgekehrt nachträglich als Produkt eines Zusammenwirkens dieser beiden zustande. Lebendige Dialektik, richtiger gesagt Dialogik, hat zur Voraussetzung das korrespondierende Gegenüber von Sinn und Sein, von Dynamik und Statik. Aus dem bloßen Gegensatz von zwei statischen Momenten &endash; wie etwa Sein und Nicht-Sein &endash; ergibt sich niemals ein Prozeß. Das will sagen: das Dynamisch-Prozeßhafte läßt sich nicht aus dem Statischen erklären oder deduzieren, sondern ist immer schon im Ursprung gegeben. Durch den Einbruch des göttlichen Geistes wird der Mensch zu einer "lebendigen Seele", zu einem dynamisch gerichteten sinnhaften Sein, zu einem wollenden, handelnden und der Entscheidung fähigen Wesen.
Ich gebrauche hier das Wort "Seele" in genau dem gleichen Sinn wie das NT, vor allem Paulus das Wort phychç gebraucht, so etwa, so etwa wenn von einem sôma phychikon im Gegensatz zum sôma pneymatikon der Auferstandenen und Verklärten gesprochen wird. Das erste ist der Leib der subjektiven Seele, der natürliche und sterbliche Leib, der an seiner Objektivität zugrunde geht ebenso wie die ihm zugeordnete Seite Seele an ihrer Subjektivität, das zweite dagegen ist der in sich geeinte, nämlich durch den Geist mit seiner Seele geeinte Leib, geeint, weil auf Gott, den Anfänger und Vollender aller Dinge ausgerichtet.
Mit der eben wieder erwähnten Darstellung des ersten Schöpfungsberichte, nach welcher der aus Erde geformte Mensch durch den Einhauch der lebendigen göttlichen pnoç / = pneyma / zu einer psychç zôsa wird, ist eigentlich alles Nötige über das Verhältnis von Leib, Seele und Geist so präzise gesagt, daß sich irgendein besserer Ausdruck überhaupt nicht finden läßt. Der Geist-Sinn vermittelt dem Geschöpf Mensch den Eigen-Sinn, den Seelen-Sinn. Die Analogie dieses Sinnes zur Schwerkraft fällt in die Augen. Wie die Schwere einerseits den einzelnen Planeten zusammenhält und ihn andererseits in ein weiteres System von Weltkörpern eingliedert, so gibt der Geist dem Menschen erstens seinen Eigen-Sinn und macht ihn zu einem Individuum und verweist ihn zweitens auf ein Außerindividuelles, auf eine Gemeinschaft von Geschöpfen unter dem Regiment Gottes und macht ihn so zur Person. Diese Analogie zwischen Sinnbezogenheit und Schwere darf allerdings den grundsätzlichen Unterschied, ja in gewissem Sinn sogar Gegensatz, der hier vorliegt, nicht übersehen lassen. Während nämlich die Schwere einen gesetzhaft-notwendigen Zusammenhang des Seienden, sozusagen dessen Rückbeziehung auf den Ursprung und damit auf die Vergangenheit, auf die Arché zur Darstellung bringt, handelt es sich beim Sinn umgekehrt um die freie Entworfenheit auf das Telos, also auf die Zukunft. Dieser Unterschied wird uns noch oft beschäftigen, weil sich nämlich gerade in der Krankheit das Organ dem Sinn entzieht und dem naturgesetzlichen Bezugssystem der Schwere zuwendet. Daß der kranke und erst recht der sterbende Mensch seine vertikale Haltung nicht mehr bewahren kann und am Ende ins Grab gelegt wird, diese Tatsache ist das vielleicht handgreiflichste Symbol dafür, über das man nicht etwa nur deshalb mit einem Achselzucken hinweggehen sollte, weil es neben vielen anderen ähnlichen in der romantischen Naturphilosophie vor mehr als hundert Jahren einmal eine Rolle gespielt hat. Die tiefsinnigen spekulativen Einsichten der Romantik sind ja leider im rational-wissenschaftlichen und technischen 19. Jahrhundert allzu schnell vergessen worden.
Die Seele ist nicht etwa das Prinzip des Sinnzusammenhanges überhaupt, sondern ausschließlich Zusammenhangsprinzip ihres eigenen Leibes. Sie ist insofern principium individuationis, das, indem es die Identität konstituiert, sich den weiteren übergreifenden Zusammenhängen, zuletzt einem allgemeinen Zusammenhang unter Umständen sogar feindlich widersetzen kann. Aber sie hat andererseits doch auch ihre das Getrennte verbindende Kraft aus dem sie überhöhenden Prinzip der Einheit und erweist sich damit als dessen Gleichnis, d. h. als Manifestation des Geistes. Solange sie sich offen hält nach beiden Seiten hin, also wohl individualisiert und vereinzelt, aber ohne damit auch schon zu isolieren, sondern sich vielmehr auf Transzendentes bezogen weiß, ist sie intakt; denn solange vereinigt sie in sich das Sein mit dem Sinn. Reduziert sie sich dagegen selbst auf ihr Sein, auf sich als auf das principium individuationis, isoliert sie sich gegen den Geist und versagt sie sich dem Sinn, so verliert sie unvermeidlich auch die Fähigkeit den eigenen Leib zu binden und dessen Sinn zu sein. Die Leiblichkeit entgleitet ihr und richtet sich aus nach einem geistlosen, ja geistwidrigen Sinn, nach dem Ur-Sinn der Schwere. Wir haben es so mit drei Sinngestalten zu tun: dem eigentlichen oder Geist-Sinn, der nun verloren ist, dem Eigen-Sinn der isolierten Seele und dem Un-Sinn oder Widersinn des sich und dem objektiven Gesetz überlassenen Leibes. Auch ein sozialer Organismus, ein Volk z. B. oder eine politische Gemeinschaft, kann sich dem Eigensinn verschreiben und verdirbt dann die Glieder ihres Körpers, die Einzelnen ebenso wie die eigensinnige Seele die Organe ihres Leibes.
Was nun das besondere Verhältnis der Seele zu ihrem Leib betrifft, so wäre es ein völlig aussichtsloses Unternehmen, dem Sitz der Seele in einem bestimmten Organ, etwa dem Gehirn nachforschen zu wollen, also die Psyche physisch zu lokalisieren. Die Seele hat ihren Sitz ebensowenig im Hirn wie im Unterleib. Sie ist vielmehr das Bewußtsein, das sich leiblich als Polarität von Kopf und Abdomen, ja man könnte sagen, als das Gespräch, als der Dialog zwischen diesen beiden Polen manifestiert und zwischen ihnen als ihre eigene auseinandergefaltete Einheit schwebt. Nennen wir die Einheit das Herz, so ist das freilich zunächst einmal bildlich, aber vielleicht doch auch schon etwas mehr als nur bildlich zu verstehen. Die Seele verhält sich zu Hirn und Abdomen wie sich der Geist zu Seele und Leib verhält. In der Seele symbolisiert sich Geist und beseeltes Wesen, Seele und Leib, Hirn und Abdomen verhalten sich zueinander immer wie Sinn und Sein oder wie Subjekt und Objekt bzw. wie Bewußtsein und Unbewußtsein.
Gewiß läßt sich nun nicht einfach sagen: der Leib ist das Unbewußte. Ebensowenig darf innerhalb des Leibes das Gehirn dem Bewußtsein gleichgesetzt werden. Vielmehr steht im Seelischen als solchem das Bewußte zum Unbewußten in der gleichen Beziehung wie im Leiblichen das Zentralnervensystem zum übrigen Organismus und im Gesamtindividuum die Seele zum Leib. Die gleiche Aufspaltung oder Verzweigung ließe sich dann weiter auch in alle einzelnen Pole des Leiblichen wie des Seelischen hinein verfolgen, so daß also das Bewußtsein abermals ein relativ Unbewußtes oder das Organische abermals ein relativ Hirnhaftes und insoweit Bewußtes an sich hat. Niemals jedenfalls wird man die Seele vom bloß Leibliche oder das Leibliche vom bloß Seelischen her zu fassen bekommen. Sein und Sinn sind zwar überall miteinander verbunden, aber sie bleiben trotzdem immer und überall zwei.
Wir haben somit vor uns; erstens die Seele mit dem Leib, zweitens das Bewußtsein mit dem Unbewußtsein innerhalb der Seele und drittens das Gehirn mit den Körperorganen innerhalb des Leibes. Das "Mit" aber ist da wie dort der Geist.
Wie der Sinn immer nur der Sinn eines Seins und das Sein nur das Sein eines Sinnes, so kann auch die Seele nur die Seele dieses Leibes und der Leib nur der Leib dieser Seele oder das Bewußtsein nur das Bewußtsein dieses Unbewußten und das Unbewußte nur das Unbewußte dieses Bewußtseins, das Subjekt nur das Subjekt eines Objektes und das Objekt nur das Objekt eines Subjektes sein. Wo immer von Subjekt und Objekt von Seele und Leib die Rede ist, handelt es sich um das komplementäre Gegenüber von Bewußtsein und Unbewußtsein. Dabei gilt aber die Regel, daß das subjektiv Bewußte das objektiv Unbewußte und das objektiv Bewußte das subjektiv Unbewußte ist. An meinem Bewußtsein von irgendeinem objektiven Sein habe ich also die Grenze des Bewußtseins von mir selber und umgekehrt. Sofern mir etwa meine eigene Leiblichkeit als solche zum Bewußtsein kommt, entspricht diesem objektiven Bewußtsein eine unbewußte Region innerhalb meines seelischen Bereiches, die aber, da sie ja durch die objektive Bewußtheit kompensiert wird, keinen Mangel bedeutet. Erst dann, wenn zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven, zwischen dem Seelischen und dem Leiblichen ein Bruch entsteht, so daß sich das Objektive nicht mehr als mein Objektives, der Leib nicht mehr als mein Leib erfahren läßt, wird das subjektiv Unbewußte zum Mangel, zu einem Nicht-Sein zu einem Vakuum in meiner Ichheit, zu jenem berühmten trou d'être J.P. Sartres. Der Sinn verliert in diesem Fall das Sein wie auch umgekehrt das Sein den Sinn. Das heißt nicht, daß nun das Objekt überhaupt nicht mehr da wäre und das Bewußtsein aufgehört hätte Bewußtsein zu sein. Im Gegenteil: Gerade jetzt erst nimmt einerseits die Objektivität des Objektes manifeste Formen, nämlich die Gestalt reiner Sachlichkeit an, während sich andererseits die Bewußtheit des Subjektiven zur höchsten reflexiven Schärfe steigert, aber eben diesem reflexiven Bewußtsein hängt sein Unbewußtes als undurchdringliche schwarze Nachtseite an. Das Ich findet keinen Weg mehr, weder hinaus in die Welt des Gegenständlichen, noch hinab in die eigenen Abgründe. Es ist mit der Welt und mit sich selber zerfallen.
Das wichtigste Ergebnis dieser Überlegungen wird darin zu sehen sein, daß "unbewußt" und "unbewußt" durchaus nicht immer dasselbe meint. Wo noch kein Bruch besteht, hat das Unbewußte gar nicht den Charakter des Negativen. Es wäre darum vielleicht auch besser, hier nicht vom
Un-bewußten, sondern vom Vor-bewußten zu reden, dessen Aufnahme in das Bewußtsein, dessen Durchdringung mit Bewußtheit, dessen Erhebung in die volle Klarheit des Geistes noch bevorsteht und aufgegeben, nämlich zur Aufgabe gemacht ist. Dieses Unbewußte bildet die Grundlage und den unerläßlichen Absprung des Bewußtseins, ohne den dieses gar niemals bewußt sein könnte. In dem Satz: "Das Bewußtsein ist sich seiner bewußt" erscheint das "seiner" als der Ausdruck für das Vorbewußte, für das Sein des Sinnes oder für den Leib der Seele, also dessen, das dem Prozeß des Bewußtwerdens sozusagen als zu bearbeitendes Material, als zu bebauender Garten vorliegt, als die "Kreatur", die nach dem Pauluswort aus dem 8. Römerbriefkapitel auf die Offenbarung des Söhne Gottes wartet; denn diese Offenbarung bedeutet Geistwerdung und Geistausteilung, Sinnerfüllung und Sinngebung zugleich.
Als das Unbewußte ist das Leibliche auch das Nicht-Individuelle, das Kollektive; denn seiner bloßen Leiblichkeit nach unterliegt der Leib dem objektiven naturgesetzlichen Zusammenhang, der "Schwere", wie wir früher sagten, wogegen die Seele als das eigen-sinnige principium individuationis das Einzelne von der Allgemeinheit und vom anderen Einzelnen sondert. Demgemäß transzendiert das Unbewußte die räumlichen und zeitlichen Grenzen und stellt Verbindungen her, wo das Bewußtsein nur Isoliertheiten vorfindet. Als leibliche und nicht als seelische Wesen sind wir von Natur aus Seher und Magier. Schon lange vor C. G. Jung hat sein Vornamensvetter C. G. Carus das sogenannte "kollektive Unbewußte" entdeckt: "Es ergibt sich nämlich, daß, da auch unsere Psyche ... großenteils auf der Stufe des Unbewußten verharrt, auch in ihr, insoweit sie unbewußt / d. h. in der Sprache von Carus "leiblich" / ist, nicht bloß die eigenen Lebenszustände erfühlt ... werden, sondern daß sie als Teilidee zunächst der Menschheit und entfernter des Weltganzen bald näher, bald ferner von allen Regungen der Seele der Menschheit und der Seelen der Welt unbewußterweise durchdrungen sein muß"2).
Aber eben doch nur das natürliche Sehertum und Magiertum und nicht auch übernatürliche Prophetie und Wunderkraft haben im Unterbewußten ihre Wurzel. Die Seele ist ja bloß ihrer einen Seite, ihrer Eigen-Sinnigkeit nach Prinzip der Isolierung. Ihrem Geist-Sinn nach ist sie umgekehrt auf den Zusammenhang, eben auf den geistigen Zusammenhang ausgerichtet, und von daher muß sich dann gerade das Leibliche, die objektive Körperlichkeit als das der Vereinzelung Anheimgegebene darstellen. Freilich sind die vom Geist und von der Geist-Seele erbauten Beziehungen von ganz anderer Art als das Kollektive des natürlichen Unbewußten. Sie sind nämlich nicht einfach vorhanden, sondern werden erst realisiert durch Akte freier Entscheidung, sie sind qualitativ mehr und nicht weniger als die individuelle Besonderung. Als bloßes Sein, als bloßes Geschöpf ist der Mensch natürlich-unbewußt mit seinem Schöpfer verbunden, als der sein Sinn Erfüllende aber hat er sich aus seiner bewußten Freiheit heraus für Gott und für die Gemeinschaft mit ihm entschieden. Darin eben besteht ja die Aufgabe des Menschen, die zunächst unbewußten Zusammenhänge über die Zusammenhangslosigkeit hinweg in bewußte zu verwandeln. Die untergründige magische Verbundenheit des Vorher soll in die lichthafte Wunderwelt des Nachher verklärt werden.
Mit den beiden Ausdrücken "vorher" und "nachher" rühren wir wieder an das Geheimnis der Zeit, der Vergangenheit und der Zukunft. Das Unbewußte ist seinshaft der Vergangenheit, das Bewußte sinnhaft der Zukunft zugeordnet. Die Zeit selber hat ihren Sinn in Gestalt der Zukunft, ihr Sein in Gestalt der Vergangenheit und ihr Geistzentrum, ihr "Herz" in Gestalt der Gegenwart. Sie hat gleichsam wie der menschliche Leib ihren Kopf, ihren Thorax und ihr Abdomen. Sie verhält sich als ganze zum Raum wie die Seele zum Leib, und in ihrem eigenen Bereich entspricht die Vergangenheit dem Raum wie im Bereich der Seele das Unbewußte dem Leib.
Die zeitliche Polarität steht also in Analogie zu der von Bewußtsein und Unbewußtsein. Und wie diese beiden harmonisch aufeinander abgestimmt und zentriert sein können in der sie verbindenden Herzmitte, so auch Zukunft und Vergangenheit in der Gegenwart. Mit dem Bruch des Bewußtseins, mit der Verunreinigung von Subjektivität und Objektivität aber geht auch der zeitliche Bruch zusammen. Die Gegenwart steht dann, zum bloßen Jetzt geworden, zwischen einem nicht mehr gewußten Gestern und einem noch nicht gewußten Morgen. Eine erinnerte Vergangenheit etwa ist, sofern sie erinnert wird, gar nicht Vergangenheit, sondern noch Gegenwart, in unserem empirischen Leben freilich eine Gegenwart, die sich bereits auf den Weg in die Vergangenheit befindet; denn alle Erinnerungen verblassen allmählich und werden zu Vergessenheiten. Das Vergessene ist dann nicht einfach verschwunden und unwirklich geworden; es hat sich nur aus dem Bewußten ins Unbewußte verlagert und dort festgesetzt. Es ist wie das reflexive Objekt für das reflexive Subjekt aus einem dialogischen zu einem dialektischen Gegenüber geworden, es ist aus dem Bereich des mit der Seele Korrespondierenden ins rein Körperliche übergegangen und hat sich hier gleichsam materialisiert, die Gestalt eines Fossils angenommen. Man sagt gewöhnlich, das ursprünglich Bewußte sei ins Unbewußte oder in die Vergangenheit "abgesunken", ein Ausdruck, der das Wesen des Vorgangs durchaus zutreffend bezeichnet, weil es sich ja tatsächlich um eine Art Absinken aus der zerebralen in die abdominale Region handelt. Im Leib speichert sich dann auf, was der Seele entglitten ist, ja der Leib wird unter diesem Aspekt geradezu zu einem Reservoir des entseelten Seelische, das aber als solches natürlich auch eine durchgreifende qualitative Umgestaltung erfährt und keineswegs als das aufbewahrt wird, was es zunächst vor seinem Absinken im Raum der lebendigen Dialogik war. So ließe sich etwa denken, daß gewisse unbewußte, vor allem krankhafte Körperfunktionen unbewußte Seelenregungen sind oder doch, daß sich solche Seelenregungen in dieser Weise darstellen. Vielleicht ist, um nur ein Beispiel zu nennen, die Sexualität als bloße Angelegenheit der Sexualorgane abgesunkene, umgestaltete, d. h. materialisierte oder vergessene Liebe. Wir haben hier einen Prozeß vor uns, in dem sich das Bewußtsein immer schärfer gegen das Unbewußte, das Seelische ebenso gegen das Körperliche und das Zerebrale gegen das Abdominale absetzt. Aber auch der umgekehrte Vorgang wäre sehr wohl denkbar, nämlich die Annäherung des Leiblichen an das Seelische, ein zunehmendes wechselseitiges Sich-Erkennen beider Pole in dem sie verbindenden Geist, und das wäre dann zweifellos der Weg, den einzuschlagen dem Geschöpf Mensch ursprünglich aufgetragen war.
Unbewußtsein und Abdomen haben objektive und nicht subjektive Realität. Beide sind Triebregion, d. h. in beiden ist der Mensch triebhaft und naturkausal aus sich heraus und über oder richtiger unter sich hinweg auf anderes bezogen, auf das Allgemeine, auf die chthonischen Mütter als auf die "Urbilder" des Besonderten, aber auf die unpersönlichen Urbilder in archaischer Gestalt und darum auch auf das, was wir im Sinn der Geschichte archaisch oder mythisch nennen. Die Struktur der Geschichte, der zeitlichen Entbreitung des Wirklichen entspricht ja dem Aufbau des Menschen. Die archaische Epoche ist gewissermaßen ihr Abdomen, was zu wissen sehr wichtig wäre gerade auch für den Historiker, weil es ihn etwas vorsichtiger und selbstkritischer machen könnte in der Beurteilung des Vergangenen und ihn davor warnen müßte, mit dem sich ihm darbietenden Einst so zu verfahren als ob er es mit einer möglichen Gegenwart, also mit einer nicht nur objektiven und zum Fossil erstarrten, sondern mit einer wenigstens potentiell lebendigen subjektiven Wirklichkeit zu tun hätte. Es wäre zu bedenken, daß eine einmal vergessene, wenn auch irgendwie rekonstruierte Vergangenheit etwas ganz und gar anderes ist und ganz und gar andere Formen angenommen hat als das jemals Gegenwärtige. Der Historiker seziert immer nur Leichen und bekommt nur das zu sehen, was eben eine Leiche sehen läßt.
Uns aber interessiert in diesem Zusammenhang weit mehr als der Historiker der Psychologe, der das ins Unbewußte Abgesunkene wieder in das Licht des Bewußtseins heraufzuholen sucht. Er sollte wissen, daß so etwas ohne weiteres jedenfalls nicht durchführbar ist, weil nämlich die archaischen Gestalten des Unbewußten mit der Person ihrer Bewußtheit nach gar nichts mehr zu tun haben bzw. weil die Person, sofern sich in ihren psychischen Abgründen Archaismen und dergleichen vorfinden, bereits dekomponiert ist. Wo die düsteren Mütter ihr Reich haben, dort hat sich der bewußte Wille in Trieb verwandelt, und der Trieb als bloßes Objekt des Bewußtseins hat die Richtung nicht des Sinnes, sondern des Un-Sinnes. Es ist das objektivierte, das dem selber im Sein erstarrten Sinn entfremdete Sein, das sich hier in Un-Sinn verkehrt und den tellurischen Mächten der blinden Natur verschrieben hat oder richtiger ihnen ausgeliefert wurde. Der an sich richtige und tiefe, nur in der Folge leider oft falsch ausgewertete Gedanke, daß das Unbewußte der Ort des Archaischen, des Fern-Vergangenen und Vergessenen ist, taucht bereits bei Freud und nicht erst bei C. G. Jung auf. "Den Inhalt des Unbewußten kann man einer psychischen Urbevölkerung vergleichen", sagte der Vater der modernen Tiefenpsychologie3).
Wir behaupten keineswegs, daß alle unbewußten leiblichen Funktionen Vergessenheiten der Seele wären, sondern nur, daß sich das von der Seele Vergessene in Leiblichkeit umsetzt. An sich aber kann das Unbewußte und insofern Leibliche entweder vor-bewußt oder nach-bewußt sein, was einen grundsätzlichen Unterschied ausmacht. Das Vor-Bewußte nämlich ist als Unbewußtes im Warten auf seine Bewußtwerdung, so wie das Tier im Paradies auf den Namen wartet, den ihm der Mensch geben soll. Solange sich die leiblichen Funktionen als unbewußte noch im Zustand der Vorbewußtheit befinden, sind sie gesund, wenn auch gewiß noch nicht vollendet. Sie stehen zum Seelischen in keinem Widerspruch, und das Seelische steht in keinem Widerspruch zu ihnen, vielmehr sind beide gemeinsam hingerichtet auf ihr Telos im Geist. Und sofern das der Fall ist, befindet sich der seelisch-leibliche Mensch auch in gleicher Übereinstimmung mit seiner Umwelt in Raum und Zeit. &endash; Man wird vielleicht sagen dürfen, daß es im Leib des empirischen Geschöpfes keine Organfunktion gibt, die nur vorbewußt und damit gesund oder nur nachbewußt und damit krank wäre. Daraus würde etwa folgen &endash; was hier aber nur noch angedeutet werden soll &endash;, daß jede operative Entfernung eines erkrankten Organs, so nötig sie zur Erhaltung des Einzellebens auch sein mag, mit dem Unkraut immer auch den Weizen ausrauft.
Das Absinken von Bewußtem in die Unbewußtheit ist ebenso wie der Zerfall des Leibes ein Dekompositionsprozeß, bedingt durch die Verkehrung des Sinnes in Unsinn, und das Gleiche gilt natürlich auch, von der Verwandlung bewußter Willensregungen in Triebe. Zwar ließe sich hier ebenfalls von vor-bewußten und nach-bewußten Trieben reden, aber der Trieb, dem dieser Name wirklich zukommt, erscheint immer dadurch gekennzeichnet, daß er in deutlich merkbarem Gegensatz steht zur Richtung der wahrhaft freien Willensentscheidung, während das, was eventuell vor-bewußter Trieb heißen könnte, der Freiheit in keiner Weise widerstreitet, sondern, obgleich nicht im Licht des Bewußtseins stehend, umgekehrt geradezu die Voraussetzung oder, wie wir früher sagten, den "Absprung" für die Freiheit bildet, genau so wie das Sein für den Sinn. Von dieser Art ist z. B. der "Trieb", der den Herzschlag regelt, im Gegensatz zum Sexualtrieb, dessen echter Triebcharakter gar keinem Zweifel unterliegt, weil er die Freiheit des Menschen in Frage stellt und sie nicht etwa fundiert oder gar fördert. Als der, der solche Triebe hat und von ihnen je nachdem mehr oder weniger stark beherrscht wird, bin ich a priori als dieses Individuum negiert, und somit ist ausnahmslos jeder echte Trieb, selbst dann, wenn ohne ihn die temporäre Erhaltung auch der Individualität nicht möglich sein sollte, aufs Letzte gesehen "Todestrieb", um den bekannten Ausdruck Freuds zu gebrauchen. Als triebhafte Wesen sind wir vom Augenblick unseres Entstehens an vom Tod gezeichnet. Dieser Einsicht kann keine einigermaßen konsequente und ehrliche Überlegung ausweichen. Mit moralischer Triebfeindschaft oder Muckertum hat das nicht das mindeste zu tun. Es handelt sich da einfach um eine ganz nüchterne phänomenologische Feststellung.
Der Trieb hat die Richtung nicht auf das Telos, sondern auf das Anti-Telos, er ist nicht vom Sinn, sondern vom Un-Sinn gezeugt, er ist pervertierter Sinn oder doch in der Pervertierung begriffener Sinn und insofern allerdings immer noch Sinn, weshalb auch er sich nicht als Unkraut ausraufen läßt, ohne daß man mit ihm das Kraut gleichfalls ausraufen würde. Darum ist z. B. die Kastration kein mögliches Mittel zur Überwindung des Sexualtriebes und des sich in diesem Trieb manifestierenden Unsinns. Der Kastrat wäre nur ein reduzierter, d. h. ein wie um den Unsinn, so auch um den Sinn gebrachter Mensch.
Während die vorbewußten Triebe sich dem freien Willen unterordnen, ihm dienen, sich sozusagen in seine Direktion stellen, unterordnet sich umgekehrt der Wille den nachbewußten und wird zu ihrem Sklaven. Es ist ja eigentümlicherweise nicht so, daß wir uns wollend dem Trieb widersetzen, im Gegenteil, wir sagen zu ihm Ja, wir machen aus Freiheit mit, was er fordert, wir entscheiden uns also aus Freiheit für die Unfreiheit. Einer solchen Fehlentscheidung verdankt offenbar der Trieb überhaupt sein Dasein. Nun aber, da er erwacht ist, haben wir freilich keine Möglichkeit mehr, ihm erfolgreich zu widerstehen. Er reißt uns unaufhaltsam dem Antitelos zu. Das Sein, das sich in irgendeiner Weise dem Sinn verschlossen hat, bzw. der Sinn, der selber im Sein erstarrt, verfällt dem Unsinn, der Dekompensation. Wir reden hier von dem gleichen Vorgang, den die Bibel als den "Sündenfall" schildert. Indem Adam auf die Stimme seines Weibes statt auf die Stimme Gottes hört, ist er der vom Sinn zum Unsinn, vom Telos zum Antitelos sich verkehrende Mensch. Nicht als ob das Weib an sich bereits der Unsinn oder das Antitelos wäre. Es ist vielmehr zunächst gar nichts anderes als die in gesonderter menschlicher Gestalt verkörperte Vor-Bewußtheit und damit genau so wie der Mann ursprünglich für den Sinn prädestiniert. Da aber der Mann das Weib nicht im Selbstentwurf auf das Telos mitnimmt, sondern, sich ihm zuwendet, zu seinem eigenen Telos macht und Gott gleichsam den Rücken kehrt, schlägt auch die Sinnrichtung der Gefährtin um, und nimmt die Beziehung des Mannes zu ihr den Charakter des Triebes an.
Was aber ist eigentlich das Antitelos als Ziel des Unsinns und des Triebes? Grundsätzlich sicher das Nichts, das Chaos, die Unentstandenheit, in die sich das sinnfremde Sein zurückverwandelt. Aber dieses Nichts wird, da es ja doch der Wille ist, der sich für den Trieb entscheidet, der zu ihm Ja sagt und sich sogar mit ihm identifiziert, mit Illusionen ausgeschmückt. Der freie Wille nämlich kann als solcher seiner Natur nach auch in der Verkehrung niemals etwas anderes wollen als den Sinn, als das Telos und das heißt Gott. Als pervertierter projiziert er darum das Göttliche, das Positive zurück ins Negative, und so schafft er sich ein zwischen Sein und Nicht-Sein, zwischen Leben und Tod schillerndes Mischgebilde als seinen Götzen. Diesen Götzen will er, sofern er ihm die Attribute der Göttlichkeit beilegt und will ihn doch auch wieder nicht, sofern er das Abgründige und Chaotische in ihm mindestens ahnt. Er verneint und bejaht dementsprechend gleichzeitig auch seinen Trieb. Darum eben sind alle Triebe "ambivalent", darum haben sie immer etwas mit Götzendienst oder Abgötterei zu tun, darum ist der Himmel des Trieblebens mit allen Göttern und "Archetypen" der Mythologie bevölkert, darum ist das Reich des Unbewußten das Pantheon des archaischen Heidentums.
Bis zum Ende läßt sich die Gleichsetzung von Sinn und Unsinn, von Telos und Antitelos allerdings nicht durchhalten; denn der Unsinn verschlingt schließlich den Sinn, und dann bleibt nichts als der leere Abgrund. Während sich das Bewußtsein immer mehr und mehr dem wahren Gott entfremdet, sterben auch die falschen Götter. Nach dem Glauben schwindet auch der Aberglaube. Nur der verkehrt Gläubige kann auch abergläubisch sein. Erst mit dem Verlust des Aberglaubens, auch noch des Aberglaubens, ist sie wirklich verloren. Der Rausch der Abgötterei wird abgelöst von der Nüchternheit des reinen Unglaubens, von der Nüchternheit des eindeutigen Todes. Der Unsinn ist jetzt nicht einmal mehr Unsinn, sondern Sinnlosigkeit und das Unbewußte nur noch Bewußtlosigkeit, absolutes Vergessen.
An sich, d. h. abgesehen von der Deutung, die ich ihm aus meiner Sinnblindheit heraus zwangsläufig geben muß, ist das Antitelos natürlich Eines mit dem Telos; denn derselbe Gott steht am Anfang wie am Ende aller Dinge als ihr Urheber und als ihr Vollender, eben als ihr Daseinsgrund und als ihr Daseinsziel. Wenn also der Mensch sich seinem Telos versagt, um "selbst wie Gott zu sein", wenn er seinen Sinn, sein von Natur aus nach Gott auslangendes Seelenwesen zum Sein verhärten läßt und so bewirkt, daß seine Geschaffenheit, sein Sein sich umkehrt und zum Unsinn wird, so ist diese Rückwendung tatsächlich nichts anderes als das Einschlagen der Richtung zum Ursprung und damit wieder zu Gott. Das will sagen, daß der Unsinn zuletzt ebendorthin ausmündet, wohin auch der Sinn tendiert. Aber von dieser Identität des Anfangs und des Endes kann der gottentfremdete Mensch nichts wissen, und darauf allein käme es an. Gerade sein Heimgang zu Gott muß sich ihm nun als Vernichtung darstellen, zur Vernichtung werden.
Wer kein Auge hat für das Licht seines Wohin, dem verdunkelt sich auch sein Woher, wer den Sinn verfehlt, dem entschwindet auch das Sein. Indem das geschöpfliche Ich sich verschließt, sich weigert ein Du zu sein für das Ich des Schöpfers, macht sich zum Subjekt schlechthin, für das alles übrige, seine eigene Herkunft miteinbegriffen, zum bloßen Objekt wird. Er erkennt zwar seine Gewordenheit, seine Begründetheit, aber doch auch sie nur in der Gestalt und unter den Kategorien der Objektivität, d. h. dem Subjekt unterworfen und eingegliedert in den rationalen Zusammenhang alles bloß Begreiflichen. Der Mensch meint begreifen, objektiv erklären zu können, woher er kommt, er will seinen Grund ergründen und stößt so vorbei am wahren Grund, der sich, da er ja selbst der begründende ist, niemals vom Begründeten ergründen läßt. Was sich dem auf Ergründung des Grundes Versessene am Ende zeigt, ist nicht der freie lebendige Grund, sondern das Gespenst der Kausalität, nicht Gott, sondern wieder ein Abgott. Und eben diesem Abgott, diesem Kausalitätsgötzen, dem er die Herrschaft über sein Sein zuerkannt hat, verfällt der sterbende, der zu seinem Ursprung zurückkehrende Mensch.
Der Trichotomie der Gesamtperson nach Geist, Seele und Leib entspricht symbolisch eine Trichotomie auch des Leibes mit seinen verschiedenen Organen; denn in jedem Teil spiegelt sich das Ganze wieder. Der Leib gliedert sich in Kopf, Brust und Unterleib, zerebrale, thorakale und abdominale Region, vor allen in Hirn, Herz und alles, was sich unterhalb des Zwerchfells befindet. Im Kopf hat das subjektiv-seelische, im Unterleib das objektiv-körperliche und in dem, was dazwischen liegt, das geistige, das synthetische Prinzip sein Abbild. Erinnern wir uns noch einmal an das Grundgesetz, nach dem alles Subjektiv-bewußte objektiv unbewußt und alles Objektiv-bewußte subjektiv unbewußt ist. Der Mensch hat seinen Leib, sofern er sich seiner selbst objektiv bewußt ist,
d. h. das Selbstbewußtsein realisiert sich seiner objektiven Seite nach in der Leiblichkeit. Aber auch der Leib zeigt verschiedene Grade objektiver Bewußtheit und damit subjektiver Unbewußtheit. So sind etwa die Verdauungsorgane, bzw. die Verdauungsvorgänge relativ objektiv bewußt, sie lassen sich beobachten, und demgemäß subjektiv unbewußt, sie werden nicht als vom Willen geleitete
Ich-Funktionen erfahren, und das zwar um so weniger, je weiter sie vom Kopf und vom Mund abliegen. Dagegen sind die Sinnesfunktionen umkehrt relativ subjektiv bewußt, ich sehe, ich höre, ich schmecke usw., und objektiv unbewußt, ich kann weder mein Sehen sehen noch mein Hören hören. Das subjektivste Organ von allen, das Gehirn, ist auch das verborgenste. Die Leiblichkeit des Leibes nimmt nach unten hin zu und nach oben hin ab. Die seelische Komponente steht dazu im umgekehrten Verhältnis, aber trotzdem ist die Seele als solche nicht etwa am Leib vorhanden, sondern bleibt ein ihm Transzendentes, das lediglich als Synthesis in der Thesis der zerebralen Region seinen stärksten Ausdruck findet.
Man hat gelegentlich &endash; vor allem unter materialistischen Voraussetzungen &endash; die Seele als bloße Gehirnfunktion interpretiert, was auch insofern gar nicht so falsch ist, als das, was man wenigstens seit Descartes sich angewöhnt hat gemeinhin die "Seele" zu nennen, nämlich das rationale Denkvermögen, tatsächlich an das Gehirn gebunden erscheint. Deshalb sind, wovon noch zu sprechen sein wird, Psychosen zum Unterschied von Neurosen Hirnerkrankungen und äußern sich Hirnerkrankungen in Gestalt von Psychosen, d. h. die sogenannte Psychose hat, obwohl sie die Psyche in ihrem Namen führt mit der Seele viel weniger zu tun als die Neurose, deren Benennung sich von einem Körperorgan herleitet. Das Gehirn unterscheidet sich vom Unterleib, seinem Gegenpol nur darin, daß hier der Akzent auf der sinnlichen Wahrnehmbarkeit, dort aber auf der
Nicht-Wahrnehmbarkeit der Funktionen liegt. Das ist ganz gewiß ein sehr wichtiger und sehr zu beachtender Gegensatz, aber eben doch nur ein dialektischer, weshalb im zuletzt Entscheidenden beide Pole auf der gleichen Ebene liegen. Auf der Seite des Zerebralen findet sich das, was in der Psychologie das Bewußtsein heißt, unterhalb des Zwerchfells das Unbewußte; denn Bewußtsein und Unbewußtsein verhalten sich zueinander wie Unsichtbares und Sichtbares. Das an sich Bewußte ist immer das Unsichtbare, das an sich Unbewußte das Sichtbare. Die Seele aber hat ihren Ort jenseits dieser Polarität, die Seele nämlich, die zum Geist in Beziehung steht, und ihr eigentliches Symbol ist darum auch viel mehr das Herz als das Hirn, das Herz als das Organ, in dem die Subjektivität und die Objektivität des Leibes miteinander verknüpft sind.
Das Zerebralsystem verlängert sich im Rückenmark bis in den Unterleib, das Abdominalsystem umgekehrt durch die Speiseröhre und Mund bis in den Kopf. So überschneiden sich beide und hängen gewissermaßen zusammen im Herzen, das das Blut sowohl abwärts wie aufwärts treibt. Die Nerven strahlen aus vom Gehirn und vom Rückenmark, vom zerebrospinalen Komplex und ermöglichen die Bewußtseinseinheit des Ganzen. Der Nerv bewirkt, daß ich eine Schädigung oder Störung auch eines Abdominalorgans schmerzhaft empfinde, und das heißt, daß ich auch dieses relativ objektive Organ immer noch als mir zugehörig, als einen Teil meiner selbst erfahren kann. Umgekehrt leiten Magen und Darm durch die Lymphgefäße die Nahrungssäfte auf dem Umweg über Herz und Lungen auch dem Hirn zu, worin die Objekt-bedingtheit auch dieses subjektivsten Organs ihren Ausdruck findet. In die drei Regionen des Zerebralen, des Thorakalen und des Abdominalen also gliedert sich der Leib, und von dem besonderen Verhältnis, in dem sie jeweils zueinander stehen, hängt der Gesamtcharakter ab, seine Harmonie oder Disharmonie, seine Einheitlichkeit oder Zwiespältigkeit. Im Hirn hat, wie auch Schopenhauer bereits betonte, das Erkennen und Vorstellen, im Unterleib der Wille in Gestalt des Triebes seinen Sitz. Man könnte danach, soweit dergleichen überhaupt statthaft ist, verschiedene Grundtypen unterscheiden wie den Hirn-Menschen mit verkümmertem Herzen und Triebleben, den Herz-Menschen mit herabgesetzter Erkenntnis- und Willensenergie, den Hirn-Herz-Menschen, den Hirn-Willensmenschen usw. usw.
Im Bewußtsein seiner Übereinstimmung mit ähnlichen, das Polaritätsverhältnis von Kopf und Unterleib betreffenden Gedanken Schopenhauers hat der Berliner Nervenarzt Armin Müller in verschiedenen Schriften4) auf das Phänomen der "Keimdrüsenabwanderung" bei den Wirbeltieren nachdrücklich aufmerksam gemacht. Zum abdominalen Bereich gehören ja nicht nur die Verdauungsorgane, sondern auch die Geschlechtsorgane, und gerade sie erscheinen neben den Ausscheidungsöffnungen an dem dem Gehirn entgegengesetzten Ende des Körpers. Während nun bei den niederen Wirbeltieren die Keimdrüsen beider Geschlechter paarig entlang der Wirbelsäule angeordnet sind bis hinauf in die Halsregion, wandern sie in aufsteigender Reihe über die Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugetiere bis zum Menschen allmählich herab in die Brust &endash; und Bauchhöhle, um dann wenigstens bei den männlichen Individuen, sogar aus dieser herauszutreten. Armin Müller bringt das, sicher zutreffend in Zusammenhang mit der fortschreitenden Individualisierung, d. h. mit dem Anwachsen des individuellen Bewußtseins. Während sich nämlich die Nerven, die Träger des Bewußtseins als Gehirn im Kopf verdichten, verlagert sich das Gattungsorgan an das andere Körperende; denn je mehr das Einzelwesen sich als Subjekt versteht, um so ausdrücklicher muß ihm alles, was an ihm selber über seine Einzelexistenz hinausweist, zum Objekt werden, und zu diesem Hinausweisenden gehört selbstverständlich vor allem die Geschlechtlichkeit, durch die das Individuum erstens dem Geschlechtspartner und zweitens der Nachkommenschaft verbunden ist. Mit aller Vorsicht könnte man hier vielleicht die Vermutung wagen, daß die Tonsillen und die Nieren als Drüsenpaare an der Wirbelsäule, im Hals und in der Bauchhöhle beim Menschen möglicherweise eine wenigstens symbolische Beziehung zu den Keimdrüsen haben könnten, woraus sich dann gewisse Krankheitserscheinungen ihrem Zusammenhang nach deuten ließen, wie z. B. die von
V. v. Weizsäcker so oft erwähnte psychogene Angina nach seelischen Erschütterungen erotischer Art, oder die Nephritis im Gefolge von Mandelerkrankungen.
Die akzentuierte Polarität von Kopf und Abdomen aus ihrer ursprünglichen engeren Verbundenheit heraus darf keineswegs nur rein negativ, etwa als Verlust der organischen Ganzheit beurteilt werden. Negativ zu bewerten ist sie lediglich ihrem eventuellen Widerspruchs-, nicht aber auch ihrem Entfaltungscharakter nach. Das Abdomen steht dem Kopf zunächst einmal einfach als das Andere und dennoch dem Selbst Zugehörige gegenüber, genau so etwa wie der Leib der Seele oder die in der Erinnerung noch gegenwärtige Vergangenheit einer in lebendiger Entscheidung ergriffenen schon gegenwärtigen Zukunft oder, wenn wir die individuellen Grenzen überschreiten, wie die als Du erkannte geliebte Frau dem liebenden Manne. Nur wenn und sofern hier wie dort die Mitte, das Herz verkümmert, verkehrt sich die polare Entfaltetheit in Gegensatz und Widerspruch, und das Herz verkümmert, sobald der ganze Mensch die Richtung auf sein göttliches Telos und damit seinen eigenen Daseinssinn verfehlt. Dann allerdings erscheint dem subjektiven Kopf der objektive Unterleib als das Fremde, ja geradezu Feindliche, dann schämt er sich seiner Nacktheit und greift nach den Feigenblättern. Homo est duplex, et si duplex non esset non sentiret, sagt schon Hippokrates. Die Zwiefältigkeit bildet also wohl die Voraussetzung des Bewußtseins, aber Bewußtsein heißt noch nicht Gespaltenheit. Dazu wird die Zwiefältigkeit erst durch den Verlust der Beziehung zum sinngebenden Telos des Ganzen. Verleugnet das Subjekt seinen Sinn, dann stürzt das Objektive ins Unsinnige, dann wird der Unterleib mit allem, was er an sich und in sich trägt, zum Symbol der Verfallenheit an das Nichts, und dann muß sich der Mensch, der von ihm ja doch nicht loskommt, seiner schämen, vor allem vor Gott schämen, da er sich nun dem Ungöttlichen und Antigöttlichen verhaftet erkennt.
Leben heißt sowohl sich ausweiten und entfalten zu bunter Mannigfaltigkeit wie auch sich aus der Entfaltetheit wieder zurücknehmen zur Einheit. Darum sind jene Leibesfunktionen, an denen dieses Sowohl-als-auch zur Darstellung kommt, die Lebensfunktionen kat' eksochçn, nämlich erstens der Atem und zweitens der Herzschlag, der rhythmische Blutkreislauf. Im Einatmen wie in der Diastole des Herzens vollzieht sich die Entfaltung, im Ausatmen wie in der Systole die Zurücknahme auf das Selbst. Darum werden etwa in der Bibel, aber durchaus nicht nur in ihr allein, der Hauch und das Blut als Symbole des Lebens oder der Seele schlechthin verstanden. Darum sind in vielen alten Sprachen, wenn nicht in allen, Seele und Atmen, bzw. Leben und Blut synonyme Begriffe. Darum ist es nach dem mosaischen und schon nach dem noachitischen Gesetz streng verboten, Blut zu genießen, d. h. sich der Seele anderer Wesen zu bemächtigen, und darum kann geradezu gesagt werden: "Allein merke, daß du das Blut nicht essest; denn das Blut ist die Seele, darum sollst du die Seele / nephesch =Atem / nicht mit dem Fleisch essen." / Deut. 12, 23 /. Hierher gehört auch die eigentümliche Priorität des Weines vor dem Brot, des Mundschenks vor dem Bäcker in der Josefserzählung, sowie die höhere Dignität des Blutes in den Einsetzungsworten des heiligen Abendmahls &endash; "vergossen zur Vergebung der Sünden". In diesem Zusammenhang wäre auch herwähnenswert, daß der Atem und der Blutkreislauf von seelischen Erregungszuständen weit unmittelbarer als irgendwelche andere Organfunktionen beeinflußt werden: Das Blut steigt zu Kopf, das Herz steht still, die Luft bleibt weg usw.
Nicht immer zwar, aber doch jedenfalls in ihrer klassischen Zeit hat die antike griechische Medizin das Herz für die eigentliche Mitte des lebendigen Organismus gehalten. Nach der Abhandlung peri kardiçs des Corpus Hippokraticum ist die linke Herzkammer der Sitz der gnômç, d. h. der geistigen Seele des Menschen. Sonst freilich gilt, daß für die Griechen eher das Haupt als das Herz der eigentliche Wohnort der edelsten menschlichen Vermögen, der epistçmç, der sophia, des pneyma, ist, wogegen die Brusthöhle mit ihren Organen, den durch den zweiten Stand des platonischen Staates repräsentierten Tugenden und Leidenschaften entspricht, wie ja überhaupt das griechische Denken, verglichen etwa mit dem biblischen, den Hauptwert des Menschen in die Subjektivität verlagert, zu welchem Ergebnis übrigens jedes konsequente humanistische Heidentum notwendig kommen muß.
Die Brustregion des Leibes zeichnet sich also, wie wir sagten, aus durch den regelmäßigen Rhythmus der Organbewegungen. Rhythmisch wird normalerweise geatmet, und rhythmisch schlägt auch das Herz. Rhythmus ist zeitlicher Ausdruck der Harmonie, des Zusammenklanges zweier Pole, nämlich von Vergangenheit und Zukunft als Gegenwart, die aber symbolisch stehen für harmonierende Pole überhaupt. Im Thorax hat sozusagen die Bipolarität des Organismus ihre Synthese, lebt der Organismus in Übereinstimmung mit sich selbst und auch mit der Außenwelt, das erste in Gestalt des Blutkreislaufes, das zweite in Gestalt der Atmung. Darum bedeutet Stillstand des Herzens ebenso wie Aufhören des Atmens unmittelbarer Tod, das heißt mit anderen Worten, Verlust der Gegenwart. Haben die übrigen Organe des Leibes auch andere Beziehungen zur Zeit, worüber noch zu reden sein wird, so sind doch auch sie nur in Ordnung, sofern sich diese Beziehungen der Zeitform der Mittelregion angleichen und unterordnen. Die Zukünftigkeit wie die Vergangenheit muß zentriert sein und zentriert bleiben im lebendigen Rhythmus des Gegenwärtigen, in dem die Wendung nach außen und die Wendung nach innen einander die Waage halten. Verselbständigt sich dagegen die Zeit als Zukunft oder die Zeit als Vergangenheit, so löst sie sich von der Mitte, bzw. die Mitte selbst wird geschwächt und verliert ihre Fähigkeit das Ganze zusammenzuhalten.
Die Organe des Thorax werden, wie wir sagten, am unmittelbarsten betroffen von den Gemütsbewegungen und Gemütserregungen, denen der Intellekt fast unbeteiligt wie ein Zuschauer gegenübersteht und die die Abdominalorgane, soweit überhaupt, jedenfalls schwächer und viel weniger direkt affizieren. Das heißt, daß das eigentlich Seelische als synthetische Potenz des Ganzen zu dieser Region der Mitte das intimste Verhältnis hat, weshalb es mit ihr zuweilen geradezu identifiziert wurde. Demgemäß meint etwa Carus: "So ist es also falsch, zu sagen: die Trauer wirkt einen langsamen Herzschlag, ein Bleichen der Haut durch Zurückziehung der Blutströmung aus den feinsten Netzen der Oberfläche ..., ein langsames, schluchzendes Atmen usw., sondern es soll heißen: die Trauer ist teilweise eben alles dieses selbst, und dadurch, daß diese unbewußten Vorgänge auf eigentümliche Weise im selbstbewußten Geiste widerklingen, entsteht im Verein und durch gleichzeitige Vorstellungen des Unglücks das, was wir Trauer nennen"5). Vollständig unbewußt ist freilich nur der Herzschlag und nicht auch der Atem, den wir bis zu einem gewissen Grad willkürlich regeln können, welche Tatsache übrigens wieder auf den zwischen Bewußtsein und Unbewußtsein vermittelnden Charakter dieser Körperregion hinweist. Man redet bezeichnenderweise vom Atmen in der ersten Person: ich atme, von der Herztätigkeit aber in der dritten: mein Herz schlägt.
Das Gehirn ist Repräsentant des Bewußtseins und insofern der subjektiven Seele, nicht dem Leib gegenüber, sondern innerhalb des Leibes selber. Es ist die Subjektivität im Verhältnis zur Objektivität vor allem des Abdominalen und das um so ausdrücklicher, je reflektierter, je ich bewußter sich das Denken versteht. In der Reflexion wendet sich das Subjekt auf sich zurück und löst sich von der Außenwelt ab, in ihr isoliert sich das Einzelwesen, und sich isolieren heißt nichts anderes als sich auf seine Leiblichkeit beschränken; denn eben als dieser Leib grenze ich mich scharf ab von allen übrigen Leibern sowie von allen übrigen Dingen, ja als bloßer Leib bin ich eigentlich nur ein Ding unter Dingen. So erweist sich also das reflexive Bewußtsein, obwohl es in gewissem Sinn das allerbewußteste ist, als dasjenige, das die leibliche Individualität am wenigsten transzendiert, das Grenzen aufrichtet zwischen sich und dem Anderen und das außerdem auch die Grenzen innerhalb des eigenen Körperbereiches verschärft, indem es sich deutlich vom leiblich Unbewußten abhebt.
Daß der Mensch ein relativ so riesenhaftes Gehirn hat, deutet auf seine Größe, bildet aber andererseits auch seine Gefahr. Nur wer Gott so nahe steht wie er, wer als Seiendes so geladen ist mit Sinnhaftigkeit, kann in solchem Grad Subjekt sein, daß er auch noch die eigene Sonderexistenz zu objektivieren, gewissermaßen sich von sich zu unterscheiden mag. Aber daraus ergibt sich auch die ständige Versuchung, sich als das unterscheidende Ich absolut zu setzen und sich ebenso auf seine Unterschiedenheit zu reduzieren, in dem von Hybris geleiteten Drang nach der Unendlichkeit, nach dem unendlich Großen auf die endlichste Endlichkeit, auf das unendlich Kleine zurückzufallen. Das Gehirn wird damit sowohl zum Symbol des Geistes wie auch zum Organ des Verrates am Geist, sowohl zum Ausdruck dafür, daß das menschliche Sein einen Sinn hat wie auch zum Inbegriff der Möglichkeit, sich dem Sinn zu versagen, bzw. sich zu seinem eigenen Sinn zu machen und damit im Sein zu verknöchern. Dieses zweite geschieht, wenn die geschöpfliche Subjektivität sich nicht mehr dem Herzen unterordnet, sondern umgekehrt auch noch das Herz, auch noch die Mitte, in der sie sinnhaft auf das Telos entworfen ist, in ihr Objekt zu verwandeln sucht.
Subjekt sein heißt unter anderem, auf einen gleichsam archimedischen Punkt jenseits der übrigen, der objektiven Wirklichkeit stehen, einen unverrückbaren Standpunkt ihr gegenüber einzunehmen, der feste Maßstab sein, an dem alles gemessen wird. Zur Subjektivität gehört insofern absolute Ruhe, absolute Bewegungslosigkeit, aus der heraus sich die Bewegtheit der Welt unberührt beobachten läßt. Autarkie, Ataraxie, Apathie, das sind die bekannten Ausdrücke der griechischen, vor allem der stoischen Philosophie für diesen Zustand vollendeter Subjektivität, vollendeter Hirnhaftigkeit. Das absolute Subjekt befindet sich dort, wo alle Bewegung, alle Geschichte, alle Zeit ihr Ende gefunden hat, wo Zeit zusammenfällt mit Vergangenheit. Auf das Zeitliche als auf das nur noch Vergangene, nur noch Objektive sieht das reine Subjekt von seinem Standpunkt herab, der sich eben damit als Standpunkt der absoluten Zukünftigkeit, der starren, immer schon erreichten Zukünftigkeit erweist.
Offenbart sich im Rhythmus des Herzschlages und des Atmens die Gegenwart als synthetische Einheit von Vergangenheit und Zukunft, so in der eigenartigen Unbeweglichkeit der Gehirnmasse die nicht mehr zu überschreitende Zukunft. Von da her entwirft etwa Hegel &endash; und mit ihm jeder konsequente Denker &endash; seine Geschichtsphilosophie. Philosophie wie selbstverständlich auch und erst recht rationale Wissenschaft, ist als bloßes Ergebnis der Reflexion und das heißt als Hirnprodukt Verwandlung der gesamten gegenständlichen Welt in Vergangenheit. Indem das Hirn im Eigen-Sinn verharrt, drängt es das Sein zurück in das Nichts, in den Un-Sinn. Indem es den räumlichen und den zeitlichen Kosmos den verzehrenden Flammen der Vergänglichkeit überantwortet, erfriert es selbst in seiner kalten einsamen Höhe. Das Hirn lebt nur von dem Blut, das ihm das Herz zuführt, die Erkenntnis nur aus der Wärme, die ihr die Liebe vermittelt. Weigert sich der Kopf, die Herrschaft des Herzens anzuerkennen, läßt er sich vom Herzblut nicht willig ernähren, dann mag vielleicht seine Bewußtheit für Augenblicke ins Phantastische steigen, aber er bezahlt diese Euphorie unausweichlich mit dem Sturz in die ewige Nacht. Wir haben so vom Hirn mehr symbolisch als anatomisch oder physiologisch geredet, aber das entspricht durchaus seinem Wesen als Organ der Subjektivität. Vom Subjektiven kann man objektiv nichts aussagen, wenn man sachlich bleiben will. Von der Gehirnanatomie ist hier darum sehr wenig zu erwarten. Was sie da vor sich hat, das verhält sich außerordentlich stumm. Zum Objekt gemacht, dialektisch in die Objektivität verkehrt, stellt sich das Subjektive nur noch wie eine formlose Qualle dar. Die Ergebnisse der hirnanatomischen Spezialforschung sind ohne Zweifel aller Achtung wert und es fällt uns nicht ein, sie geringschätzig abzutun, aber auch sie geben uns nicht die Möglichkeit, die Funktionen des Gehirnapparates als solche zu durchschauen, und zwar deshalb nicht, weil das Subjektive immer unobjektivierbar bleibt. Anderenfalls wäre es eben nicht das Subjektive, wäre das Gehirn nicht das Gehirn. Es gibt einfach keine Hirnfunktionen in dem Sinn, in dem es Lungen-, Herz-, Darm- oder Nierenfunktionen gibt; denn je mehr die Seele im Spiel ist, um so weniger spielt die Leiblichkeit.
Das Hirn wird sichtbar nicht, wenn man die Schädeldecke öffnet und hineinsieht, nicht indem es gesehen wird, sondern indem es sieht. Sein eigenes Sehen ist seine wahre Sichtbarkeit. Die sehenden Augen sind das sichtbare Gehirn. Sehen können heißt Subjekt sein. Im Blick der Augen offenbart sich das Bewußtsein. Ohne die Augen und auch ohne die anderen Sinnesorgane wäre das Gehirn nichts. Sie sind seine Organe, ja sie sind es selber in seiner Aktualität, in seiner Realisiertheit. Mit den Sinnen nimmt das Subjekt sich und alles andere wahr, durch sie unterscheidet es sich vom Objektiven und setzt sich zu ihm in Beziehung. Diese doppelte Funktion ist besonders wichtig. Unterscheidung allein wäre absoluter Eigen-Sinn und absolute Finsternis. Sofern sich aber das Sehende vom Gesehenen nicht nur unterscheidet, sondern auch mit ihm verbindet, ist das Auge "des Leibes Licht", strahlt das Selbst sinnhaft aus sich heraus, gibt es sich zu erkennen als ein vom Herzen und nicht bloß vom Hirn her Lebendiges. Das sehende und dem Gesehenwerden sich darbietende Auge gleicht dem Herzen und seinem rhythmischen Schlag im Wechsel von Systole und Diastole.
Gottebenbildlichkeit und Hybris, beide sind Möglichkeiten des Menschen als einer "lebendigen Seele", deren leibliche Darstellung vor allem das ihn krönende Gehirn mit seinen Sinnesorganen ist. Als das einzige aufrecht gehende Geschöpf ragt er von der Erde empor wie ein Baum und hat die Wahl zwischen dem Baum des Lebens, des Geist-Sinnes und dem Baum der Erkenntnis, der Unterscheidung, des Eigen-Sinnes. Den Eigen-Sinn und damit auch schon den Un-Sinn wählen heißt sündigen. Darum sind am Sündenfall vor allem zwei Organe beteiligt: das Hirn und die Genitalien, als die beiden äußersten Gegenpole des Leibes, aber das Gehirn als das eigentlich aktive, das Genitalorgan bloß als der leidende Teil. Indem sich das Gehirn zum absoluten Subjekt der Erkenntnis verhärtet, wird die Geschlechtlichkeit zum Erkannten und muß sich als die nun dem
Un-Sinn überantwortete die Bedeckung mit Feigenblättern gefallen lassen. "Die Kopftiere / Hirn-Tiere /", sagt Lorenz Oken, "haben Vorstellungen und ganz gewiß Schmerzen, weil sie sich selbst teilweise zum Objekt werden"6). Die Zweiteilung, das Sich-selbst-gegenüber-Sein also ist die Vorbedingung sowohl für die Vorstellungen, d. h. für das Bewußtsein wie auch für den Schmerz. Der Schmerz aber folgt nicht unbedingt aus der Selbstobjektivität des Bewußten, er tritt vielmehr erst dann auf, wenn es zwischen dem Ich-Subjekt und dem Ich-Objekt zum Bruch kommt bzw. wenn dieser Bruch auch als solcher erfahren wird, wenn das Objektive, obwohl zum Selbst gehörig, sich diesem gegenüber verselbständigt und von ihm loslöst, wenn also das Selbst gleichsam zerrissen wird, wenn der
Sinn-Zeiger des einen Poles in eine andere Richtung weist als der des anderen. Vermittler der Schmerzempfindung sind die Nerven, die sich vom Gehirn, vom Rückenmark und von mit diesen zusammenhängenden Ganglienknoten aus durch alle Organe und Glieder des Körpers verzweigen. Der Nerv hält die Identität des Subjektiven und Objektiven im Gesamtorganismus fest. Wird er beschädigt, so bedeutet das Verlust der Identität. In seiner Beschädigung erfährt sich das Bewußtsein als bedroht vom Untergang, und eben diese Erfahrung nennen wir Schmerz. Mehr braucht an dieser Stelle darüber nicht gesagt zu werden.
Stellt sich im Rhythmus des Herzschlages und der Atmung die Zeit in zyklischer Gestalt dar, so im Verdauungsvorgang in linearer. Da beginnt etwas und endet etwas ohne in sich zurückzukehren, ohne sich in genau der gleichen Weise zu wiederholen. Die Zeit, die hier ihr Symbol findet, ist nicht einfach die Zeit überhaupt, sondern eine ganz bestimmte Zeit, nämlich die Zeit als Vergänglichkeit, die Zeit, in der man auch geboren wird und stirbt, in der nach dem Wort des Heraklit die Lebendigen den Tod der Sterbenden leben und die Sterbenden das Leben der Lebendigen sterben. Essen heißt schon anderes Leben vernichten und also töten. Indem es etwas verzehrt, gibt das Lebewesen zu erkennen, daß es nur leben kann, wenn anderes stirbt, daß sein Wille zum Leben, zum Nicht-Sterben auch schon das Sterben, das Nicht-Leben anderer will, daß das Ja zur eigenen Existenz das Nein zur fremden in sich schließt. "Leben und leben lassen", so etwas läßt sich sehr leicht und sehr schön sagen, aber nur leider nicht tun. Das immer mitgehende Nein ist die fragwürdige Seite des ganzen Ernährungsprozesses. In dem ekelhaften Vorgang der Exkrementation enthüllt das Essen sozusagen sein eigenes anderes Gesicht, seine Karikatur, so wie schon der anus die Karikatur, die Fratze des Mundes ist. Wie in dieser Welt des Erkenntnisbaumes das Gute das Böse, so hat der Mund den anus als dialektischen Gegenpol unvermeidlich bei sich. Es war ein besonderer genialer Einfall Dantes, in seinem Inferno die Teufel sich untereinander durch Analtöne verständigen zu lassen*). Der anus gehört zum Mund des sterblichen Menschen nicht anders wie der Tod zur Geburt. "Geborene sind bereit zu leben und den Tod zu haben", sagt wieder Heraklit.
Bewußt ist der Ernährungsvorgang nur während des Verspeisens der Nahrung im Mund bis zum Augenblick des Schluckens. Alles Weitere vollzieht sich im Unbewußtsein und das heißt in der Vergangenheit. Wodurch aber wird die Zeit zur Vergangenheit, zur Form der Vergänglichkeit? Ihrem Ursinn nach müßte sie das durchaus nicht sein. Es ließe sich ja sehr wohl eine Zeit denken, die das Seiende nicht um eines Künftigen willen negiert und in die Vergangenheit abstößt, sondern es bejaht und vollendet, dem Künftigen zuführt. Das Ja zum Dann und das Ja zum Jetzt fielen hier in Eines zusammen. Es wäre gar nicht möglich, das eine ohne das andere zu bejahen und zu wollen, weil es einfach zum Wesen des Seiende gehörte, auf das noch nicht Seiende, aber Werdende entworfen zu sein, weil die Zeit selbst ein integrierendes Moment des Seins wäre. Die Zeit erschiene da als die Kontinuität ihrer Augenblicke und nicht als deren Diskontinuität. Wenn aber das Selbst sich in sich selbst reflektiert, seine Kontinuität mit dem außer ihm Seienden zerstört, dann allerdings muß ihm auch die Zeit zur Form der Diskontinuität werden, dann wird jeder Schritt in die Zukunft zur Negation des Gegenwärtigen, jedes Ja zum eigenen Leben zur Verneinung jedes anderen und zuletzt doch auch noch des eigenen Selbst; denn ich kann nicht der sein, der ich bin. Ich töte und verschlinge das Andere, das mir im Weg ist, ich esse mich in meine Zukunft hinein und sterbe damit meiner Gegenwart ab, ich werde mir zur Vergangenheit, ich scheide mich selber von mir aus, und das geschieht nicht erst im Augenblick des Todes, sondern auch schon in dem, was der anus verrichtet, in der Exkretion. Gewiß ist dieser Vorgang nicht nur dem Sterben allein, sondern auch dem
Sich-Loslösen von einem Gestorbenen und insofern einer Regeneration des Lebens vergleichbar, also doch irgendwie positiv zu bewerten, aber dieses Positive tritt weit zurück hinter der Tatsache, daß es in der Welt, in der ich lebe, Gestorbenes, das ausgeschieden werden muß, überhaupt gibt. Jeder Verdauungsprozeß ist eine Art Krankheit, jeder Ausscheidungsprozeß eine Art Genesung; gewiß, aber ich genese doch nur, um abermals zu erkranken, um meinen Körper für die neue Krankheit frei zu machen, und einmal wird es dann doch so weit sein, daß auf die Krankheit keine Genesung, sondern der Tod folgt.
Man könnte sich, so wurde früher gesagt, eine Zeit denken, die das Seiende nicht in die Vergangenheit abstößt, sondern dem Künftigen zuführt. Es ließe sich demnach auch ein Essen denken, das die Speise nicht tötet, sondern belebt, in eine höhere Form des Daseins umsetzt, und so hätte man sich vermutlich das Essen im Paradies und erst recht im Reich Gottes vorzustellen. Bis zu einem gewissen Grad ist ja auch unsere empirische Nahrungsaufnahme und überhaupt die aller organischen Lebewesen noch immer so beschaffen. Die Pflanze verwandelt in sich anorganische Stoffe in organische, das Tier wie der Mensch pflanzliche, tierische und anorganische in tierische höherer Ordnung und in menschliche, aber es wird hier nicht nur verwandelt, sondern vor allem auch getötet, und das eben ist das Fragwürdige, das eben findet in der Exkrementation seinen sichtbaren Ausdruck. Nach einer alten und sehr weisen jüdischen Legende sollen Adam und Eva in ihren ersten Exkrementen erkannt haben, daß sie nun sterblich waren.
Freilich kann der Mensch auch als sterblicher immer noch relativ gesund sein, solange nämlich weder das Aufnehmen der Nahrung noch die Ausscheidung der Abfallstoffe irgendwelchen Störungen unterliegt. Er lebt dann als Vergänglicher in der Vergänglichkeit, aber er lebt immerhin. Der Verdauungstrakt ist das Symbol der linearen Zeit. Die Nahrung, die Speise die noch ungegessen vor mir liegt, verhält sich zu den Exkrementen hinter mir wie die Zukunft zur Vergangenheit. Darum deuten etwaige Störungen bei der Nahrungsaufnahme offenbar auf ein Mißverhältnis zur Zukunft, Störungen der Ausscheidung auf ein Mißverhältnis zur Vergangenheit oder auch jene auf Hemmungen des Willens, diese auf Hemmungen der Erkenntnisfunktion; denn der Wille ist der Zukunft die Erkenntnis der Vergangenheit zugeordnet. Häufig werden freilich auch Störungen da und dort gleichzeitig auftreten, weil derselbe Mensch, der mit der Vergangenheit zerfallen ist, gewöhnlich auch nicht die rechte Beziehung zur Zukunft hat und umgekehrt.
Wir greifen damit bereits auf ein Problem vor, das in extenso erst im Zusammenhang mit der Neurose zu behandeln sein wird, das aber wenigstens kurz zu beleuchten im Interesse besserer Verständlichkeit doch auch schon hier nützlich sein kann. Viktor von Weizsäcker berichtet einmal von einer nicht mehr ganz jungen Dame, einer Opernsängerin, die zwar als Künstlerin Erfolg hatte, sich aber wiederholt von den Regisseuren sagen lassen mußte, sie könne zur letzten Entfaltung ihrer Fähigkeiten nur kommen, wenn sie erst einmal seelisch und leiblich die ganze Leidenschaft erotischer Liebe erfahren hätte. Dazu aber fehlte dieser Dame offenbar jede Veranlagung oder vielleicht auch die geeignete Gelegenheit. Jedenfalls trat bei ihr eines Tages eine spastische Störung im Mastdarm auf und etwas später ein böser Krampfzustand an der Übergangsstelle von der Speiseröhre zum Magen. Nach unseren Voraussetzungen würde das heißen, daß die Patientin zuerst ihren Konflikt mit der Vergangenheit und sodann ihr Mißverhältnis zur Zukunft leiblich zur Darstellung brachte. Ihrer Vergangenheit, von der sie nicht loskommen konnte, fehlten die Liebeserlebnisse, die nötig gewesen wären, und die Zukunft hatte ihr ihres bereits vorgerückten Alters wegen kaum noch etwas dergleichen zu bieten. So war ihre Einstellung zu beiden negativ. Von der Vergangenheit, die ihr anhing, vermochte sie sich nicht zu befreien, die Zukunft, die sie nötig gehabt hätte, gab es für sie nicht mehr und die andere, die es noch gab, die Zukunft des weiteren Alterns wollte sie nicht annehmen. Vor ihr verschloß sich ihr Schlund.
Nun noch einige kurze Bemerkungen über die doch eigentlich so schockierende Nachbarschaft, ja zum Teil sogar Verbindung von Ausscheidungs- und Sexualorganen. Was haben Zeugung und Geburt mit der Exkretion zu tun? Einerseits sicher sehr viel; denn ausgeschieden wird ja tatsächlich da und dort etwas, aber andererseits doch auch wieder sehr wenig; denn das, was ausgeschieden wird, ist einmal ein Totes und einmal geradezu das Lebendige in der höchsten Potenz. Man wird also nicht sagen können, daß die Fortpflanzungvorgänge ebenso wie die Ausscheidung der Fäkalien ein Vergangenes abstoßen und die Richtung in die Vergangenheit haben. Sie weisen ganz im Gegenteil in die Zukunft über das zeugende und gebärende Einzelwesen hinaus. Während dort das Individuum das Ausgeschiedene in die Vergangenheit setzt, um selbst die Zukunft für sich zu beanspruchen, wird es hier umgekehrt von dem Ausgeschiedenen, dem die Zukunft gehört, in die Vergangenheit zurückgestoßen. Darum halten sich Zeugung und Geburt hart am Rande des Todes und geben eine Art Vorgeschmack des Sterbens. Auch der zeugende Mann ahnt im Orgasmus durch alle Wollust hindurch bereits die Wehen der kommenden Geburt. Das alles gilt für die Exkretion in keiner Weise. Und doch ist es dasselbe Abdomen, das in beiden Fällen sein Geschäft verrichtet. Vielleicht kommt nirgends sonst ebenso wie darin die Gezeichnetheit der empirischen Menschennatur zum Vorschein. Die eigentümliche Dialektik, die hier aufscheint, wirft jedenfalls ein höchst bedenkliches Zwielicht auf das Geschlechtliche. Es ließe sich gewiß denken, daß ein der Zeugung und der Geburt entsprechender Vorgang auch in einem paradiesischen Leben möglich wäre, aber wenn, dann doch sicher nicht in so verdächtiger Nachbarschaft, sondern nur aus einer durch keinerlei Exkretion verunreinigen Leibesregion heraus, aus einem Abdomen nämlich, das, ganz und gar der Mitte verbunden, genau wie auch das Herz und das Hirn nur dem einen Telos zugewandt ist. Erst indem sich der Mensch vom Telos ab- und dem Antitelos zuwendet, seinen Sinn in Unsinn verkehrt, erhält sein Unterleib das negative Vorzeichen und fällt gerade auf sein höchstes Vermögen der Makel der Vergänglichkeit, mischt sich das ursprünglich Edelste mit dem Unedelsten, schneiden sich gleichsam beide im Todespunkt. Übrigens trifft der Tod keineswegs im einen Fall nur das Ausgeschiedene und im anderen nur das Ausscheidende. Es gibt kein Töten, das seinen Todesstachel nicht auch in das Fleisch des Tötenden stechen würde. Die Nahrung, die ich verzehre und deren einen Teil ich abstoße, enthält mit dialektischer Notwendigkeit auch in dem anderen, von mir absorbierten eine Spur von Gift, und das gezeugte und geborene Wesen erhält von den es zeugenden und gebärenden Eltern, die an ihm sterben, den Todeskeim mit auf den Lebensweg. Das zeitliche Zeugen und Gebären und die Exkretion sind so von vorneherein, d. h. längst vor dem Auftreten eventueller akuter Erkrankungen im medizinischen Sinn krankhafte Vorgänge. Mit seinem Abdomen bringt der Mensch seinen Tod mit in die Welt.
Das menschliche Leben von der Geburt bis zum Tod, also die zeitliche Entfaltung der Existenz hat prinzipiell die gleiche Struktur wie die räumliche, wie die der Gesamtperson und auch wie die des Leibes. Kindheit, Reife und Alter sind Daseinsweisen derselben Dreiheit, die auch als Leib, Geist und Seele oder als Unterleib, Brust und Kopf in Erscheinung tritt. Die Kindheit ist so das Abdomen, das Alter das Gehirn, die Kindheit die Objektivität, das Alter die Subjektivität des Lebensganzen. Die Kindheit weist in die Vergangenheit, das Alter in die Zukunft über die eigenen Grenzen des Kindes und des Greises hinaus, und sofern beide nicht von der Mitte zusammengehalten, in ihr integriert, sondern dem einen oder dem anderen Jenseits der Existenz, dem Noch-nicht und dem Nicht-mehr, also dem Nicht-Sein da wie dort verhaftet sind, sind sie an sich bereits Krankheitszustände des zeitlichen empirischen Lebens. Das Kind ist so gesehen krank allein darum, weil es ein Kind und der Greis ebenso allein darum, weil er ein Greis ist. Wir sagen mit Bedacht "Kindheit" und nicht "Jugend"; denn das, was man dem allgemeinen Sprachgebrauch nach gewöhnlich Jugend zu nennen pflegt, ist gerade die eigentliche Lebensmitte, der Höhepunkt oder Mittagspunkt des Lebens, in dem sich dem Menschen die ganze Fülle seiner Möglichkeiten eröffnet oder doch wenigstens zu eröffnen scheint und seine positive Weltzugewandtheit, nicht zuletzt auch seine Hinwendung zum anderen Geschlecht, ihre volle Intensität erreicht.
Der Mensch altert, er wird zum Greis, indem die Einheit, der Zusammenhalt von Seele und Leib sich fortschreitend lockert, man könnte auch sagen, indem sich der Leib der Seele und die Seele dem Leib gegenüber allmählich verselbständigt, bis schließlich im Tod das Band zwischen beiden durchreißt und damit beide ihre Existenz verlieren. Die sich isolierende Seele wird immer mehr nur Seele, nur Einheit ohne die Fähigkeit sich zu differenzieren, der sich isolierende Leib wird umgekehrt immer weniger seelenhaft, immer weniger einheitlich. Die einzelnen Organe fallen auseinander und beginnen jedes für sich zu vegetieren. Beim ganz jungen Menschen, beim Kind ist das genaue Gegenteil zu beobachten. Hier ist der Leib noch nicht differenziert und die Seele noch nicht integriert. Der Akzent liegt demnach beim Greis auf der seelischen, beim Kind auf der leiblichen Seite. Im Reifezustand, den der Mann ungefähr zwischen dem dreißigsten und vierzigsten, die Frau zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr erreicht, ist der Leib vollendeter Ausdruck der Seele, sind beide im Gleichgewicht. Das Kindesalter ist an sich Vergangenheit, das Greisenalter an sich Zukunft. Das eine hat vor dem anderen qualitativ nichts voraus. Vom Tod gekennzeichnet ist der Mensch nicht nur, weil er ein Greis, sondern auch, weil er ein Kind sein kann. Im Kindsein erscheint das Greissein bereits vorweggenommen. Nur Leib sein bedeutet ebenso ein Mangel, wie nur Seele sein. Man hat sich wohl vorzustellen, daß der Adam vor dem Fall weder kindhaft noch greisenhaft war, weder unreif noch überreif, sondern ein Mann im Stadium der Reife, des seelisch-leiblichen Gleichgewichtes, ein Geschöpf, das über alle Voraussetzungen für eine vollgültige Entscheidung verfügte.
Nicht nur in der Kindheit auch im Schlaf verlagert sich der Schwerpunkt vom Seelischen auf das Leibliche, vom Zerebralen auf das Abdominale, vom Bewußten auf das Unbewußte. Das Bewußtsein dezentralisiert sich und sinkt in eine Art Kindheit zurück. Das Traumbewußtsein ist gar nichts weiter als dieses dezentralisierte Bewußtsein. Darum haben Träume an sich, d. h. aus der Welt des Traumes selbst beurteilt, auch eigentlich keine "Pointen". Die eventuelle Pointe kann nur das den Traum überdenkende Wachbewußtsein nachträglich herausfinden, ähnlich wie in Delphi der Apollon-Priester nachträglich die Pointe dessen entdeckt, was die Pythia, von den aus der Tiefe aufsteigenden Dämpfen berauscht, vor sich hinstammelt. So redet auch nach Heraklit die Sibylle "mit rasendem Munde Ungelachtes und Ungeschminktes und Ungesalbtes", also Zusammenhangloses, das erst der Deutung bedarf. Wichtig und aufschlußreich ist hier besonders das Wort "Ungelachtes". Lachen kann man z. B. über einen Witz nur, wenn man die Pointe versteht. Darum sind sehr weibliche Frauen, deren Bewußtsein dem des Kindes nahekommt, gewöhnlich unfähig, Witze zu erzählen oder auch nur wirklich zu verstehen. Sie merken sich oft alle Einzelheiten sehr genau, nur gerade die Pointe nicht, weil diese und somit der Witz als Witz in ihr Bewußtsein gar nicht eingeht, der Struktur ihres Denkens einfach nicht entspricht. Die wahre Pointe der Frau ist eben der Mann, die Pointe des Kindes der Erwachsene, die Pointe der Pythia der Priester des Apollon und die Pointe des Traumes das Wachbewußtsein; denn die Pointe des Leibes ist die Seele oder die Pointe des Seins der Sinn. Ähnlicherweise gilt auch, daß das Alter die Pointe der Kindheit ist, nur eben leider eine Pointe, die in der Luft schwebt, der, wenn sie aktuell wird, das fehlt, wovon die Pointe ein sollte. Das Kind hat das Sein ohne Sinn, der Greis den Sinn ohne Sein.
Man kann sich den Sündenfall adäquat kaum anders denken als in Form einer Art von Verschiebung des Integrationszentrums vom Herzen nach dem Hirn oder, was dasselbe sagt, vom Geist nach der Seele, vom Geist-Sinn nach dem Eigen-Sinn. Im status integritatis hatte der Mensch sein Zentrum und damit sein eigentliches Ich im Herzen, und aus dem Herzen heraus war er Gott zugewandt. Im status corruptionis, in dem wir uns immer schon vorfinden, hat sich aber das Ich im Hirn, im Organ der Selbstzugewandtheit festgesetzt, während das Herz verödete. Der Baum des Lebens ist der Herzensbaum, der Baum der Erkenntnis der Hirnbaum. Das cartesianische ens congitans gründet sich auf das Vorurteil des gefallenen Menschen, der vom Baum der Erkenntnis gegessen hat und nun für das Greisentum prädestiniert ist. Und in der Gefolgschaft des Descartes kann auch heute etwa Sartre das Ich wieder nur in der cogitatio finden, wenn auch in der "präreflexiven". Deshalb vermag er konsequenterweise das Verhältnis des Ich zum Du nur zu verstehen als einen Akt entweder des Objektivierens oder des Objektiviertwerdens. Ein lebendiges Gegenüber zweier Subjekte, ein dialogisches und nicht bloß dialektisches Verhältnis ist eben nur möglich, wenn sich die Herzen begegnen, wenn die Beziehung vom Herzen zum Herzen geht. Für das bloße Hirn-Subjekt dagegen wird alles außer ihm Daseiende zum Objekt, zum Ding, zur Sache, und dieses Hirn-Subjekt ist das Ich des Greises, das die Mitte verloren und sich seiner Kindheit entfremdet hat. Diese Kindheit erscheint ihm nun ebenso wie die Außenwelt oder auch weil sein eigenes leibliches Abdomen als Nicht-Ich in objektiver Gestalt. Den Zusammenhang mit der Kindheit verlieren, den Leib verlieren, die Welt verlieren, das sind nur verschiedene Ausdrücke für die gleiche Dekomposition.
Daß die bewußte Erkenntnisfunktion nicht einfach gleichbedeutend sein kann mit der Seele, mit dem zentralen Selbst, läßt sich allein schon aus ihrem ständigen Wachstum noch in einem Alter erschließen, in dem der Leib bereits merkbare Verfallserscheinungen zeigt. Darum meint Carus: "Es gibt hier zu eigenen Betrachtungen Anlaß, wenn man findet, daß im regelmäßigen Gange der Lebensentwicklung auf einer gewissen Höhe die Energie der Gesundheit des Unbewußten / was bei Carus soviel heißt sie des Leiblichen / in der Mehrzahl etwas nachzulassen bestimmt ist, während dagegen unausgesetzt die Klarheit und Reife des bewußten Geistes zunehmen soll und wirklich, wenn dessen Gesundheit bewahrt wird, immerfort zunehmen wird"7). So optimistisch werden wir freilich nicht urteilen können; denn was Carus die Reife, die Klarheit, die Gesundheit des bewußten Geistes nennt, das gerade ist ja die Krankheit, unter der der unbewußte Leib leidet und an der er schließlich zugrunde geht. Viel näher als solche enthusiastische Ausblicke kommen der Wahrheit die pessimistischen Anschauungen von Schopenhauer und Klages, die im Geist, d. h. hier in der ratio den Widersacher der Seele oder den Verneiner des Willens zum Leben sehen. Die Hypertrophie der intellektuellen Potenz in einem gewissen Alter ist eine Degenerations- und keine Evolutionserscheinung. Sie trägt an der Verkümmerung und am Tod der Gesamtperson die Schuld. Die isolierte Subjektivität nimmt da zu auf Kosten der Objektivität und dezentralisiert sich, um dann allerdings am Ende selbst an ihrer Objektivität zu sterben. Nicht wie eine schöne Blüte, sondern eher wie ein Parasit sitzt das Gehirn oben auf dem Leib und verliert die Seele, indem es sich usurpatorisch mit ihr identifiziert.
Wenn es wahr ist, daß nach den berühmten Worten Hegels die Eule der Minerva erst in der Abenddämmerung ihren Flug beginnt und daß mindestens eine Form des Lebens alt geworden sein muß, wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann heißt das doch offenbar, daß die Philosophie, die Theorie, der Intellektualismus usw. typische Alterserscheinungen sind. Alles Philosophieren beginnt dort, wo der Mensch an seiner Sinnlichkeit, also an seiner Unmittelbarkeit irre wird, wo zwischen dem Wahrnehmen und dem Denken der Widerspruch aufbricht. Hat die Sinnlichkeit recht oder der Verstand? Bin ich mein Körper oder meine cogitatio? Die Philosophie tendiert immer zu einer Lösung dieser Probleme im Sinn des Intellektes. Der Satz des Parmenides, nach dem Denken und Sein dasselbe sind, könnte als Leitspruch beinahe über jedem philosophischen Werk stehen. Er ist die eigentliche Lebensweisheit des Greises. Im platonischen Staat erscheint der erste Stand willensmäßig gekennzeichnet durch das logistikon, das vernünftige Wollen, erkenntnismäßig durch die episthçmç, die Einsicht, der dritte dagegen willensmäßig durch die aisthçsis, die sinnliche Wahrnehmung. Dementsprechend ist die höchste Tugend dort die sophia, die Weisheit und hier die syphrosynç, die bescheidene Selbstbeherrschung. Diese Gegenüberstellung entspricht wieder genau jener von Kopf und Abdomen, wobei der Kopf alle Werte für sich allein in Anspruch nimmt. Aber die so geringschätzig behandelte und rein pathetisch beurteilte Wahrnehmung und der blinde Trieb sind gar keine Ursprünglichkeiten, die nur dazu da wären, um vom "Geist" gebändigt zu werden. Sie sind vielmehr bereits Derivate, Gegenbilder des verknöcherten Intellektes, ja seine Erzeugnisse. Der dritte Stand verfällt der epithymia, weil sich der erste dem logistikon verschreibt, genau so wie der Leib verkümmert und zur Beute des Unsinns wird, weil das Hirn, das innerleibliche Symbol des Geist-Sinnes, sich eigen-sinnig zum Sein verhärtet.
Im Blick auf unsere eigene Situation werden wir uns aber doch Platon gegenüber sehr tolerant verhalten müssen; denn seine Überbewertung des Intellektes, der Philosophie, der "Weisheit" kommt immerhin noch aus einer schönen Naivität, die wir längst verloren haben. Er konnte an die Allmacht seines Geistes doch nur glauben, weil dieser Geist, wenn nicht theoretisch, so doch jedenfalls faktisch mit dem wahren Geist, mit dem Geist des Herzens noch allerhand zu tun hatte. Daß er den ersten Stand aus dem zweiten, aus dem Stand der Mitte also, sich ergänzen ließ, hat seinen tiefen Grund. Er merkte nichts von der Gefährlichkeit der Hirnhypertrophie, wie er zwar Hirn sagte, aber dabei doch mindestens auch Herz meinte. Wir können so nicht mehr an die Integrität des Rationalen glauben, aber nicht weil wir zu einer besseren Einsicht gekommen wären oder eine Bekehrung der Mitte erfahren hätten, sondern weil unsere Gehirnsklerose bereits in Gehirnparalyse überzugehen droht, weil unser schon sehr weit vorgerücktes Greisentum auch an seiner überlegenen Subjektivität zu zweifeln und zu verzweifeln beginnt. Mit diesem fatalen Schritt von der Sklerose zur Paralyse hängen übrigens auch etliche von den so sehr gerühmten jüngsten naturwissenschaftlichen "Entdeckungen" zusammen wie etwa die Feststellung, daß das Kausalitätsgesetz für gewisse Wirklichkeitsbezirke keine Geltung mehr hat. Hier bemächtigt sich das wissenschaftliche Denken tatsächlich gar nicht seines Gegenstandes, sondern kapituliert vielmehr vor ihm, ähnlich wie das Subjekt kapitulieren muß, wenn ihm das Objekt entgleitet oder das Hirn, wenn der on ihm sonst verachtete Unterleib an einer Krebsgeschwulst zugrunde geht.
Wenn ich sage, daß Kindheit und Alter an sich schon Krankheiten sind, so heißt das durchaus nicht, daß der Mensch im Zenith seines Lebens absolut gesund wäre. Das kann er schon darum nicht sein, weil er die Kindheit hinter sich und das Alter vor sich hat. Beide hängen ihm an, beide schleppt er mit, beide gehören zu ihm als defiziente Modi seiner Existenz. Krank also ist der Mensch tatsächlich immer, nur hält sich seine Krankheit zuweilen mehr oder zuweilen weniger im verborgenen. Er ist das sonderbare Wesen, das nach dem Rätselwort der Sphinx am Morgen auf vier, zu Mittag auf zwei und des Abends auf drei Beinen geht. Von unten her mühsam und allmählich sich aufrichten, um sich dann doch wieder nach unten zu neigen, also gleichsam einen Bogen beschreiben wie die auf- und untergehende Sonne, das kennzeichnet den Menschen als ein Etwas, das seine Wurzel und sein Telos, seinen Daseinsgrund und sein Daseinsziel gleicherweise unten hat in der Erde, und dieses Auf und Ab, diesen Eingang und diesen Ausgang teilt er mit allen irdischen Geschöpfen ohne Ausnahme. Von der Mutter geboren und von der gleichen Mutter wieder zurückgenommen in die Finsternis des Nicht-Existierens. "Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden." Die Erde, die irdische Herkunft, das ist das Sein des Menschen, aber das seines Sinnes beraubte und darum in sich zurückfallende, das dem Gesetz der Schwere ausgelieferte Sein. Der Mensch hat sich an dieses Sein verloren, indem er seinen Sinn selbst in ein Sein verkehrte. Statt das Sein mit hineinzunehmen in die sinnbestimmte gottebenbildliche Existenz, hat er umgekehrt den Sinn dem Sein überantwortet. Darum kommt er, wenn sein Leben normal verläuft, als hilfloses Kind auf die Welt und stirbt als hilfloser Greis. Seine Entwicklung geht von der subjektlosen Objektivität zur objektlosen Subjektivität, von der Vergangenheit ohne Zukunft zur Zukunft ohne Vergangenheit. Er tritt als Kranker in das Leben ein und verläßt es auch wieder als Kranker. Die "Gesundheit" des Mittags ist nur das Gleichgewicht, nur die "Mitte" zwischen zwei Krankheiten, so wie nach der Ethik des Aristoteles die Tugend die Mitte zwischen zwei Lastern. Aristoteles denkt hier genau so wie Ödipus, der das Sphinxrätsel löst. Und anders kann der heidnische Geist, solange er wahrhaftig bleibt, auch niemals denken. Daß es mit der Herkunft von der Erde und mit der Rückkehr zu ihr noch eine andere Bewandtnis hat, daß es sich hier nicht um ein ursprüngliches und von Gott gewolltes, sondern um ein schuldbedingtes Schicksal handelt, das weiß nur der, dem es gesagt wird und der dem gesagten Wort, oder richtiger dem sagenden Sprecher seinen Glauben schenkt.
Wie aber die Aristotelische Tugend eben doch auch noch etwas mehr ist als nur die Synthese zweier Laster auf deren eigenen Ebene, nämlich die Transzendierung ihrer Antinomie, so ist auch der Lebensmittag mit seiner relativen Gesundheit noch etwas mehr als nur das Gleichgewicht von zwei Krankheiten, der Kindheit und des Alters. Wäre nämlich wirklich gar nichts weiter da als diese beiden Krankheitszustände, dann könnte es so etwas wie eine auch nur relative Gesundheit überhaupt niemals geben. Aus zwei Negativitäten ergibt sich unter keinen Umständen ein positives Resultat, nicht einmal ein scheinbar positives; denn wo in irgendeiner Form Positives in Erscheinung tritt, wäre es auch bloß als Illusion, da muß notwendig ein positiver Maßstab vorhanden sein, an dem sich die Positivität des Positiven bestimmen läßt. Nur weil der Mensch sogar als sterbender, d. h. sogar als gefallener immer noch Geschöpf Gottes bleibt, verläuft sein Leben von Tod über Leben und nicht über Tod in Tod. Im Lebensmittag bricht ein Strahl von oben in die gefallene Existenz und läßt sie trotz allem in ihrer seinsollenden Sinnhaftigkeit aufleuchten. Es verhält sich damit nicht anders als mit der Tatsache, daß auch der nach Hirn und Abdomen gespaltene Leib, sofern er lebt, immer noch vom Herzen zusammengehalten wird. Dieses Herz ist gewiß verkümmert und geschwächt, aber es schlägt trotzdem. Das von ihm nach oben und nach unten geschickte Blut wird zwar aufgezehrt und mißbraucht, aber es ernährt immerhin die beiden Pole. Es bleibt Mitte, freilich eine hinschwindende und nicht eine die Peripherie in sich zusammennehmende und vollendende Mitte, was zu sein seine eigentliche Bestimmung wäre. Und wie sich dieses Herz verliert nach beiden Seiten hin, so verliert sich die Gegenwart in die Vergangenheit und in die Zukunft. Zentripetal sollte die Schöpfung sein, zentrifugal ist sie geworden. Nicht dem Grund und dem Telos, sondern dem Ungrund und dem Antitelos bewegt sie sich zu.
Der Mensch als Mikrokosmos, als konzentrierte Wiederholung und Darstellung der gesamten Welt im Kleinen, diese uralte naturphilosophische Idee wurde zuletzt von der Romantik wiederaufgegriffen und spekulativ ausgebaut. Nach Schellings Worten ist der Mensch "Krone und Blüte der Welt", weshalb man ihn "als Zentrum der Natur und den Inbegriff aller Kräfte derselben zu begreifen" hätte8). Die grundsätzliche Wahrheit dieses anthropologischen Ansatzes läßt sich gar nicht in Frage stellen. Innerhalb des Menschen selbst verhält sich das subjektive Hirn-Ich zum Leib genau so wie im Weltganzen der Mensch als Herr und Subjekt der Schöpfung zur Außermenschlichen Kreatur. Der Primat des Menschen vor der Natur wie der Primat der Subjektivität vor Objektivität oder des Seelischen vor dem Leiblichen ist durchaus legitim, solange der jeweils erste Pol gemeinsam mit dem zweiten auf die Instanz hin ausgerichtet bleibt, die diese Über- und Unterordnung als Gleichnis für ihre eigene Überordnung über die gesamte Schöpfung von sich aus gesetzt hat. Dem Menschen wurde so seine innerweltliche Subjektivität nur als Lehen, nur als eine Seite seines Wesens gegeben, dessen Sinn die Hinordnung auf den Schöpfer ist und das sein eigentliches Zentrum im Herzen und nicht im Hirn hat. Nur sofern der Mensch den Vorrang des Herzens bedingungslos gelten läßt, d. h. den Sinn seines Seins als Sein zu Gott versteht, darf er im Raum seines individuellen Daseins wie des Daseins der ihm zugehörigen Welt diese Ordnung zur Darstellung bringen in Gestalt seiner Herrschaft über die Kreatur und die Herrschaft der Seele über den Leib. Mißachtet er dagegen den Vorrang des Herzens und verlegt er sein Selbst in sein Hirn-Ich, dann bricht sowohl zwischen diesem und dem Leib wie auch zwischen ihm seiner Totalität nach und der Außenwelt eine Kluft auf.
Wir wollen hier nicht eine ganze Naturphilosophie entwerfen, sondern uns darauf beschränken, einiges über das Verhältnis des Menschen zu den Tieren zu sagen, wie die Tiere als nächste Verwandte des Menschen seine Verflochtenheit mit der Natur deutlicher machen als andere Geschöpfe oder Dinge. Gemeinsam mit dem ganzen Tierreich bildet der Mensch abermals einen über seine Individualität hinausreichenden Mikrokosmos. Die Tierheit kann so interpretiert werden als ein gleichsam auseinandergelegter oder zur Vielheit entfalteter menschlicher Leib. Von dieser Grundvorstellung geht etwa Lorenz Oken aus, wenn er in seinem Lehrbuch der Naturphilosophie meint: "Das Tierreich ist nur ein Tier, d. h. die Darstellung der Tierheit mit allen ihren Organen, jedes für sich ein Ganzes." "Die Tiere sind nur Fötuszustände des Menschen." "Das Tierreich ist nur das zerstückelte höchste Tier &endash; Mensch." Oken versucht dann auch in mehr oder weniger einleuchtender Weise die einzelnen Tierklassen den einzelnen Organen zuzuordnen, so z. B. die Korallen dem Magen-Darm-Kanal, die Muscheln den Blutgefäßen, der Leber und den weiblichen Geschlechtsorganen, die Schnecken dem Herzmuskel und den männlichen Geschlechtsorganen, die Insekten den Extremitäten, die Fische dem Knochengerüst, die Amphibien den Muskeln, die Vögel der Lunge usw. usw.
Ein anderer von jenen romantischen Ärzten, neben Carus zweifellos der tiefsinnigste, G. H. v. Schubert, äußert sich zu dem gleichen Thema: "Wie jede höhere Form des leiblichen Seins die Elemente der niederen in sich vereint, so trägt der Mensch alle Anlagen und Kräfte des Tierreiches in sich versammelt. Das Tierreich ist ihm ein Spiegel, darin er sein eigenes Bild erblickt, und bei diesem Anblick seiner eigenen Kräfte sich bewußt, ihrer mächtig wird." "Wie die rastlos bewegten Planeten durch die in ihrer Mitte ruhende Sonne die Kraft und Gemeinschaft der oberen Lichtwelt empfangen, so ist es in der Mitte der Tierwelt der Mensch, welcher den anderen Lebendigen das Licht einer Welt des Göttlichen zurückstrahlt. Denn das Tier erkennt Gott nicht; es fragt nicht nach seinem ewigen Jenseits. Wohl aber ahnt es im Menschen, im Ebenbild Gottes, eine wärmende belebende Flamme, welche aufwärts nach Gott strebt; und wie die tierische Form nachbildend immer mehr dem Mittelpunkt, der Menschenähnlichkeit sich naht, so drängt sich ein dunkles Sehnen im Tierreich immer mehr und näher nach der Gesellschaft, nach dem Umgang des Menschen hin, um an seiner belebenden Flamme sich zu sonnen"9).
Es verdient Beachtung, daß nach dem biblischen Schöpfungsbericht den Tieren nur das "grüne Kraut", also die Blätter, dem Menschen aber vor allem die Früchte der Pflanzen als Nahrung zugeteilt werden. Die Blätter sind die Seitentriebe, die Früchte die Haupttriebe, und wie jene zu diesen an der einzelnen Pflanze, so verhalten sich am großen Baum der Schöpfung die Tiere zum Menschen. Er ist die Frucht, in dessen Dienst alles übrige steht, gleichsam das Haupt am Leibe, der höhere Sinn des niederen Seins, das Oben, dem das Unten angefügt ist. Der Mensch, wie die Frucht bringt zur vollendeten Darstellung, wovon die Tiere wie die Blätter bloß Vorformen sind, und so wird die nährende Pflanze ihrer Gesamtheit nach zum sichtbaren Symbol für den Zusammenhang der lebendigen Natur. &endash; Im gleichen Sinn wird von den Lebensbäumen des Gottesreiches / Off. 22, 2 / gesagt, daß sie zwölffach Früchte tragen und ihre Blätter zur Heilung / therapeian / der Heiden / tôn ethnôn / dienen. Die Früchte sind allein für die Heiligen, für die Gemeinde der bereits Vollendeten und der Heilung nicht mehr Bedürftigen bestimmt. Von den Blättern aber nähren sich die noch draußen Stehenden, die Menschen im Vorhof des Heiligtums, die ethnç, genau so wie im Paradies die den Menschen vorbildenden Tiere. Blatt sein heißt noch nicht Blüte, noch nicht Frucht, Tier sein noch nicht Mensch und Heide sein noch nicht Heiliger sein. Aber wie der Heide im Heiligen, so findet auch das Tier im Menschen und das Blatt in der Blüte und Frucht seine Erfüllung. Die Blätter sind außerdem die "Organe" der Pflanze, und eine ganz ähnliche Organfunktion kommt auch den Tieren in ihrer Beziehung zum Menschen zu.
Nicht nur vom Menschen allein, sondern von der gesamten ursprünglichen Schöpfung gilt, daß sie mit dem Menschen an ihrer Spitze Raum und Zeit in Einheit oder zeitlich auf die Vollendung ausgerichtete Räumlichkeit, eben sinnhaftes Sein ist; anders ausgedrückt: sie ist in sich kontinuierlich und insofern beseelt, aber das nicht eigentlich in ihren Einzelheiten, sondern in ihrer Entworfenheit auf den Menschen und durch den Menschen auf Gott. Der Hauch des göttlichen Geistes macht den Menschen und mit ihm die ganze Schöpfung zu einer "lebendigen Seele". So haben gewiß auch die Tiere ihre Seele, aber doch nur in ihrem Hingewiesensein auf den Menschen, in ihrer Kontinuität mit ihm. Anerkennt der Mensch diese Kontinuität nicht, zieht er sich von den Tieren auf sich selber zurück, so bewirkt er damit daß auch sie auf sich zurückfallen, in ihrer seinshaften Naturgegebenheit erstarren, daß ihre Seelen zu Krüppelseelen werden, mit denen keine Verständigung, kein Dialog mehr möglich ist. Auch dann noch sind sie gewissermaßen Stationen auf dem Weg zum Menschen, aber nicht mehr als seine Vor-Bildungen, sondern als seine Ver-Bildungen.
Wie sich selber, seinem eigenen Leib und überhaupt seiner objektiven Existenz, so hat der Mensch auch der äußeren Natur, vor allem der Tierwelt gegenüber eine Aufgabe. Er soll ja doch, indem er sich auf Gott entwirft, sich für Gott entscheidet, also seinen Sinn erfüllt, die ganze Schöpfung der Vollendung zuführen, die Vorläufigkeit des paradiesischen Daseins in die Endgültigkeit des Gottesreiches transzendieren. Er soll seinen Leib, den Garten Eden und alles ihm zur Bearbeitung Vorgelegte zwar nicht psychisieren, wohl aber pneumatisieren, d. h. die Synthese von Seele und Leib fester fügen und verewigen, was aber nur durch die Hinwendung zum Sinn-Grund beider, zum Schöpfer geschehen kann. Zur Bearbeitung gegeben sind ihm auch die Tiere, und eben das ist der Sinn der Erzählung von der Benennung der Tiere durch Adam. Indem Gott dem Menschen die Tiere vorführt und von ihm das Aussprechen der Namen erwartet, das auch ein An-sprechen sein sollte, stellt er ihn vor seine Aufgabe. Die Benennung der Tiere hat geradezu die Bedeutung eines sakramentalen Aktes, nämlich der Heranführung der außermenschlichen Kreatur an den Menschen, ihre Aufnahme in das Heiligtum, ihre Eingliederung in den von Gottes Geist durchwalteten Makrokosmos, der dem im Menschen vorgebildeten Mikrokosmos zu entsprechen hätte. Mit der Erfüllung dieser Aufgabe wäre das dem Menschen vorbehaltene Werk der Schöpfungsverklärung mindestens eingeleitet gewesen.
Wollte ich mich der Heideggerschen Terminologie bedienen, die ich bei Heidegger selbst, weil sie da originell ist, manchmal sehr schätze, so könnte ich sagen: Der Leib ist die Unverborgenheit / alçtheia / der Seele, die Seele die Verborgenheit des Leibes, oder auch: im Leib "west die Seele an". Aber wie man das immer ausdrücken will, der Sinn bleibt jedenfalls der, daß Seele und Leib nicht zwei verschiedene Dinge nebeneinander sind, auch nicht etwa Attribute der gleichen Substanz oder Seiten desselben Wesens, sondern dasselbe einmal für sich und einmal für anderes und andere seiend, einmal systolisch nach innen und einmal diastolisch nach außen gerichtet, einmal sich verschweigend und einmal sich nennend. Das Gleiche gilt auch vom Verhältnis des Menschen zur Kreatur. Hätte Adam die Tiere als ihm zugeordnete Leiblichkeit verstanden, so wären sie ihm nicht fremd geblieben, so hätte er sie mit den Namen genannt, die sie als diese leiblichen Geschöpfe waren. Aber statt sie so, antwortend auf das Wort ihres Sich-Zeigens, zu nennen und damit ins Gespräch mit ihnen zu kommen, gab er ihnen aus seiner isolierten Autonomie, aus seinem Eigensinn heraus solche Namen, die sie nicht verstehen konnten, die sie nicht an-sprachen, sondern bloß aus-sprachen und so auf ihr Ansichsein zurückwarfen. Die ganze Schöpfung ist vorbestimmt zum Dialog mit Gott und demgemäß auch zum Dialog der Geschöpfe untereinander. Die Geschöpfe sind allein schon in ihrem Inerscheinungtreten füreinander Worte, die sich an jemanden richten und auf Antwort warten, Antwort herausfordern. Verlieren sie ihren Wortcharakter, dann verlieren sie auch ihren Sinn.
Die Namen, die der Mensch den Tieren gab, verhinderten also gerade das, was sie hätten bewirken sollen. Durch sie wurden die Benannten dem Nennenden gegenüber in die Fremdheit gesetzt und aus dem Makrokosmos ausgegliedert. Der Mensch drängte sie in ihre eigenen gesonderten Bahnen, auf ihre gesonderten "Abwege", statt sie mitzunehmen auf den Weg der Vollendung. Darum blieb er in ihrer Mitte "allein", darum fand er keine "Hilfe" unter ihnen. Alle Tiere, die wir kennen und von denen wir wissen, die prähistorischen genau so wie die rezenten, sind solche auf Abwege geratene, dem Menschen entfremdete, vom Zentrum der Schöpfung aus dem Geist-Heiligtum verdrängte Wesen, deren Beziehung zu dem an ihnen schuldig gewordenen nun ein höchst zweideutiges ist; denn einerseits stehen sie vor ihm als ständiger Vorwurf und fordern ihn aus den stummen Blicken ihrer ernsten Augen weiter auf, das Entscheidende endlich zu tun und sie aus ihrer Dumpfheit in das lichte Gehege des Gottesreiches zu führen, andererseits aber sind sie ihm in ihrer Fremdheit zu Feinden geworden und drohen ihm, ihn in die gleiche exzentrische Bahn hineinzureißen, in die er sie verbannt hat. So ist schon das Wort der Schlange, die sich als Sprecher aller Tiere im Paradies dem Menschen nähert, zweideutig: Geheimnisvolle Aufforderung nach dem Baum des Lebens, dem Baum der Vollendung zu greifen und von den verbotenen Früchten des Erkenntnisbaumes zu essen10). Vor dem Fall waren die Tiere, wie wir schon einmal sagten, Vorbildungen des Menschen, nach dem Fall aber sind sie seine und ihre eigenen Verbildungen, vergreiste Kindheitsstadien, vergleichbar den sich immer mehr verselbständigenden und schließlich auseinanderfallenden Glieder und Organen des Greisenkörpers.
Auch das Tier ist sinnhaftes Sein, aber nicht wie der Mensch in persönlicher Gestalt, sondern eingegliedert in den großen kosmischen Sein-Sinn-Zusammenhang, der im Menschen seinen Sinnträger hat. Der Sinn des Tieres liegt also außerhalb seiner selbst, befindet sich in der Hand und Gewalt eines anderen. Wird ihm der Zugang zu diesem ihm transzendenten Sinn dadurch verlegt, daß sich der Mensch ihm gegenüber zurücknimmt, sich von ihm distanziert, ihm einen nicht ansprechbaren Namen der Fremdheit gibt, eine bloße Bezeichnung, so wird das den Sinn suchende Tier auf die Gewordenheit seines sinnlosen Seins reduziert und gezwungen, sich der ihm untergeordneten Natur und ihren Gesetzen "anzupassen", was seine Deformierung, seine Ausspezialisierung in bestimmter Richtung, eben seine Umwandlung aus einer Vorbildung in eine Verbildung zur Folge hat. Das Fluchwort über die Schlange: "Auf deinem Bauche sollst du gehen und Erde essen dein Leben lang." / Gen. 3, 14 / drückt in klassischer Formulierung diese Angleichung des Tieres an die anorganische Natur und das Gesetz der Schwere, seine Herabdrückung aus der Sinnsphäre auf die reine Seinssphäre aus. Im Reich Gottes dagegen sind nicht nur die Tiere allein, sondern auch noch die Mineralien sinnhaft. Nach den Worten der Johannesapokalypse sind sie dort ausnahmslos durchsichtig oder wenigstens durchscheinend, jedenfalls durchlässig für das Licht, und in dem Licht, das in sie ein und aus ihnen wieder ausstrahlt, haben sie ihren Sinn, werden sie zu Sinnträgern.
Wie sich eine falsche Theorie, gegen die fast alle Tatsachen sprechen, dennoch behaupten und sogar wissenschaftlich gebärden kann, wenn sie nur den geliebten Vorurteilen der Epoche entgegenkommt, dafür ist der nun schon ein Jahrhundert alte Darwinismus mit seiner Zuchtwahl- und Anpassungslehre eines der besten Beispiele. Gewiß hat sich diese Theorie inzwischen vielfach gewandelt. So naiv gläubig wie zur Zeit ihres Schöpfers nimmt man sie längst nicht mehr hin, aber ihr Grundschema, die Gleichsetzung von kausal erklärbarer Anpassung der Organismen an die Bedingungen ihre Umgebung mit Höherentwicklung beherrscht noch immer weithin das biologische Denken. Danach wäre also das der Umwelt am besten angepaßte Tier das höchstentwickelte. Tatsächlich aber ist gerade der Mensch, das vollkommenste aller Lebewesen, das am wenigsten angepaßte und das heißt das der Natur gegenüber freieste. Anpassung bedeutet tatsächlich das genaue Gegenteil von Höherentwicklung, nämlich Unterordnung unter einen der Freiheit entgegenwirkenden äußeren Zwang, unter die tote Notwendigkeit und somit schon eine Art Sterben. Die Tiere haben sich spezialisiert, sie haben sich je nach Gattung und Art bestimmten Lebensbedingungen angepaßt, sie haben sich, wie Edgar Dacqué sagt, in "Sackgassen" der Entwicklung verlaufen, das heißt, sie haben sich dem durchgehenden gemeinsamen Sinn der Schöpfung entfremdet und sind dem Menschen entglitten. Wie aber sollten sie ihm auch nicht entglitten sein, da er ja selber seinem eigenen Sinn, seiner Gottebenbildlichkeit entglitten ist? Wie sollten sie noch seine Ebenbilder sein können, wenn er nicht mehr das Ebenbild Gottes ist? Durch seinen Fall ist die ganze Natur und Kreatur aus den Fugen geraten, aus dem Zentrum geworfen, und nicht etwa nur die gegenwärtige, sondern gerade auch die vergangene. Die vorgeschichtlichen Tierformen, mit denen es die Paläontologie zu tun hat, sind eher noch mehr und nicht weniger ausspezialisiert als die rezenten, ja sie sind sehr oft geradezu Verzerrungen auch noch der uns vertrauten Tiere ins Dämonische. Das wäre natürlich gar nicht möglich, wenn die sich uns darbietende Vergangenheit wirklich das wäre, wofür sie der naive Historiker und Entwicklungstheoretiker gewöhnlich hält, nämlich das Gewesene wie es de facto einmal gewesen ist und nicht vielmehr das Ergebnis einer Abdrängung in die Gewesenheit, in das Nicht-mehr-Sein, in den Un-Sinn. Alles Vergangene, d. h. alles in der zeitlichen Vergangenheit Erscheinende ist an sich bereits ein Abgestoßenes und Verlorenes und Verkehrtes und trägt darum auch die Merkmale der Abgestoßenheit und Verlorenheit und Verkehrtheit. Die vergangene Vergangenheit erweist sich so als eine Verbildung, als ein Gebrechen oder ein Krankheit am Organismus der Gegenwart.
Herbert Fritsche bemerkt in seinem Buch "Der Erstgeborene", worunter er den Menschen versteht: "Zum Schicksal des Tierreiches gehörte und gehört es, daß sich die einzelnen Formenkreise mehr und mehr vom Schöpferisch-Indifferenten der stammesgeschichtlichen Ausgangssituation fortlocken ließen und in die Sackgassen von allerhand Spezialanpassungen hineingerieten, deren jede zwar Vorteile im Daseinskampf, aber auch den Prozeß des Erstarrens bewirkte"11). Daran ist zweifellos viel Richtiges, vor allem ist der Charakter der Anpassung zutreffend gezeichnet, aber falsch bleibt trotzdem die Beurteilung der Ursache; denn nicht fortlocken in die Sackgassen ließen sich die Tiere, sondern in sie hineingestoßen wurden sie durch den Menschen, der ihnen nicht die rechten Namen gab, sie nicht als seine Vorbildungen erkannte und anerkannte.
In der außerparadiesischen oder nachparadiesischen Welt findet der Mensch nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit vor, die dem status corruptionis entspricht. Das ist nicht die Vergangenheit, aus der er tatsächlich herkommt, in der irgendwelche seiner Vorfahren tatsächlich gelebt haben, das ist vielmehr die Vergangenheit, die er sich selber gesetzt oder richtiger entgegengesetzt hat als den anderen Pol seines Jetzt, so wie er das Unbewußte und Verdrängte der Welt seines Bewußtseins entgegensetzt. Aus dieser Vergangenheit zum Jetzt führt kein nachzeichenbarer Weg, und darum bleiben alle Bemühungen der Darwinisten und Entwicklungstheoretiker in dieser Richtung vollkommen aussichtslos. Es gibt keine Verbindung von einer ausspezialisierten Form zu anderen, kein mögliches Zwischenglied; denn ausspezialisiert und angepaßt sein heißt schon die Verbindung zum Anderen abgebrochen haben. Die Vergangenheit des paläontologischen Forschungsgebietes ist keine kontinuierliche, in sich zusammenhängende Geschichte, sondern ein "Trümmerfeld" / Hegel /, ein Zerfalls- oder Zersetzungsprodukt, in das sich allein darum keine Ordnung bringen läßt, weil die Unordnung sein Prinzip ausmacht. Die ganze Tierwelt, wie wir sie in Gegenwart und Vergangenheit vor den Augen haben, gleicht einem in seine einzelnen Organe auseinandergebrochenen Leib, wobei sich jedes einzelne Organ von allen übrigen losgesagt hat.
Immerhin darf nicht unbemerkt bleiben, daß sich in der Idee der Anpassung als Entwicklungsziel doch auch eine richtige Ahnung verbirgt. In einer idealen Welt, etwa im Gottesreich oder auch schon im Paradies, müßte ganz ohne Zweifel auch ein Höchstmaß an Anpassung zwischen dem Lebendigen und seiner Umgebung erreicht sein, nur freilich als Ergebnis nicht der Unterwerfung des Organischen unter die Gesetze des Anorganischen oder überhaupt des Höheren unter das Niedere, sondern umgekehrt der Einordnung alles Existierenden in den Strukturzusammenhang des höchsten Geschöpfes, also des Menschen. Die menschliche Norm soll zur Norm der ganzen Schöpfung werden. Das ist der Sinn des Gebotes: "Füllet die Erde und macht sie euch untertan." Sich die Erde untertan machen heißt hier, die beherrschte Kreatur in Liebe an den Herrscher heranziehen und nicht etwa sie vergewaltigen und ausbeuten. Dieses Zweite tut der gefallene Mensch, indem er die Natur technisch bewältigt und zu seinem Vorteil benützt, sie zu seinem hörigen Sklaven macht. Aber die Technik ist die Umkehrung, die Karikatur der gottgewollten Herrschaft über die Erde. Der technische Mensch verhält sich zu seiner Welt wie ein Despot, der seine Untertanen einerseits brutal unterdrückt und ihnen andererseits schmeichelt. Er zwingt die Naturkräfte seinen Zwecken zu gehorchen und verfällt ihnen dabei unversehens. Die Angleichung an seine Lebensnorm erweist sich von der anderen Seite her besehen und am Ende als die Selbstunterwerfung unter die Norm eben dessen, über das der Tyrann Macht zu haben glaubt, also doch wieder nur als eine besondere Form jener schlechten Anpassung, der die Tiere ihre Spezialisierung verdanken. Der Techniker meint etwa, die Welt in eine Maschine, in einen Mechanismus verwandelt zu haben, der sich seinem Willen fügt und muß schließlich bemerken, daß er selber nur noch mechanisch funktioniert. Sofern der Mensch zu seiner Umwelt in Widerspruch steht und durch sie gehemmt wird, ist er im weitesten Sinn des Wortes krank. Der Ausgleich des Widerspruches wäre demnach die Heilung. Es gibt aber, wie wir nun gesehen haben, sehr verschiedene Möglichkeiten eines solchen Ausgleiches, wir könnten auch sagen, einer solchen Therapie, und es wird sich an seinem Ort zeigen, daß für die medizinische Therapie tatsächlich die gleichen Methoden in Frage kommen, die eben andeutungsweise erwähnt wurden.
Verhalten sich die Tiere zum Menschen gleichsam wie die Körperorgane zum seelischen Zentrum, so entsprechen die verbildeten, die ausspezialisierten, angepaßten und so in "Sackgassen" geratenen Tiere erkrankten Organen. Auch dieser Gedanke taucht bereits in der romantischen Naturphilosophie und Medizin auf. So bemerkt K. R. Hoffmann in seinem 1839 erschienenen Werk: "Ich erinnere nur an Okens Ausspruch, daß die Krankheiten Lebensprozesse der Tiere seien und die Pathologie die Physiologie des Tierreiches. Ich erinnere an Starks Ansicht, daß jede Krankheit, als eine bestimmte Modifikation des Lebens, ihre Form und ihren Ausdruck in einem oder mehreren der in der Natur schon vorhandenen realen Lebensprozesse sich vorgebildet finde; daß die Krankheit in den Menschen eine tierische Lebensform ausbilde und daß man die gesamten Tierbildungen als Abfälle von der Idee des Lebens, auch als Abweichungen vom menschlichen Normalzustande und somit als Vorbilder möglicher Krankheitszustände derselben ansehen könne"12). Vorbilder der Krankheit, das heißt so viel wie Verbildungen der Gesundheit. Die Tiere stehen so zur Gesundheit wie zur Krankheit des Menschen in einer geheimnisvollen Beziehung, sie symbolisieren gesunde Organe, sofern wir in einer positiven Symbiose mit ihnen leben, und kranke Organe, sofern zwischen ihnen und uns Feindschaft besteht, sofern sie uns in die Ferse stechen und wir ihnen den Kopf zertreten. Es hat auch nicht nur äußere Gründe, wenn wir gewissen Krankheiten den Namen von Tieren geben, wie etwa "Krebs", "Wolf" oder "Lupus".
Krank ist ein Organ oder richtiger, krank ist der Organismus, wenn sich ein Organ aus ihm ausgliedert und verselbständigt, wenn es sich also so verhält wie das Tier, das sich seiner zufälligen Umwelt anpaßt und damit von der Richtung der Gesamtentwicklung abweicht, aus dem makrokosmischen Sinnzusammenhang herausfällt. An sich ist dieses Tier allerdings "gesund"; denn der Widerspruch zwischen ihm und seiner Umwelt erscheint ja behoben, soweit die Anpassung stattgefunden hat, aber eben diese seine Gesundheit bedeutet Krankheit im Ganzen, und zwar eine Krankheit, der letzten Endes doch auch das an sich scheinbar gesunde Tier zum Opfer fallen muß. Ebenso ist etwa ein Krebsgeschwür um so gesünder, je kränker der Mensch ist, der daran leidet. Stirbt aber der Mensch, dann stirbt mit ihm auch die Geschwulst. Diese Tatsache beleuchtet den Charakter der Therapie, die die Heilung durch Anpassung nach unten, d. h. an die Gesetze des Krankheitserregers herbeizuführen sucht. Der Habitus des empirischen Menschen ist dadurch gekennzeichnet, daß die Leibesorgane a priori den Keim der Verselbständigung in sich tragen, auch wenn sie noch nicht in sichtbarer Weise verselbständigt sind. Der Gesamtorganismus ist sowohl kontinuierlich wie diskontinuierlich. Er hat ja dementsprechend auch zwei Zentren, das Herz als Zentrum der Kontinuität und das Hirn als Zentrum der Diskontinuität. Das Hirn ist allzu bewußt, das Herz allzu unbewußt, darin offenbart sich der Mangel des einen wie des anderen. Wären beide besser aufeinander abgestimmt, dann wäre auch alles übrige in Ordnung. Das Hirn, in dem sich der Mensch absondert und seinem Sinn versagt, trägt die Schuld an der Absonderung und Erkrankung der einzelnen Organe und darüber hinaus auch an der Entfremdung und Ausspezialisierung der Tiere. Der Mensch wird schon mit einem kranken oder doch wenigstens für die Krankheit prädisponierten Leib geboren, dessen Glieder und Organe nur labil zusammenhängen, dessen Einheit jederzeit von Störungen bedroht ist. Und zu diesem in nuce kranken Leib gehört als seine Fortsetzung nach außen auch eine kranke Natur, ein kranker Kosmos. So lose wie die Organe sind auch die Einzelphänomene dieser Natur miteinander verbunden, jeden Augenblick auf dem Sprung, aus dem Ganzen auszubrechen. Sie haben, heißt das, das Moment der Spezialisierung immer schon bei sich. Und je älter, je hirnhafter der Mensch wird, um so mehr nimmt der analytische Charakter nicht nur seines Leibes, sondern auch seiner Welt zu.
Sind schon die Tiere unserer Umwelt und unserer Gegenwart Verbildungen und Verzerrungen und insofern außermenschliche Krankheitssymptome des Menschen, so erst recht jene monströsen Wesen der Vorzeit, die wir uns meist nur nach spärlichen Überresten mühsam rekonstruieren. Diese Ungeheuer sind nicht das, was unsere Tiere einmal waren, sondern eher umgekehrt ihre pervertierten Idealbilder, auf die hin sie tendieren. In der zeitlichen Vergangenheit treten die wahren Umwelttiere gar nicht in Erscheinung; denn sie leben hinter der von den Cherubim bewachten Pforte des verlorenen Paradieses. Bis zu einem gewissen Grad gilt dasselbe wie von den prähistorischen freilich auch schon von den rezenten Tieren, die heute noch die tropischen Gegenden der Erde bewohnen. Sie sind uns räumlich ferngerückt wie jene anderen zeitlich, und räumliche Ferne ist auch nur ein Symbol für Ferne überhaupt, für Fremdheit oder gar Gegensätzlichkeit. Mit den Tieren unserer Umgebung verbindet uns immer noch eine gewisse Vertrautheit. Ihre Unheimlichkeit ist auf ein erträgliches Maß reduziert. Sie sind zwar auch kranke Organe, aber doch sozusagen Organe unseres Leibes, die sich von ihm noch nicht vollkommen gelöst haben. Die vorzeitlichen Tiere dagegen und ihre tropischen Verwandten erscheinen uns wie selbständig gewordene kranke Glieder oder sogar wie lebendige Krankheiten.
Von dem Jesus, der dem Versucher in der Wüste widerstanden hat, heißt es: "Er war bei den Tieren, und die Engel dienten ihm." / Mk. 1, 13 /. Die Engel dienten ihm, das will sagen, er befand sich in Harmonie mit dem Schöpfer und den schöpferischen Kräften. Er war bei den Tieren, das meint, er lebte in Gemeinschaft mit den anderen Geschöpfen. Und beides gehört zusammen. Wer unter den Tieren seine Hilfe findet, dem helfen auch die Engel und umgekehrt. Er ist der gesunde Mensch schlechthin, der Adam, der von seiner Freiheit den rechten Gebrauch macht und sich seinem Ursinn gemäß auf Gott hin entwirft. An ihn als an den, der sich in rechter Weise die Erde untertan gemacht hat, gliedert sich alles an wie die Organe an einen gesunden Leib.
Krankheit und Sünde
Daß Krankheit etwas zu tun hat mit Sünde und Schuld und demnach Gesundheit mit Unschuld, mit Gerechtigkeit, mit dikaiosynç und aretç, das ist durchaus nicht nur die Meinung der Bibel, das war auch den Griechen geläufig, für Platon beinnahe selbstverständlich. Bereits zu Solons Zeiten wurden die Mißstände des politischen Lebens, die ja auf den Untugenden der Bürger beruhen, als kollektive Krankheiten interpretiert. Und für den Arzt Galen ist die Krankheit wie die Sünde gleicherweise diathesis para physin / Ordnung wider die Natur /. Gregor von Nyssa zählt für die Sünde und für die Erkrankungen der Seele drei Grundursachen auf: logos, thymos und epithymia / ratio, ira und concupiscentia /, welche Dreiheit genau der bekannten platonischen Trias entspricht. Die Krankheit ebenso wie die Sünde hat ihre Wurzel teils in der encephalen, teils in der kardialen, teils in der abdominalen Region des Menschen, in einer Störung der Erkenntnis, des Gefühls- oder des Willenlebens, bzw. aller drei, des Cognitiven, des Emotionalen und des Voluntativen.
Der die Göttlichkeit für sich beanspruchende, d. h. sein Ich absolut setzende Mensch gerät damit in Widerspruch erstens zu Gott, zweitens zu seiner Außenwelt und drittens zu sich selber, nämlich zu seiner eigenen Objektivität, zu seiner Leiblichkeit. Der Verlagerung des Absoluten in die menschliche Person entspricht die Reduktion des Seelischen auf die cogitatio, dem Gegenüber von Mensch und Natur die Polarität von Gehirn und Abdomen. Das alles haben wir schon ausführlich erörtert und bringen es hier nur nochmals in Erinnerung. Krank sein heißt die innere Harmonie verloren haben, diskontinuierlich sein; und diese Diskontinuität oder Disharmonie bedeutet bereits eine Lockerung des seelischen Gefüges, das, solange es in Ordnung ist, sich auch leiblich darstellt. Die Krankheit, ist darum der Ausdruck nicht eigentlich für eine bestimmte seelische Haltung, sondern eher dafür, daß die Seele das Vermögen sich auszudrücken oder auch, was dasselbe sagt, daß der Leib das Vermögen Ausdruck zu sein in irgendeiner Weise verloren hat. Ein kranker Leib ist ein stumm gewordener, ein um seine Wortmächtigkeit gebrachter, ein nicht mehr ansprechender Leib. Darum wirkt Gesundheit schön und Krankheit häßlich. Schön nennen wir, was uns anspricht, was wir als Wort an uns vernehmen, was in uns eingeht und in was auch wir eingehen können. In jeder Begegnung mit dem Schönen wird gezeugt. Von Schönheit und also auch von Gesundheit angesprochen werden heißt immer schon zeugen, empfangen und gebären, mitschaffen am Wachstum des Lebens. Das Häßliche und Kranke aber ist dem Lebensprozeß entgegen. Noch ein Gemeinsames von Sünde und Krankheit muß beachtet werden: Beide sind etwas und trotzdem im Grunde nichts, negative Realität oder reale Negativitäten. Nach Carus ist Krankheit "ein gewiß Neues, ein Etwas, das entsteht und sich nach eigenen Gesetzen organisch darlebt als ein Erzeugnis solcher Konflikte des Eigenlebens mit dem fremden Leben der Welt, und zwar sich darlebt an den einzelnen Lebenserscheinungen, den leiblichen oder geistigen Funktionen selbst. Dieses Neue, dieses Etwas, diese Idee der Krankheit, welche erzeugt worden ist als ein gewissermaßen Parasitisches zwischen der Idee des Lebens einerseits und den Ideen der Welt andererseits wächst, lebt sich dar, vervielfältigt sich, stirbt selbst oder tötet den Organismus nach bestimmten sehr merkwürdigen Gesetzen und Verhältnissen ..."1). Noch deutlicher äußert sich hierzu Schelling. Nach seinen Worten ist die Krankheit, "ein Zustand, der nicht sein könnte und doch ist, keine Realität im Grund und doch wieder unleugbar eine furchtbare Realität. Das Böse ist in der moralischen Welt, was die Krankheit in der körperlichen ist"2). "Niemand wird behaupten, daß die Krankheit ein eigentliches, ein wahrhaft lebendiges Leben sei, und doch ist sie ein Leben, nur ein falsches, nicht ein seiendes, aber das sich aus dem Nicht-Sein zum Sein erheben will"3).
Carus redet auch einmal davon, daß jede Krankheit ihre Idee habe, die aber als solche im Unbewußten bleibt, während immer nur die Symptome in Erscheinung treten. Das heißt zuletzt wohl, daß überhaupt alles, was wir Krankheit nennen, im leiblichen oder im geistigen Sinn, bloßes Symptom ist von etwas, das wir gar nicht kennen. Das muß ganz ernst genommen und radikal verstanden werden. Bloßes Symptom ist nämlich dann auch schon der Konflikt, als welcher sich die Krankheit darstellt, die Dissonanz und der Krampf, der als Leiden erfahren wird. Ihre Idee dagegen, das, worauf sie zuletzt hinaus will, wäre die Synthese eben der Gegenpole, die da in Konflikt geraten sind und sich als Synthese dem Bewußtsein entzieht. Ja, man wird sagen müssen, daß die Krankheit gerade in der Bewußtlosigkeit ihrer Idee besteht, daß das, was da in Wahrheit vor sich geht, nicht erfahren wird. Das kranke Wesen ist somit das von seiner eigenen sich realisierenden Vollendung abgeschnittene, nämlich bewußtseinsmäßig abgeschnittene, und genau das Gleiche gilt auch vom sündigen Wesen. Überspitzt ließe sich das ungefähr so formulieren: Der Mensch sündigt und erkrankt, indem er zu seinem eigenen Symptom wird.
Freilich ist die "Idee" hier und dort in jenem anderen Zitat nach Carus nicht das Gleiche. Dort ist sie tatsächlich die Idee im herkömmlichen platonischen Sinn des Wortes: Vollendung eines Undinges und damit eine Un-Idee, Urbild, das sich als solches in der Krankheit abbildet; hier dagegen hat sie den Charakter der Aristotelischen "Mitte", der positiven Resultante aus zwei negativen Komponenten, eines Urbildes also, das sich in den Abbildern bricht und in sein Gegenteil verkehrt. So ist etwa auch der Tod als Vernichtung des Lebens verkehrtes Abbild oder Symptom des Transzendierens in das ewige Leben, wozu er für das sterbende Bewußtsein selbst allerdings nur durch die Offenbarung dessen zu werden vermag, der das Kreuz zum Werkzeug seiner Auferstehung und Verklärung gemacht hat.
Wie in der Gesundheit die Harmonie, so kommt in der Krankheit der Konflikt zwischen dem Sein und dem Sinn des Menschen zum Austrag. Dieser Definition der Krankheit nähert sich Hegel, wenn er sagt, der Begriff der Krankheit sei eine Disproportion des Seins und des Selbst; denn eben im Selbst findet sich die Sinnhaftigkeit des lebendigen Wesens. Die Struktur des menschlichen Daseins ist gekennzeichnet durch die Bipolarität in jeder Hinsicht. Von Bipolaritäten reden wir, wenn wir Schöpfer und Geschöpf, Mensch und Natur, Mann und Weib, Seele und Leib, Subjekt und Objekt, Sinn und Sein sagen. Der Entwurf des Menschen zum Ebenbild Gottes zielt auf die Harmonisierung aller dieser Bipolaritäten aus dem Geist und im Geist. Die Pole sollen aus ihrem ursprünglich neutralen Gegenüber zusammengeführt werden in liebende Eintracht, und Ein-tracht heißt nach dem einen trachten. Gesundheit besteht, wo dieses Eine Koinzidenzpunkt der Pole ist, Krankheit, wo die Pole divergieren, wo sie da und dorthin trachten und in ihrem Widerstreit die Disharmonie akut wird, wo sich der eine am anderen stößt. Wenn etwa zwei Kugeln einander entgegenrollen und schließlich zusammenprallen, so entspricht dieser Vereinigung dem Sein nach der offenbar gewordene Gegensatz des Sinnes, nämlich der Bewegungsrichtungen. In einer Welt, die in Ordnung wäre, müßte der Polkontakt die Synthesis zum Aufleuchten bringen, in der verkehrten Welt aber bedingt er wechselseitige Zerstörung, Vernichtung und Tod; denn hier regiert an Stelle der Liebe die Feindschaft der Pole, die, sozusagen ohne verbindende Mitte hart aufeinander stoßen. So wird Gott dem von ihm abgefallenen Menschen zum verzehrenden Feuer, zu dem schrecklichen und zornigen Gott, dessen Angesicht niemand sehen kann ohne zu sterben. "Der Krieg ist zwar aller Dinge Vater, aber aller Dinge König" sagt Heraklit. Der "Krieg" bezeichnet hier zunächst einfach das Polaritätsverhältnis überhaupt, das je nachdem unter dem Zeichen der liebenden Väterlichkeit oder der harten Königsherrschaft stehen, also Voraussetzung sowohl der Gesundheit wie auch der Krankheit sein kann.
Das rechte Verhältnis des Menschen zu Gott, zu seinem mitmenschlichen Partner und zur übrigen Außenwelt hat seine Manifestation in der Gemeinschaft des Sinnes bei Verschiedenheit des Seins. Das falsche Verhältnis ist das verkehrte, also Verschiedenheit des Sinnes und Gemeinsamkeit des Seins, wie im Fall der beiden gegeneinander prallenden Kugeln. Adam widersetzt sich dem Willen Gottes, also dem Sinn Gottes, aber er beansprucht das Sein Gottes, er will sein wie Gott. Dasselbe gilt dann mutatis mutandis von der Konkupiszenz als Korruptionsgestalt der Liebe zum Geschlechtspartner, von der Technik als verkehrter Form des dem Menschen anvertrauten Weltregiments und auch vom Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu seiner eigenen Leiblichkeit im Zustand der Krankheit. Der Kranke wird seinsmäßig mit der ihm polar gegenüberstehenden Natur Eines, er verfällt den Naturgesetzen, während er sich sinnhaft ihrem Sinn widersetzt. Sein Sinn sagt Nein, wozu sein Sein Ja sagt, und so gerät er als Sinnträger in Konflikt mit seinem eigenen Sein. Die Stoa wußte davon etwas, aber sie glaubte den Zwiespalt durch Übernahme des Natursinnes in den menschlichen Willen lösen zu können und übersah dabei, daß dieser Scheinausweg nur zur Vernichtung des einen der beiden Pole und noch dazu des sinnhafteren führen kann. Die Polarität Sein-Sinn, von der wir hier reden, ist im Grunde die gleiche, die auch die romantische Naturphilosophie und Medizin meint, wenn sie Irritabilität und Sensibilität sagt. Schelling nennt dementsprechend ausdrücklich die Irritabilität das Objekt der Sensibilität. Genauer wäre sie vielleicht als ihre objektive Seite oder Darstellungsform zu definieren gewesen; denn Sinn verhält sich zu Sein wie Subjektivität zu Objektivität.
Das endliche irdische Leben, was noch nicht heißen muß das korrumpierte Leben nach dem Fall, denn auch das paradiesische und dieses sogar vor allem läßt sich darunter verstehen, ist Leben nicht in der Vollendung, nicht in der Entschiedenheit, sondern im Zustand der Entscheidung, also Vorläufigkeit, Vorstufe, und zwar notwendige Vorstufe des endgültigen Lebens, das dem aus Freiheit und zur Freiheit geschaffenen Menschen vorbehalten wurde. Dieses endliche Leben ist darum auch ganz gewiß aller Schätzung wert, ein durchaus Positives, aber das doch eben nur im Blick auf seine Bestimmung, im Blick auf seine Verklärungsfähigkeit und Verklärungsbedürftigkeit, auf die von ihm oder in ihm zu lösende Aufgabe und Sinnerfüllung. In diesem Leben an der Schwelle der Entscheidung bleibt der Mensch und soll er bleiben ein Wanderer nach der endgültigen Heimat, ein homo viator, der Verwandlung gewärtig, einer, der sich hier nicht dauernd ansiedeln darf, weil er weiter muß. Der Gegensatz zwischen den Wanderern und den Siedlern, den Nomaden und den Seßhaften, den skçnoyntes und den katoikoyntes begegnet uns in der Bibel zum erstenmal &endash; allerdings schon innerhalb der nachparadiesischen Welt &endash; in dem Brüderpaar Kain und Abel. Kain ist da der Bauer, der sich auf Erden heimisch gemacht hat, Abel der von Ort zu Ort ziehende und insofern noch heimatlose Hirte. Wenn er dann vom Bruder aus Neid um Gottes Gunst und Gnade erschlagen wird, so stellt sich das unter den Kategorien der gefallenen Welt und das heißt immer unter den Kategorien Kains wohl als sein Tod und Untergang, als sein Übergang aus dem Sein ins Nichts dar, aber an sich, d. h. von Abel selbst her gesehen ist dieses Ende die Voll-endung, der Übergang über die Schwelle zur Heimat, also eigentlich die vollkommene "Genesung".
Als das Ende des irdischen Lebens hat der Tod seinen Schrecken und seinen rein negativen Charakter bloß für den, der dieses Leben überhaupt einfach gleichsetzt. Wie aber, wenn das endliche Leben lediglich den Sinn hätte, Vorstufe des wahren, Vorstufe zum Allerheiligsten zu ein, eben Ort der Entscheidung? So besehen wäre der Tod gar nicht Tod, gar nicht Lebensvernichtung, sondern die große Peripetie, der Schritt zur Erfüllung. Und dasselbe müßte dann auch schon von der Krankheit als dem Herold des Todes gelten. Bringt der Tod die Erfüllung, dann bedeutet Krankheit Vorbereitung darauf. Unter solcher Voraussetzung, daß Krankheit und Tod, diese Feinde des Menschen, ihre guten Urbilder im status integritatis haben und daß sie auch in ihren uns allein bekannten düsteren Gestalten noch immer irgendwie partizipieren an ihren Ideen, ergibt sich, daß man zu ihnen nicht nur unbedenklich und eindeutig nein sagen kann, daß sich das Problem nicht mit einem bloßen "Fort mit dem Tod!" und "Fort mit der Krankheit!" erledigen läßt, das es vielmehr darauf ankäme, aus dem falschen Tod den rechten, der kein Tod, und aus der falschen Krankheit die rechte, die keine Krankheit ist, zu machen. Gesund ist von diesem Standpunkt aus betrachtet gar nicht der, der die Möglichkeit und Eignung hat, ein Maximum an zeitlicher Lebensdauer zu erreichen und recht lange im Zustand der Vorläufigkeit zu verharren, sondern der andere, dessen zeitliche Existenz so beschaffen ist, daß sie der Entscheidung über sich selber hinaus, dem Schritt über die Schwelle den geringsten Widerstand entgegensetzt. Warum fühlt man sich gerade in den Augenblicken höchster Seligkeit, etwa als Liebender, dem Tod besonders nahe, wenn nicht darum, weil man ahnt, daß die Selbstvollendung, deren Erwartung die Hochstimmung erzeugt, mit dem Ende der endlichen Existenz, das sich unseren Augen als "Tod" darstellt, untrennbar zusammenhängt.
Wer Krankheit und Tod ausschließlich negativ bewertet und darum meint, sie unter allen Umständen niederkämpfen zu müssen, denkt ungefähr so wie die Knechte in dem bekannten Gleichnis, die das Unkraut ausjäten wollen, aber gar nicht imstande sind, dieses noch grünende Unkraut von dem ebenfalls grünenden Weizen zu unterscheiden. Ähnliches will zweifellos auch Karl Barth andeuten mit den Worten: "Wenn sie / die Krankheit / nun nicht nur die Vorform und der Vorbote des Todes und des Gerichtes, sondern verborgen unter dieser Gestalt auch das Zeugnis von Gottes Schöpfergüte, auch die Vorform und der Vorbote des ewigen Lebens wäre, das er dem in den Grenzen seiner Zeit von ihm gnädig erhaltenen und geführten Menschen zugedacht und zugesagt hat? ... Es muß klar sein und bleiben: an etwas anderes als an ein kühnes Hindurchgreifen durch die Gestalt von Tod und Gericht können wir nicht denken, wenn wir geltend machen, daß das, was wir als Krankheit kennen, in tiefer Verborgenheit auch eine Gestalt hat, in der es nicht nur die Macht des Teufels und auch nicht nur den Zorn Gottes, sondern auch Gottes herzliches Wohlmeinen spiegelt"4).
Der Leib wird krank, der Leib leidet und gerät aus seinem inneren Zusammenhang, sofern er sich nicht in Übereinstimmung befindet mit seiner eigenen Seele, mit seinem eigenen Sinn, und diese
Nicht-Übereinstimmung geht zuletzt immer von der Seele aus, so wie die Unzulänglichkeit und Unordnung der Welt vom Menschen. Es gibt darum nur psychosomatische Erkrankungen und niemals somatische allein. Aber es ist nun nicht etwa so, daß jedes irgendwie abwegige Verhalten der Seele, jede Fehlentscheidung des bewußten Selbst das ihr genau entsprechende leibliche Abbild hätte und daß es daher möglich wäre, von einer bestimmten Krankheit auf eine ebenso bestimmte psychische Ursache sichere Schlüsse zu ziehen. Selbst in solchen, wahrscheinlich sehr seltenen Fällen, in welchen ein Krankheitsphänomen dem ihm zugeordneten Seelenzustand vollkommen zu entsprechen scheint und ihn also direkt und adäquat widerspiegelt, wie z. B. bei manchen Organneurosen, besteht zwischen dieser und der gesunden Übereinstimmung von Seelischem und Körperlichem dennoch ein tiefgreifender Unterschied. Es ist etwas durchaus anderes, wenn sich etwa einmal meine Beine in Bewegung setzen, weil ich bewußt da oder dort hin gehen will oder wenn ich ein anderesmal von Kopfschmerzen befallen werde, weil ich einen Ärger habe; denn diese Schmerzen liegen ja keineswegs auf der Linie meines Willens, der nur und ausschließlich das Nicht-Sein dessen will, was mich ärgert und gar nichts weiter. Im Fall jener Ortsveränderung gibt es überhaupt keinen Konflikt, weder im Seelischen noch im Leiblichen und also auch nicht zwischen dem Seelischen und dem Leiblichen. Im Fall der Kopfschmerzen jedoch handelt es sich primär um einen Konflikt, um die Erfahrung eines Widerspruchs zwischen dem Subjekt und seinem Objekt. Es geschieht da etwas nicht so wie ich will, ich stoße an einen Widerstand, und diesem Konflikt entspricht immer auch schon eine Nichtübereinstimmung zwischen meiner seelischen und meiner leiblichen Existenz, die dann im Kopfschmerz, den ich als solchen niemals will, ihren Ausdruck findet. Mein Leib, der mir nun Schmerzen bereitet, hat sich sozusagen nicht auf meine, sondern auf die Seite des anderen gestellt, von dem der Ärger ausgeht. Er ist gegen mich und nicht für mich wie die gehenden Beine. Das gilt auch noch von dem bekannten Phänomen, das man seit Freud die "Flucht in die Krankheit" nennt; denn auch hier wird nicht die Krankheit als Krankheit gewünscht. Ich will zwar das, was mir vielleicht nur die Krankheit ermöglicht, aber ich will dabei keineswegs unter der Krankheit leiden.
Zwischen der willkürlichen Gliederbewegung und der krankhaften Organreaktion gibt es noch eine Reihe von Erscheinungen, die sich weder da noch dort einordnen lassen, wie z. B. das Lachen, das Weinen, das Zittern bei Erregungen, die Erektion usw. Bin ich traurig, etwa über den Tod eines geliebten Menschen, so sondern meine Tränendrüsen Salzwasser ab, bin ich heiter, so gerät mein Zwerchfell in ruckartige Bewegungen, ohne daß das eine oder das andere willkürlich hervorgerufen oder auch willkürlich verhindert werden könnte. Auch in solchen Fällen macht sich also der Leib der Seele gegenüber selbständig, aber er bleibt ihr immerhin noch in verstehbarer Nähe, er trauert oder freut sich sozusagen mit ihr, genauer gesagt, er setzt ihre Regungen in seine eigene Sprache um, ja er bemächtigt sich sogar dieser Regungen und zeigt damit an, daß die Seele, indem sie der Trauer, der Freude usw. erliegt, in den Bereich körperlich-kausaler Zusammenhänge gerät. Das Verhältnis erfährt aber schon eine wesentliche Änderung, wenn etwa der Ekel vor einem lediglich mit den Augen wahrgenommenen Gegenstand Erbrechen verursacht oder wenn bei manchen Menschen seelische Erschütterungen zu asthmatischen Anfällen, zu Kontraktionen des Luftröhrensystems und zu erhöhter Schleimabsonderung der Bronchien führen. Hier wird die leibliche Reaktion nicht nur als unwillkürliche, sondern als widerwillkürliche erfahren. Es muß also zwischen willkürlichen, unwillkürlichen und widerwillkürlichen psychophysischen Entsprechungen unterschieden werden, von welchen nur die dritten krankhafter Art sind. Der Körper macht entweder was ich will, was ich nicht will oder was ich nicht will.
Immerhin läßt sich nicht bestreiten, daß auch die bloß unwillkürlichen Organreaktionen bereits ins Pathologische hinüberspielen, daß auch für sie ein gewisser Bruch zwischen Psyche und Physis die Voraussetzung bildet, welche Voraussetzung sich wieder auf einen innerseelischen Konflikt gründet. Im Fall der Traurigkeit unterliegt das kaum einem Zweifel, aber auch jene besondere Form der Heiterkeit, die z. B. von einem guten Witz erzeugt wird und die Lachmuskeln aktiviert, ist in sich widerspruchsvoll; denn sie bezieht das Positive, das Lust erregende Moment aus einer Negation, sie freut sich an einer objektiven Unzulänglichkeit über ein Minderwertiges, das ihm aber mindestens als Möglichkeit seiner selbst gegeben sein muß. Er spaltet sich genau so auf wie der Traurige in ein subjektives und ein objektives Ich, wobei jenes bejaht und dieses verneint und das heißt auch schon der objektiven Kausalität der selbstentfremdeten, der dem Sinn entzogenen Wirklichkeit überantwortet wird. Das physische Lachen, die unwillkürliche Bewegung des Zwerchfells ist dann der Ausdruck für diese Verfallenheit des objektivierten und negierten Ich-Poles an die Kausalität. Der Traurige und Weinende genießt seine Spaltung nicht, sondern leidet unter ihr, er empfindet sie als einen Zustand, der eigentlich nicht sein sollte, d. h. er identifiziert sich ihr zum Trotz noch immer mit dem objektivierten Teil seines Selbst, er beurteilt den Unsinn als Unsinn und triumphiert nicht über ihn wie über einen besiegten und am Boden liegenden Feind. Darum kann man sich Christus zwar weinend, aber unmöglich lachend vorstellen. &endash; Sehr ähnlich verhält es sich mit der sexuellen Wollust, die geradezu den Untergang der Subjektivität, ihre Totalverkehrung ins Objektive auskostet. Der Lachende wie der Wollüstige befindet sich mit sich selber in Konflikt. Beide sind auf dem Weg, sich zu verlieren, ihren Sinn an das Sein der reinen Körperlichkeit und an ihre Gesetze preiszugeben. Nur noch einen kurzen Schritt weiter, und der Leib ist nicht nur nicht mit dem Genießer, sondern gegen ihn.
In Schellings "Weltaltern" findet sich der Satz: "Krankheit entsteht immer aus der Erektion eines relativ Nicht-Seienden über ein Seiendes." In unsere eigene Ausdrucksweise übersetzt würde das ungefähr heißen: Krankheit entsteht aus der Übermächtigkeit des Sinnes durch das Sein. Anknüpfend an diesen Gedanken Schellings bemerkt v. Gebsattel: "Krankheit ist ... ein vorübergehender oder chronischer Modus des Nichtseins, der Gestalt annimmt, in dem er Gestalt aufhebt; eine Weise der Steresis / der Privation /, die an der überkausalen Wirklichkeit der Gesundheit durch Störung ihrer dynamischen Effekte als ein kausaler Faktor faßlich wird"5). Uns interessiert hier vor allem die Feststellung der Akausalität des Gesundseins und der Kausalität des Krankseins. Gesund sein heißt frei, krank sein aber unfrei oder bedingt sein. Der kranke Mensch gleitet ab in die Region der kausalen Bedingtheit. Kausale Bedingtheit bedeutet so viel wie Abhängigkeit vom Vergangenen, von der zeitlichen Ursache. Kausal bedingt bin ich daher als der Gewordene oder, was dasselbe sagt, meinem Sein nach, akausal, frei dagegen meinem Sinn, meiner Gerichtetheit nach. Und somit heißt krank sein zurückgefallen sein vom Sinn auf das Sein, Verlust der Zukünftigkeit, Reduktion auf die Herkünftigkeit, auf die Gewordenheit.
Wenn die Genesis sagt: "Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde...; männlich und weiblich schuf er sie", so ist damit mehr als nur die geschlechtliche Polarität im engeren Sinn, nämlich darüber hinaus die Polarität die Zweiseitigkeit der menschlichen Natur überhaupt gemeint. Diese Zweiseitigkeit entspricht gleichnishaft dem Gegenüber von Gott und Geschöpf, von Gott und Ebenbild, also dem gott-menschlichen Verhältnis. Der Mensch ist Ebenbild Gottes darin, daß er in sich die Polarität von Schöpfer und Schöpfung zur Darstellung bringt, wobei der Schöpfer auf der Seite des Sinnes und die Schöpfung auf der des Seins steht. Wendet sich der Mensch von seinem göttlichen Gegenüber ab, so wird er einseitig und sinnlos, und Einseitigkeit oder Sinnlosigkeit ist das Prinzip sowohl der Sünde wie auch der Krankheit. Der kranke Leib, das kranke Organ erkrankt, indem er oder es sich vereinseitigt, sich aus dem Zusammenhang des lebendigen Polaritätsverhältnisses löst. "Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei." / Gen. 2, 18. / Das Alleinsein, eben die Einseitigkeit ist das eigentliche Urübel. Um Vereinseitigung handelt es sich z. B. auch in dem Vorgang, den wir früher als "Anpassung" der Tiere an die Bedingungen ihrer Umwelt beschrieben haben. Der Darwinismus wollte in der fortschreitenden Anpassung ein Merkmal der Entwicklung und Vervollkommnung des Organischen erkennen, während doch das genaue Gegenteil zutrifft; denn was sich anpaßt, verzichtet damit auf seinen Sinn, also auf seine Zweiseitigkeit. Der gefallene Mensch ist der angepaßte Mensch, der vereinseitigte Mensch. Er will entweder wie Gott oder wie das Tier / wie die Schlange /, nur Geist oder nur Leib, nur Subjekt oder nur Objekt sein, aber im Vollzug dieses Willens wird er tatsächlich immer nur Objekt, nur Leib, nur Tier, weil er in diesem Willen auf sich reflektiert, also sich objektiviert, sich dem Objektiven angleicht; und so erweist sich die vermutliche Evolution als Degeneration, als Verlust des Geistprinzips, das die Pole zusammenhält, überwölbt und transzendiert. Fehlt aber der Geist, der das Geschaffene mit seinem Grund und seinem Sinn in ihrer Einheit verbindet, dann tritt an seine Stelle der ziel- und grundlos in die zukünftige und vergangene Unendlichkeit verlaufende Kausalnexus. Die reine Kausalität ist die Kategorie der Grund- und Sinnlosigkeit, die Daseinsform des einseitig gewordenen Seins.
Hegel, der hier im Entscheidenden mit Schelling konform geht, führt die Krankheit darauf zurück, daß eine höhere Potenz im Organismus einer tieferen, also etwa das Animalische dem Vegetativen oder das Vegetative dem Anorganischen verfällt. Der Organismus "befindet sich im Zustand der Krankheit, insofern eines seiner Systeme oder Organe im Konflikt mit der unorganischen Potenz erregt, sich für sich festsetzt und in seiner besonderen Tätigkeit gegen die Tätigkeit des Ganzen beharrt, dessen Flüssigkeit und durch alle Momente hindurchgehender Prozeß hier gehemmt ist." Dementsprechend wird auch im besonderen Hinblick auf die Geisteskrankheiten gesagt: "Die wahrhafte Form des Geistes in einer untergeordneten abstrakten existierend, enthält eine Unangemessenheit, welche die Krankheit ist. Es sind in dieser Sphäre einmal die abstrakten Gestaltungen der Seele / z. B. das "kollektive Unbewußte / für sich, das andere Mal dieselben auch darum als Krankheitszustände des Geistes zu betrachten, weil diese ganz allein aus jenen zu verstehen sind"6) Hegel hat ein Schichtensystem vor Augen, das dem etlicher jüngerer Denker wie Max Scheler, Nikolai Hartmann oder Erich Rothacker sehr nahe kommt. Als Mikrokosmos vereinigt der Mensch in sich alle Schichten des Wirklichen, um sie zu einem höheren Ganzen zusammenzufassen, und das zwar in der Weise, daß sich die niederen den höheren und schließlich den höchsten unterordnen. Es ist das gleiche Schema, nach dem sich auch schon der platonische Staat aufbaut. Und wie dieser Staat nach Platons eigener Darstellung erkrankt, wenn die höheren Stände sich das Lebensgesetz der niederen zu eigen machen oder richtiger sich ihm übereignen, so erkrankt auch der Organismus in dem Grand, in dem die höhere Schicht ihre Norm an tiefere verliert. Ebenso gilt für die Ethik, etwa nach Max Scheler, daß das Böse sich aus der Unterordnung eines höheren Wertes unter einen niederen ergibt. Jede dieser Schichten hat sozusagen ihre besondere Form der Kausalität oder besser des Bedingungszusammenhanges. Je tiefer die Schicht, um so kausaler, je höher, um so teleologischer bestimmt ist dieser Zusammenhang, d. h. unten dominiert die Ursache, oben das Telos, unten das Sein, oben der Sinn. Da nun aber alles darauf ankommt, das Ganze unter die Dominante des Sinnes zu stellen, so bedeutet die Vorherrschaft der Kausalität Verkümmerung, Verfall, Krankheit und am Ende Tod. Der Organismus sinkt in den mechanischen Prozeß der anorganischen Natur zurück, er wird zu "Staub".
Es ist nun von eminenter Wichtigkeit sich klar zu machen, daß die Krankheit als solche, d. h. als Vorgang auf der Ebene der mächtig gewordenen unteren Region zwar kausal bestimmt erscheint, also dem Gesetz der Verknüpfung von Ursache und Wirkung unterliegt, daß aber von Krankheit doch nur geredet werden kann, sofern dieses Gesetz gerade nicht bestimmend sein sollte, sofern das allgemeine objektive Naturgesetz hier ganz unwillkürlich als widernatürlich, als gegen die eigentliche Bestimmung des erkrankten Wesens gerichtet empfunden wird; denn eben nicht die Kausalität, sondern die Freiheit ist das dem Menschen angemessene Gesetz. Und in der Freiheit, in einer freien Entscheidung nämlich, muß auch die letzte Wurzel der Krankheit gesucht werden. Der Mensch verfällt der Unfreiheit, weil und sofern er sich ihr aus Freiheit verschreibt. Adam gerät unter das Gesetz der Erde und stirbt, weil er etwas will, was sich mit der Freiheit des Willens nicht vereinbaren läßt. Ist er einmal dorthin geraten, dann allerdings stellt sich sein Sterben, seine zum Tod führende Krankheit kausal bedingt dar, aber das doch nur, weil er nun für die Freiheit, aus der heraus die verhängnisvolle Fehlentscheidung erfolgte, blind ist. Er kann selber den wahren Grund seiner Krankheit nicht mehr erkennen und irrt darum, vergeblich suchend, in der Region des kausal Bedingten umher.
Daß der Kranke selbst, wenn er einmal krank ist, seine Krankheit nicht als Folge oder Offenbarung einer persönlichen Entscheidung, sei es einer individuellen oder einer überindividuellen, sondern als Wirkung einer äußeren Ursache, eines Unfalls, einer Infektion, einer Erkältung, einer Vergiftung usw. interpretiert, das ist bereits ein Symptom seiner Krankheit; denn im Zustand der Entschiedenheit, in den er nun geraten ist und dem tatsächlich die Kausalität nach Ursachen regiert, hat er seine Freiheit vergessen. Auch an dieser Stelle zeigt sich übrigens ganz deutlich wieder die enge Beziehung, in der die Krankheit zur Sünde steht. Wenn Adam auf die Frage Gottes, ob er von dem verbotenen Baum gegessen habe, antwortet: "Das Weib, das du mir zugesellt hast, gab mir und ich aß", und wenn Eva sodann ihrerseits die Schlange beschuldigt, so handelt es sich da offensichtlich um die gleiche Verschiebung des Grundes von der Entscheidung auf die Ursache. Der gefallene Mensch ist der unfreie und also ursächlich bedingte. Und wie im Fall der Sünde die Meinung, ein Anderer sei der eigentlich Schuldige, ein Symptom der Sünde selbst ist, so ist eben auch die Voraussetzung, die Krankheit habe eine äußere Ursache, ein Symptom der Urkrankheit. Damit soll nicht behauptet sein, daß Krankheiten in unserer Welt niemals verursacht sind und daß ihre Erklärung aus Ursachen bloß auf einer Täuschung beruht. Wir leben vielmehr in einer Wirklichkeit, die uns äußeren Einflüssen unterwirft, gegen die wir machtlos sind. Hier herrscht die Kausalität als hartes und sehr reales Prinzip. Aber die Tatsache, daß wir uns in einer solchen Wirklichkeit befinden, läßt sich allerdings niemals kausal erklären, sondern hat ihren Grund in einem Akt, für den wir verantwortlich sind. Dieser Akt hat den Ursachen allererst Macht über uns gegeben, sie aktiviert und uns aus freien zu unfreien, aus tätigen zu leidenden Wesen gemacht. Ich bin gewiß nicht verantwortlich dafür, wenn mich heute etwa eine verirrte Kugel oder ein herabfallender Stein trifft oder wenn ich von einer Grippekranken, mit dem ich zufällig in der Straßenbahn fahre, angesteckt werde, aber ich bin wohl verantwortlich dafür, daß es in meiner Welt so etwas wie Gewehrkugeln und Grippeerreger überhaupt gibt; denn diese Welt ist die mir wesensmäßig zugeordnete.
Wie sich die Entstehung der Krankheit entweder aus irgendwelchen Ursachen oder aus der Freiheit ableiten läßt, so kann auch ihr Verlauf im Blick auf die Zukunft kausal oder teleologisch verstanden werden. Nur im zweiten Fall ist es möglich von einem Sinn der Krankheit zu reden. Kausalität hat, da hier der Akzent ausschließlich auf der Vergangenheit liegt, niemals einen Sinn. Betrachtet man die Krankheit allein als somatisches Phänomen, so gibt es nur die kausale Interpretation und keine andere. Darum sind Äußerungen wie die folgende ihrem unanzweifelbaren Wahrheitsgehalt zum Trotz mit größter Vorsicht aufzunehmen. V. v. Weizsäcker meint in seinem Buch "Der kranke Mensch": "Es geschieht nichts nur aus Ursachen, sondern es geschieht alles in Richtung auf ein Ziel, das wir auch ein höheres oder ein katastrophales Ziel nennen möchten"7). Die kausale Interpretation entspricht dem somatischen, die teleologische dem psycho-pneumatischen Aspekt, und beide dürfen nicht einfach vermischt oder wie zwei Komponenten des gleichen Kategoriensystems behandelt werden. Wer nur physiologisch erklärt, erklärt rein kausal, wer nur psychologisch erklärt, rein teleologisch. Hier erhebt sich nun aber freilich die Frage, ob eine rein physiologische oder eine rein psychologische Erklärung jeweils möglich sein kann; den der Leib ist ja organischer Leib nur als Darstellung des Seelischen, und die Seele ist vice versa nur Seele als Seele eines Leibes. Die bloß kausale Erklärung trifft darum den Leib gar nicht dort, wo der Leib eines lebendigen Wesens und die bloß teleologische die Seele nicht mehr dort, wo sie lebendige und das heißt immer auch schon eingeleibte Seele ist. Lebendig sein bedeutet, das muß man sich immer wieder vergegenwärtigen, sinnhaftes Sein sein, wobei weder vom Sinn noch vom Sein abstrahiert werden darf, so als ob beide nur mechanisch aneinandergefügt wären. Demgemäß kann auch das kausale Moment vom teleologischen nicht geschieden werden, noch besteht die Möglichkeit, durch eine Art Addition beider so etwas wie eine besondere Kausalitätsform des Organischen zu konstruieren. Es handelt sich vielmehr um eine echte Synthese, die von der These ebenso wie von der Antithese qualitativ unterschieden bleibt und beide transzendiert, weil sie transkausal und transfinal zugleich ist. Die Synthese geht logisch und realiter voran, so wie die Gegenwart vor Vergangenheit und Zukunft oder der Geist vor Leib und Seele.
Wir wollen das noch an einem Beispiel erläutern: Die Psychotherapie versucht gewöhnlich Angstzustände neurotischer Art auf irgendein akutes Furchterlebnis im Kindesalter des Patienten zurückführen, etwa auf die Furcht vor dem eigenen Vater oder der eigenen Mutter. Nach Freuds sicher nicht durchaus falscher, aber doch unzureichender Definition unterscheidet sich die Angst von der Furcht dadurch, daß diese sich auf einen bestimmten Gegenstand bezieht, jene aber ins Unbestimmte ausschweift. Der analysierende Therapeut versucht also dem Patienten einen Gegenstand zum Bewußtsein zu bringen, an den er sich halten kann, um so die Angst in Furcht, und zwar in eine nicht mehr aktuelle Furcht zu verwandeln. Je gegenständlicher, je objektiver, je vergangener ein Phänomen oder ein Ereignis ist, um so weiter bin ich darüber hinaus, um so weniger bedrohlich und gefährlich erscheint es mir. Der Patient reagiert so seine Angst auf eine im Grunde recht harmloses, der Angst gar nicht würdiges Furchtobjekt ab. Aber, so werden wir hier zu fragen haben, läßt sich der Angst auf diese Weise wirklich beikommen? Sicher nicht; denn in Wahrheit wird ja doch nur der Blick des Leidenden in eine andere Richtung gelenkt. Die Angst gilt nämlich der Zukunft, d. h. einem prinzipielle Unbekannten, die Furcht dagegen einem Bekannten, das als solches immer schon der Vergangenheit zugehört. Die Frucht ist nur kausal bedingt, die Angst aber ergreift existentiell den ganzen Menschen; sie ist insofern tiefer und von weit größerem Gewicht. Der Gegenstand der Furcht wird a priori verstanden als ihre Ursache und nicht etwa als ihr Sinn. Die Erklärung macht somit die Angst und damit die Regung des Patienten sinnlos. Sie heilt ihn, wenn sie ihn heilt, indem sie ihm den Zusammenhang mit der Synthese, mit der qualitativ höheren Lebensschicht abschneidet und ihn auf sein bloßes Sein reduziert. Hier gibt es zwar keine Angst mehr, aber auch nicht mehr den, der sich ängstigt, nicht das Subjekt der Angst, das immer mehr ist als das Subjekt der Furcht.
Wie der kranke Mensch allein schon als Mensch, also abgesehen von der Tatsache seines Krankseins, seinen Seinsaspekt und seinen Sinnaspekt hat, so auch seine Krankheit, die ihn als Ganzes betrifft. Er ist in Einem, sowohl seiner Gewordenheit wie seiner Gerichtetheit, seiner Objektivität wie seiner Subjektivität nach erkrankt; denn die Krankheit bedeutet ja eben eine Störung im Verhältnis der Pole zueinander. In jener ersten Hinsicht stellt sich nun die Krankheit im sozusagen objektiven Jargon dar als etwas, das von außen an den Kranken herankommt, in dieser zweiten aber im subjektiven Jargon als ein von ihm selber Erzeugtes, von ihm selber Bedingtes. Es geht hier jedoch nur um die beiden Aspekte des gleichen Phänomens, das einmal das Sein und einmal den Sinn berührt. Beide sind in jedem Fall da, aber doch gewöhnlich so, daß das eine oder das andere deutlicher oder weniger deutlich zur Erscheinung kommt. Da, wie wir wissen, objektive Bewußtheit subjektiver Unbewußtheit gleichkommt und umgekehrt, entspricht dem Prävalieren des exogenen Faktors die relative Unbewußtheit und Unbemerkbarkeit des endogenen, der zu dem die Krankheit aktualisierenden Konflikt von innen her seinen Beitrag leistet. So läßt sich etwa die subjektive Disposition eines Mensch für Unfälle viel schwerer plausibel machen, sie erscheint viel mysteriöser als die Empfänglichkeit für Erkältungen oder Verdauungsstörungen. Der endogene Faktor liegt genau so tief im Subjekt verborgen wie sich das objektive äußere Ereignis aufdringlich der Beobachtung darbietet. Tief im Subjekt verborgen heißt aber, was wir hier gleich anmerken möchten, nichts anderes als dem Überindividuellen zugeordnet; den überindividuell ist die Tiefe des auf der Oberfläche als Einzelwesen Erscheinenden. Was da also dem den Unfall verursachenden Objekt entgegenkommt und so den Unfall begünstigt, ist weniger die Besonderheit dieses einzelnen Menschen da, der von einem Auto überfahren wird oder bei einem Eisenbahnzusammenstoß ums Leben kommt, als vielmehr sein Menschsein, seine Naturbezogenheit überhaupt. Zu diesem Thema wird im nächsten Kapitel noch Genaueres zu sagen sein.
Theophrastus Paracelsus kennt fünf Hauptursachen der Krankheit: erstens das ens astrale / von den Sternen, d. h. schicksalhaft gewirkte Krankheiten, zu denen vor allem die Epidemien gehören, / zweitens das ens veneni / das Vergiftungserscheinungen erzeugt, sei es durch äußere oder durch innere Gifte /, drittens das ens naturale / durch die besondere Veranlagung des Menschen bedingte Krankheiten /, viertens das ens spirituale / das Prinzip jener Erkrankungen, die man heute Psychosen nennt / und fünftens das ens Dei / der Kranke ist von Gott geschlagen, weshalb der behandelnde Arzt auch Priester sein müßte /8). Sieht man sich diese Liste ihrer Reihenfolge nach genauer an, so wird man leicht bemerken, daß jedes weitere ens relativ endogener und also weniger exogen, relativ schuldhafter und also weniger schicksalhaft ist. An den beiden Endes stehen die Sterne und Gott, d. h. die blinden Schicksalsmächte und der heilige Richter über Gut und Böse. Dort erscheint die menschliche Verantwortung auf ein Minimum reduziert, hier wird sie zum ausschlaggebenden Faktor, dort handelt es sich um Krankheiten im eigentlichen medizinischen Sinn des Wortes, hier dagegen mehr um ethisch oder religiös zu beurteilende Gebrechen. Dort liegt die Schuld weit zurück und tief im Verborgenen, als Schuld nicht des Einzelnen, sondern des Geschlechtes oder der Menschheit, als Sünde Adams, weshalb der Einzelne schon in ihr gezeugt und geboren wird, hier aber ist er, der Einzelne selbst Ursprung der die Krankheit wirkende Entscheidung, der unmittelbar von der Strafe getroffene Sünder. Darum eben überweist nicht erst Paracelsus, sondern bereits Hippokrates die "heiligen" Krankheiten, zu denen nach ihm auch die Neurosen gehören, dem Priester.
Da die Krankheit immer auf der Disharmonie von Sein und Sinn beruht, stellt sie sich im kosmischen Raum dar als Widerspruch, in dem der Mensch als der eigentliche Sinnträger der ganzen Schöpfung zu seiner Außenwelt, zur Natur als objektiven Repräsentantin des Seins steht. Es ist eine uralte, zuletzt auch von der romantischen Naturphilosophie und noch von Schopenhauer variierte Erkenntnis, daß in der Krankheit ein Konflikt zwischen dem mikrokosmischen und dem makrokosmischen Willen,
d. h. zwischen dem Eigen-Sinn des Menschen und dem Allgemein-Sinn der Welt offenbar wird. Als Mikrokosmos hat ja der Mensch Anteil an sämtlichen Schichten der Natur und ihren Gesetzen, vom Anorganischen bis zum Geist. Als die Krone der Schöpfung ist er zugleich ihr Inbegriff. In ihm und durch ihn soll sich der Kosmos vollenden, soll alles Sein sinnhaft verklärt werden. Isoliert er sich aber, versteift er sich auf seinen Eigen-Sinn, dann zerbricht die makrokosmisch-mikrokosmische Harmonie. Er will als Individuum anders als die Schichten, in die er eingebettet ist und durch die er mit der Außenwelt zusammenhängt. Sein vegetatives Selbst etwa folgt einerseits den allgemeinen Gesetzen des Vegetativen überhaupt, soll aber andererseits in den ausschließlichen Dienst seiner besonderen mikrokosmischen Existenz gezwungen werden. So kommt es zum Gegeneinander einer zentripetalen und einer zentrifugalen Tendenz und das heißt zur Krankheit.
Was sich meinem Leib zunächst und vor allem als Feind entgegenstellt, was ihm gefährlich wird und ihn zu verwunden droht, ist das Anorganische, und zwar das Anorganische besonders im festen Aggregatzustand, also etwa in Gestalt des Steines oder des Metalls, aus denen man eben deshalb seit Urzeiten die zu Töten bestimmten Waffen herstellt. Das harte Anorganische ist die Weltmaterie, die sich sozusagen grundsätzlich meiner Existenz widersetzt. Das Tote, das immer schon Gestorbene kennt keine Freundschaft mit dem Lebendigen. Und selbst die Werkzeuge und Waffen, mit denen Tiere und Pflanzen gelegentlich einander oder den Menschen verletzen, mit denen sie Wunden schlagen, sind gewöhnlich abgestorbene und verhärtete Teile am tierischen oder pflanzlichen Leib, wie Zähne, Hörner, Krallen, Stacheln und Dornen. Das zur festen anorganischen Materie erstarrte Objekt ist das objektivste und subjektfeindlichste. Der Mensch muß sich seine eigenen Waffen erst künstlich herstellen, die Tiere aber tragen ihre Waffen am eigenen Körper, weil sie bereits Objekte des Menschen sind, weil sie in ihrer Feindseligkeit, in dem Trieb, ihm in die Ferse zu stechen, sich mit dem Anorganischen verbündet haben.
Sehen wir vorläufig einmal ganz ab von allen irgendwie endogenen Erkrankungen und beschränken wir uns auf die Frage nach der Möglichkeit von Verletzungen, die durch einen brutalen handgreiflichen Zusammenstoß mit der Außenwelt zustande kommen. Wieso bin ich überhaupt verwundbar? Was heißt das, verwundbar sein? Die Anlage verwundet zu werden hat den Widerspruch zwischen mir und meiner Umgebung, d. h. ein mindestens partiell negatives Verhältnis zu ihr zur Voraussetzung. Eine Außenwelt, der gegenüber ich in keiner Weise isoliert wäre, zu der ich vielmehr in ganz und gar positiver Beziehung stünde, so wie selbstverständlich auch umgekehrt sie zu mir, eine solche Außenwelt könnte mich gar niemals verwunden oder verletzen. Ich wäre kein in sich abgeschlossenes Ich, kein Subjekt im antithetischen Sinn dieses Wortes und sie wäre dementsprechend kein Objekt, kein bloßes Nicht-Ich. Die Verwundbarkeit hängt somit mit der Subjekt-Objekt-Relation zusammen. Mit der einen fällt auch die andere weg, Werde ich aber verwundet, so ist das, was da die Wunde empfängt, was eine Verletzung erfährt und beschädigt wird, mein Leib, also doch nicht eigentlich das Subjekt, das sich der Verwundung bewußt wird, sondern die objektive Seite der Subjektivität, mein eigenes objektiviertes Selbst. Das aber heißt nichts anderes als daß ich verwundbar bin in dem Grad, in dem ich mich selbst objektiviere, in dem ich nicht mein eigener Leib bin, sondern nur einen Leib habe. Die Reflexion auf meine Leiblichkeit, die Unterscheidung zwischen meiner Subjektivität und meiner Objektivität ist die Entsprechung zu meiner Isolierung von der Umwelt, die mich verwundet. Der Mensch, der sich selbst in den Blick nimmt und zum Gegenstand seiner Aufmerksamkeit macht, merkt, daß er nackt und das will sagen, daß er verwundbar ist.
Der bekannte Satz Spinozas: omnis determinatio est negatio gilt auch für die Beziehungen innerhalb des persönlichen Bereiches. Indem ich mich bewußt reflektierend als dieses Selbst setze und meinen ganzen Willen auf dessen Existenz einstelle, es also determiniere, negiere ich im gleichen Akt, wenn auch zumeist unbewußt, alles, was außerhalb meines Ich da ist, sofern es meinen Freiheitsraum beschränkt, und ich negiere unwillkürlich auch das an mir, was zu diesem Außen in unaufhebbarer Beziehung steht, was als ein Teil zu mir gehört, nämlich mich als Leib. So ist das reflexive Ja zum Selbst-Sein immer auch schon ein Nein zum Leib-Sein. Die Leiblichkeit erfährt durch jenes einseitige Ja ein Trauma, das Ur-Trauma, das den Keim des Todes in sich hat. Jedes solche Ja ist erstens ein unbewußtes Nein und zweitens ein Erleiden der Verneinung seitens des Verneinten, bzw. der dem Verneinten zugehörigen oder zugeordneten Seite des eigenen Gesamtwesens, der gewissen Schicht, in der ich mit ihm verbunden bin. Indem z. B. der Mensch den Fleischgenuß bejaht verneint er das Leben der betroffenen Tiere, die ihm zur Nahrung dienen und damit auch die ihnen entsprechenden Schichten seiner Lebendigkeit. Ich esse Hühner gerne, d. h. ich will nicht, daß Hühner leben und ich will auch nicht das an mir was die lebendigen Hühner liebenswert und sympathisch findet. Ohne Zweifel könnte man von hier aus manche totemistische Gebräuche, Speiseverbote religiöser Art u. dgl. erklären.
Der Verwundung benachbart ist die Vergiftung. Die Außenwelt, mit der wir zerfallen sind, bedroht unser Leben nicht nur mechanisch, sondern auch chemisch. Schon das Brennen des mich verbrennenden Feuers ist ein chemischer Prozeß. Aber es geht uns hier mehr um Vergiftungen im eigentlichen Sinn, um Gifte, die uns durch die Verdauungsorgane oder durch das Blut zugeführt werden. Es gibt in der Natur reine Giftstoffe, anorganische und vor allem organische, die wir uns normalerweise fernzuhalten wissen, aber es gibt im Grunde überhaupt nichts, das nicht mindestens auch in stärkerem oder schwächerem Grad giftig wäre, weil eben der Bruch durch die ganze Schöpfung hindurch geht und somit der Tod in allem sitzt. Ein Theologe hat einmal ungefähr gesagt, durch den Genuß der Frucht vom verbotenen Baum seien nun die Früchte aller Bäume für den Menschen giftig geworden. Das bedeutet, daß auch die scheinbar harmlosesten Nahrungsmittel, die wir täglich genießen und genießen müssen, wenn wir am Leben bleiben wollen, gewisse Giftstoffe enthalten, unter deren Wirkung wir zu leiden haben, die uns krank machen. Auch das ist übrigens eine sehr alte Weisheit. So meint schon Paracelsus: "Der Leib ist uns ohne Gift gegeben und in ihm ist kein Gift / eine Behauptung, der man allerdings nicht unbedingt wird zustimmen können /. Aber das, was wir dem Leib müssen geben zu seiner Nahrung, im selbigen ist Gift. ... In solchem sollt ihr verstehen, daß andere Tier und Frucht uns ein Speis ist, darum ist es uns auch ein Gift, ... indem daß sie unsere Speis sind, im selbigen sind sie uns ein Gift. ... Ein Stier, der da Gras isset, der isset sich sein Gift und sein Gesunt"9). Paracelsus will damit offenbar sagen, daß unser Nein zu dem Tier, dessen Fleisch wir essen und das uns freilich auch nährt und am Leben erhält, daß dieses unser Nein vom Verneinten her in Gestalt des Giftes wieder auf uns zurückschlägt. Wir essen mit dem Leben auch den Tod oder, wie der Gras fressende Stier, mit dem "Gesunt" auch das Gift der Pflanze.
Giftig ist die Außenwelt als die negierte, d. h. als die von uns getötete. Gift bedeutet darum aufs Letzte gesehen immer Leichengift. Im Leichengift antwortet das Getötete mit Tod. Die romantische Medizin erklärt die Wirkung der Gifte &endash; der organischen wie der anorganischen &endash; aus der Störung des Gleichgewichtes, die sie im Organismus hervorrufen, indem sie dessen zentrifugale Kräfte aktivieren. Im Hinblick auf die Verwesungsgifte leuchtet das leicht ein; denn Verwesung ist ja Zerfall organischer Einheit, Verlust des Zentrums, Flucht aus dem Zentrum und aus dem Bereich seiner bindenden Macht in das Chaos. Das Verwesungsgift, das von außen kommt, reizt zur Verwesung.
Nach der Vorstellung mancher alter Völker und auch der Naturvölker von heute sind es die umherirrenden Gespenster der Toten, die die Lebendigen mit Krankheit schlagen und zu sich in ihr Schattenreich zu ziehen suchen. Auf ähnlichen Voraussetzungen beruht auch der da und dort auf dem Balkan noch immer anzutreffende Vampirglaube. Die bekannten Totentanzbilder des ausgehenden Mittelalters und der Frührenaissance stellen nicht etwa den Tod als personifizierten Begriff, sondern die ganz real gedachten Toten dar, die aus ihren Gräbern aufsteigen, um mit den noch Lebendigen ihren gefährlichen Reigen zu tanzen. Der Tod, so wird immer in allen diesen Fällen angenommen, wirkt ansteckend wie die Pest. Darum und nicht so sehr um ihre Trauer zu bekunden, also zum Schutz des anderen Menschen, gewissermaßen als vorbeugendes Desinfektionsmittel, tragen die mit den Verstorbenen in Berührung gekommenen Frauen ursprünglich einen Schleier vor dem Gesicht. Auch die Reinigungsvorschriften des Mosaischen Gesetzes sind von hier aus zu verstehen. "Wenn ein Mensch im Hause stirbt, soll jeder, der in das Haus geht, und wer im Haus ist, unrein sein sieben Tage." "Auch wer anrührt auf dem Felde einen, der erschlagen ist mit dem Schwert, oder einen Toten oder eines Menschen Gebein oder ein Grab, der ist unrein sieben Tage." / Num. 19, 14.16 / Die Gespenster, vor denen sich die Lebendigen zu fürchten haben, sind nicht etwa das Innerlichste und Subjektivste, das Seelische oder gar Geistige der Verstorbenen, sondern ganz im Gegenteil ihr Alleräußerlichstes, ihr Objektivstes, das noch viel objektiver ist als der sichtbare Leichnam und das eben deshalb auch den Lebendigen ihre Subjektivität zu rauben droht. Vielleicht sollte das den Spiritisten, den Okkultisten und Parapsychologen, die es angeblich mit den "Geistern" der Abgeschiedenen zu tun haben, einiges zu denken geben.
Aber nicht nur das Tote, nicht nur die Substanzen der Verwesung, sondern, so meint etwa G. H. v. Schubert, auch die der Fortpflanzung dienenden Säfte stehen in einer eigentümlichen Beziehung zum Gift; denn auch durch sie wird ja das Leben des Einzelnen in Frage gestellt und der Gattung geopfert. Wörtlich heißt es: "Liegt doch selbst in jenen leiblichen Elementen, welche dem Leben alsbald ein Ende machen oder seine Kräfte lähmen, wenn sie mit dem Atem in die Lunge, wenn sie auf dem Wege der Speisen und Getränke in den Magen oder durch äußere Wunden in das Blut kommen, bald mehr, bald minder deutlich ein Prinzip, das jenem verwandt ist, welches bei dem leiblichen Geschäft der Zeugung und des Gebärens wirksam ist. Namentlich wird dies an den Säften bemerkbar, welche viele Insekten durch ihren Stachel in einen anderen lebenden Körper fließen lassen"10). Wahrscheinlich klingen solche Spekulationen in den Ohren des modernen Mediziners reichlich phantastisch und vielleicht lassen sie sich auch kaum wissenschaftlich unterbauen, aber an ihrer tiefen Wahrheit ändert das nichts; denn in ihnen spricht sich ja doch nur wieder die uralte Weisheit des Heraklit von der Identität des Hades und des Dionysos, des Todes und der Zeugung aus, die sich auch in dem indischen Shiva verkörpert, weshalb Schelling mit einem gewissen Recht den Shiva und den Dionysos für die gleiche Gottheit halten konnte.
Als Geschlechtswesen ist der Mensch Gattungswesen, transzendiert er seine individuelle Existenz, bzw. negiert er sie. Zeugend und gebärend macht er sich zum Nichts vor dem Gezeugten und Geborenen, zu dem Nichts, das mit dem anderen Nichts nach dem Tod in Eines zusammenfällt. Wir erinnern hier nochmals an den Hinweis von Armin Müller auf die eigentümliche Polarität zwischen dem Zentralnervensystem und den Geschlechtsorganen. Je höher ein Organismus, um so mehr verlagern sich die Genitalien nach dem Gehirn entgegengesetzten Leibesende. Bejahung der individuellen Existenz bedeutet Verneinung nicht nur des Todes, sondern auch der Geschlechtlichkeit. Man hat festgestellt, daß durch heftige Angsteffekte etwa bei Delinquenten knapp vor der Hinrichtung, an den Keimdrüsen "schwere anatomisch nachweisbare Veränderungen entstehen können. Sie betreffen in erster Linie die Keimzelle selbst und bedingen, daß Mann und Frau für kürzere oder längere Zeit unfruchtbar sind"11). Todesangst heißt Verneinung des Todes und infolgedessen auch Verneinung der Geschlechtlichkeit, nämlich jeder Form von Selbsttranszendierung des Individuellen überhaupt.
Das "Zeugungsgift", wenn man diesen Ausdruck gebrauchen darf, ist freilich nicht Gift für den, der es empfängt, wie das Leichengift, sondern sozusagen umgekehrt, für den, der es ausscheidet, der es verliert. Gerade das wäre auch zu bedenken im Blick auf jene Insekten, von denen Schubert redet. Bei den Bienen etwa haben nur die zeugungsunfähige Arbeiterinnen und nicht die zeugungsfähigen Drohnen und Königinnen einen Giftstachel. Die Drohne stirbt, wenn sie zeugt, also wenn sie "sticht", die Arbeiterin aber vergiftet mit ihrem Stich den Gestochenen. Bei ihr, die sich der Zeugung versagt, haben sich gewissermaßen die Zeugungssäfte in Gifte verwandelt, in Gifte verkehrt, und somit ist hier das Gift eher das kontradiktorische Gegenteil des Samens als mit ihm selbst. Die weibliche Schlupfwespe allerdings vergiftet und lähmt das Tier, in dessen Körper sie ihr Ei legt, aber auch hier ist es keineswegs das Ei selbst, das die Lähmung hervorruft. Richtig ist nur soviel, daß Zeugungssäfte und Stachelgift zueinander in einer geheimnisvollen Beziehung stehen, vielleicht auch chemisch, und daß sich darin immerhin die Dialektik von Geburt und Tod zu erkennen gibt. Das allein genügt aber zur Rechtfertigung jener romantischen Spekulationen.
Ein gesunder Verbrecher ist ein um so kränkeres Glied am Leib der Gemeinschaft, je gesünder er ist, und ein kranker Heiliger ist ein um so gesünderer Bürger des Gottesreiches, je kränker er ist. "Denn Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn." / Phil. 1, 21 / Diese wenigen Sätze genügen eigentlich schon, um die prinzipielle Zweideutigkeit sowohl der Gesundheit wie auch der Krankheit ins rechte Licht zu stellen. Ernst Michel sagte einmal zu dem verstorbenen Psychotherapeuten Hans Trüb: "Einer kann eine geordnete Seele haben und doch krank sein. Es kommt darauf an, daß er mit diesem Verquerten etwas zu tun bekommt"12). Das heißt, daß er sich seiner tatsächlichen, hinter der oberflächlichen Gesundheit verborgenen Krankheit bewußt wird, daß er merkt, wie krank er bei aller seiner Gesundheit in Wahrheit ist. Aber ebenso kommt es natürlich im umgekehrten Fall darauf an, daß der nur im klinischen Sinn Kranke mit der Geordnetheit seiner Seele oder, so wäre vielleicht besser zu sagen: mit seiner Erlöstheit etwas zu tun bekommt.
Der Gegensatz von Gesundheit und Krankheit ist genau so wie der von Gut und Böse im ethischen Bereich ein dialektischer. Nach dem Gesetz aller Dialektik hat die Krankheit als bloße Antithese die Gesundheit immer auch etwas von dieser und die Gesundheit als These etwas von der Antithese an sich. Man könnte geradezu sagen: Die bloß dialektische Gesundheit &endash; und wir kennen ja keine andere &endash; ist die Krankheit in der Gestalt oder unter der Maske der Gesundheit, ähnlich wie die pharisäische Gerechtigkeit die Sünde unter der Maske der Tugend ist. Es gibt demnach auch eine gleichsam pharisäische Gesundheit, und vielleicht ist alles, was wir so nennen, mindestens auch von dieser Art. Wenn Jesus auf sich verweist als auf den Arzt, der zu den Kranken und nicht zu den Gesunden kommt, so soll damit offenbar eben dies ausgedrückt sein. Der "Gesunde" ist nur der Kranke, der nicht weiß, daß er krank ist. Der Kranke dagegen gleicht dem Zöllner oder der Dirne, die beide dem Himmelreich näher sind als die Pharisäer. Hier hätte man auch an die Verzweiflung zu denken, von der Kierkegaard in der "Krankheit zum Tode" redet, an die Verzweiflung nämlich, die um ihr Verzweifeltsein nicht weiß und darum die allerschlimmste ist. &endash; Das heißt natürlich noch keineswegs, daß die Krankheit vor der Gesundheit etwas voraus hätte. Das hat sie ebensowenig wie die Sünde des Zöllners vor der Gerechtigkeit des Pharisäers. Das gewisse Plus, von dem sich da mit Vorbehalt sprechen läßt, liegt nur darin, daß sich der Kranke wie der bewußte Sünder für den Arzt offen hält, während der Gesunde wie der Pharisäer ihn nicht zu brauchen meint.
Unter keinen Umständen wird anzunehmen sein, daß der vollkommenste, d. h. der menschlichste Mensch in unserer Welt auch der biologisch gesündeste sein müßte. Vielleicht gilt gerade das Gegenteil, vielleicht wird also z. B. der Dulder Hiob so schwer krank, nicht obgleich, sondern weil er so gerecht ist wie kein anderer in seiner Umgebung. Im status perfectionis des Himmelreiches müssen Vollkommenheit und Gesundheit gewiß zusammenfallen, aber wir leben nicht im status perfectionis, sondern im status corruptionis, in der gefallenen, gottfernen und verkehrten Welt, und da wäre es schon denkbar, daß gerade der Mensch, der "zu gut ist für diese Welt" das Stigma dieses Zu-gut Seins in der Gestalt von Gebrechen an seiner Seele und an seinem Leib tragen muß. Auch seine Krankheit bleibt freilich eine Folge der Sünde und auch sein Tod "der Sünde Sold", aber doch nicht seiner individuellen Sünde, sondern der allgemeinen, die an ihm, dem wahren Menschen in der Wirklichkeit der zeitlichen Existenz besonders kraß zum Vorschein kommt als Leiden unter dem Gesetz dieser Welt. Der Teufel plagt die Guten und nicht die Bösen, die ihm ohnehin zur Beute fallen. Ecce homo! dieses Wort des Pontius Pilatus bezieht sich äußerlich auf die zerschlagene und mit Dornen gekrönte Jammergestalt des Schmerzensmannes, innerlich aber, dem Sprecher unbewußt, auf den dahinter verborgenen Menschensohn in seiner Gottebenbildlichkeit. Es gibt freilich Krankheiten, die ein solcher Mensch niemals wird haben können, wie etwa Psychosen oder Neurosen. Seine Krankheiten werden immer nur organischer Natur sein bis hin zur Verwundung durch äußere Gewalt. Und auch da wird es noch tiefgreifende Unterschiede geben zwischen dem geheiligten Menschen und dem Mensch gewordenen heiligen Gott, Unterschiede, über die wir an geeigneter Stelle noch einiges zu sagen haben werden.
Was sich uns als Gesundheit, vor allem als robuste Gesundheit darstellt, ist oft nur der Ausdruck einer gewissen Primitivität und insofern die Gesundheit des in seiner Menschlichkeit Reduzierten, nämlich die Angemessenheit an ein herabgesetztes Lebenstelos. Wer sich aber mit einem solcherweise verkümmerten Daseinssinn nicht begnügt, sondern sich auf die letzten menschlichen Möglichkeiten entwirft, wird wahrscheinlich niemals sehr gesund, mindestens nicht von robuster Gesundheit sein, weil sein von Natur aus gebrochenes Dasein diesem Selbstentwurf unmöglich zu entsprechen vermag, woraus sich dann mit fast zwingender Notwendigkeit zu ergeben scheint, daß innerhalb der Grenzen des Empirischen gerade die höchste Gesundheit unvermeidlich die Form der Krankheit wird annehmen müssen. Mit derartigen Schlußfolgerungen wollen wir aber doch vorsichtig sein. Es wäre ja möglich, daß unter Umständen, wenn auch vielleicht nur ganz selten, ein Kranker, der in der Ausrichtung auf sein wahres Telos, in Erfüllung seines höchsten Sinnes, seiner ihm bestimmten Gottebenbildlichkeit inwendig die Schranken seiner endlichen Existenz durchbricht, seine Krankheit, obwohl sie anatomisch unheilbar bleibt, einfach trägt, so als ob sie gar nicht vorhanden wäre, daß er z. B. mit einem schweren Herzfehler herumläuft wie ein Gesunder, obwohl der Herzfehler zweifellos da ist, und obwohl der Kranke nach allen Regeln der medizinischen Wissenschaft eigentlich schon längst tot sein müßte. Der behandelnde Internist seht dann vor einem, von seinen Voraussetzungen her völlig unbegreiflichen Wunder. Der Patient ist als objektiv faßbares Wesen krank und trotzdem gesünder als der nach medizinischen Begriffen Gesündeste. Man könnte sagen, daß ein solcher Mensch sich gleichsam unter der Decke und Hülle seines faktisch kranken Leibes einen neuen gesunden aufbaut, der zum Vorschein kommen wird, wenn der alte abfällt, sowie nach der Weissagung am Jüngsten Tag der neue Himmel und die neue Erde zum Vorschein kommen, wenn das Alte vergeht. Er gehört dann zu jenen, von denen Paulus sagt, daß sie verwandelt werden ohne zu entschlafen. / 1. Kor. 15, 51 /
Das schon einmal erwähnte 62. Fragment des Heraklit: "Unsterbliche sterblich, Sterbliche unsterblich, lebend den Tod jener, aber das Leben jener sterbend", gilt nicht bedingungslos. Wir leben nicht nur den Tod der Anderen und sterben nicht nur ihr Leben; wir leben auch ihr Leben und sterben ihren Tod. Wir sind nicht nur an ihrem Nicht-Sein, sondern doch auch an ihrem Sein interessiert. Sie fördern uns auch durch ihre Existenz und schädigen uns durch ihren Untergang. Wir leben nicht nur auf ihre Kosten und sie auf unsere. Es verhält sich auch umgekehrt: Wir nehmen lebend teil an ihrem Leben und sterbend an ihrem Sterben. Wie wäre es sonst denkbar, daß wir über den Tod und über das Unglück eines Nebenmenschen trauern und uns an seinem Glück freuen können. So zweideutig ist eben unsere Welt. Wenn wir auch gewiß als Sterbende leben, so leben wir doch immerhin, und das Leben als solches verliert niemals seinen positiven Charakter, es bleibt ein Ja zu allen Lebendigen. Wir sind zwar gefallene Geschöpfe Gottes, aber trotzdem Geschöpfe Gottes. Darum gilt auch von der Gesundheit und der Krankheit: Unsere Gesundheit ist nicht nur die Krankheit der Anderen und unsere Krankheit nicht nur ihre Gesundheit, sondern unsere Gesundheit ist auch ihre Gesundheit und unsere Krankheit ihre Krankheit.
An der Krankheit jedes Einzelnen kranken alle Übrigen auch, und an der Gesundheit jedes Einzelnen sind auch sie mit ihrer Gesundheit beteiligt. Aber eben doch nur auch. Daß die Umkehrung gleichfalls zutrifft, immer unablösbar mit dabei ist, daß ich also an der Gesundheit meines Nebenmenschen kranke und an seiner Krankheit gesunde, diese nicht wegzuleugnende düstere Tatsache überschattet alles Existieren in der Gemeinschaft. Das Dasein des Menschen erschöpft sich niemals in seiner Einzelexistenz. Meine eigene leibliche und seelische Individualität mag noch so einwandfrei funktionieren, solange es in meiner Welt Kranke gibt, bin ich nicht wirklich gesund, und solange es Sterbende gibt, bin ich nicht wirklich lebendig. Meine Gesundheit ist schuld an der Krankheit der Kranken und insofern selber krank. Die Gesundheit des Carcinoms ist die Krankheit des Krebsleidenden, der Reichtum des Reichen ist die Armut des Armen. An meinem Leiden so und so viele Andere mit, aber so und so viele Andere profitieren auch davon. Beides ist immer zugleich da. Diese fatale Dialektik erweist sich als Krankheitssymptom an einem Organismus höherer Ordnung, aus dem ja auch der scheinbar Gesunde lebt. Wir haben es da mit einer sehr einfachen und sehr banalen Wirklichkeit zu tun, die aber ihrer Banalität zum Trotz gewöhnlich übersehen wird.
Alle nur innerweltliche Gesundheit bleibt eine reduzierte Gesundheit, genau so wie ale nur innerweltliche Wahrheit &endash; vor allem die Wahrheit der Wissenschaft &endash; eine reduzierte Wahrheit; und reduzierte Wahrheit heißt auch schon Unwahrheit, reduzierte Gesundheit also Krankheit. Die reduzierte Wahrheit par excellence ist die mathematische, die formal logische, die rein rationale, die anorganische; denn als die Wahrheit der bloßen Tautologie kommt sie niemals hinaus über den Satz der Identität A ist A, immer nur wieder ihn kann sie in tausendfältigen Formen abwandeln. In Analogie zu ihr könnte man auch die reduzierte Gesundheit eine tautologische Gesundheit nennen. Man sagt manchmal von einem Menschen, er sei gesund wie ein Stein, das meint, er ist gesund im Sinn der anorganischen Natur, die an sich kein Telos und keinen Sinn hat, er ist so gesund wie der Satz 2 mal 2 ist 4 wahr ist. Es wäre vielleicht denkbar, daß es der medizinischen Wissenschaft gelänge, den Menschen unsterblich zu machen / ein alter Witzbold hat mir einmal gesagt: "Wenn man heute einen halbwegs guten Arzt hat, kann man beim besten Willen nicht mehr sterben." /, aber das wäre dann doch nicht menschliche Unsterblichkeit, sondern nur etwa die der Amöbe, und ein Mensch, der sich der Unsterblichkeit und also der Gesundheit der Amöbe erfreut, ist seiner völligen Sinnlosigkeit wegen krank: ein gesunder Teufel, den auch die Flammen der Hölle nicht mehr verbrennen können.
Gesundheit kann zweierlei bedeuten: erstens Gerichtetheit auf den Sinn und zweitens Nicht-Gerichtetheit auf den Unsinn. Dazu kommt aber noch eine dritte Möglichkeit, nämlich "Normalität", d. h. Angemessenheit an irgendeine Sinnrichtung des Seins, gleichgültig ob es sich dabei um den wahren Sinn oder um einen falschen handelt. Im zweiten Fall könnte sich eine Störung gerade daraus ergeben, daß sich etwas am Menschen dem falschen Sinn widersetzt und nach dem wahren tendiert, unter Umständen die angebliche Gesundheit tatsächlich Krankheit und die scheinbare Krankheit tatsächlich Gesundheit wäre. Nehmen wir einmal an, ein Mensch wäre so wie Maugli, der Held in Rudyard Kiplings Dschungelbuch, unter Wölfen und anderen wilden Tieren des Urwalds aufgewachsen, fern jeder Kultur und jeder menschlichen Gesellschaft, und sehen wir ab von allen phantastischen Beschönigungen und Idealisierungen eines solchen Lebens durch den Dichter, so bleibt ein Wesen, daß äußerlich zwar die Gestalt eines Menschen trägt, aber sonst den Tieren gleichgeworden ist, sich wie sie den Bedingungen der Umwelt angepaßt und eine Richtung eingeschlagen hat, die ganz sicher nicht der des Menschen entspricht. Die plötzliche Herauslösung aus der angenommenen sinnwidrigen Lebensweise und die Eingliederung in die menschliche Gemeinschaft hätten dann wahrscheinlich schwere Erkrankungen und vielleicht sogar den Tod des "Angepaßten" zur Folge; denn seine Sinnwidrigkeit und das heißt seine konstitutionelle Krankheit wäre ja nun sein Normalzustand geworden. Er hat sich an das Gift der tierischen Existenz gewöhnt, weshalb ihm nun die Nahrung des wahren Menschen zum Gift werden muß. Man hat oft bemerkt, daß Naturvölker, nachdem sie mit Weißen in Berührung gekommen und unter den Einfluß der europäischen Zivilisation geraten waren, degenerierten und schließlich sogar ausstarben. Solche Erscheinungen dürfen nicht nur sentimental beurteilt werden, so als ob die bösen Weißen die armen Farbigen der Unschuld ihrer ursprünglichen Lebensweise entrissen hätten. Diese "Unschuld" ist nämlich von höchst fragwürdiger Art: die Unschuld dessen, der sich seines Schuldbewußtseins, seiner Sinnhaftigkeit und damit seiner Menschlichkeit entledigt hat. Das bedeutet noch keine Rechtfertigung für die "Weißen". Ihre Schuld steht auf einem anderen Blatt. Aber die angebliche Kindlichkeit der sogenannten Wilden zeigt von hier aus doch ein morbides Gesicht.
Wir reden von reduzierter Gesundheit, noch besser vielleicht von Gesundheit als einem Zustand reduzierter Menschlichkeit, der gegenüber die Krankheit doch wenigstens den Vorzug hat, daß sie eine vorhandene Unstimmigkeit schonungslos demaskiert, daß sie nicht lügt. Die Einsicht in diesen Sachverhalt kann freilich sehr leicht zu vorschnellen Fehlurteilen verführen. So meint etwa Müller-Eckhard: "Indem dem Menschen der Zugang zum Asyl der Krankheit verlegt wird stürzt man ihn in eine Verdammnis ohnegleichen &endash;: die leidfreie Heillosigkeit"13). Was daran tief und wahr ist, soll unangetastet bleiben, aber gegen den Ausdruck "Asyl der Krankheit" wird man sich wehren müssen; denn nicht als Asyl, sondern lediglich als die zu durchschreitende Fegefeuerflamme der Erkenntnis, daß ich eben so und nicht anders bin, hat die Krankheit ihren bedingten Wert. Der Mensch kann den von ihm geforderten Übergang ganz ohne Krankheit und zuletzt ohne Tod nicht vollziehen, und so bedeutet allerdings die Verlegung des Weges zur Krankheit und durch die Krankheit hindurch auch die Verlegung des Übergangs zu seiner eigentlichen Bestimmung. Der scheinbar Geheilte, der auf einen Gesundheitszustand niederen Grades Reduzierte wird in einem Dasein festgehalten, das nicht das spezifisch menschliche ist. Er mag dann frei sein von allen Leiden, von allen fühlbaren körperlichen Schmerzen, aber das Entscheidende, der Sinn ist ihm genommen. Er ist dann leidfrei unselig oder heillos, in einer infernalischen Weise "gesund". Der Pharisäer muß selbst erst zum Zöllner werden, bevor auch er gerechtfertigt nach Hause gehen kann, aber er darf nicht Zöllner bleiben wollen, das Zöllnertum nicht als Asyl betrachten; denn sonst wäre er erst recht verdammt. Das Wort von der felix culpa ist, obwohl es von einem der größten Christen stammt, gefährlich und verführerisch, weil allzuleicht mißdeutbar, und dasselbe gilt eben auch vom felix morbus. Ohne Sündenbekenntnis keine Erlösung, ohne Krankheitserkenntnis keine Heilung, aber Erlösung von der Sünde und Heilung von der Krankheit. Wie es eine Gesundheit gibt, eine vielleicht strotzende leibliche Gesundheit, hinter der sich die wahre Krankheit der Existenz versteckt, so mag es auch Krankheiten geben, durch die sich der Kranke den Ausblick auf seine wahre und eigentliche, viel tiefere Krankheit verstellt. Das wäre dann die Krankheit als Asyl. Der Kranke beruhigt sich damit, so krank zu sein, wie es seine Symptome erkennen lassen, er redet sich ein, in dieser seiner offenkundigen Krankheit den Konflikt auszutragen, der seine Existenz problematisch macht, gleichsam mit dem Leiden, das sie ihm bereitet, seine Schuld restlos zu sühnen, ähnlich wie ein Büßer, ein Geißler, der mit den selbstbereiteten körperlichen Schmerzen und Entbehrungen seine Sünden abtragen zu können meint. Er erliegt der Versuchung, sich in dem engen Bereichs seines Krankseins abzukapseln und sich blind zu machen gerade für die Probleme, die es in Wahrheit zu lösen gilt. Ähnlich handelt auch der, der sich in seine berufliche Arbeit verbeißt, sich in ihr abschindet, nur um die Aufgaben nicht sehen zu müssen, die sich so leicht und einfach jedenfalls nicht bewältigen lassen. Es ist wieder der Pharisäer, der im "Halten der Gebote", in einer ihm immerhin möglichen Höchstleistung sein Heil sucht, weil er der vergebenden Gnade den Glauben versagt.
Wir haben früher von der bloß rationalen Wahrheit gesprochen, die eine auf den tautologischen Satz von der Identität reduzierte Wahrheit und also eine Kümmerwahrheit ist, die sich damit begnügt, nicht falsch zu sein und das lediglich Nicht-Falsche für das Wahre ausgibt. Tatsächlich aber bedeutet wahr viel mehr als nur nicht falsch. Das nur Nicht-Falsche hat von der wahren Wahrheit noch gar keine Ahnung; denn es gehört ganz und gar dem Bereich des Seins, der Objektivität, der Notwendigkeit an, wogegen die Wahrheit mit Sinn, mit Freiheit, mit Entscheidung zusammenhängt. Erst ein sinnvolles Sein kann wahr sein, und der Sinn läßt sich von der ratio niemals fassen, weil er lebt. Genau das gleiche wäre auch von der reduzierten Gesundheit in ihrem Verhältnis zur echten zu sagen. Auch sie bleibt eine Angelegenheit des Seins. Ihr fehlt der Sinn, der den gesunden Menschen zu einem gesunden Menschen macht.
Wenn Jesus, nachdem man ihm von der Erkrankung des Lazarus berichtet hat, antwortet: "Diese Krankheit ist nicht zum Tode", so will er damit keineswegs sagen, daß Lazarus nicht sterben wird &endash; denn er stirbt ja dann auch tatsächlich &endash;, sondern daß Krankheit und Tod Wege zur Auferstehung und also zum Leben werden sollen. Er hätte darum ebensogut sagen können: Dieser Tod ist nicht zum Tode. Aber so etwas wird allerdings nur durch die Kraft dessen möglich, der sich selber die Auferstehung und das Leben nennen darf und nicht an sich, so als ob Krankheit und Tod schon ihrer eigenen Natur nach Durchgänge zum Leben wären. Gerade einer solchen möglichen Mißdeutung tritt Jesus entgegen, wenn er auf die Worte der Martha: "Ich weiß, er wird auferstehen bei der Auferstehung am jüngsten Tag" mit dem Hinweis auf seine Person antwortet. Nur durch ihn und in ihm wird der Tod etwas, das er sonst niemals sein könnte. "Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe." Er, Jesus ist der Keim der Vollendung, das verborgene Ebenbild Gottes. Ihm allein kann auch der Tod den Weg zum Vater nicht abschneiden. Er zwingt Krankheit und Tod zurück in ihre reinen Urbilder, deren Zerrbilder sie sind, in den Schritt aus der Endlichkeit in die Ewigkeit, aus dem Paradies des siebenten Schöpfungstages in das Reich Gottes. Lazarus, der erkrankte und gestorbene und wiederauferstandene ist der Mensch unter der Gnade des Christus. Martha und Maria sind das Israel nach dem Fleisch und das Israel nach dem Geist, die alte und die neue Gemeinde, die "Gerechte" aus eigenem Verdienst, die reduzierte Gesunde und die kranke, aber bekehrte Dirne. Auch Martha ist nicht gerade verstockt, aber sie hat es schwerer als Maria, sich von ihren an die innerweltlichen Kategorien gebundenen Vorstellungen frei zu machen. Darum läuft sie eigenmächtig und ungerufen dem Meister entgegen und darum warnt sie vor dem Verwesungsgeruch des toten Bruders.
Wenn die Definition der Krankheit als Deformierung des Organismus auch zweifellos richtig ist, so bleibt doch noch die Frage, welche Form hier deformiert wird. Handelt es sich um die Form, die dem Sinn und Wesen des Menschen voll entspricht oder vielleicht um eine ganz andere, die von ihr bereits abweicht und damit selbst eine Deformierung ist? Wenn ja, dann wird die Krankheit als Mittel zur Wiederherstellung der eigentlichen Form unvermeidlich und dann ist sie insofern nicht Krankheit zum Tod, sondern zum Leben, dann deformiert sie das Deformierte oder kann das doch wenigstens tun. "Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leib dieses Todes." / Röm. 7, 24. / Im Sinn der grundsätzlichen Leibfeindschaft griechischer Philosophie dürfen diese Worte natürlich nicht verstanden werden. Es geht nicht um eine leibfreie Existenz, sondern um den recht geformten Leib, der nur über den Tod des deformierten zu erlangen ist. Aber, wie gesagt, Krankheit und Tod sind keineswegs an sich auch schon Wege zur Wiederherstellung der Form. An sich sind sie vielmehr nur die höchste Potenz der Deformierung. Wenn jedoch die Form neu geschaffen, dann allerdings kann sich diese Neuschöpfung auch nur durch sie hindurch vollziehen, dann wird das Negative durch ein Wunder zum Positiven.
Das hat man sich immer gegenwärtig zu halten, sobald man sich versucht fühlt, die Krankheit optimistisch zu beurteilen. Demgemäß werden z. B. die folgenden rhetorischen Fragen sehr behutsam und argwöhnisch aufzunehmen sein: "Ist das Verhältnis von Gesundheit zu Krankheit nur das von verstandesgemäß zu erstrebendem Sein zu erschreckendem, mit Todesahnungen erfülltem Anderssein? Ist es nicht auch das Verhältnis von Undurchsichtigkeit zu Durchsichtigkeit, resp. das Verhältnis von Gleichgültigkeit, Ignoranz und Unwissenheit zu einer Erweckungs- und Entdeckungsmöglichkeit innerer, uns bis dahin unbekannter Kräfte?"14) Dazu wäre vor allem zu sagen, daß alles, was hier eventuell für die Krankheit zutrifft, genau so vom Tod gilt. Darf ich der Krankheit überhaupt ein positives Moment zubilligen, dann muß ich dieses auch dem Sterben zugestehen. Unter dem Gesichtspunkt eines möglicherweise sich hinter der sichtbaren Lebensstörung verbergenden Genesungsprozesses lassen sich konsequenterweise immer nur beide zugleich beurteilen. Daß die Krankheit auch nicht tödlich ausgehen, sondern geheilt werden und vielleicht sogar eine Art Regeneration zur Folge haben kann, das bedeutet durchaus noch keinen Vorzug gegenüber dem Tod; denn erspart bleibt der Tod auch dem hundertmal Erkrankten und hundertmal Wiedergenesenen nicht. Die Krankheit, nach der man gesund wird, ist doch immer nur ein Vorspiel der letzten Krankheit, an der man unausweichlich stirbt. Und genau ebenso ist dann auch die Genesung, sofern sie nicht als ein bloßes Trotzdem, sondern als eine Frucht der Krankheit selbst verstanden wird, nur ein Vorspiel der letzten Genesung, die sich als "Gewinn des Sterbens" an den Tod knüpft. Von der Undurchsichtigkeit zur Durchsichtigkeit und von der Unwissenheit zur Erweckung führen weder Krankheit und Tod oder führt weder dieser noch jene. Und wenn ich einmal als ein im zeitlichen Leben Genesender oder vielleicht auch nicht Genesender so etwas wie den "Segen der Krankheit" erfahre, dann bin ich damit auch schon über den Tod hinaus. Die Möglichkeit einer solchen Erfahrung und Todesüberwindung gehört aber keineswegs zum Wesen der Krankheit und des Todes. Es ist nicht wahr, daß das "Scheitern in der Grenzsituation" auch bereits zusammenfällt mit dem Transzendieren der endlichen Existenz, wie das nach der Philosophie von Karl Jaspers zu sein scheint. Es ist vielmehr so, daß jenes bloße Scheitern völlig hoffnungslos und aussichtslos bleibt und immer nur die Verzweiflung im Gefolge haben kann, solange sich nicht von der Transzendenz her etwas ereignet, das sich der Verfügungsgewalt, auch der philosophisch-theoretischen Verfügungsgewalt des Scheiternden und ihrer Dialektik völlig entzieht und an die Stelle des negativen ein positives Vorzeichen setzt.
Immerhin wird man nicht bestreiten können, daß, ganz abgesehen von Erfahrungen der eben erwähnten Art, die ja mehr den inneren Menschen als seine physische Existenz betreffen, doch auch die einzelne Krankheit als solche sehr oft, vor allem bei jüngeren Menschen, nach ihrem Überstehen günstige Folge zeitigt. Ich zitiere zu diesem Thema wieder einmal Carus: "Wie oft sehen wir, daß nach einer regelmäßig verlaufenen, wenn auch sehr heftigen, fieberhaften Krankheit der Mensch gleichsam verjüngt und neu gekräftigt erscheint, daß kleinere oder auch größere Abnormitäten, mit denen sein Organismus vielleicht lange schon beschwert war, nach einem solchen Sturme sich vollständig verlieren, so daß man in Wahrheit sagen kann: die Krankheit habe die Gesundheit erhöht"15). Anschließend erinnert Carus an das evangelische Wort von dem Sünder, über dessen Bekehrung im Himmel mehr Freude ist als über neunundneunzig Gerechte. Wie die Sünde, so ist auch die Krankheit eine Bewegung hinaus über die Grenze der ursprünglichen Gegebenheit, und zwar zunächst ein Bewegung ins negativ Transzendente, aber als solche doch auch verkehrtes Gleichnis für die andere aus der Vorläufigkeit in die Vollkommenheit. Adam verliert durch die Sünde das Paradies, d. h. er transzendiert in die Welt des Todes, welches Transzendieren negatives oder verkehrtes Gleichnis ist für den Eingang in das Reich Gottes, der dem Genuß der rechten Frucht gefolgt wäre. Da wir nun, solange wir überhaupt leben und noch nicht tot sind, als Geschöpfe Gottes immer auch noch am guten Wesen der Schöpfung partizipieren, liegt auch noch über den negativen Seiten der Existenz ein Schimmer ihrer positiven Urbilder, wird also auch am Unsinn der Krankheit etwas vom Sinn des Aufstiegs und Übergangs ahnbar. Insofern ist dann die Genesung des Kranke ebenso wie die Bekehrung des Sünders Rückverkehrung des Verkehrten zu seinem eigentlichen Sinn. In der echten Genesung und in der echten Bekehrung hat man demgemäß nicht so sehr die Überwindung oder Niederringung der Krankheit bzw. der Sünde als vielmehr die Aufhellung und Offenbarwerdung ihrer verborgenen und entstellten Wahrheit zu sehen. Der so Genesene oder Bekehrte hat nicht Krankheit oder Sünde als zeitliche Vergangenheit hinter sich gelassen, sondern das Kranksein und Sündigsein selbst in Heilung und Heiligung verklärt.
Die Krankheit hat zwei Seiten, je nachdem ob sie als ein Prozeß in der diskontinuierlichen oder in der kontinuierlichen Zeit erfahren wird. Der lebenskräftigere Organismus, der Krankheiten, an denen der lebensschwächere stirbt, übersteht, ist der in sich relativ kontinuierliche. Mit dem zunehmenden Alter nimmt aber freilich die Kontinuität ab, weshalb die Krankheiten auch immer gefährlicher werden, d. h. immer mehr ihre negative Seite, ihren Verkehrtheitscharakter hervorkehren. Nur ein Beispiel: Eine Entzündung entsteht aus dem Kampf des Organismus gegen irgendwelche eingedrungene Schädlinge. Aber nicht die Zellen selbst sind es, die den Kampf aufnehmen und ausfechten, sondern es bilden sich aus Zellen, die zu diesem Zweck geopfert werden, also endogen, neue Körperchen, gewissermaßen "Soldaten", die das Geschäft des Krieges übernehmen. Kann der Organismus die geopferten Zellen regenerieren, so wird er gesund, kann er es nicht, so geht er an der Entzündung zugrunde. Der eventuelle Sieg seiner eigenen Soldaten, jener Neubildungen also, wird ihm zum Pyrrhussieg. Regenerationsfähigkeit ist ein Ausdruck für die ursprüngliche Sinnhaftigkeit, aus der heraus das lebendige Wesen die Kraft schöpft, sich auf sein eigenes Telos zuzubewegen, in der das Jetzt mit dem Dann zusammenhängt. Wo die Regenerationsfähigkeit fehlt, dort ist der Sinn und mit ihm dieser Zusammenhang verloren, dort wird der Schritt über das Jetzt hinaus zum Sturz in das Nichts.
Die vorschnelle einseitige Auffassung, daß Krankheit nicht als Störung der Organfunktion, sondern umgekehrt als Behebung einer Störung zu werten sei, vertritt etwa Schopenhauer, wenn er sagt: "Mir hat die Ansicht gar sehr eingeleuchtet, daß die akuten Krankheiten, von einigen Ausnahmen abgesehen, nichts anderes sind als Heilungsprozesse, welche die Natur selbst einleitet, zur Abstellung irgendeiner im Organismus eingerissenen Unordnung; zu welchem Zweck nun die vis naturae medicatrix, mit diktatorischer Gewalt bekleidet, außerordentliche Maßnahmen ergreift, und diese machen die fühlbare Krankheit aus"16). Diese Beurteilung ist freilich durch die Worte "von einigen Ausnahmen abgesehen" und "fühlbare Krankheit" schon sehr erheblich eingeschränkt. Wir werden jedenfalls die Frage weder so noch so eindeutig beantworten dürfen; denn die Krankheit ist weder nur Störung noch auch nur Behebung der Störung, sondern das paradoxe Ineinander beider, wobei entweder diese oder jene zum Durchbruch kommt. Alle Krankheiten, von den gröbsten äußeren Verletzungen des Körpers bis zu den subtilsten inneren Organerkrankungen, sind, wie wir schon angeführt haben, bedingt durch eine Disharmonie zwischen dem Organismus und seiner Umwelt, zwischen seinen eigenen und den äußeren Gesetzen. Der Mensch erkrankt, wenn irgendeine Seite oder Schicht seiner mikrokosmischen Ganzheit aus ihrem Zusammenhang gerissen zu werden droht dadurch, daß sie in das Wirkungsfeld makrokosmischer Zusammenhänge gerät, etwa des anorganischen oder des bloß vegetativen Prozesses. Da zwischen dem Menschen und dem Makrokosmos Feindschaft besteht, da jener sich dem Makrokosmos entfremdet und gegen ihn isoliert hat, gefährdet die Berührung mit ihm seine Existenz. Als Mikrokosmos wehrt er sich gegen die makrokosmischen Einflüsse, und der daraus entstehende Kampf stellt sich als Krankheit dar. Welcher von den beiden Gegnern als der eigentliche "Feind" zu gelten hat, läßt sich keineswegs eindeutig entscheiden; denn dem Leben feindlich ist sowohl der Mikrokosmos, der sich gegen alles andere absetzt wie auch der Makrokosmos, der jenen bedroht. Siegt in diesem Kampf der mikrokosmische Organismus, dann doch nur um den Preis einer weiteren Entfremdung der Gegner. Siegt aber der Makrokosmos, dann bedeutet das den Untergang des Lebendige, das sich allein im Mikrokosmos manifestiert. In beiden Fällen wirkt also die Krankheit Zerstörung, aber ebenso wirkt sie von der anderen Seite her gesehen auch Heilung, freilich nicht, sofern es da einen Kampf, einen Sieg und eine Niederlage gibt, sondern nur, sofern sich unter der Decke des turbulenten pathologischen Geschehens in aller Heimlichkeit eine Art Versöhnung der Gegner vollzieht, und zwar Heilung sowohl des mikrokosmischen wie auch des makrokosmischen Poles. Die Heilung hat nämlich ihre Aktualität in der Thesis und Antithesis transzendierenden Synthesis. In ihr gibt es nur Versöhnung, wie umgekehrt auf der anderen Ebene nur Sieg oder Niederlage. Synthetisch beurteilt ist jede Krankheit Heilung, antithetisch beurteilt ist jede Zerstörung. Es kommt also alles bloß darauf an, wo jeweils das erkrankte Selbst seinen eigenen Schwerpunkt entdeckt.
Im Tao-te-king des Lao-tse gibt es einen Spruch, der ungefähr so lautet: "Aus Ton macht man Töpfe, aber das Leere in ihnen macht das Wesen des Topfes aus." Also nicht die Wand hier und die Wand dort, sondern das, was zwischen den Wänden ist: der Hohlraum, den die Wände nur begrenzen, dem sie nur dienen, gibt dem Gefäß seinen Sinn. Das Gleiche gilt auch vom selbstbewußten Menschen. Er ist Subjekt und Objekt seiner selbst. Die Subjektivität und die Objektivität sind seine Wände, aber das Selbst, das den Sinn trägt, liegt zwischen ihnen in der Mitte, im Ungreifbaren. Seiner Ungreifbarkeit wegen kommt man in Versuchung, es für ein Nichts, für ein néant, für ein "Loch des Seins" / Sartre / zu halten, während es doch in Wahrheit das Eigentliche ist, ohne das weder die eine noch die andere Wand sinnvoll wäre. Vergessen die Wände oder richtiger, vergißt die subjektive Wand darauf &endash; denn nur sie als der Ort des Bewußtseins, als Ort der "Einheit der Apperzeption" / Kant / kann überhaupt vergessen &endash;, weil sie sich selbst an die Stelle des Zentrum gesetzt wähnt, dann verliert das Selbst sich selbst, dann zerbricht der Zusammenhang, die beiden Pole entgleiten dem Leben, sie erkranken und sterben. Dabei ist der subjektive Pol, d. h. im Gegenüber von Seele und Leib die Seele und im Gegenüber von Hirn und Abdomen das Hirn, der aktive, der objektive, also der Leib oder das Abdomen, der passive. Im kranken Ganzen erregt jener das Leiden und leidet dieser, trägt jener die Schuld und dieser die Folgen der Schuld. Schuld und Leiden treten somit wohl an dem gleichen Wesen auf, aber das doch so, daß jeweils die eine seiner Seiten schuldig wird, d. h. Leiden zufügt, während die andere Leiden erduldet. Wenn ich auch durch eigene Schuld leide, was, wie wir noch sehen werden, durchaus nicht immer der Fall sein muß, so ist trotzdem mein Schwerpunkt als Schuldiger und Leidender jedesmal ein anderer. Mit diesen wenigen Worten ist das Grundlegende über das Verhältnis von Schuld und Leiden bereits gesagt. Der Schwund des leeren Hohlraumes zwischen den Wänden wirkt sich hier in Form der Schuld und dort in Form des Leidens aus.
Den gleichen Gedanken, wenn auch mit etwas anderen Worten, drückt Carus aus, wenn er behauptet, daß weder das Unbewußte, worunter er den Leib versteht, noch auch das Bewußte, das Seelische an sich für Krankheiten anfällig sei. Die Krankheit wird vielmehr erst auf Grund des Zusammen von Bewußtsein und Unbewußtsein, von Seele und Leib, von Subjektivität und Objektivität in ein und demselben Organismus möglich, und das zwar so, daß offenbar das Bewußtsein das die Krankheit Bedingende und das Unbewußte das die Krankheit Erleidende, das wahrnehmbar Erkrankte ist. Das heißt freilich nicht, daß am erkrankten Organismus tatsächlich nur die leiblichen Organe krank sind, während die Seele gesund bleibt, sondern nur, daß die das Ganze betreffende Krankheit vor allem körperlich in Erscheinung tritt. "Wo daher in uns nur immer eine scheinbar noch so lokale Krankheit sich entwickelt, nie ist allein dieses oder jenes Gebilde krank, sondern der ganze Mensch ist krank und nur an diesem oder jenem Teil besonders leidend"17). Auch das die Krankheit erzeugende oder verschuldende Bewußtsein ist also zweifelhaft krank, obwohl es vielleicht und sogar sehr wahrscheinlich gar nichts davon merkt, ja gerade das ist seine Krankheit, daß es sich dem erkrankten Organ gegenüber für gesund hält.
Als Schuldiger, genau als schuldig Werdender bin ich frei, als Leidender bin ich unfrei. Darum kann mich auch nur als den Schuldigen und nicht als den Leidenden die Verantwortung treffen, gleichgültig, ob ich mein Leiden unmittelbar selbst verschuldet habe oder nicht. Schuldig bin ich also niemals als dieser kranke Leib oder auch als die kranke Seele, sofern ich unter Krankheit einen schmerzhaften Zustand verstehe, sondern nur als der, der diesen Leib oder diese Seele krank gemacht hat. Gewiß erstreckt sich die Krankheit im weiteren Sinn auch auf das verantwortliche Subjekt, nicht aber das Leiden an der Krankheit. In zugespitzter Form heißt das: Der Teufel leidet nicht, er ist nur unselig, und das bedeutet etwas ganz anderes. Ich erinnere an die schon einmal zitierten Worte von Hans Müller-Eckard: "Indem dem Menschen der Zugang zum Asyl der Krankheit verlegt wird, stürzt man ihn in eine Verdammnis ohnegleichen &endash;: die leidfreie Heillosigkeit." Der Satz offenbart erst in diesem Zusammenhang seine wahre Tiefe. Er besagt nämlich, daß das
Nicht-leiden-Können unter Umständen eine entsetzlichere Krankheit ist als der furchtbarste Schmerz. Weder die Seligen noch die Verdammten können leiden, aber jene freuen sich ihrer Leidlosigkeit, diese ersticken an ihr.
Auch an einem Menschen, der ganz eindeutig durch eigene individuelle Schuld erkrankt, etwa an einer venerischen Krankheit oder an den Folgen des Genusses von Rauschgiften, ist es der unschuldige und nicht der schuldige Teil, der da leidet, nämlich der mißbrauchte Leib. Die subjektive Seele wird schuldig, weil die Schuld aus der freien Entscheidung des Willens kommt, aber nicht sie, sondern der Leib leidet. Dem Leib wird das als Last auferlegt, was der bewußte Wille verbrochen hat, und indem der Leib leidet, sagt er Nein und nicht Ja zu der Schuld des Willens. Er ist das Opfer, so wie immer und überall das Objekt das Opfer des Subjektes ist. Nur darum konnten die Menschen einmal meinen, durch Tiersopfer ihre Sünden abtragen zu können. Die Tiere verhalten sich zum Menschen wie die Organe des Körpers zur Seele. Sie leiden unter den falschen Namen, die ihnen der Mensch gegeben hat. "Sintemal die Kreatur unterworfen ist der Eitelkeit ohne ihren Willen, sondern um des willen, der sie unterworfen hat." / Röm. 8, 20 /, d. h. um des Menschen willen. So ließe sich auch sagen, daß ein Süchtiger seine Organe zum Leiden bringt, indem er ihnen falsche Namen gibt. Das Opfertier ist also wesenhaft unschuldig. Aber auch dort, wo man Menschen als Schuldopfer schlachtete, wählte man mit Vorliebe die betont Unschuldigen, die "Reinen" aus und nicht die Schuldigen: Kinder, Jungfrauen usw. Je reiner, um so geeigneter als Opfer, d. h. um so geeigneter zum Leiden, weil das Leiden des Unschuldigen allein die Verbindung wiederherstellen kann, die durch die Schuld des Schuldigen abgebrochen wurde. Die Hinrichtung eines Verbrechers dagegen ist kein Opfer; höchstens vom Delinquenten selbst läßt sich die Tötung seines Leibes, seines unschuldigen Leibes in diesem Sinn verstehen. Die ihn töten aber wollen gerade nicht sein Unschuldiges, sondern sein Schuldiges treffen.
Wir haben soeben von solchen Leiden bzw. von solchen Krankheiten gesprochen, die sich der Leidende oder der Kranke selbst zufügt. Das körperliche oder auch das seelische Leiden eines Menschen muß aber, wie ja schon das Beispiel des Opfers zeigt, durchaus nicht mit seiner individuellen Schuld in Zusammenhang stehen. Die bekannten Worte des Propheten Jesaia: "Führwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unserer Missetaten willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen" / Jes. 53, 4f. /, diese Worte gelten nicht nur von dem einen "Gottesknecht" allein, sondern von vielen Leidenden, eigentlich von allen. Die Leidenden sind sozusagen kranke Glieder oder Organe am Leib der ganzen Menschheit, und das Zentrum der Schuld, durch die sie leiden, liegt genau so wenig in ihnen wie die Krankheit einer Niere auf der Sünde dieser Niere beruht. Zwar hängt Krankheit wie überhaupt Leiden immer mit Sünde und Schuld zusammen. Nur weil es diese gibt, gibt es auch jene. Außerdem entspricht wahrscheinlich jeder leiblichen Krankheit ein seelisches Leiden des Einzelnen, aber der Ursprung beider muß keineswegs bei den Kranken und Leidenden selbst zu suchen sein er kann ebensogut bei anderen liegen, mit denen er freilich in einem tieferen Sinn solidarisch ist. Sogar der leidende Christus ist in seinem "Sündenfleisch" mit dem ganzen sündigen Adamsgeschlecht solidarisch.
Im Zustand der Gespaltenheit von Seele und Leib unterliegt zunächst grundsätzlich die Seele der ethischen, der Leib der pathologischen Beurteilung. Die Seele fügt zu, dem Leib wird zugefügt, also ist vor allem einmal jene der schuldige, dieser der leidende Teil, wobei wir mit der Seele hier ausdrücklich die rein subjektive Funktion meinen und nicht das an ihr, was gleichfalls leiden kann. Die Krankheit stellt sich so gesehen jedenfalls dar nicht als Schuld, sondern als das Erleiden einer Schuld. Alle Menschen ohne Ausnahme leiden an der Ur-Schuld, die allerdings auch bedingt, daß jeder einzelne Mensch wieder schuldig werden muß, also der individuellen Schuld nicht entgehen kann. Er gerät als dieser Lebendige unausweichlich in Konflikte, die ihm gar keine andere Wahl lassen, als entweder so oder so schuldig zu werden, sich und anderen Leid zuzufügen. Dementsprechend gibt es auch eine Ur-Krankheit, nämlich die Sterblichkeit, die gewissermaßen dem Einzelnen keine andere Wahl läßt als entweder so oder so krank zu werden. Nur von hier aus gestattet überhaupt die individuelle Krankheit einen Rückschluß auf individuelle Schuld, besser auf die Möglichkeit einer individuellen Schuld. Als Einzelner kann der Einzelne für seine besondere Krankheit ebensowenig verantwortlich gemacht werden wie etwa der tragische Heros, der aus seiner Situation heraus mit schicksalhafter Notwendigkeit schuldig wird, für seine Schuld. Die Schuld hängt dann nicht an der Wahl, der vielleicht auch eine besondere Krankheit entspricht, sondern an der überindividuellen Entscheidung, die die fatale Wahlsituation bedingt.
Die ganze Menschheit hat ihren ihr ursprünglich in ihrer Gesamtheit vorgezeichneten Weg zur Vollendung, nämlich den dem Vater Adam einst angebotenen Weg zur Ebenbildlichkeit, zum Baum des Lebens, zum Gottesreich. Und ebenso hat auch die ganze Menschheit ihren gemeinsamen Weg des Abfalls, den Weg Adams zum Baum der Erkenntnis und hinaus aus dem Paradies in die Welt des Todes. Da aber der eine Adam in viele zerfallen ist, hat nun auch jeder dieser Vielen seinen besonderen Weg zu Vollendung, sofern sich ihm die Gnade öffnet, und seinen besonderen Weg des Abfalls, sofern sich ihm die Gnade verschließt oder er sie zurückweist. Er muß so oder so seine besonderen Entscheidungen fällen und seine besonderen, nur auf ihn allein zugeschnittenen Schritte tun, und das wieder heißt, er muß innerhalb seiner gefallenen Existenz in der Richtung sowohl auf den status perfectionis wie auch auf den status damnationis hin durch seine besonderen Krankheiten und durch seinen besonderen Tod hindurch. Aus der Abgefallenheit, dem status corruptionis heraus sind Krankheit und Tod die Durchgangspforten nach oben wie nach unten, weil sich ja unter den Kategorien der Welt auch die Auferstehung zum Leben im Zeichen des Kreuzes darstellt. So kann also unter Umständen die Krankheit oder das Leiden dieses einzelnen Menschen Symptom nicht nur nicht seiner Sünde, sondern sogar seiner Heiligkeit sein. Trifft das zu, dann leidet er nur an der allgemeinen Schuld, aber in gar keiner Weise an einer eigenen.
Krankheit und Tod des Menschen haben die Merkmale sowohl der Allgemeinheit wie auch der Besonderheit und Einmaligkeit an sich. An jeder Krankheit und an jedem Tod findet sich das eine wie das andere Moment. Ich werde krank und ich sterbe wie alle anderen und doch auch wieder ganz anders als jeder andere. Meine Pneumonie z. B. ist einerseits die Pneumonie überhaupt, ein Begriff, der in jedem Lexikon definiert wird, nicht nur meine Pneumonie, sondern ebenso die des X und des Y und trotzdem unverwechselbar meine Pneumonie wie sie so kein anderer jemals haben kann, und dieses rein individuelle Moment wird zum Ausdruck entweder meiner besonderen Schuld oder gerade umgekehrt meiner besonderen Unschuld, vielleicht meiner Heiligkeit.
"Warum geht es doch den Gottlosen so wohl, und die Verächter haben alles in Fülle?" / Jer. 12, 1 /. Die Klage über das Glück der Bösen und das Unglück der Guten, die Jeremia schon in der Spätzeit des Alten Testamentes anstimmt, klingt durch alle Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch bis in unsere Tage. Sie reicht aber nicht ebenso weit zurück; denn ursprünglich hält es der Mensch für selbstverständlich, daß es unverschuldete Leiden gar nicht gibt. Wer leidet, der ist von Gott geschlagen, und wer von Gott geschlagen ist, der muß das auch verdient haben. Gewiß nicht unbedingt durch persönliche Sünden, aber doch etwa durch die Schuld seines Geschlechts, für die er mitverantwortlich ist und bleibt. Der Tantalidenfluch, der Danaidenfluch, der Atridenfluch, das sind Dinge, die dem Menschen des frühen Altertums ganz selbstverständlich erscheinen. Und auch das AT macht da keine Ausnahme. Diese Problemlosigkeit des Verhältnisses von Schuld und Leiden beruht etwa im alten Israel darauf, daß der Leidende sich seiner tieferen Einheit mit den Vätern und zuletzt mit dem Urvater Adam immer bewußt bleibt. Er begreift sich a priori als den Mitleidenden und Mitschuldigen. Daß Gott die Sünde der Väter heimsucht an den Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied und trotzdem ein gerechter Gott ist, das beinhaltet hier keinen Widerspruch; denn der Einzelne ist noch so eng verbunden mit der Sippe, mit dem Volk, mit der Menschheit, daß er natürlicherweise teilhat an der Schuld und am Schicksal jedes anderen. Es ist demnach doch derselbe, der da sündigt und die Strafe für die Sünde trägt. Die Kinder als die leiblichen Erben ihrer Eltern und Großeltern gehören zu deren eigenem Leib, und immer am Leib rächt sich die Schuld der Seele. Genau so ist das Volk der Leib des Königs und darum auch anfällig für die Leiden, die sich aus der Sünde des Königs ergeben.
Erst ein späteres, relativ individualistisches Zeitalter konnte diese Zusammenhänge nicht mehr verstehen. Zunächst half man sich mit der dogmatischen Behauptung: Gott ist unter allen Umständen gerecht, an seiner Gerechtigkeit kann und darf nicht gezweifelt werden, auch wenn wir sie nicht erkennen und durchschauen, ja wenn sein Handeln vielleicht sogar allen unseren Begriffen von Gerechtigkeit schroff widerspricht. Er wird schon wissen, warum er den Unschuldigen leiden läßt, uns steht es nicht zu, darüber mit ihm zu rechten. Hier endet etwa die Weisheit des Buches Hiob. Daß das aber keine Antwort, sondern vielmehr der Verzicht auf jede Antwort ist, leuchtet ein. Darum wird der Mensch am Ende eben doch irre an der Gerechtigkeit Gottes, der den Ungerechten triumphieren und den Gerechten untergehen läßt. Aber der Individualismus rechtfertigt dieses Irrewerden keineswegs; denn gerade er selber als das Ergebnis einer Verengung der Subjektivität ist ja das Offenbarwerden der Urschuld. Indem er Einzelne seine Gesamtverantwortung nicht mehr erkennt und weil er sie nicht mehr erkennt, wird er erst recht zum Teilhaber der Schuld, und zwar in noch weit höherem Maße als der Sohn, der es für selbstverständlich hinnimmt, daß die Sünde des Vaters an ihm heimgesucht wird. Der Einzelne, der unschuldig zu leiden meint und darüber klagt, ist gerade deshalb nicht unschuldig. Obwohl es stimmt, daß nur der Unschuldige leidet, darf doch kein Leidender, wenigstens kein leidender Mensch von sich behaupten, der unschuldig leidende "Gottesknecht" zu sein. Täte er das, so würde er sich als der, der da klagt, als Subjekt der eigenen leidenden Objektivität gegenüber stellen und das heißt dorthin stellen, wo gar nicht gelitten wird, sondern Leiden zugefügt werden, wo man also schuldig wird. Darum ist jede Selbstbespiegelung im Leiden, jede Selbstbemitleidung tief verlogen. Ich leide niemals dort, von wo aus ich auf mein Leiden hinzeigen kann.
Unschuldig ist nur der Leidende, der sich ganz und gar auf die Seite seines Leidens und nicht ihm gegenüber stellt und das heißt auch schon, der nicht beschuldigt, der keinen Anderen, freilich auch nicht sich selber für sein Leiden verantwortlich macht. Das klingt zweifellos paradox; denn wie soll einer, der sich keiner eigenen Schuld bewußt ist, nicht notwendig auf den Gedanken verfallen müssen, die Schuld an seinem Leiden einem Anderen aufzubürden. Und doch ist es so. Wer nämlich völlig auf der Seite seines leidenden Ich steht und sich mit diesem bedingungslos identifiziert, ist nur noch dorthin ausgerichtet, wo ihn das Heil erwartet. Er kennt nichts anderes, ja sein Leiden ist nichts anderes als eben das sehnsüchtige Sich-Ausstrecken nach dem Heil. Da bleibt für die Frage nach der Schuld und für irgendeine Be-Schuldigung überhaupt kein Raum. Der Nur-noch-Leidende und
Nichts-als-Leidende ist leidend wieder in die Stromrichtung des Sinnes geraten, den der Schuldige verlassen hat. Darum werden in der Bergpredigt die Leidenden selig gepriesen, und darum wird uns dort gesagt, daß wir dem Übel nicht widerstreben, uns nicht gegen das Übel zu Wehr setzen, uns nicht ihm entgegenstellen sollen, so wie sich das Subjekt dem Objekt entgegenstellt. In solchem Nicht-Widerstreben löst sich die Schuld in Nichts auf, weil sie jeden Angriffspunkt verliert, und muß infolgedessen am Ende auch das Leiden aufhören.
Aber so kann allerdings kein Mensch leiden; denn niemand kommt durch eigenen Entschluß aus der reflexiven Haltung, in der er schuldig geworden ist und aus der alles Leiden entsteht, wieder heraus. So konnte nur der absolut Unschuldige leiden, der als Mensch mehr war als bloß ein Mensch, der auch in der Gestalt eines gefallenen Menschen die Sinnrichtung festhielt, so daß sich in ihm, gerade umgekehrt wie bei uns, auch noch der Unsinn des Kreuzes in den Sinn der Auferstehung verkehren mußte. Das NT gibt die Antwort auf alle Fragen, die im AT offen geblieben waren, auch und vor allem auf die Frage nach dem Leiden des Gerechten. "Der Gerechte muß viel leiden" / Ps. 34, 20 / heißt es da. Und wenn wir dann auch in anderen Psalmen lesen: "Zu seinen Zeiten wird bleiben der Gerechte" / Ps. 72, 7 /, "Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum." / Ps. 92, 13 / oder: "Die Gerechten erben das Land." / Ps. 37, 29 /, so mag das alles vom NT her seine Wahrheit haben, innerhalb des AT und seiner Kategorien aber hört es sich doch nur an wie die dichterische Wiedergabe eines niemals erfüllbaren schönen Wunschtraumes. In der letzten der Seligpreisungen, die ja alle von der Seligkeit der Leidenden oder der Erniedrigten reden, wird nun ausdrücklich das Leiden der Gerechten erwähnt: "Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihr." / Mt. 5, 10 /. Hier erscheint also der Leidende in gar keiner Weise mehr als der Schuldige, sondern als der Gerechte schlechthin. Leiden ist kein Zeichen von Verworfenheit oder von göttlichem Unwillen, es ist eher das Stigma der Erwähltheit. Der Sinn des Leidens hat damit ein ganz anderes Vorzeichen bekommen als im AT. Der Leidende wird nicht mehr dem Sünder gleichgesetzt, sein Leiden wird nicht einmal auf die Ursünde Adams zurückgeführt, obwohl natürlich auch im NT kein Zweifel und keine Meinungsverschiedenheit darüber bestehen, daß es die Sünde und nichts außerdem ist, aus dem das Leiden stammt, nur eben nicht die Sünde des Leidenden.
Dieser sündenlos Leidende aber ist Christus allein, der Gottessohn allein, Gott allein. Im NT erscheint somit Gott selbst als der Leidende schlechthin, als der, der das Leid der Welt auf sich nimmt, nur ihr Leid und nicht auch ihre Schuld, die er leidend austrägt. Hier wird offenbar, daß der Mensch, indem er sündigt, Gott Leiden zufügt und &endash; worin dann des Wunder kulminiert &endash; daß Gott sich das gefallen läßt und als unschuldig Leidender die Schuld entmächtigt. Wo immer überhaupt unschuldig, relativ unschuldig gelitten wird, dort ist Gott der eigentlich, der absolut unschuldig Leidende. Sofern wir mit Adam leiden, sind wir auch Mit-Schuldige, sofern wir aber mit Christus, dem neuen Adam leiden, sind wir Mit-Unschuldige, ist unser Leiden nur Leiden, von der Schuld erlöstes Leiden, Opfer-Leiden. Als Leidende stehen wir jetzt auf der Seite Gottes oder Christi, des Gekreuzigten und Auferstandenen. Gewiß ist es auch im NT immer noch derselbe Mensch, der sündigt und leidet, aber nicht als der Sünder leidet er und nicht als der Leidende sündigt er. Ist er als Sünder von Gott geschieden, so als Leidender auf ihn, den Mit-Leidenden, den Ur-Leidenden bezogen. In seinem Leiden, heißt das, hat er die Chance der Bekehrung in Gestalt des Glaubens an den Auferstandenen. Das Leiden als unschuldiges Leiden, als "Kreuz Christi" annehmen und austragen bedeutet aber auch schon nicht anklagen, sondern dem Schuldigen seine Schuld vergeben. Wer so zum Leiden Ja sagt, verkehrt das Nein der Sünde in ein Ja und bricht ihm den Stachel ab. Der Sünder verneint Gott, wendet sich von Gott ab, macht Gott leiden. Gott ist der von der Sünde Getroffne, und sofern er sich getroffen sein läßt, statt den Sünder auszulöschen, ist er der Vergebende. Das und nichts anderes offenbart das NT, und weil es das offenbart, ist es das Evangelium.
Jede "Bekehrung" eines Schuldigen setzt voraus, daß er das selbstverschuldete Leiden freiwillig auf sich nimmt, sich aus Freiheit auf die Seite der Unfreiheit stellt, also den ihm eigentlich gemäßen Standpunkt aufgibt und sich zu dem bekennt, mit dem solidarisch erklärt, den er geschädigt hat, bzw. sich von sich selbst, sofern er ein Sünder ist, lossagt. Damit ist freilich noch nicht behauptet, daß ein solcher Wechsel des Standpunktes dem Menschen auch möglich wäre, sondern nur, daß die Bekehrung ohne ihn unmöglich bleibt. Wer die Möglichkeit, die "unmögliche Möglichkeit" / Karl Barth / schafft, wissen wir jetzt. Der gefallene Mensch kann diesem Einen nicht so nachfolgen, daß er es ebenso macht wie er, aber er kann und darf sich als Leidender mit ihm identifizieren, wie der rechte Schächer am Kreuz das tat, und das allein genügt.
Die Neurose
Der kranke Mensch ist im Entscheidenden der leidende, der dem sinnlosen oder unsinnigen Sein verfallene Mensch und das gegenüber dem schuldigen, dem heillosen und dem seinslosen. Mit diesem zweiten Typus hat es die Ethik zu tun, mit jenem ersten die Pathologie. Wie aber alles am Menschen bis hinein in die leiblichsten Regionen des Leiblichen die das Bewußtsein konstituierenden Polarität von Sein und Sinn widerspiegelt, wie es also kein Sein ohne Sinnbezug gibt, kein bloß Objektives, das nicht mindestens im nervösen Bereich auch seine Subjektivität hätte, so gibt es auch keine Krankheit ohne jeden Hinweis auf die Schuldkomponente. Nur ist freilich das Verhältnis beider Pole zueinander sehr verschieden, so daß sich im extremen Fall die Subjektivität und Schuldbezüglichkeit kaum noch feststellen läßt. Dieses äußerste Extrem erscheint gegeben etwa bei der Verletzung durch einen Unfall. Mit dem entgegengesetzten Extrem hat man es dort zu tun, wo die Bewußtheit die relativ größte Bedeutung erhält und der Leidende darum auf seine Freiheit hin ansprechbar bleibt, nämlich bei der Neurose. Da wie dort ist die Bezeichnung "Krankheit" kaum noch angebracht, aber dennoch sind es eben diese beiden Grenzfälle, zwischen die sich alle Krankheiten einordnen lassen. Wir werden hier aber doch auch den Unfall und die Neurose zu den Krankheiten rechnen, und, da in der Neurose das subjektive Moment sich am klarsten zeigt, sozusagen der status nascendi aller Krankheiten hervortritt, von ihr ausgehen und sodann zu den eigentlichen Krankheiten und schließlich zum Unfall fortschreiten. Dabei sollen die Ausführungen über die Neurose den weitaus größten Raum einnehmen, weil es uns ja nicht um eine Pathologie zum Gebrauch für Mediziner geht, sondern um das Problem des Phänomens Krankheit überhaupt.
Es gibt keinen Teil des Körpers, kein Glied, kein Organ, das nicht im Leibganzen seinen Sinn hätte und insofern nicht auch beseelt wäre. Eine Niere z. B. ist nur Niere als Organ dieses Leibes, zu dem sie gehört, und allein indem sie das ist, ist sie auch seelischer Natur, muß jede Veränderung an ihr auch eine seelische Veränderung bedingen und muß umgekehrt jede Regung der Seele für sie irgendeine Bedeutung haben, was noch nicht heißt, daß jede wie immer geartete seelische Emotion sie in gleicher Weise affizieren müßte; denn auch die Seele hat ihre verschiedenen Bezirke, genau so wie der Leib seine verschiedenen Organe, weshalb eben die eine Seelenregung das eine und die andere das andere Organ in höherem Grade berührt. Auch die Seele hat gleichsam ihre Nieren, ihren Magen, ihr Herz und ihr Hirn, ebenso wie der Leib, oder umgekehrt: auch der Leib leistet mit jedem seiner Organe einen Beitrag zum Ganzen des Lebens und also der Seele.
Im Hinblick darauf werden sich uns etwa die folgenden Fragen aufdrängen: Bedeutet das Wissen um die Andersartigkeit von Seele und Leib nicht bereits eine unnatürliche oder ungesunde Spaltung der Person, eine Abwertung oder, wie man auch sagen könnte; "Verdrängung" des Leiblichen? Ist es nicht eben diese Urkrankheit, die in der Bedeckung der Nacktheit mit Feigenblättern ihren ersten mythischen Ausdruck findet? Der Leib wird hier doch offenbar als ein Nicht-sein-Sollendes empfunden, als ein für das Übel besonders anfälliges, wenn nicht verantwortliches Etwas. Bedeutet nicht eben diese Abdrängung des Leiblichen aus der Region des Subjektiven seine Aktivierung als Objekt? Wird weiterhin mit der Leiblichkeit nicht gleichzeitig die ihr zugewandte, mit ihr wesensverwandte Seite der Seele verdrängt, so daß also der Spaltung nach Seele und Leib auch eine Spaltung der Seele in sich selbst entspricht? Zu denken wäre da an die Verwandlung bewußter Willensregungen in Triebe. Ist fernerhin nicht vielleicht die seelische Erkrankung im wesentlichen ein Mangel an Verleiblichungsmöglichkeit und die leibliche vice versa ein Mangel an Beseelung? Geht aus der Bejahung dieser Frage hervor, daß die leiblichen Entsprechungen einer seelischen Erkrankung grundsätzlich das gleiche oder das umgekehrte Vorzeichen tragen wie diese, so daß also etwa ein Zuviel auf der einen gleichfalls ein Zuviel oder ein Zuwenig auf der anderen Seite bedeuten? Wäre das leib-seelische Verhältnis in Ordnung, dann würde vermutlich der Leib das Seelische direkt symbolisieren, d. h. einem Mehr ein Mehr und einem Weniger ein Weniger entsprechen. So aber könnte die verminderte Objektwilligkeit der Seele an einer gesteigerten Objektverfallenheit des Körpers zum Ausdruck kommen; dem seelischen Verdrängungsakt entspräche dann die Hypertrophie der Leiblichkeit. Das wären nur einige von den zentralen Problemen, vor die uns die Neurose als Ursprungsphänomen der Krankheit stellt. Hier sind Erkennen, Wollen, Entscheidung, Freiheit immer noch mit im Spiel, d. h. die pathologische Sphäre berührt sich noch mit der ethischen, ja zuletzt mit der religiösen, und das Schicksal der leiblichen Existenz zeigt, vor allem in den Organneurosen, seine Abhängigkeit vom verantwortlichen Ich des Menschen.
Allerdings ist das, was heute in der Gestalt der Neurose auftritt, nicht die unmittelbare Folge der Urentscheidung aus dem Zustand der Integrität heraus, sondern eigentlich nur noch der beginnende Abbau von letzten Restbeständen der anfänglichen Integrität. Die Ur-Neurosen, wenn man so sagen darf, sind längst zu irreversiblen und eindeutig psychisch-moralischen Defekten auf der anderen Seite geworden. Wenn Jesus den Jüngern auf ihre Frage, ob der Blindgeborene gesündigt habe oder seine Eltern, antwortet: "Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern daß die Werke Gottes offenbar würden an ihm" / Joh. 9, 3 /, so leugnet er damit weder, daß die Krankheit überhaupt und also auch die dieses bestimmten Menschen hier Folge der Sünde, noch daß der Blingeborenen selbst ein Sünder sei, sondern nur, daß dessen besondere Krankheit mit seiner oder seiner Eltern individueller Sünde etwas zu schaffen habe. Der Kranke könnte darum auch durch seine individuelle Bekehrung nicht wieder sehend werden. Diese Blindheit ist keine Organneurose, an der ein Psychotherapeut seine Kunst zu erproben hätte. Hier läßt sich mit Psychoanalyse und Tiefenpsychologie nichts mehr anfangen. Wohl aber kann sich gerade an einem solchen irreversiblen Gebrechen, über das der natürliche Arzt keine Macht hat, die Macht Gottes offenbaren, und sie offenbart sich durch Christus, der gekommen ist, um die Ursünde auszutragen, also die Ur-Neurose zu heilen, aus der alle Krankheiten entsprungen sind.
Der moderne Zivilisationsmensch scheint fast mehr als von Infektionskrankheiten oder überhaupt von im eigentlichen Sinn organischen Krankheiten von Organneurosen aller Art bedroht zu sein. Die Neurose ist nun, wie mit anderen Worten schon gesagt wurde, im psychophysischen Zwischengebiet lokalisiert, aus dem sich nach der einen Seite hin die leiblichen, nach der anderen die seelischen Störungen entfalten, die pathologischen und die moralische Defekte. Man könnte daraus vielleicht den Schluß ziehen, daß das Umsichgreifen der Neurosen auf ein Jugendstadium der Entwicklung hinweist. Aber genau das Gegenteil trifft zu: Solange der Mensch noch jung ist in der Geschichte, weiß er gewiß mehr als später um den Zusammenhang von Psyche und Physis, aber das doch in der Weise, daß er sich auch als leiblich Kranker der Verantwortung für seine Krankheit bewußt ist, sich gewissermaßen an die das Leiden bedingende Fehlentscheidung "erinnert". Darum fällt es ja den Freunden Hiobs so schwer, die Krankheit des Dulders nicht mit seinen Sünden in Zusammenhang zu bringen. Man setzt als selbstverständlich voraus, daß jedes Übel aus der Freiheit quillt. Dann aber treten Ursache und Wirkung auseinander. Zwischen Krankheit und Sünde scheint keine Beziehung mehr zu bestehen. Der Verbrecher ist eben ein Verbrecher, der für seine Tat die volle Verantwortung trägt, und der Kranke ist ein Kranker, d. h. als solcher ein ethisch indifferentes, durch Zufall vom Schicksal geschlagenes Wesen. Heute endlich stellt sich die Verbindung wieder her, nur in umgekehrter Richtung. Stand früher am Krankenbett der Seelsorger, so steht heute neben der Bank des Angeklagten im Gerichtssaal der Psychiater. Organneurosen als Zeitkrankheit heißt also nicht, daß die Krankheit in die Freiheit hineingenommen erscheint, sondern daß auch die scheinbar freie Handlung der Kausalität des körperlichen Geschehens unterliegt, daß auch die bisher freie und verantwortliche Seele den Gesetzen der physischen Erkrankung verfällt. Der Mensch von heute ist sogar als der sich Entscheidende immer schon ein sich falsch Entschieden-habender und somit nicht anders Könnender. Seine Sünde selbst offenbart ihre Irreversibilität.
Die Eigenart der neurotischen Situation wird sich uns am leichtesten erschließen, wenn wir von einem ganz einfachen Beispiel ausgehen, nämlich von dem wohl jedem Menschen wohlbekannten Phänomen der nervösen Hast. Die Hast kommt aus der Angst, das, was man erreichen oder realisieren will, infolge irgendwelcher Hindernisse, vor allem aber aus Mangel an Zeit, nicht realisieren zu können. Der Hastige reflektiert auf die Zeitspanne zwischen dem Zustand, in dem er sich augenblicklich befindet und dem anderen, dem noch zukünftigen, der erst Wirklichkeit werden soll. Statt sich unbefangen auf diesen zweiten zu entwerfen und ihn in den Vorblick zu nehmen, wendet er sich zurück auf den Ausgangspunkt der intendierten Handlung und sucht diesen um des Erstrebten willen zu negieren. An die Stelle der Ja-Haltung dem Gewollten gegenüber tritt also die Nein-Haltung in Hinsicht auf ein Nicht-Gewolltes. Aber eben dieses Nein ist es nun, das der Ausgangssituation, der Start-Situation die Kraft raubt, die Ziel-Situation vorwegzunehmen, sie zu präformieren, d. h. selbst in ihrem Vorgriff auf das Künftige bereits ihr eigenes Ziel zu sein. Das negierte Jetzt wird entmächtigt und um die Fähigkeit bebracht, das bejahte Dann zu gewinnen; denn um das zu können, müßte es gerade in das Ja zum Dann miteingeschlossen sein. Der Hastige bannt sich selbst an den Ort, von dem er fortstrebt, ähnlich wie ein Träumer, der einer Gefahr im Rücken entrinnen will und allen Anstrengungen zum Trotz doch nicht von der Stelle kommt. Die Zeit geht über ihn hinweg, sie entflieht ihm. Diese negierende Reflexion auf das Jetzt ist nur eine besondere Form der Reflexion auf das Ich überhaupt, das unter ihrer Einwirkung aufhört, zeitlich wollendes, kontinuierliches und sinngerichtetes Subjekt zu sein und zum Raumding, zum bloßen Sein erstarrt. In seiner Hast macht der hastige krampfhafte, im Hinblick auf den Zweck höchst unzweckmäßige, ja geradezu hinderliche Bewegungen, er tritt gleichsam mit Aufbietung aller Kräfte auf der Stelle, bis er im äußersten Fall erschöpft zusammenbricht. Diese hastigen Bewegungen haben bereits den Charakter der Hysterie oder der Neurose. Es handelt sich dabei um eine Art Umformung der Zeit. Die ursprüngliche organische Zeit, die in der Unmittelbarkeit verbunden bleibt mit dem räumlich Daseienden, die Inhalte hat und kontinuierlich verläuft, also das Jetzt und das Dann umgreift, wird zur diskontinuierlichen entleerten, die nur noch trennt, sich so wie bei Zenon aus Elea zwischen den verfolgenden Achill und die verfolgte Schildkröte legt.
Dem reflexiv-bewußten Willen fehlt das Moment der Echtheit, weil Reflexion immer auf das Sein, Wille aber auf den Sinn geht. Der reflektierende Wille verstellt den Sinn durch das Sein und hemmt auf diese Weise als Wille sich selber. Indem er auf den Sinn zielt, meint er die Ziel-Situation, indem er aber das Sein anvisiert, die Start-Situation, und das heißt, er will und will zugleich auch nicht, er ist "ambivalent". Der so wollende Mensch muß mit sich in den Konflikt geraten, sich spalten und damit im weitesten Sinn dieses Wortes neurotisch werden. Er reduziert reflektierend den Sinn auf das Sein und findet in dieser nun sinnlosen Existenzweise keine Erfüllung. Er verlangt ständig über sie hinaus, er "will" also ein Anderer werden, aber was er da will, ist abermals ein reflektiertes und sinnloses Sein, woraus folgt, daß die ohnmächtige Willensintensität eben die Hast in dem Grad zunimmt, in dem der echte Wille abnimmt.
Versuchen wir, das so Ausgeführte in Zusammenhang zu bringen mit der Theorie Siegmund Freuds, nach der es die Verdrängung eines Wunsches ist, die zur "hysterischen Konversion" führt und sich in dieser abreagiert. Was wird eigentlich im Zustand der Hast verdrängt? Da Verdrängung soviel bedeutet wie Negation, offenbar zunächst einmal das Ich in der Start-Situation. Das Ich verdrängt sich selbst als dieses im Jetzt existierende und nimmt sich damit die Möglichkeit, Quelle des Dann zu sein, das heißt aber, es verdrängt unwillkürlich auch schon dieses Dann, bzw. den Willen zu seiner Verwirklichung. Innerhalb der Verdrängungsregion äußert sich die hysterische Konversion im Krampf des Auf-der-Stelle-Tretens. Was der Hastige, der Hysteriker da treibt, ist sinnlos, ja sinnwidrig; denn es wirkt dem Gewollten genau entgegen. Nennen wir eine dem Existenzziel entgegenwirkende Tendenz im Organismus Krankheit, so läßt sich sagen: Der die hastigen Bewegungen vollführende Leib ist krank. Etwas reflexiv bewußt wollen heißt, es unbewußt nicht wollen, sich ihm unbewußt widersetzen, und das zwar nach unserem alten Grundsatz, daß das subjektiv Bewußte das objektiv Unbewußte ist und umgekehrt; denn die reflexive Bewußtheit verlegt das Gewollte in die Objektivität und negiert es infolgedessen als Telos des subjektiven Aktes. Man könnte ebensogut sagen, die Reflexion setzt das Gewollte in die Vergangenheit und entzieht es damit der Zukunft. Dieser Antagonismus erzeugt einen Spasmus zunächst des seelischen Verhaltens, der dann aber auch im Organischen seine Entsprechung findet oder finden kann, indem die zielstrebige Bewegung durch eine Gegenbewegung der von den Nerven gesteuerten Muskulatur gehemmt oder gar verhindert wird, wie z. B. der Blutkreislauf, die Atmung oder die Peristaltik durch ringförmige Kontraktionen der regionalen Muskeln.
Reflektiertes Wollen ist absichtliches Wollen. Ich kann nicht, weil ich mit Absicht will, und ich muß, nämlich jene hastigen und fruchtlosen Bewegungen ausführen, weil ich mit Absicht nicht will. Das ist das Grundschema der neurotischen Situation. Mit Ab-sicht wollen bedeutet, vom Gewollten ab-sehen oder präziser: das Gewollte von mir ab-sehen, es objektivieren und distanzieren, meinem Verfügungsbereich entziehen, der äußeren Kausalität überantworten. Als der, der es so will, will ich es also in einem tieferen Sinn gerade nicht, und dieses tiefere und eigentliche Nichtwollen drückt sich dann aus erstens im Nicht-Können, in der Unfähigkeit das Gewollte zu verwirklichen, mein Ziel zu erreichen und zweitens in dem Zwang, durch den Krampf der Hast mich triebhaft einem ungewollten Ziel zubewegen zu müssen. Ich will etwa mit Absicht meine Leiblichkeit oder irgendeine leibliche Funktion und nehme ihr gerade so die Möglichkeit zu funktionieren, bzw. in der Ordnung des Ganzen ihre Bestimmung zu erfüllen. Ich will mein Leben und muß deshalb sterben, weil das wahre, das unmittelbare Leben niemals Gegenstand meiner Absicht sein kann. Sehe ich von diesem meinem Leben ab oder sehe ich das Leben von mir ab, dann verliere ich es eben. Im Tod wird offenbar, was ich eigentlich wollte, indem ich ab-sichtlich leben wollte.
Die Neurose ist der Zustand, in dem sich der Mensch seinem Telos versagt, seiner Bestimmung ausweicht und sich an falsche Ziele bindet. Sie hat nach den Worten von Gebsattels die Funktion, "die Einordnung der neurotischen Persönlichkeit in kosmische, erotische, soziale, kulturelle, metaphysische Zusammenhänge unmöglich zu machen und damit die Persönlichkeit zu entwirklichen. Das neurotische Ich isoliert die Persönlichkeit wie ein unsichtbarer Käfig. Es zerschneidet die Lebensverbindungen, welche Hingabe, Aktivität und Produktivität erst ermöglichen. Sein ewiges Gleichnis ist Tantalos, dem die Lebensfrüchte entgleiten, die Lebensfluten sich entziehen, ja, der essend mit der Speise nicht eins wird und trinkend mit dem Wasser nicht verschmilzt"1). "Alles ungestörte Verhalten zur Möglichkeit des Seinkönnens gründet in einem Verhalten zu sich über Gott, über eine geliebte Person, über die Welt usw. Fehlt dieser Bezug, oder ist er zur bloßen Reflexion entwirklicht, so nimmt der Bezug zum eigenen Seinkönnen / zum Werden, zur Selbstverwirklichung / einen problematischen Charakter an &endash; das Grundproblem der Neurosenlehre"2).
Was v. Gebsattel hier das Seinkönnen nennt, deckt sich ungefähr mit dem sinnhaften oder sinngerichteten Sein unserer Terminologie. Es ist nun nicht etwa so, daß sich der Mensch einfach dem Sinn versagen und im bewegungslosen, gleichsam rein räumlichen Sein verharren könnte. Sein und Sinn bleiben unlöslich miteinander verbunden. Versage ich mich dem Sinn, so tritt an seine Stelle der Un-Sinn, der Wider-Sinn, der das Sein zerstört, es be-endet, statt es zu voll-enden, und der neurotische Konflikt, die neurotische Ambivalenz erweist sich so als das Gegeneinander von Sinn und Un-Sinn. Der Adam, der nicht zum Ebenbild hin sich erfüllen will, muß in den Tod, er will sich nicht, gerade indem er sich will, nämlich will als ein sich dem Sinn verschließendes bloßes Sein. "Die Zeit", bemerkt abermals v. Gebsattel, "läßt nicht mit sich spaßen. Entweder sie wird genützt oder sie wird versäumt. Entweder ist sie das Medium unseres Aufbaues oder unseres Abbaues, das unseres Fortschrittes oder unseres Rückschrittes, unserer Erhebung oder unseres Absinkens"3). Hat das Sein seinen Sinn nicht im Eidos, so wird es nicht nur sinnlos oder sinnindifferent, sondern sein Sein verkehrt sich zum Anteidos, zum Gegenbild des göttlichen Ebenbildes, es entstaltet sich, es verzerrt sich. Dieser verkehrte, dem Anteidos zugewandte Sinn hat den Charakter des Triebes, und zwar des lebensfeindlichen, des die Existenz aufhebenden Triebes. Unter dem "Trieb" kann man ja zweierlei verstehen, erstens die unbewußte seinshafte Seite des bewußten sinnhaften Willens selbst, das also, was gleichsam noch träumend auf die Wachheit hin ist, um in dieser auszureifen, so wie die ganze Schöpfung dem Menschen anvertraut wurde, damit er sie zur Reife, zur Klarheit seiner Ebenbildlichkeit emporführte, und zweitens den korrumpierten, den ins Unbewußte abgedrängten Willen, das Resultat des durch die Reflexion aus der Bahn des Sinns geworfenen Willens, den Todestrieb als die andere und eigentlich allein reale Seite des verkehrten Willens zum Leben, der Ab-sicht. Ich will in falscher Weise leben, und dieser falsche Wille realisiert sich als Wille zum Nicht-Leben, als ein Gegenteil dessen, was zu sein er meint. Hier kommt es zum neurotischen Konflikt. Der Neurotiker bejaht etwas und verneint zugleich das Bejahte, er verneint etwas und bejaht zugleich das Verneinte. Eine genauere Beobachtung macht es offenbar, daß die Neurose keineswegs nur eine Neuerwerbung dieses oder jenes Menschen ist, sondern daß wir alle uns immer schon in der neurotischen Situation, nämlich im Konflikt mit unseren Trieben, befinden. Besonders deutlich wird das im Bereich der Sexualität. Es ist darum auch mehr als bloß verzeihlich, wenn Freud zunächst meinte, gerade hier den Punkt gefunden zu haben, aus dem sich die Neurose deuten und kurieren läßt. Er irrte nur insofern, als er die Neurose für eine Verbildung des Geschlechtstriebes hielt, statt einzusehen, daß dieser Trieb bereits als solcher neurotischer Natur ist.
Von einem reflektierten und darum sinnwidrigen Anvisieren der Ziel-Situation wird auch dann zu reden sein, wenn eine bestimmte zukünftige Möglichkeit nicht mit Absicht angestrebt, sondern mit Absicht vermieden werden soll. Ebenso wie ein falsches Wollen gibt es auch ein falsches Nicht-Wollen. Im ersten Fall steuert der Wille am Gewollten vorbei, im zweiten steuert der Nicht-Wille auf das Nicht-Gewollte zu, eine Tatsache, die jeder Anfänger auf dem Fahrrad schmerzlich erfahren hat. Auch das Nicht-Wollen reflektiert mit aller Intensität auf ein Künftiges und negiert damit die Gegenwart. Ein nicht gewollter Zustand, ein nicht gewolltes Ereignis ist zwar ein negatives Ziel, aber doch auch ein Ziel. Indem ich es nicht will, will ich sein Gegenteil oder wenigstens etwas anderes. Ich will also z. B. als stümperhafter Radfahrer nicht den Baum da vor mir, der mich magisch anzieht, sondern die Landstraße, die sich mir trotzig versagt. Befürchte ich etwa den Verlust meiner beruflichen Stellung, so erstrebe ich ihre Bewahrung und Festigung. Auch hier richtet sich der Wille durchaus positiv auf die Zukunft, obgleich zweifellos angetrieben von der Angst vor ihr. Und auch die Angst vor der Zukunft erzeugt Hast. Es ist darum sehr schwer zu entscheiden, ob die hysterische Betriebsamkeit des modernen Lebens mehr dem reflektierten Willen bestimmte Ziele zu erreichen oder der Angst vor einer drohenden furchtbaren Gefahr entspringt; denn beide sind eben miteinander verflochten. Wo reflektierter Wille ist, dort ist auch Angst und umgekehrt. Der reflektierte Wille zum Leben ahnt nämlich als solcher schon, daß er Trieb zum Tod ist, und diese Ahnung erzeugt Angst.
Die bewußte Absicht oder überhaupt das Bewußtsein als Absichtlichkeit ist der erklärte Feind des Unbewußten, nämlich des gesunden oder, wie wir früher sagten, des noch träumenden, des vorbewußten Unbewußten und seiner "Triebe"; denn es zwingt diese Triebe ihrer naturgegebenen, ich könnte auch sagen, ihre schöpfungsmäßige Richtung zu verlassen und eine verkehrte einzuschlagen, aus Lebenstrieben zu Todestrieben zu werden. Darauf beziehen sich die folgenden Sätze von C. G. Carus: "Was die Möglichkeit der direkten Einwirkung des Bewußten auf das Unbewußte betrifft, so beschränkt sie sich eigentlich im wesentlichen auf die Möglichkeit, dem Lebensgange des Unbewußten und mit ihm dem Leben überhaupt gewaltsam hemmend entgegenzutreten, es geradezu zu verletzen, ja zu vernichten. Daß das Bewußte jedoch sich insoweit der Macht des Unbewußten entzieht, insoweit sich geradezu in Opposition zu ihm stellen kann, dazu gehört durchaus die Entwicklung der vollen Freiheit des Selbstbewußtseins, und darum ist also einzig und allein der zum Selbstbewußtsein gereifte Mensch des Selbstmordes fähig"4). Im Anschluß daran wäre zu erwägen, ob nicht im Letzten schon jeder Reflexionsakt ein partieller Selbstmord ist. Natürlich darf daraus nicht der der Romantik und auch dem modernen Romantiker Ludwig Klages naheliegendes Schluß gezogen werden, das Unbewußte sei das a priori Gute und Unschuldige, das Bewußte dagegen ebenso a priori Böse und Schuldige. Gut wie böse kann überhaupt nur das Bewußte sein und niemals das Unbewußte. Die Güte oder Bösartigkeit des Unbewußten ist vielmehr immer die Antwort auf die rechte oder unrechte Haltung des Bewußtseins. Von ihm allein hängt alles ab, das Leben und das Sterben, die Vollendung oder der Untergang. Seine Sache ist es, sich zu entscheiden, und seine Entscheidung formt das Unbewußte und gibt ihm seine Richtung. Gibt es im die verkehrte Richtung, die un-sinnige Richtung, dann wird es am Ende selbst in diese hineingezogen, hineingesogen. Der Untertan folgt nicht mehr dem Herrscher, sondern der Herrscher dem Untertan, das Weib nicht mehr dem Mann, sondern der Mann dem Weib, das Tier / die Schlange / nicht dem Menschen, sondern der Mensch dem Tier, das Anorganische nicht dem Organischen, sondern das Organische dem Anorganischen.
Da die Neurose ein Mißverhältnis zwischen Subjektivität und Objektivität, man könnte auch sagen zwischen Künftigkeit und Vergangenheit der menschlichen Person zum Vorschein bringt, läßt sie sich auch als Disharmonie des Individuellen mit dem Sozialen definieren; denn eben als der mir selber objektiv Gegebene bin ich der gleichfalls objektiven Gemeinschaft eingegliedert, nehme ich in ihr als Familienglied, als Staatsbürger, als Berufsmensch usw. eine bestimmte Stellung ein, die, wenn sie mich ganz und gar beansprucht oder von mir selbst mit meinem Gesamtich identifiziert wird, mich in Konflikt bringt mit meinem "eigentlichen" Ich, das nicht in den objektiven Bezügen aufgeht.
V. v. Gebsattel sucht das hier auftauchende Problem etwa an dem Verhältnis von Persona und Person bei C. G. Jung deutlich zu machen. Aber auch die Überlegungen der Existenzphilosophie von heute kreisen, vielfach in Anlehnung an Kierkegaards Begriffe des "Einzelnen" und der "Menge", ständig um dieses Problem, ein Beweis dafür, wie sehr die Neurose vom modernen Denken als Angelpunkt der Daseinsfrage, wenn nicht immer erkannt, so doch mindestens erahnt wird. Sowohl Heideggers "Verfallenheit an das Man" wie auch Sartres mauvais foi bezeichnen eben diese falsche Selbstidentifikation des Menschen mit seine Objektivität, die schließlich zu einem seelischen Krampfzustand führt, in dem genau besehen nur das Sich-Versagen, Gott und der eigenen Bestimmung gegenüber, akut wird. Es ist paradoxerweise der gleiche Mensch, der sich mit Ab-sicht auf sein individuelles, d. h. vereinzeltes Ich ausrichtet und der anonymen Allgemeinheit verfällt. Er will bewußt sein Einzel-Sein und verschreibt sich so triebhaft unbewußt dem Kollektiv. Mit echter Gemeinschaft hat ja das Kollektiv, das "Man", die "Menge", die "Masse" gerade nichts zu tun, sie ist vielmehr wie das Grab der Persönlichkeit, so auch das Grab der Gemeinschaft, die nur aus dem sinnhaften geistgezeugten Miteinander der Personen erwächst. Wer sein Selbst verfehlt, verfehlt auch das Selbst des Anderen und also die Beziehung zu ihm. Der im tieferen Sinn Asoziale ist auch der seiner Selbstheit Beraubte, obgleich er auf dem Weg der Vereinzelung gerade diese realisieren zu können meint. Der gewollte Kollektivismus, wie er etwa in den totalitären Staaten zum Prinzip gemacht wird, enthüllt sich damit als Flucht aus dem Konflikt, als ein Versuch, dem neurotischen Krampf durch gewaltsame Auslöschung des subjektiven Poles zu entkommen. Aber auch diese Roßkur muß notwendigerweise mißlingen, weil jede Intensivierung einer These unausweichlich die Gegenthese mit intensiviert. Das Verhältnis des Individualismus zum Kollektivismus im sozialen Körper entspricht genau dem des Zerebralen zum Abdominalen im Leib. Das antithetische Gegeneinander bedingt da wie dort die Verkümmerung und Depotenzierung der kardialen Region, der Herz-Mitte, die als Sitz des Geistigen und der sinntragenden Bezüglichkeit allein den harmonischen Akkord zustandebringen kann. Spaltet sich die Menschheit dialektisch auf in Individualisten und Kollektivisten, dann ist sie neurotisch, nicht anders als der Einzelne, dessen reflektiertes Bewußtsein mit dem Unbewußten nicht mehr zusammenstimmt, der im Widerspruch von Wille und Trieb will, was er nicht will und nicht will, was er will.
Der sich selber absichtlich suchende und eben darum verfehlende Neurotiker oder Hysteriker ist immer auch der in peinlicher Weise von der Meinung und den Urteilen der anderen abhängige, also der dem "Man" verfallene Mensch. Indem er sich unaufhörlich objektiviert, versteht er sich als in der reinen Objektivität existierend nicht nur für das eigene, sondern ebenso für das fremde Auge. Er erfährt sich als das Objekt und nicht als das Subjekt seiner Umgebung, also gewissermaßen als das Objekt von Objekten. Er lebt sein ganz reales Leben in einer Atmosphäre grundsätzlicher Irrealität wie ein Schauspieler auf der Bühne. Nicht die Bühne wird ihm zur Welt, sondern die Welt zur Bühne, auf der er seine Rollen spielt, einmal himmelhoch jauchzend, wenn er Beifall findet, und dann wieder zu Tode betrübt, wenn der Beifall ausbleibt oder gar seine Darbietung mit Pfiffen quittiert wird. Er wird völlig zur Funktion der fremden Beurteilung, er ist, was die anderen über ihn sagen und denken. Da er seinen eigenen wahren Wert oder Unwert gar nicht abzuschätzen weiß, leidet er, sobald er sich auf sich allein gestellt findet, an quälenden "Minderwertigkeitskomplexen". Es drängt ihn in die Gesellschaft Anderer, vor denen er sich produzieren kann, deren Anerkennung er braucht, wenn er überhaupt an sich glauben soll, und er reagiert, wenn man ihm diese Anerkennung verweigert, mit ohnmächtigen Wutausbrüchen, ja im äußersten Fall mit hysterischen Krämpfen, d. h. mit dem kompensatorischen Versuch, sich gegen das Nein der Anderen das Ja zu sich selbst gewaltsam einzureden: Ja, ich bin trotz allem ein wertvoller, ein tüchtiger, ein geistvoller, ein außergewöhnlicher Mensch, und nur ihr Dummköpfe merkt nichts davon. Er möchte sich auf solche Weise das ihm fehlende Plus auf dem Umweg über das Minus seiner Mitmenschen ertrotzen. Von diesem typischen Verhalten des Hysterikers ist das des Liebenden oder des Verehrenden streng zu unterscheiden, der vor dem Geliebten oder Verehrten nicht wertvoll erscheinen, sondern sein und werden will. Auch dem Liebenden geht es ganz gewiß um das Urteil des Geliebten, aber um ein Urteil, das sich auf eine Realität und nicht nur auf ein Illusion bezieht.
Von dem Dreigestirn Freud, Adler und Jung war es der zweite, der die Neurose auf den sozialen Nenner zu bringen suchte, dem die zweifellos höchst aufschlußreichen Begriffe des Minderwertigkeitsgefühles, der Kompensation und Überkompensation vor allem zu verdanken sind. Damit war eine außerordentlich wichtige Seite der neurotischen Phänomene aufgedeckt, aber eben doch auch nur wieder eine Seite und keineswegs das Ganze. Der Neurotiker ist auch ein von Minderwertigkeitsgefühlen Geplagter und in seiner diese kompensierenden Hybris Exzedierender, aber er ist noch vieles andere außerdem, und es geht nicht an, in solchen Teilsymptomen das Wesen des Übels erschöpft zu sehen. Der Mensch will nicht nur mächtig und angesehen sein, er will auch erkennen, genießen, ja zuletzt einfach leben. Immerhin sind innerhalb dieses Gesamtkomplexes, wie wir gern zugeben wollen, die von Adler hervorgehobenen Momente von sehr entscheidender Bedeutung. Auch bei Adam ist es schließlich die Hybris, nämlich der Wille "wie Gott" zu sein, der zur Katastrophe führt und ihn in den "Minderwertigkeitskomplex" der Scham über seine Nacktheit stürzt. Der katholische Katechismus hat darum nicht unrecht, wenn er die "Hoffart" an die Spitze der sieben Todsünden stellt. Nur sind eben auch die übrigen sechs Sünden in ihrer Art gleichwertige Abwandlungen der einen alle umfassenden Ursünde.
Wie Adler die "Hoffart", so hat sich schon vor ihm Freud die "Unkeuschheit" als Kardinalsünde herausgegriffen. Er darf sich da auf sehr prominente geistige Ahnen, z. B. unter den Kirchenvätern, berufen, die gleichfalls in der Konkupiszenz, in der Sexualität, in der Libido das Übel aller Übel zu erkennen meinten. Und auch die Bibel läßt ja keinen Zweifel darüber, daß das Geschlechtliche mit dem Fall in einem besonders engen Zusammenhang steht; denn sonst hätten Adam und Eva ihrem Minderwertigkeitskomplex nicht gerade mit der Herstellung von Schürzen aus Feigenblättern und also mit der Bedeckung ihrer Blöße Ausdruck gegeben. Freilich ist für Freud die Libido nichts an sich Sündhaftes, ebensowenig wie für Adler der "Wille zur Macht", aber auf des ethische Urteil kommt es hier auch gar nicht an, sondern lediglich darauf, in welcher Region und in welchem Spezialtrieb die Urbedingung der Neurose gesucht wird.
Im rein Sexuellen hat sich die Liebe zum Trieb verkehrt, ist sie zum Trieb entartet. Den Geschlechtstrieb hat der Mensch in dieses Leben mitbekommen. In dessen Gestalt trägt er von Anfang an seine Neurose mit sich herum. Er braucht da gar nicht erst irgend etwas zu verdrängen; denn der Trieb als solcher ist bereits das Produkt eines Verdrängungsaktes. In dem was Freud Verdrängung nennt, handelt es sich um die Verdrängung eines Verdrängten, um eine Verdrängung zur zweiten Potenz, eben um den Griff nach dem Feigenblatt, das die erste und entscheidende Verdrängung unsichtbar machen soll. Meiner Sexualität werde ich mir sehr bald bewußt, schon als kleines Kind, meines Geltungsbedürfnisses und meiner Minderwertigkeitsgefühle, wenn überhaupt, so jedenfalls viel später, und darum ist es sehr verständlich, wenn der Mann, der als erster die Welt des Unbewußten der Neurosentherapie erschloß, gerade hier die eigentliche Wurzel der psychischen Erkrankungen zu entdecken meinte. Von allen Möglichkeiten, die der Mensch hat, ist die Liebe die geistigste; Gott ist Geist und Gott ist auch die Liebe; denn beides sagt das Gleiche. Aus dem Herzen heraus, das mich leiblich und seelisch zusammenbindet, in dem ich mein eigenes Zentrum habe, wende ich mich dem Anderen zu, binde ich mich auch mit ihm zusammen. Nur indem er liebt, offenbart der Liebende seinen Sinn, übersteigt er sein bloßes Sein. Die Korrumpierung der Liebe, ihre Umwandlung in einen dem Bewußtsein entzogenen Trieb muß darum die Verkehrung des Sinnes in Unsinn besonders deutlich werden lassen. Vieles, wenn nicht alles sonst, erkennen, wollen, wünschen, hoffen, mich erinnern, mich ängstigen usw. kann ich auch reflektiert, nur lieben unter keinen Umständen; denn lieben heißt a priori mich von mir ab- und dem Geliebten zuwenden. Reflexion ist darum das Gegenteil von Liebe, der Tod der Liebe, die Nicht-Liebe selbst. Und da nun eben in der Sexualität die Liebe zur reflektierten wird, so verneint sie sich in ihr. Der vom Trieb Getriebene und dem Trieb Zustimmende will sich und nicht den Geliebten. Hier wird der Konflikt zwischen Sinn und Sein unvermeidlich.
Von seiner naturalistischen Grundposition aus, die einfach zeitbedingt war und nicht dem genialen Entdecker zur Last gelegt werden darf, konnte Freud gar nicht anders als die Neurose aus Triebkonflikten zu erklären. Aber es ist nicht der Trieb, der einem anderen widerstreitet, sondern die unter allen Wesen dem Menschen allein eigentümliche Geistnatur, die sich der Triebhaftigkeit überhaupt widersetzt bzw. von ihr in Frage gestellt wird, und darum kann auch nur der Mensch allein zum Neurotiker werden. Neuere Forscher haben bereits eingesehen, daß eine ethische Instanz, nämlich das Gewissen bei der Entstehung der Neurose die entscheidende Rolle spielt. So sind etwa nach Levy-Stuhl aller Neurosen "Folgen eines Gewissenskonfliktes, genauer, sind Folgeerscheinungen und der psycho-pathologische Ausdruck einer Gewissensbeunruhigung bestimmter Art"5). Das heißt nicht, daß Freud das Gewissen nicht auch gekannt hätte, er hat es im Gegenteil sogar sehr genau gekannt, aber er konnte es seiner Grundkonzeption nach nicht anders als biologisch von den Trieben her deuten. Die ethischen Regungen waren demzufolge für ihn gleichfalls Triebregungen.
Gott verbietet dem Menschen nicht die Bedeckung seiner Blöße mit Feigenblättern, er ersetzt vielmehr sogar diese etwas unsoliden Kleidungsstücke durch Tierfelle. Der Mensch soll sich seiner Triebe schämen, er soll erkennen, daß da etwas in ihm nicht in Ordnung ist, er soll also gewissermaßen seine Konkupiszenz verdrängen, sich ihrer als eines Nicht-Gesollten, als einer moralischen Krankheitserscheinung bewußt bleiben. Solange er weiß, daß er krank ist, ist er tatsächlich in einem höheren Sinn noch gesund oder doch wenigstens der Heilung zugänglich. Freud aber glaubt den Neurotiker gesund machen zu können, indem er ihn veranlaßt, die Schürze abzulegen, sich zu seinem Trieb als zu einer positiven Gegebenheit zu bekennen; er will den Kranken dadurch gesund machen, daß er ihm seine Krankheit ausredet. Das aber ergibt immer nur eine reduzierte Gesundheit, nämlich eine ihres Krankseins nicht mehr bewußte Krankheit. Wer sich seiner Geschlechtlichkeit nicht schämt, wer kein Bedürfnis mehr fühlt, sie zu verdrängen, es mit ihr hält nach der Weise primitiver Naturvölker, ist nicht unschuldig, sondern hat nur nach seiner Unschuld auch noch das Wissen um seine Schuld verloren. Damit soll nicht etwa einem sexuellen Muckertum oder sonst einem Pharisäismus das Wort geredet sein; denn wer hier in pharisäischer Weise verdrängt, wird allerdings erst recht zum Neurotiker. Es geht vielmehr darum, einerseits die prinzipielle Fragwürdigkeit der Sexualität, ihre Bedeckungsbedürftigkeit also, ohne Beschönigungsversuche zu erkennen und andererseits trotzdem sich über ihre Unabdingbarkeit im natürlichen Leben klar zu sein.
Aus der Negation oder der Verdrängung des objektivierten Selbst ergeben sich offenbar alle neurotischen Störungen, aber zwischen den besonderen Arten der Verneinung und demgemäß auch der Neurosen besteht doch oft ein ganz gewaltiger Unterschied. In dem zu Anfang dieses Kapitels gewählten Bespiel der nervösen Hast ist das Primäre nicht die Negation der Ausgangs- oder Start-Situation, sondern die allzu bewußte und reflektierte Bejahung der Ziel-Situation, die dann in ihrer Isolierung aus dem Aktganzen die Ausführung der Tat verhindert oder stört. Ich kann etwas gerade darum nicht, weil ich es will. Die Hysterie hat also ihren Ursprung in einem Wollen, dem ein Nicht-Wollen sekundär entspricht. Man könnte hier von der typisch männlichen Form der Hysterie sprechen. Aber die Hysterie kann auch umgekehrt von einem primären Nicht-Wollen ausgehen. Und das sind dann die Neurosen, die Freud eigentlich im Auge hat, wenn er von Verdrängung spricht. Nicht gewollt wird etwa ein Trieb &endash; es muß nicht unbedingt der Sexualtrieb sein &endash;, bzw. genauer, das Triebziel. Ebenso wie in jenem ersten Fall kommt es aber auch hier zu dem verhängnisvollen Bruch zwischen Ausgangs- und Endsituation, nur eben mit dem Unterschied, daß jetzt die Ausgangssituation die bejahte und die Endsituation die verneinte ist. Der abermals in der aktuellen Ausgangssituation einsetzende Krampf wird sich deshalb nicht in Bewegungen äußern, die das nicht können, was sie vollbringen sollen, sondern in solchen, die eben das symbolisch vorwegnehmen, was sie nicht sollen. So kann sich z. B. übertriebene Schamhaftigkeit, nämlich pharisäische Schamhaftigkeit in der hysterischen Konversion als betont schamlose und obszöne Gebärde äußern. Und damit haben wir die typisch weibliche Form der hysterischen Neurose vor uns, womit freilich nicht gesagt ist, daß sich die beiden Formen jeweils auf Personen des einen oder anderen Geschlechtes beschränken müssen. Es gibt schließlich auch hastige Frauen und aus falscher Schamhaftigkeit hysterische Männer. Immerhin leuchtet ein, daß die erste Form einer betont aktiven, die zweite einer ebenso betont passiven Grundhaltung entspricht, und wie Aktivität mit Bewußtsein, so hängt Passivität mit Unbewußtsein zusammen. Im ersten Fall überwiegt das subjektive, im zweiten das objektive Moment. Die männliche Hysterie kommt aus dem Ich des Hysterikers, während die weibliche mindestens auch auf Umwelteinflüsse wie Erziehung, gesellschaftlichen Druck, Konvention usw., eben auf mehr kausale Bedingungen zurückgeführt werden kann. Der männliche Hysteriker trägt für seine Neurose die Verantwortung, für die Hysterie der Hysterikerin dagegen ist auch ein Anderer, vielleicht sogar zuletzt immer der Mann, nämlich der Mensch als der reflektiert wollende verantwortlich. Die männliche Hysterie ist die Neurose des Revolutionärs, die weibliche die des Reaktionärs. Dort reißt die Zukunft, hier die Vergangenheit den Menschen aus seiner Gegenwart. Dort ist es das Hirn, hier das Abdomen, das sich dem Regiment des Herzens entzieht.
Die männliche Hysterie ließe sich gerade als Übersteigerung oder Exzeß der Männlichkeit, die weibliche als Exzeß der Weiblichkeit definieren. Das Männliche exzediert aber nur dann, wenn ihm der weibliche, das Weibliche nur dann, wenn ihm der männliche Gegenpol fehlt. Der hysterische Mann entwirft sich allein auf sich selber als auf die Zielsituation, er macht sich zum Telos seines Sinnes und raubt damit dem Sinn seinen echten Sinncharakter, er verbaut ihm den Weg nach oben und läßt ihn so zurücksinken auf die Ausgangssituation des bloßen Seins. Die hysterische Frau klammert sich umgekehrt an die Startsituation, an die Seinsbasis mit allen in die Vergangenheit weisenden kausalen Bindungen, sie wehrt sich gegen das sie der tellurischen Geborgenheit entreißende Männliche, gegen die ins Ungewisse und Unfaßbare vorstoßende Freiheit. Der Mann will nur bauen ohne zu bewahren, die Frau nur bewahren ohne zu bauen. Aber der Herd der Krankheit sitzt weder im Männlichen noch im Weiblichen allein, sondern in der Mitte, dort, wo beide miteinander einig sein sollten und doch nicht einig sind.
Das absichtliche Über-sich-hinaus-Wollen in eine reflexiv vorweggenommene Zukunft hinein und auf die entsprechende Zielsituation hin, die sich bewußt gegen die Startsituation als gegen ihre Antithese abhebt, kommt aus dem Geltungsdrang, der Machtgier, der Hybris, der auf der Seite der Startsituation das Minderwertigkeitsgefühl, die Depression entspricht. In der Sündenfallerzählung folgt, wie wir schon sagten, auf die Hybris des Sicut-Deus-Willens die Depression im Gewahrwerden der leiblichen Nacktheit. Der sich seiner Nacktheit schämende Mensch ist der auf die Startsituation zurückgeworfene, der keine Zukunft mehr hat, sondern die Vergangenheit, die Herkunft von der Materie als die ihn bannende Macht anerkennen muß. Daß er nun wieder zu dem Staub wird, von dem er genommen wurde, das braucht ihm eigentlich gar nicht ausdrücklich gesagt zu werden, das weiß er in dem Augenblick, da die Scham über seine Nacktheit in ihm aufbricht; denn er schämt sich ja eben der Staubnatur der Materialität seines Leibes.
In zahllosen Krankheitsberichten der psychotherapeutischen Literatur stoßen wir auf das eigentümliche Wort "Mutterbindung". Die Analyse hat ergeben, daß der Patient oder die Patientin in irgendeiner Form, positiv oder negativ, der eigenen Mutter hörig ist bzw. war, an die Mutter oder an ihr Bild "fixiert" ist, gleichsam auch noch als Erwachsener an der Mutterschürze hängt und darum nicht die seelische Kraft findet, die nötig wäre, um im Leben erfolgreich vorwärts zu kommen, um unbehindert und frei in die selbstgewählte Zukunft hineinzuschreiten. Der Kranke leidet also unter einem seinem Alter gar nicht mehr angemessenen kindhaften Sohn-Mutter-Komplex. Er kann sich nicht von seiner Vergangenheit losmachen. Freud führt diese Erscheinung bekanntlich auf den viel besprochenen "Ödipuskomplex" zurück, womit wir uns aber hier um so weniger auseinanderzusetzen brauchen als diese auf das Sexuelle zugespitzte Deutung zweifellos viel zu eng ist. Die eigene Mutter spielt hier im Grunde eine durchaus nebensächliche Rolle. Sie tritt nämlich nur ein für ein weit allgemeineres und umfassenderes Fixierungsobjekt, sie symbolisiert und personifiziert bloß die Startsituation schlechthin, die den Neurotiker festhalten will, die Seinskomponente seiner Existenz, der gegenüber sich der Sinn nicht durchzusetzen vermag, oder vielleicht richtiger: Weil der Patient in der Sinnfindung fehlgegriffen hat, sich zur rechten Entscheidung nicht durchringen konnte, ist er dem bloßen Sein, der Herkunft, der Vergangenheit, dem mütterlichen Prinzip verfallen. Wie sich das im Einzelnen darstellt, etwa als hypertrophierte Liebe zur oder als Furcht vor der konkreten mütterlichen Person, das spielt gar keine ausschlaggebende Rolle, sondern ist nichts weiter als die aufs Ganze gesehen zufällige und gleichgültige Bildwerdung der Fixierung. Nicht weil der betreffende Mensch eine so liebevolle oder so strenge Mutter hatte, geriet er in die Neurose, sondern weil er ein Neurotiker ist, stellt sich ihm seine Kindheit unter der Dominante der Mutterbindung dar.
Wer die Zukunft reflexiv bejaht, verneint unwillkürlich mit der jeweiligen Startsituation auch die dieser voraufgegangene und sie kausal bedingende Vergangenheit, er sucht sich krampfhaft von allen Bindungen an das Jetzt wie an das Einst zu lösen, und wer sich umgekehrt / weibliche Hysterie / gegen das auf ihn Zukommende wehrt, um im Jetzt zu verharren, hängt sich im gleichen Akt an das Gewesene als an den Grund, auf dem sein Jetzt ruht. Da wie dort besteht zur Vergangenheit ein Schuldverhältnis, das das Gewissen belastet und von dem man sich zu befreien sucht. Es gibt nun zwei Möglichkeiten oder richtiger Scheinmöglichkeiten, eine Schuld los zu werden: erstens sie zu vergessen und zweitens sie zu sühnen. Vergessen, d. h. der Schuld und seinem schuldigen Ich entfliehen, will der zukunftssüchtige männliche Hysteriker, die Schuld sühnen, nämlich zur beleidigten Vergangenheit zurückkehren, sich ihr überantworten will die zukunftsflüchtige weibliche Hysterikerin. Indem der Hysteriker dieses zweiten Typus, der ja auch ein Mann sein kann, es sich versagt, ein Morgiger zu sein, opfert er sich dem Gestern, dürstet er gleichsam nach Strafe und Selbstbestrafung. Aber auch der zweite Fall läßt verschiedene Variationen zu. Ich darf mich von der mütterlichen Vergangenheit nicht lösen entweder, weil sie mich so sehr liebt und ich mich an ihrer Liebe versündigen würde, oder weil sie so mächtig und furchtbar ist, daß sich jeder Ungehorsam an mir rächen müßte. Dort könnte man von einer romantischen Mutterbindung reden wie sie z. B. das Werk des Mythologen J. J. Bachofen kennzeichnet, das ja auch den sehr aufschlußreichen Titel "Mutterrecht" trägt. Da aber die Mutterbindung wie überhaupt jede neurotische Fixierung in sich dialektisch ist, besteht immer die Möglichkeit des Umschlagens in ihr Gegenteil, in Mutterhaß. Auch in dieser Hinsicht kann Bachofen als Beispiel dienen; denn der einseitigen Bewertung der Mütterlichkeit, des "Demetrischen" steht bei ihm die ebenso einseitige Apotheose des "Apollonischen", also des extrem männlichen Prinzips gegenüber, ohne daß er imstande wäre, beide miteinander in Einklang zu bringen.
Die Mutterbindung im psychopathologischen Sinn ist aber nicht nur Bindung an die Vergangenheit und Herkunft des eigenen Seins, sondern, allerdings damit in Zusammenhang, auch Bindung an das weibliche Prinzip überhaupt, d. h. nicht nur an ein bestimmtes Weib oder an eine bestimmte Möglichkeit des Weibseins. Der Muttergebundene ist so betrachtet der Weib-Hörige schlechthin, der Adam, der auf die Stimme seines Weibes, statt auf die Stimme Gottes hört, der sich gegen sein Telos sperrt. In der Geliebten oder der Gattin tritt das Weib dem Mann entgegen als seine gegenwärtige Partnerin, die als solche für die Zukunft, für das Telos, für den aus Freiheit zu wählenden Daseinssinn noch durchaus aufgeschlossen ist. Der Mann hätte die Aufgabe, das Weib dorthin mitzunehmen, dorthin auszurichten, wohin sich zu wenden seiner eigenen Bestimmung entspricht. Indem er das aber versäumt und der sexuellen Leidenschaft verfällt, indem er den Schoß des Weibes sucht, macht er dieses zur Mutter, nicht nur zur Mutter seiner Kinder, sondern auch zur eigenen, er tauscht seine und ihre Gegenwart, aus der die Zukunft entspringen könnte, für die Vergangenheit ein. Wenn, wie das zuweilen vorkommt, die Mutterbindung eines Mannes so stark ist, daß er darüber sogar impotent wird, so spricht das ganz und gar nicht dagegen; denn die Impotenz ist tatsächlich nur die höchste Steigerung der Weibhörigkeit, die sich auch schon im Geschlechtstrieb selbst verbirgt. Es wäre hier etwa an die Priester der Kybele, an die Korybanten zu denken, die sich im Dienst der "großen Mutter" selbst entmannen.
Während die Mutter als Daseins-Ursache erscheint, verkörpert der Vater mehr den Daseins-Grund. Die Ursache ist das zeitlich Vorgängige, das Vergangene, der Grund dagegen das überzeitlich Gegenwärtige. Nur als Verursachte und nicht als Begründete sind wir in die Endlichkeit, in die Vergänglichkeit gebannt, weshalb auch nur das mütterliche und nicht das väterliche Prinzip urhaft dämonische Züge trägt. Der allgegenwärtige zeitüberlegene Gott ist Vater, das Urbild aller Väterlichkeit. Darum nimmt die Mutter bloß in solchen Religionen göttliche Gestalt an, die für den wahren Gott erblindet und somit auch ihrem Glauben nach der Zeit verfallen sind. Wenn gelegentlich sogar im christlichen Raum die Muttergöttin als "Mutter Gottes" und "selige Jungfrau" religiös relevant wird, so heißt das, daß hier die Augen des Glaubens bereits trüb geworden sind für den Ewigkeits- und also Gegenwartscharakter des eigentlichen Glaubensgegenstandes, offenbar aus dem geheimen Wunsch heraus, die zeitliche Welt als solche, die Reiche, die der Versucher in der Wüste Jesus von dem Berg herab zeigt, in die Gewalt zu bekommen. Wer aber in der Zeit über die Zeit herrschen will, der verfällt ihr, der kann am Ende gar nicht anders als vor der Göttin der Zeit, vor der großen Mutter niederzufallen und sie anzubeten. Der Marienkult darf von hier aus als ein Symptom einer überindividuellen religiösen Neurose verstanden werden.
Daß die Mutterbindung hin und her pendelt zwischen zwei Extremen, zwischen Mutterliebe und Mutterhaß bzw. Mutterfurcht, haben wir gezeigt. Dem "Ödipuskomplex" steht der "Oresteskomplex" gegenüber. Da wie dort handelt es sich im Tiefsten um ein Nichtzurechtkommenkönnen mit der Vergangenheit. Seine Vergangenheit wird weder der an der Mutter hängende Ödipustypus noch der die Mutter mordende und von den Erinnyen gejagte Orestestypus los, obgleich der eine Ja und der andere Nein zu ihr sagt. Die neurotische Vaterbindung, der "Elektrakomplex" findet sich weit seltener als die Mutterbindung, die sich relativ häufig bei Personen beiderlei Geschlechts beobachten läßt, während jene nur in wenigen Fällen und fast ausnahmslos bei Frauen vorkommt. Wo das aber zutrifft, dort handelt es sich gar nicht eigentlich um den Vater in seiner Väterlichkeit, die ja nichts mit der Zeit zu tun hat, sondern entweder um eine Art Vermännlichung des Mutterprinzips, um die Rückverwandlung der Urania in Kronos / Schelling / oder um die Personifikation des Männlichen überhaupt, gegen das sich die grundsätzlich muttergebundene Hysterikerin zur Wehr setzt, bzw. das sie sich verboten sein lassen muß, obgleich sie sich zu ihm hingezogen fühlt.
Omnis determinatio est negatio. Jedes Reflektieren ist auch ein Determinieren und also ein Negieren. Wer auf die Zukunft reflektiert, negiert die Vergangenheit und die Gegenwart, aber auch die Zukunft selbst als mögliche Gegenwart, d. h. diese beabsichtigte Zukunft kann niemals zur Gegenwart werden. Sie bleibt in ihrer bloßen Zukünftigkeit aus der zeitlichen Gesamtheit herausspezialisiert. Der hastige hysterische Zukunftssucher ist ein Zukunfts-Spezialist. Spezialistentum hängt mit Hysterie, mit Neurose zusammen, alles Spezialistentum und nicht nur das der Zeit allein. Als der Spezialist schlechthin ist darum der moderne Zivilisationsmensch immer auch schon Neurotiker. Er verkauft die Totalrealität seiner Existenz für irgendeine Einseitigkeit und projiziert damit sein Telos in eine imaginäre Zukunft, die die Gegenwart verwüstet. Er entscheidet sich vielleicht für die sogenannten geistigen Werte und verliert dabei die handgreiflichen materiellen. Er vernachlässigt einer abstrakten Psyche zuliebe die Physis. Der andere viel häufigere Typ wieder, der Geschäftsmann z. B. oder der Sportsmann, verlegt sich ausschließlich auf das Materielle oder Körperliche. Gemessen an den Spiritualisten hält er sich für den echten Realisten, aber er ist das ebensowenig wie der Andere. Er hat sich nur für die entgegengesetzte Einseitigkeit entschieden und sie als sein Telos in die Zukunft projiziert. Manche suchen dem Übel des Spezialistentums auszuweichen, indem sie entweder neben ihrer Berufsarbeit als Gelehrte, als Juristen, als Beamte usw. auch Sport treiben oder nach ihrer Geist tötenden Tagesbeschäftigung als körperlich Arbeitende Bücher lesen, eine Volkshochschule besuchen oder dergleichen. So meint man die eine Einseitigkeit durch die andere kompensieren zu können, während man in Wahrheit nur beide addiert. Man hat jetzt statt einer zwei Einseitigkeiten, von denen keine aufhört einseitig zu sein. Die geist-leibliche Totalität, auf die es ankäme, wird so niemals hergestellt.
Unter Umständen kann eine Neurose auch schon dadurch entstehen, bzw. darin bestehen, daß einer sich in einen eng umgrenzten Pflichtenkreis verbeißt &endash; etwa in den beruflichen &endash;, um sich dem anderen, genau so lebensnotwendigen und relevanten zu entziehen, weil er ihm unbequem erscheint oder weil er sich ihm nicht gewachsen glaubt, z. B. dem des Familienlebens. Im übrigen ist das Wort "Pflicht" a priori suspekt. Wer von Pflichten redet, nach Pflichtgeboten handelt, existiert nicht mehr unmittelbar, nicht mehr unreflektiert, sondern auf eine bewußt vorweggenommene Zukunft hin. Seine Linke weiß, was seine Rechte tut. Er spaltet sich auf, er stellt sich aus seiner Existenz heraus, er lebt nicht in der Gegenwart, er betrügt sich, und der Selbstbetrug, der an seine Wahrhaftigkeit glaubt und gleichzeitig seine Verlogenheit ahnt, ist schon neurotisch. Der Pflichtmensch belastet den von ihm jeweils gewählten Pflichtenkreis mit der ganzen Wichtigkeit, die ihm allein keineswegs zukommt und gerät so in Konflikt nicht nur mit den ausgeschiedenen, sondern auch mit den übernommenen Pflichten, denen ja in ihrer künstlichen Aufgeblasenheit die Realität der übrigen mangelt. Die anerkannten Pflichten wachsen sich aus zu Monstern, zu Hirngespinsten, zu "fixen Ideen". Auch die politischen Ideologien unserer Tage lassen sich so als Massenneurosen deuten. Der politische Ideologe greift ebenfalls irgendeine Einseitigkeit, irgendein Sondermoment der Gesamtrealität, vielleicht das soziale oder das nationale, heraus, projiziert es in die Zukunft und setzt es absolut, während er die Wirklichkeit des gegenwärtigen Lebens ignoriert und sogar negiert. Hält er es um seiner eingebildeten Zukunft willen für nötig, so trägt er auch kein Bedenken, über Leichen zu gehen. Er wirft das Gegenwärtige durcheinander wie ein nervöser Bürochef die Papiere auf seinem Schreibtisch.
Es ist vor allem die männliche Species der Hysterie, die in den verschiedenen utopischen Forschrittsdoktrinen, in jeder Art von säkularisiertem Messianismus ihre Gestalt findet. Die ganze ideologisch gesteuerte Planwirtschaft in den totalitären Staatsgebilden von heute stößt in das Vakuum einer entgegenwärtigten Zukunft vor. Die kollektive Hast tobt sich zuletzt aus im hysterischen Wüten gegen alles Vergangene und noch Gegenwärtige, in der Massenabschlachtung von sogenannten Reaktionären und Fortschrittsfeinden. So hat der kommunistische Diktator Chinas, Mao-tse-tung allein im Jahr 1951 vierzehn Millionen Menschen liquidiert. Daß auf solche Weise gerade der Zukunft, die man erreichen möchte, die Absprungbasis entzogen wird, bleibt unbemerkt. Die "Staatsfeinde" werden dem Gott von morgen geopfert, aber mit Leichen kann dieser Gott leider nichts anfangen. In dialektischer Umkehrung läßt sich dieser ganze Vorgang übrigens auch als sein eigenes Gegenteil verstehen, nämlich als Hinschlachtung der Opfer für den Gott der Vergangenheit, von dem man sich loskaufen möchte. Diese Auslegung wird allein schon durch den kollektiven Charakter der Aktion nahegelegt; denn die bewußte Zukunft ist ja eigentlich immer nur dem individuellen Denken vorstellbar. Wird das Individuum dem Kollektiv geopfert, so bedeutet das im Grunde einen Schlag gegen die Zukunft, die man angeblich erstrebt und ein Zurücktauchen in die Vergangenheit, von der man sich lösen will. Die berüchtigte und groteske "Selbstkritik" der Kommunisten, ihre Selbstanklagen und Selbstbezichtigungen verraten eine verborgene "Mutterbindung" und erinnern an die schon erwähnte Selbstentmannung der Kybelepriester. Hinter der männlichen steckt immer auch die weibliche Form der Hysterie als ihr Komplement.
Wenn eben früher das Wort "Massenneurose" gebraucht wurde, so muß dieser Ausdruck allerdings mit großer Vorsicht aufgenommen werden; denn eine Massenneurose in dem Sinn, daß eine überindividuelle Ganzheit als solche neurotisch wird, gibt es genaugenommen gar nicht, wenigstens sicher nicht in dieser extrem individualistischen Epoche. Die eigentlichen Neurotiker sind heute vielmehr ausschließlich die Einzelnen, und was uns da als scheinbare Kollektivneurose sich darstellt, ist nur die Summierung vieler Individualneurosen. Ähnlich wie die Infektionskrankheiten früher einmal als verheerende Seuchen auftraten, so auch die Neurosen als echte Gemeinschaftserkrankungen, z. B. als Tanzepidemien, als Hexenverfolgungen, als Angst vor dem angeblich unmittelbar bevorstehenden Weltende; und es ließe sich vielleicht zeigen, daß solche Neurosen in irgendeinem zeitlichen Zusammenhang standen mit Pest, Cholera und Pocken. Nicht als ob die Neurose als Folge der Epidemie auftrat, als ihr gleichsam "ideologischer Überbau" hinzukam; es verhält sich damit eher umgekehrt: die bereits psychisch erkrankte menschliche Gemeinschaft war auch anfällig für die das leibliche Dasein bedrohende Seuche. So könnte z. B. die Pest, die zur Zeit des Königs David über Israel kam, gedeutet werden als die Folgeerscheinung oder als das sichtbare Widerspiel des neurotischen Nationalismus oder der nationalistischen Neurose, die in der vom König angeordneten Volkszählung ihren Ausdruck fand. Nationalismus als übersteigerte Reflektiertheit eines Volkes trägt immer den Stempel des Hysterischen oder Neurotischen. Dieser Nationalismus des alten Israel hatte freilich noch wenig Ähnlichkeit mit modernen Nationalismen und Chauvinismen. Er kam aus dem an sich durchaus berechtigten, obgleich mißdeuteten Glauben an die göttliche Erwählung des Volkes und hatte also einen religiösen Grund. Das religiöse Moment, die religiöse Wurzel bestimmt hier das Wesen des Phänomens. Massenneurosen dieser Art sind gar nicht zu denken ohne die bewußte Beziehung der Betroffenen auf ein wie immer verzerrtes Göttliches. In der gemeinsamen Gebundenheit an den so oder so vorgestellten Gott kommt auch die Verbundenheit der Einzelnen untereinander zum Vorschein. Ihre Religiosität wie ihre eventuelle Hysterie lebt noch aus dieser die individuelle Sphäre transzendierenden Verbundenheit. Die modernen Massenneurosen dagegen sind irreligiös, ja antireligiös und das heißt eben individualistisch. Da gibt es kein gemeinsames Band mehr, sondern nur die alle verbindende, nämlich alle auf das gleiche Niveau herabdrückende prinzipielle Unverbundenheit. Weil keiner einen Weg, nicht einmal mehr einen falschen Weg zum Anderen findet, weil jeder für sich allein bleibt, isoliert vom Göttlichen wie vom Mitmenschlichen, sind alle neurotisch. Jeder ist nur der Spezialist seiner eigenen Sonderexistenz.
Nicht nur die Neurose allein, sondern Krankheit überhaupt beruht auf Spezialisierung. Auch ein kranker Magen, ein kranker Zahn ist ein spezialisierter Magen, ein spezialisierter Zahn. Es war ja schon einmal von Spezialisierung die Rede, dort, wo es um das Verständnis der Tiere und ihres Verhältnisses zum Menschen ging. Die Tiere, wie wir sie kennen, sind ausspezialisierte und darum erkrankte Glieder oder Organe am Leib der Schöpfung. Der Mensch hat sie in ihre "Sackgassen", in ihre Krankheit gestoßen, indem er sich selbst als das einzig nicht-spezialisierte Geschöpf spezialisierte, sich als das allein freie Subjekt ihnen als den unfreien Objekten entgegenstellte. So verkrampften sie sich in ihre Spezialisiertheit wie er in seine spezialisierte Nicht-Spezialisiertheit. Er nahm alles, alle Möglichkeiten, die Gott seiner ganzen Schöpfung zugedacht hatte, für sich allein in Anspruch, und so wurde er zum kranken Haupt über einem Rumpf aus kranken Gliedern. Die Schöpfung konnte ihren gemeinsamen Daseinssinn nicht mehr zur Darstellung bringen, sie brach dahin und dorthin aus in der Richtung auf irgendeinen Un-Sinn, sie wurde hysterisch.
Wenn ein hastiger oder aufgeregter Mensch mit Armen und Beinen Bewegungen ausführt, die ihn keinen Schritt vorwärts bringen auf dem Weg zur Verwirklichung seines Zweckes, oder unartikulierte Wutschreie ausstößt, die keinen vernünftigen, d. h. vernehmbaren Sinn haben, dann besteht hier zwischen dem unsichtbaren seelischen Akt und der wahrnehmbaren körperlichen Funktion bereits ein Mißverhältnis, das wir uns nur noch um einige Grade gesteigert vorzustellen brauchen, vielleicht bis dorthin, wo das Bewußtsein jede Kontrolle über die Physis verliert, um das vor uns zu haben, was man in der Fachsprache eine "Organneurose" nennt. Das gesunde leibliche Sein ordnet sich ein in die Richtung des Sinnes, d. h. mit anderen Worten: es drückt den Sinn aus. Nicht nur das Sein braucht den Sinn, sondern ebenso der Sinn das Sein. Das Sein wird durch den Sinn aus seiner starren bloßen Materialität befreit, der Sinn erhält durch das Sein die Möglichkeit, sich auszudrücken, sich zu offenbaren. In einem geordneten Organismus muß jede Funktion, jede Bewegung, jede Geste ungebrochen den Sinn des Ganzen sichtbar werden lassen, mit ihm und mit jeder anderen Funktion zusammenstimmen. In einer absolut geordneten Welt, im status perfektionis des Gottesreiches etwa, müßte jedes Wesen, jedes Ding und jedes Geschehnis zur Gebärde der Menschlichkeit des Menschen als der sinntragenden Spitze des kosmischen Gebäudes geworden sein. Versagt sich aber der Sinn dem Sein, indem er es sich zum Objekt macht, dann verliert das Sein die Fähigkeit, den Sinn, die Welt die Fähigkeit, den Menschen, der Leib mit seinen Gliedern und Organen die Fähigkeit, die Seele auszudrücken, verständliche Worte, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn, zu sprechen, er beginnt zu stottern, vielleicht mit dem Mund, vielleicht auch mit dem Magen, dem Darm, dem Herzmuskel, der Luftröhre usw., kurz er zeigt die typischen Symptome der Organneurose.
Der Beziehung zwischen der Seele und dem Leib entspricht, wie wir schon ausgeführt haben, innerhalb der Seele die andere zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten. Von der Harmonie oder Disharmonie dieser zweiten Beziehung hängt auch die Harmonie oder Disharmonie jener ersten ab, und es gibt wahrscheinlich keinen innerseelischen Konflikt, der nicht auch im Leiblichen seine Entsprechung fände. Die Organneurose tritt darum nicht als ein bloß akzidentielles Etwas zur neurotischen Substanz hinzu, sondern gehört unablöslich zu ihr, mag sie auch im einen Fall deutlicher, im anderen weniger deutlich zu bemerken sein. Dieses Mehr-oder-weniger hängt offenbar von der besonderen Art, vom Intensitätsgrad und von anderen Faktoren des seelischen Konfliktes ab. Auch die eventuelle Ausdruckslosigkeit des Leibes, seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Psychischen und Bewußten kann unter Umständen Ausdruck einer neurotischen Störung sein. So gibt es z. B. Menschen, die nicht weinen können, wenn sie sehr traurig sind.
Im physiologischen Bereich verhalten sich die willkürlichen zu den unwillkürlichen Muskelbewegungen bzw. die sie regulierenden Nervensysteme zueinander wie das Bewußtsein zum Unbewußtsein. Ist das Verhältnis gestört, so spielen beide nicht mehr zusammen, ja die einen wirken den anderen geradezu entgegen. Der Wille, der sich isoliert, in dem er sich selber will, statt sich extravertiert seiner Bestimmung gemäß auf ein Ziel zu entwerfen, wird, ebenso wie die Erkenntnisfunktion, die sich in sich selbst reflektiert, statt sich einem Gegenüber zuzuwenden, zum Objekt, tritt als solches neben das Gegenständliche und hört so auf, polar auf dieses bezogen zu sein. Wo die Synthese sein sollte, klafft ein Riß. Das reflektiert bewußte Wollen des Willens ist tatsächlich schon ein Nichtwollen des Gewollten, ein Nein zu eben dem Ziel, auf das hin willkürliches und unwillkürliches System gemeinsam ausgerichtet sind, solange die ursprüngliche Ordnung besteht. So kann es geschehen, daß das reflektierte Wollen einer bestimmten Organfunktion deren Zustandekommen gerade unmöglich macht und statt zu Entspannungen zur Verkrampfung führt. Aber es muß keineswegs diese Organfunktion als solche gewollt sein. Es genügt vielmehr, daß der bewußte Wille ein Ziel intendiert, das mit dem betreffenden Organ etwa auch nur in einem symbolischen Zusammenhang steht.
Die früher erwähnten hysterischen Bewegungen, unartikulierten Schreie usw. lassen sich freilich noch nicht als organneurotische Phänomene im eigentlichen Sinn interpretieren, obgleich sie zweifellos Vorstufen der Neurose sind. Medard Boss6) meint den Unterschied zwischen Hysterie und Organneurose darin sehen zu dürfen, daß die Symptome der Hysterie immerhin noch die Gestalt von Gebärden haben, während das organneurotische Symptom den Charakter einer das Verständnis unmittelbar ansprechenden Gebärde bereits verloren hat. Man könnte demnach sagen, das organneurotische Symptom ist seinem Sinn nach dem Bewußtsein des Neurotikers entglitten und darum als Sinnzeichen auch für ein anderes Bewußtsein nicht mehr zugänglich; denn nur Bewußtsein spricht zu Bewußtsein, und in dem gleichen Grad, in dem ein Mensch mit sich selber außer Kontakt gerät, sich aufspaltet, lösen sich auch seine Beziehungen zur Umwelt, vor allem zu den Mitmenschen. Der Hysteriker hat auch noch einen Rest von Verantwortungsgefühl für seine Gebärdensprache, der Organneurotiker aber nicht mehr.
Als Beispiel für den Übergang von der Hysterie zur eigentlichen Organneurose führt Boss die höchst merkwürdige Beobachtung an, daß es im ersten Weltkrieg eine große Anzahl sogenannter "Schüttler" gab, deren Schüttelbewegungen hysterische Symptome ihrer Angst und ihres Nicht-mehr-Kämpfen-Wollens waren. Im zweiten Weltkrieg dagegen, der vor allem auf deutscher Seite mit äußerster Rücksichtslosigkeit vor allem auch gegen die eigenen Soldaten geführt wurde, mußte der einzelne Mann seine natürliche Feigheit, seine Angst vor Tod und Verwundung demgemäß weit energischer verdrängen, also aus dem Bewußtsein verbannen. Es gab darum kaum noch Schüttler, denen man die Herkunft ihres Leidens allzu deutlich anmerkte, dafür aber um so mehr Erkrankungen an Magengeschwüren u. dgl., also eben nicht Hysterie, sondern Organneurose.
"Hat sich", sagt Boss wörtlich, "ein Mensch aber einmal der Feigheit begeben, allen seinen Möglichkeiten entsprechend weltoffen zu sein, dann bleibt den ihm zugehörigen, aber an ihrem normgemäßen Austrag verhinderten Weltbezügen allerdings gar nichts anderes mehr übrig, als sich nunmehr in den dunklen, wort- und gedankenstummen Sphären der Existenz, im Bereich der eigenen Leiblichkeit vor allem, auszutragen. Deshalb wird eine so verhaltenen Lebensmelodie den eigenleiblichen Bezirk nun nicht mehr bloß normgemäß im Durchgang zu den Dingen der Welt durchschwingen, sie wird vielmehr innerhalb der eigenen Leibessphäre steckenbleiben. Ein derart auf die eigene Leiblichkeit eingeengtes, in ihr steckengebliebenes Existieren jedoch wird stets als eine der Norm widersprechende, krankhafte Aufblähung und Verzerrung eben dieser Leiblichkeit in Erscheinung treten. ... In diesem eigenleiblichen Steckenbleiben menschlicher Lebensmöglichkeiten gründen alle hysterischen und ein Teil der organneurotischen Störungen"7). Die Frage, ob die zuletzt gemachte Einschränkung hinsichtlich der Organneurose zutrifft oder nicht, braucht uns hier nicht zu interessieren.
Die Grenze zwischen Hysterie und Organneurose läßt sich kaum ganz scharf ziehen. Die Übergänge sind oft fließend, so etwa in gewissen Fällen "hysterischer" Lähmungen. Der Patient kann z. B. nicht gehen, obwohl die Beinmuskulatur, die Gelenke usw. vollkommen intakt sind. Der bewußte Wille vermag sich offenbar nicht durchzusetzen, weil ein unbewußter Gegenwille stärker ist. Der Körper gehorcht dann dem unbewußten und nicht dem bewußten Wollen. Der Leib nimmt das auf, was die Seele verdrängt hat und setzt es in einen unbewußten Willen, d. h. in einen Trieb um, weil er selber das primär von der Seele Verdrängte ist. Diese Verdrängung ereignet sich bereits durch das allzu bewußte Wollen selbst. Bewußt wollen heißt nämlich, das Gewollte, ja den Willensakt als solchen mit Absicht intendieren und objektivieren und so die Verfügungsgewalt darüber verlieren. Jedes "bewußte" Wollen ist somit das unbewußte Wollen seines Gegenteils. Indem sich der Willensakt autonomisiert, das bedeutet subjektiv isoliert, entzieht er sich der Wirklichkeit, die ihm nun in heteronomer Gestalt entgegentritt. In der Autonomie, im reinen A-priori des "Ich will" setzt er eine bloße Phantasiewirklichkeit, eine Irrealität also, an die Stelle der Realität, innerhalb welcher sie niemals aktuell werden kann. Wird im extremen Fall der Lebenswille zu einer Angelegenheit rein egoistischer Reflexion, so nimmt dementsprechend der Trieb die Gestalt des "Todestriebes" / Freud / an; denn die Psyche, die sich und nur sich allein will, findet in der Selbstauflösung des Soma ihren durchaus adäquaten Ausdruck. Schließlich besteht die Möglichkeit, daß der Todestrieb auch in das Bewußtsein des Lebenswillens selbst eingeht und diesen ambivalent macht, wie das etwa im Geschlechtstrieb mit seinen sadistischen und masochistischen Komponenten immer geschieht.
Jedes Organ kann, wie das vor allem V. v. Weizsäcker wiederholt betont, immer nur in seiner eigenen Sprache reagieren und auch nur in dieser besonderen Sprache einen seelischen Vorgang körperliche Gestalt verleihen. Wenn also z. B. die Muskulatur der Speiseröhre nur die beiden Bewegungen der Expansion und der Kontraktion zu vollziehen vermag, um die Nahrung aus dem Mund in den Magen zu befördern, so bleibt auch ihre Ausdrucksfähigkeit im Fall eventueller gerade dieses Organ berührender neurotischer Störungen auf die ihr eigentümlichen beiden "Worte" beschränkt. In einem Orchester ist die Stimme, die Klangfarbe jedes einzelnen Instrumentes festgelegt. Die Flöte kann nicht zur Trompete und die Posaune nicht zum Cello werden. Wohl aber kann das einzelne Instrument die Harmonie des Ganzen verwirren, wenn es entweder zu laut oder zu leise klingt oder wenn es andere als die ihm nach der Partitur zugemessenen Töne hören läßt. Und ebenso kann das in seiner und nur in seiner Sprache redende Organ die Symphonie des Gesamtorganismus durcheinanderbringen, sobald seine Funktionen die ihm gemäßen Grenzen überschreiten oder sie nicht erreichen, bzw. wenn sie nicht alle in entsprechender Weise aktiv werden. Das betreffende Organ fällt aus dem Rahmen und bildet schon allein damit die neurotische Störung ab, die ja an sich in ihrer sozusagen psychischen Urgestalt auch nichts anderes ist als ein Aus-dem-Rahmen-Fallen. Der Neurotiker vereinseitigt sich, fixiert sich an irgendeine Sondermöglichkeit und verwirrt so das Konzert seiner seelischen Fakultäten.
Handelt es sich um eine unzweifelhaft feststellbare Organneurose, das heißt, ist keine Täuschung darüber möglich, daß die zu beobachtende organische Erkrankung ihren Ursprung in einer psychischen Sinnverfehlung hat, so besteht zwischen dem primären seelischen und dem sekundären leiblichen Phänomen ein Bedingungszusammenhang. Die Sinnverfehlung ist das Bedingende, die körperliche Krankheitserscheinung das Bedingte. So einfach liegen die Dinge aber durchaus nicht immer. Es kann sehr wohl sein, daß zwischen der seelischen Haltung und dem organischen Symptom eine Art Parallelismus oder sonst eine Entsprechung besteht, ohne daß darum jene für dieses verantwortlich gemacht werden dürfte. Nicht nur die Seele beeinflußt den Leib, sondern auch der Leib die Seele, und schließlich gibt es auch Entsprechungszusammenhänge, die kausal überhaupt nicht zu interpretieren sind. Wenn etwa ein Fieberkranker deliriert, so ist das Delirium somatogen und nicht das Fieber psychogen. Psychogen heißt, daß der Kranke als Subjekt seine Krankheit erzeugt, somatogen, daß er als Kranker Objekt eines die Krankheit erregenden transzendenten Subjektes ist. Ältere Epochen haben dieses transzendente Subjekt den Dämon der Krankheit genannt.
Einen Fall, der es zweifelhaft erscheinen läßt, ob ein somatogener Bedingungszusammenhang oder ein Entsprechungszusammenhang vorliegt, berichtet V. v. Weizsäcker: Im Blick auf den eventuellen schlimmen Ausgang bemerkt ein zuckerkrankes Mädchen: "Das kann man ja doch nicht ändern." Weizsäcker nennt diese Haltung "positive Resignation", worunter er so etwas wie bedenkenlose Verschwendung versteht, die sich keine Sorgen um die Zukunft macht, und er erwägt die Möglichkeit eines Zusammenhanges dieser Haltung mit der verschwenderischen Zuckerproduktion der Zellen des Diabetikers, die sich damit, mit ihrer bedenkenlosen Freigebigkeit also, selbst in Gefahr bringen. Ich weiß nicht, ob diese Deutung haltbar ist oder ob nicht vielmehr die bereits eingetretene somatische Schwäche die Gleichgültigkeit des Patienten dem Schicksal gegenüber erzeugt, in welchem Fall wohl eher von einer somatogen bedingten "negativen Resignation" und einem somatogenen Kausalzusammenhang zu reden wäre. Sollte Weizsäcker aber recht haben, dann hätten wir es hier mit einem typischen Entsprechungszusammenhang zu tun.
Natürlich gehört weder der Entsprechungszusammenhang noch der somatogene Bedingungszusammenhang in irgendeiner Weise zu den unter der Kapitelüberschrift "Organneurose" abzuhandelnden Phänomenen. Ich erwähne beide Möglichkeiten nur, um den Anschein zu vermeiden, als wollte ich hier alle Krankheiten psychogen deuten, d. h. auf das seelische Verhalten des einzelnen Kranken zurückführen. Auch die eventuellen psychischen Symptome müssen durchaus nicht in der Psyche des betreffenden Patienten ihren Ursprung haben, obgleich unserer Grundvoraussetzung nach allerdings jede Krankheit, mag sie wie und wo immer in Erscheinung treten, in einem psychischen Entscheidungsakt gründet. Das Subjekt dieser Entscheidung kann zwar, aber muß keineswegs der Kranke als Individuum sein, ja er wird es sogar in den weitaus meisten Fällen nicht sein.
Ist er es, dann handelt es sich eben um eine Neurose, die sich auch nur vom Subjektiven her fassen läßt. Um welche Subjektivität aber geht es da? Um das Erkenntnis-Ich oder um das Herz-Ich? Sofern es in der Neurose zu einer Spaltung zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten oder zwischen Seele und Leib kommt, bzw. bereits gekommen ist, steht die Subjektivität zweifellos auf der Seite des Bewußtseins, also des Erkenntnis-Ich, des Hirn-Ich, aber das doch nur als Folge einer Verschiebung oder Verlagerung vom "Herzen" her, nämlich von jener Mitte, die Erkennen und Wollen, Seele und Leib, Hirn und Abdomen zusammenbindet, und somit beruht die Neurose zuletzt, mag sie sich wie immer äußern, auf einer Fehlleistung des Herzens, worunter wir hier natürlich nicht das so genannte Organ verstehen, und diese Fehlleistung, diese Fehlentscheidung wirkt sich sodann dahin und dorthin krankheitserregend aus, während sie selber noch nicht eigentlich eine Krankheit ist, sondern sich noch im prämorbiden Vorstadium hält. Das entspricht durchaus dem, was etwa Carus meint, wenn er sagt: "Je nach ihrer verschiedenen Natur sind nämlich allerdings und insbesondere Gemütsbewegungen / v. m. gesp. / imstande, durch den starken Widerklang, den sie allemal im Unbewußten haben, als wirklich krankheitserzeugende Momente zu wirken, und es darf hierbei als ein allgemeines Gesetz betrachtet werden, daß Krankheiten, deren Idee im Unbewußten / d. h. im Leiblichen! / zuerst von der Sphäre des Bewußtseins aus angeregt worden ist, auch allemal in ihrer inneren Verbreitung und Entwicklung insbesondere gerne gegen die bewußte Welt des Geistes wieder hinüberschatten"8). Seinen Grund hat das offenbar darin, daß die Gemütsstörung das Zentrum trifft zwischen dem Leiblichen und dem "Geistigen", worunter hier natürlich der Intellekt zu verstehen ist. Indem eine körperliche Krankheit, wie im Fall der Organneurose, noch deutlich ihre Herkunft aus der zentralen Region erkennen läßt und auf das gestörte existentielle Gleichgewicht zurückverweist, reichen gleichsam ihre Fühler und Fasern über die Mitte hinweg oder durch sie hindurch auch noch in den Bereich des anderen Poles hinüber. Darum gehen im Gegensatz zu den eigentlichen organischen Erkrankungen Organneurosen so gut wie immer mit psychoneurotischen Symptomen zusammen.
Eines der schwierigsten, vielleicht sogar das schwierigste von allen Problemen, vor die uns die Organneurose stellt, ist das der sogenannten Organwahl, d. h. die Frage, welche Organe des Leibes von welchen Störungen des Seelenlebens ausschließlich oder vorwiegend affiziert werden und welche Rückschlüsse daher ein bestimmtes organisches Leiden auf seine Herkunft gestattet. Auf was für einen seelischen Konflikt deuten also z. B. Herzneurosen, neurotische Muskelkrämpfe, Hemmungen des Gehvermögens, der Sprache / Stottern /, asthmatische Beschwerden, Magen- und Darmneurosen usw. usw.? Dazu wäre zunächst einmal zu sagen, daß zwar alle diese Symptome vieldeutig sein können, daß aber allerdings das betreffende Organ mit der psychischen Sphäre, von der die Störung jeweils ausgeht, in einem funktionellen oder symbolischen Zusammenhang stehen muß. Es wird also etwa ein erotischer Konflikt, ein Liebeskummer oder dergleichen Muskelkrämpfe in den Armen oder auch ein Herzneurose im Gefolge haben, weil die Arme an der liebenden Umarmung beteiligt sind und das Herz in gewissen Augenblicken erotischer Emotion schneller schlägt, kaum aber irgendwelche neurotische Störungen des Verdauungsapparates, obwohl sicher auch das nicht unbedingt ausgeschlossen bleibt.
Keinesfalls werden wir uns dem Dogmatismus jener psychosomatischen Schule verschreiben dürfen, die vor allem in Amerika zu Hause ist und als deren Hauptvertreter gegenwärtig Alexander gelten darf. Man traut sich da zu, jedes somatische Symptom einem ganz bestimmten seelischen Konflikt zuzuordnen, wie das etwa die folgenden wörtlich zitierten Behauptungen erkennen lassen: "In den Tiefen seiner Persönlichkeit trägt der Ulcus-Patient ein unbewußtes Verlangen nach der behüteten Existenz eines kleinen Kindes." "Der Kernfaktor bei der Pathogenese des Ulkus ist die Versagung der anlehnungsbedürftigen, hilfesuchenden und Liebe fordernden Sehnsucht." "Der dem Symptom / des Durchfalls / zugehörige verdrängte psychologische Faktor ist das mächtige Bedürfnis zu schenken und wiedergutzumachen." Die geschwürige Dickdarmentzündung beruht auf "der versagten Strebung, eine Verpflichtung auszuführen." Der an chronischer Verstopfung Leidende "fühlt sich zurückgewiesen und erwartet nicht, von anderen etwas zu erhalten." "Der Asthmaanfall stellt einen unterdrückten Schrei nach der Mutter dar"9).
Unumstößliche und allgemeingültige Gesetze der Organwahl lassen sich schon darum nicht aufstellen, weil es hier um eine Problem geht, das seine Beziehung zur Freiheit hat, was ja übrigens bereits durch das Wort "Wahl" angedeutet erscheint. Dem Bereich des kausal Faßbaren und Bestimmbaren und somit unter ein allgemeines Gesetz zu Bringenden gehört höchstens das Gewählte als solches, aber keinesfalls das Wählende an, und gerade dieses steht hier entscheidend in Frage. Ein frei wählendes Subjekt ist eben darin frei, daß sich seine Wahl nicht vorausberechnen läßt, daß es dieses oder auch jenes wählen kann. Es bleibt, wenigstens bis zu einem gewissen Grad, meiner Freiheit anheimgestellt, wie ich mich in einer bestimmten kritischen Situation verhalte, wie ich auf einen Anstoß von außen reagiere, ob ich z. B. auf einen Angriff mit einem Gegenangriff oder mit Flucht antworte, und das heißt auch schon, ob in diesem Fall die geballte Faust oder das Bein das gewählte Organ ist. Man braucht das nur auf das Verhältnis zu den inneren Organen zu übertragen, um zu begreifen, daß auch hier die Organwahl weithin der Freiheit überlassen bleibt.
V. v. Weizsäcker führt eine ganze Reihe von Fällen an, die deutlich zeigen, daß ein und derselben psychischen Haltung bei verschiedenen Menschen auch verschiedene, ja sogar gegensätzliche physische Symptome entsprechen können. So bewirkt etwa unterdrückte Wut bei dem einen eine Steigerung, bei dem anderen Herabsetzung des Blutdruckes / Hypertonie oder Hypotonie /. Manche Menschen werden darum im Zorn rot, manche wieder blaß. Es gibt keine Regel, die ein für allemal gilt. Der Körper drückt die gleiche seelische Regung in jeweils anderer Weise aus. Vielleicht hat hier aber gerade die mögliche Gegensätzlichkeit ihre besondere Bedeutung. Es könnte sein, daß bei relativer Nähe von Seele und Leib ein Ausdruck direkter Entsprechung erfolgt, bei relativer Ferne aber das Gegenteil. So ließe sich denken, daß der Zorn des mehr unmittelbaren Menschen das Blut in die Wangen und in die Stirn treibt, während der des reflektierten und introvertierten den Kreislauf hemmt.
Die Tatsache, daß die Organwahl, wie wir sagten, irgend etwas mit Freiheit zu tun hat und darum nicht einer strengen gesetzmäßigen Determination unterliegt, schließt freilich die Zugeordnetheit eines besonderen Organgebietes zu einem umgrenzten Komplex seelischer Regungen keineswegs aus, und insofern hat auch der Versuch, die hier waltenden Beziehungen zu erforschen, sein gutes Recht.
V. v. Weizsäcker behauptet, daß die verschiedenen Organsysteme "vorher bestimmte und sinngemäße Ausdeutungsgebiete für bestimmte seelische Kräfte und Strukturen seien." Zwischen Seele und Leib besteht ja a priori ein Entsprechungsverhältnis schon darum, weil der Leib der seinshafte Ausdruck der Seele und die Seele der Sinn des Leibes ist. Die Seele selbst stellt sich im Leib physiognomisch dar, und somit hat auch jedes einzelne Glied und jedes einzelne Organ seinen Symbolwert im Hinblick auf die Seele. Gegen Relationsbestimmungen, die genügend weit gefaßt sind, läßt sich nicht nur nichts einwenden, sie sind sogar unerläßlich für die Einsicht in den psychophysischen Zusammenhang. In den Grenzen des hier durchaus Erlaubten halten sich etwa die folgenden Worte von Schulz-Hencke: "Der Affekt / z. B. Todesangst / hat etwas mit Lunge und Herz zu tun, der Schreck mit der Schilddrüse, die Trauer mit der Leber, der Ärger mit der Galle, die Wut mit den Kopfarterien, der Geiz mit dem Darm, die Habgier mit Magen, die Sexualität mit Genitale oder Herz. Umgekehrt steht die Niere mit ihren Ausführungsgängen in regelhafter Beziehung zur Sexualität, zur Wut oder zum Geiz"10).
V. v. Weizsäcker führt eine Reihe selbstbeobachteter Fälle an, in welchen seelische Erschütterungen erotischer Art, bzw. die gewaltsame Verdrängung erotischer Wünsche das Auftreten von Angina tonsillaris und sodann Nephritis zur Folge hatten. Ohne uns anzumaßen, die Richtigkeit oder Verläßlichkeit dieser Beobachtungen zu bekräftigen oder zu bezweifeln, mag es uns gestattet sein, sie einfach hinzunehmen und daran die Frage zu knüpfen, wie denn wohl die Mandeln und die Nieren erstens miteinander und zweitens gemeinsam mit der erotischen Erlebnissphäre zusammenhängen. Wie schon früher erwähnt wurde, hat Armin Müller darauf aufmerksam gemacht, daß bei niederen Wirbeltieren die männlichen wie die weiblichen Keimdrüsen, beiderseits der Wirbelsäule angeordnet, bis in die Halsregion hineinreichen, während sie sich bei den höheren Formen in aufsteigender Linie immer mehr gegen das hintere Körperende verlagern und schließlich sogar aus der Bauchhöhle heraustreten. Diese Tatsache läßt vielleicht die Vermutung zu, daß die bei den höheren Säugetieren und beim Menschen rechts und links von der Wirbelsäule liegenden Drüsenpaare, zu denen die Mandeln ebenso wie die Nieren gehören, ihre Beziehung zu den Keimdrüsen nicht völlig verloren haben, wenn ihnen auch innerhalb des Gesamtorganismus ganz andere Funktionen als diesen zukommen. Sicher besteht zwischen allen diesen Drüsen mindestens ein symbolisches Verhältnis, das allein schon zur Erklärung der von Weizsäcker beobachteten Erscheinungen ausreichen würde; denn auch das Verhältnis des seelischen Vorganges zu seiner leiblichen Entsprechung hat symbolischen Charakter und kann nicht einfach grob kausal verstanden werden. Es wäre also etwa denkbar, daß der erotische Affekt nebst den Keimdrüsen selbst auch die ihnen symbolisch zugeordneten Tonsillen derart aus der Fassung bringt, daß sie für den Angriff immer vorhandener Krankheitserreger empfänglich werden. Ich erwähne dieses Beispiel nur, um an ihm zu zeigen, in welcher Weise psychosomatische Wechselwirkungen überhaupt interpretierbar sein können.
Die einzelnen Organneurosen sollen hier nur besprochen werden, sofern sie dazu dienen, das Prinzipielle besser zu illustrieren. In dem Kapitel über die Symbolik des Leibes und der Organe wurde bereits auf das Verhältnis der thorakalen Region mit Herz und Lunge einerseits sowie der abdominalen, bzw. des Magen-Darm-Kanals andererseits zur Zeit hingewiesen. Im Rhythmus der Atmung und des Pulsschlages stellt sich die zyklische, d. h. die in sich zurückkehrende Zeit, die Gegenwärtigkeit, im Verdauungsvorgang dagegen die lineare, die verlaufende objektive Zeit, die Vergänglichkeit dar. Da der Hysteriker und Neurotiker immer und vor allem mit seiner zeitlichen Existenz in Konflikt steht, seine eigene Zukunft und Vergangenheit in der Herzmitte der Gegenwart nicht zu zentrieren vermag, liegt die berechtigte Vermutung nahe, daß die a priori an die Zeitlichkeit gebundenen Organe, also eben Herz, Lunge und Verdauungstrakt, für neurotische Störungen in besonderer Weise empfänglich sind.
Unter den Todesursachen stehen heute nachgewiesenermaßen in Europa wie in Amerika Hypertonieerkrankungen an erster Stelle. In den USA leidet jeder zweite Mensch über fünfzig Jahren an Hypertonie, d. h. an einer übernormalen, durch Gefäß- bzw. Arterienverkalkung bedingten Steigerung des Blutdruckes. Hypertonie ist die Hastkrankheit schlechthin. Das Blut kann nicht in ruhigem Rhythmus pulsieren, mit anderen Worten, das Gleichgewicht des Lebens, das sichere Geborgensein im Gegenwärtigen ist gestört, und zwar gestört durch die Hypertrophie der Zukunft, der subjektiven Zeitdimension, die dem Zentralnervensystem im leiblichen Organismus entspricht. Es ist nun nicht etwa so, daß dafür die äußeren Lebensbedingungen kausal verantwortlich gemacht werden dürften und der Mensch nur ihr armes Opfer wäre. Nicht irgendwelche zufällige objektive Umstände veranlassen uns, uns strebend oder fürchtend auf die Zukunft zu entwerfen, sondern das primäre reflektierende Sich-Entwerfen auf die Zukunft, die Erfolgsgier, die Machtgier, die Glücksgier, die Genußgier, der sich überstürzende Wettlauf nach irgendeinem Ziel erzeugt jene Lebensbedingungen, die dann allerdings auch wieder auf den Erzeuger zurückschlagen und ihn in ihren reißenden Strom hineinziehen. Die Zukunftssucht hat die Maschinen, die Eisenbahnen und Dampfschiffe, die Autos und schließlich die Flugzeuge mit Überschallgeschwindigkeit hervorgebracht und nicht umgekehrt, wenn dann freilich auch in einem verhängnisvollen Zirkel diese Maschinen ihrerseits eine weitere Steigerung der Zukunftssehnsucht im Gefolge haben. Die einmal ins Leben gerufenen Dämonen gewinnen die Herrschaft über den Zauberlehrling Mensch. Der Teufel, dem man sich verschrieben hat, wird zu einer sehr realen unwiderstehlichen Macht.
Der Neurotiker, ob zukunftssüchtig oder vergangenheitshörig, ist der der linearen Zeit verfallene und die Gegenwart verlierende Mensch, der aus der Diastole nicht zurückfindet in die Systole und aus der Systole nicht zur Diastole, dem die Selbstverständlichkeit des rhythmischen und im Rhythmus sich regenerierenden Lebens fehlt, und dieses Manko kann sich in einer Störung sowohl der Herztätigkeit und des Blutkreislaufes wie auch der Atmung manifestieren. Herz und Atmungsorgane sind aufeinander angewiesen. Sie hängen nicht nur anatomisch und funktionell, sondern auch pathologisch eng zusammen. Wie der Herzschlag, so ist auch die Atmung unmittelbar lebenswichtig. "Im leiblichen Existenzbereich ist der Rhythmus des Ein- und Ausatmens von Luft der allernotwendigste Lebensbezug; beginnt und endet unsere Existenz als Menschen doch mit dem ersten und dem letzten Atemzug. Aus keinem anderen Grunde ereignet sich denn auch der Austrag eines von derartig abgründiger Angst gestimmten Daseins innerhalb des Mediums der Leiblichkeit gerade in Gestalt einer asthmatischen Atemnot und nicht etwa als Krampf der Speiseröhre oder als Spasmus des Pylorus. Denn durch diese Leibregion hindurch geschieht ja bloß die Zufuhr der weniger unmittelbar lebensnotwendigen Speisen"11). Wir werden also sagen können: Beim Atmen wie beim Herzschlag geht es um Sein und Nicht-Sein, beim Essen und Verdauen aber, wenigstens zunächst, nur um Haben und Nicht-Haben. In der asthmatischen Kontraktion der Luftröhre und in neurotischen vasomotorischen Störungen drückt sich demnach die elementare Existenzangst aus. Der Blutkreislauf stellt die Einheit des Lebens in sich selber her, die Atmung verbindet das organische Lebewesen mit seiner Außenwelt, aber beide sind in gleicher Weise notwendig. Um leben, d. h. um gegenwärtig sein zu können, brauche ich die Gegenwart sowohl meiner eigenen Leiblichkeit wie auch meiner Umwelt. Ich bin nur als der mit mir und als der in der Welt Seiende. Bricht eine dieser Beziehungen ab, so höre ich im gleichen Augenblick auf zu existieren. Das allein erklärt hinreichend die Abhängigkeit der Herz- und Atemneurosen von der Angst, die ja im Letzten und Tiefsten immer Todesangst ist. Das Herz steht still, der Atem stockt, damit erscheint eben das, wovor ich Angst habe, der Tod nämlich, symbolisch vorweggenommen. Ob die asthmatischen Hemmungen auf einer anderen Art von Angst beruhen als die Kreislaufneurosen, weiß ich nicht, könnte mir aber sehr wohl vorstellen, daß die sich in der Form des Asthmas äußernde Angst mehr einer von außen drohenden Gefahr gilt und so der bloßen Furcht näher steht, während die Angst, die unmittelbar das Herz ergreift, sich auf die ganz tiefe Gefahr bezieht, unter der das seinem Sinn entfremdete Leben seiner eigenen inneren Natur nach immer schon gefangen ist.
Während die neurotischen Beschwerden der Thoraxorgane mit dem Zwiespalt von Gegenwärtigkeit und Vergänglichkeit, von Sein und Nicht-Sein in Zusammenhang stehen, deuten die Neurosen des Verdauungssystems vermutlich mehr auf ein gestörtes Verhältnis des Leidenden zu bestimmten Zeitdimensionen, zu Vergangenheit und Zukunft, zu Vergangenheit oder Zukunft. Die "natürliche" Lage des Mund-Magen-Darm-Kanals ist die horizontale wie bei den Tieren; denn sie drückt den dem Stoffwechselprozeß entsprechenden Zeitverlauf am sinnfälligsten aus. Die Vertikale, zu der beim Menschen allein auch dieser Kanal aufgerichtet erscheint, wird dagegen schon zum Symbol der Unterordnung der empirischen Zeit unter eine ganz andere der Überwundenheit durch sie; denn auch der Mensch sucht, genau so wie das Tier, seine Nahrung in der Horizontalen und nicht in der Vertikalen. Auf den gleichnishaften Charakter der Nahrungszuteilung im Paradies wurde schon hingewiesen. Für den Menschen sind die Früchte der Bäume bestimmt, die oben hängen, für die Tiere die grünen Blätter, die unten wachsen und auf die das horizontal ausgestreckte Tier sozusagen mit seiner Nase stößt. Nach dem Fall aber wird eigentümlicherweise von den Früchten gar nicht mehr geredet. Da sagt Gott auch zum Menschen: "Du sollst das Kraut auf dem Felde essen", also gleichfalls das, was unten ist. Der sündige Mensch hat den Anspruch auf die Vertikale verloren, er hat sich dem Tier, und zwar dem horizontalsten von allen Tieren, der auf dem Bauch kriechenden Schlange angeglichen, er ist der horizontalen, der linearen Zeit, der Todeszeit, der Vergänglichkeit verfallen. Die Schlange ist ein einziger langer Darm vom Kopf bis zum Schwanzende. Der Mensch geht zwar noch aufrecht zur Erinnerung an seine ursprüngliche Existenzweise im Angesicht Gottes, aber die Horizontale hat nun Macht über ihn, sie entläßt ihn für ein kurzes Leben und zieht ihn wieder zu sich herab; er geht des Morgens als Kind noch auf vier und des Abends als Greis schon wieder auf drei Beinen, um sich endlich sterbend lang hinzustrecken, also die natürliche Lage der Schlange, des die Zeit symbolisierenden Verdauungskanals anzunehmen.
Mensch und Tier gehen auf ihre Nahrung zu oder holen sie an sich heran. Die noch nicht ergriffene und erst zu ergreifende Nahrung ist das wesenhaft Zukünftige. Die vom Körper ausgeschiedenen Abfallstoffe dagegen sind das Vergangene. Mund und Anus bezeichnen so den Eintritt der Zukunft und den Austritt der Vergangenheit. Der essende, verdauende und ausscheidende Leib verwandelt das Noch-Nicht in ein Nicht-mehr, das Morgen in ein Gestern. Die beiden zum Aufnehmen und zur Ausscheidung bestimmten Pforten sind also den beiden Dimensionen der Zeit zugeordnet. Daraus darf geschlossen werden, daß neurotische Störungen innerhalb dem Mund relativ nahen Traktes, also in der Speiseröhre und im Magen, mehr auf ein Mißverhältnis zur Zukunft, solche des Endtraktes, des Dickdarms und des Mastdarms vor allem, eher auf ein Nichtzurechtkommenkönnen mit der Vergangenheit hindeuten.
M. Boss rechnet auch noch den Dünndarm dem dem Mund benachbarten Trakt zu und meint: "Der Dünndarm und Dickdarm eines Menschen gehören den Weltbezügen des Sich-aneignens und des Ausstoßens von etwas' um deren Vollzug im Medium der leiblich-stofflichen Sphäre geht. Sie konstituieren das Sich-aneignen der Weltdinge immer mit. &endash; Darum haben Menschen, denen der Lebensbezug spielend gelingt, auch eine glänzende Verdauung"12). Wenn auch vieles von dem, was Boss außerdem über organneurotische Dünn- und Dickdarmleiden, über Colitis, Obstipation usw. ausführt, oft allzu spekulativ und nicht immer ganz überzeugend klingt, so ist doch der prinzipielle Zusammenhang zwischen dem Verdauungsprozeß und allen menschlichen Handlungen des Ergreifens und Abstoßens zweifellos richtig gesehen. Wer so oder so mit seiner Zeitlichkeit, d. h. mit seinem Los-auf-die-Zukunft und Fort-von-der-Vergangenheit nicht in Ordnung ist, der leidet in diesem übertragenen Sinn und wahrscheinlich auch im ganz wörtlichen an einer schlechten Verdauung.
An einer anderen Stelle des eben zitierten Werkes von Boss, das ich hier exemplarisch heranziehe, heißt es: Gewisse Beispiele beweisen, "daß nicht ein bestimmter Persönlichkeitstyp für die Patienten mit Magen- und Duodenalgeschwüren von primärer Bedeutung sei, sondern ein spezifischer Triebkonflikt zwischen einem verdrängten passiven Gefüttert- und Gepflegtwerdenwollen und einem überkompensatorischen, bewußten aktiv-produktiven oder aggressiven Verhalten"13). In die Sprache der Theologie übersetzt bedeutet das, daß der Mensch erkrankt, wenn er sich selber zu nehmen sucht, was er sich geben lassen sollte, oder anders ausgedrückt: wenn er sich aus der Reflexion heraus selbstmächtig seine Zukunft setzt, statt sich auf die Zukunft zu entwerfen, die seiner Seinslage sinngemäß entspricht, wenn er also als der von Gott Geschaffene nicht nach der sich ihm entgegenstreckenden Hand des Schöpfers greift. "Sehet die Vögel unter dem Himmel!" "Schauet die Lilien auf dem Felde!" "Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden?" "Darum sorget nicht für den anderen Morgen; denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen." / Matth. 6 /. Wer sich daran nicht hält, sondern eigenmächtig in die Zukunft vorwärtshastet, wird das eventuell mit einem Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwür zu bezahlen haben. Das übermäßig bewußte Wollen von etwas, sei es Nahrung, seien es Kleider, sei es Geld, Macht, Ehre oder sonst etwas, findet eine Entsprechung in der Überproduktion jener Magensäfte, die dazu bestimmt sind, die aufgenommene Nahrung, also das, dessen sich der Organismus bemächtigt, anzueignen, und diese Magensäfte beginnen dann den Magen selbst zu verdauen. Der gierig Wollende frißt sein eigenes Leben auf. In den Jahren von 1937 bis 1942 haben sich, wie Boss berichtet, die Erkrankungen von Magen- und Duodenalgeschwüren in der Schweiz mehr als verdoppelt. Ähnlich steht es in den übrigen westeuropäischen Ländern und auch in den USA. Dabei scheint es sich vor allem um eine Männerkrankheit zu handeln, da sich das Ansteigen der Kurve beim männlichen Geschlecht bereits seit 1880 deutlich beobachten läßt, beim weiblichen erst von einem viel späteren Zeitpunkt an, u. zw. In der Hauptsache bei berufstätigen verheirateten Frauen, also bei solchen, deren Lebensweise der des Mannes angeglichen ist. "Als Haupttypus der Ulkuspersönlichkeit' wurde von den meisten Autoren der durch habgierige und ehrgeizige Charaktereigenschaften ausgezeichnete Mensch beschrieben. Der klinische Beobachter v. Bergmann z. B. hatte schon 1913 die Bedeutsamkeit von Geldfragen beim Magenkranken betont"14). Das sind aber doch offenbar nur mehr zufällige Vordergründigkeiten, hinter denen sich erst die eigentlich entscheidende Grundhaltung verbirgt, nämlich die nach der Zukunft orientierte Sorge, deren besonderer Gegenstand wohl auch das Geld oder die Ehre sein kann, aber ebensogut auch etwas anderes, wäre es etwa bloß der Termin, bis zu dem eine berufliche Arbeit erledigt sein soll. Die berufstätige Ehefrau ist kaum habgieriger oder ehrgeiziger als die Hausfrau, die nur für ihren Mann und ihrer Kinder lebt, nur lastet auf ihr allerdings ein erheblich größeres Gewicht an Sorgen und zwingt sie, durchaus der weiblichen Natur zuwider, sich auf die Zukunft zu entwerfen, statt das ihr von der Vergangenheit Anvertraute zu pflegen und zu bewahren. Damit aber wird sie gleichfalls für die sonst dem männlichen Geschlecht vorbehaltene "Managerkrankheit" anfällig.
Im Gegensatz zum Magen- und Duodenalgeschwür scheint die neurotische Magersucht / Anorexia mentalis / eine ausgesprochene Frauenkrankheit zu sein. Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen wird hier von Boss mit 1:10 angegeben. Die Anorexie hat die Ablehnung aller sinnlich-leiblichen Lebensäußerungen zur Voraussetzung. Der Magersüchtige, der nicht recht leben will und darum die Aufnahme der Nahrung verweigert, sei es als Nicht-Essender oder als Nicht-Verdauender, versagt sich dem Vorwärtsgehen der Zeit, d. h. er negiert die Zielsituation und fixiert sich an die Startsituation. Eben darin aber haben wird das typische Merkmal der weiblichen Hysterie oder Neurose erkannt. Gegen Tuberkulose wie auch gegen andere Infektionskrankheiten sind Magersüchtige gewöhnlich immun, obwohl man denken sollte, daß ihre geschwächte Körperkonstitution sie dafür gerade in erhöhtem Maße disponiert sein läßt. Der Grund ist vermutlich der, daß die ja ohnehin schon bestehende "Schwindsucht" keinen exogenen Erreger mehr benötigt, um zu ihrem Ziel zu kommen. Der exogene Erreger greift nur an, wo ihm ein endogener Widerstand begegnet; denn die den Menschen von außen her anfallende Krankheit braucht offenbar beides: das Entgegenkommen und den Widerstand, mit anderen Worten, die in sich zwiespältige Persönlichkeit des Krankheitskandidaten.
Habgier, Ehrgeiz, Sorge usw. bezeichnen ein prinzipiell positives Verhältnis zur Zukunft. Es soll da etwas erreicht und realisiert werden. Angst und Furcht dagegen scheuen vor der Zukunft, vor dem Bevorstehenden zurück, ohne sich jedoch an die Gegenwart oder die Vergangenheit zu klammern. Der von Angst Befallende weicht der drohenden Zukunft aus, um sich in irgendeine andere, an sich gleichgültige und inhaltsleere zu flüchten. Er läuft ohne eigentliches Ziel einfach davon und in ein Vakuum hinein. In seiner Ziellosigkeit verliert er die Herrschaft über sich. Er will nur, könnte man sagen, die Gegenwart samt der ihr bevorstehenden Zukunft möglichst schnell in Vergangenheit verwandeln, eine Haltung, die, wie man etwa aus Kriegserfahrungen weiß, ihren Ausdruck häufig in einem nervösen Durchfall findet. Der Durchfall symbolisiert hier ein Fluchtreaktion. Der Befallene flieht gewissermaßen, indem er auf der Stelle bleibt.
Wichtiger und problematischer aber als diese allgemein bekannte Erscheinung ist die neurotische Obstipation, die nicht akut, sondern chronisch auftritt und damit eine andauernde Lebenshaltung charakterisiert. Schopenhauer hat einmal den Tod die Exkretion in der zweiten Potenz genannt. Er wollte damit sagen, daß der Sterbende nicht nur gewisse Stoffe, sondern sich selber von sich gibt. Sieht man ab von dem Bedenklichen, das darin liegt, die Exkretion zum Urbild und den Tod zum Abbild zu machen und kehrt man das Verhältnis um, so wird man der sich im Durchschauen dieser Beziehung offenbarenden Genialität des Philosophen die Anerkennung nicht versagen können. Die Exkretion als Ablegen oder sagen wir als Verlust der Vergangenheit, als Übergang des Zu-mir-Gehörigen, also des Seienden in das Nicht-mehr-Seiende hat tatsächlich mit dem Tod einiges zu tun. Diese Erkenntnis liegt auch schon der alten rabbinischen Legende zugrunde, derzufolge Adam und Eva erst nachdem sie zum erstenmal ihre Exkremente gesehen hatten, von ihrer Sterblichkeit überzeugt waren. Wir dürfen daraus schließen, daß neurotische Hemmungen der Exkretion in besonderer Weise mit dem Verhältnis des Menschen zu seinem Tod in Zusammenhang stehen. Die Obstipation wird zum Symbol eines unbewußten Nicht-sterben-Wollens, eines krampfhaften
Sich-Wehrens oder Sich-Sträubens gegen den herannahenden Tod und zuletzt freilich auf gegen das, wovon der Tod nur die verkehrte Darstellung ist, nämlich gegen die die zeitliche Existenz transzendierende Selbstvollendung.
Beruht der nervöse Durchfall auf einem übersteigerten Außer-sich-Sein, z. B. im Zustand der Angst, so die nervöse Obstipation umgekehrt auf einem intensivierten Bei-sich-Sein, einem Nicht-los-kommen-Können oder Nicht-los-kommen-Wollen von sich, d. h. auf potenzierter Reflektiertheit des Selbstbewußtseins. In den meisten mir bekannten einschlägigen medizinischen Schriften wird die neurotische Obstipation auf einen geizigen Charakter zurückgeführt. Es mag wohl sein, daß sich auch der Geiz zuweilen in dieser besondern Form abbildet, für viel wahrscheinlicher aber halte ich in den Zusammenhang von Obstipation und auch anderen chronischen Verdauungsstörungen mit einer grundsätzlich pessimistischen Einstellung zum Leben, und zwar nicht etwa nur, ja vielleicht nicht einmal in erster Linie zum eigenen individuellen, sondern zum zeitlichen Leben überhaupt. Ein Pessimist ist, wer nicht an die Zukunft glaubt, nichts Gutes von der Zukunft erwartet und darum auch kein Interesse daran hat, seine Vergangenheit loszuwerden, sich von dem, was an ihm selbst Vergangenheit ist, zu befreien; und eben dieses Nicht-vorwärts-Wollen aus Interesselosigkeit am Kommenden und nicht etwa aus elementarer Angst stellt sich physiologisch als herabgesetzte Peristaltik, als Darmträgheit dar. Der Obstipierte leidet also darunter, daß er sich von seiner faktischen Abgestorbenheit nicht trennen kann, bzw. unbewußterweise nicht trennen will. Das Gleiche gilt seelisch vom typischen Melancholiker, Pessimisten usw., überhaupt von jedem mit einem Dauerleid Belasteten. Und wie den Obstipierten ein Purgativ oder die durch dieses hervorgerufene Erschütterung des Darmes von den Abfallstoffen, so erlöst nach der Theorie des Aristoteles die Erschütterung durch die Tragödie in der Katharsis / Reinigung / die Seele von den leiderregenden Affekten. "Es handelt sich um Aussonderung krankhafter Stoffe. Daher sagt auch K. Ziegler eindeutig: Auch die tragische Katharsis ist hiernach von Aristoteles in diesem medizinisch-therapeutischen Sinn gemeint"15). Die Tragödie ist demnach so etwas wie ein psychisches Abführmittel.
Zum Abschluß dieser Überlegungen noch ein konkretes Beispiel, das weit über das spezielle Thema "Obstipation" hinaus ein Licht auf neurotische Zusammenhänge überhaupt wirft: Ein Mann leidet seit vielen Jahren an einer ganz offenkundig neurotisch bedingten chronischen Verstopfung. Aus dem Leben des Patienten sind folgende Einzelheiten bekannt: Er hatte zu seiner Mutter niemals ein zärtliches Verhältnis, obwohl das in keiner Weise am Charakter der Mutter lag, dagegen eine ausgesprochene Zuneigung zum Vater, der ihm weit weniger Interesse und offenkundige Liebe entgegenbrachte als die Mutter. Als Kind fühlte er einen unüberwindlichen Widerwillen gegen alte Frauen, dagegen eine an Schwärmerei grenzende Sympathie für gebrechliche alte Männer. Im Traum und auch in seinen Wachphantasien glaubte sich das Kind ständig von einem affenartig gestalteten weiblichen Dämon bedroht. Außerdem war und ist noch immer eine panische Angst vor Spinnen da, obgleich ihm ein solches Tier noch niemals das Geringste getan hat. Alle psychischen Symptome deuten auf das, was man in der Psychoanalyse negative Mutterbindung oder "Oresteskomplex" nennt. Eine kausale Erklärung aus den Verhältnissen im Elternhaus, die zur fraglichen Zeit durchaus in Ordnung waren, erweist sich als unmöglich. Damit soll gesagt sein, daß die negative Mutterbindung auf gar keinen Fall die eigentliche Wurzel der neurotischen Grundhaltung sein kann, sondern auch nur ein Symptom ist für etwas, das wesentlich tiefer liegen muß. Die Mutter, die alte Frau, der weibliche Dämon, die Spinne als Inbegriff männermordender Weiblichkeit sind lediglich Symbole für eine als feindlich empfundene Vergangenheit, die festhält und gegen die man sich im Letzten vergeblich zur Wehr setzt. Der Neurotiker leidet daran, daß er von seinem Gestern nicht loskommt, und eben das drückt sich auch in der Obstipation aus. Von der Vergangenheit kommt aber nur der nicht los, der auf sich reflektiert, sich mit dem reflektierten Selbst identifiziert und sich so an die Startsituation bindet. Hier und nirgends sonst hat man die Wurzel, den eigentlichen Ursprung der Neurose zu suchen. Der obstipierte Patient ist der typisch männliche Hysteriker, dessen primäres Mißverhältnis zur Zukunft &endash; er kann nicht vorwärtskommen wie er möchte &endash; sich in der Gestalt einer widerwilligen Fixierung an die Vergangenheit verbildlicht.
Ein seiner Entstehung nach neurotisch bedingtes Magengeschwür folgt, sobald es einmal da ist, den Gesetzen nicht mehr der Neurose, sondern des Geschwürs, des Ulkus. Es ist als solches ein organisches Leiden, dem sich von der Seele her nicht mehr beikommen läßt, das kein Psychotherapeut mehr wegzaubern kann. Der Psychotherapie mag es vielleicht gelingen, die Entstehung weiterer Geschwüre oder auch die Verschlimmerung des bereits vorhandenen zu verhindern, dem angerichteten Schaden gegenüber aber ist sie machtlos; denn dieser bleibt irreversibel, d. h. der Freiheit entglitten und der biologischen Naturkausalität verfallen. An der Irreversibilität ursprünglich organischer Erkrankungen wird der Charakter des nicht mehr rückgängig zu machenden Übels überhaupt anschaulich. Seine Aktualität verdankt das Übel einer Entscheidung, genauer einer Fehlentscheidung. Ist diese aber einmal gefallen, dann läßt sich weder sie selber noch irgendeine ihrer Folgen ungeschehen machen. Aus der vor die Wahl gestellten Gegenwart ist die nicht umkehrbare Zeit der Vergangenheit geworden, in der das strenge Kausalitätsgesetz gilt. Die Gegenwart, aus der heraus entschieden wurde und die Vergangenheit, die das Produkt der Entscheidung in sich aufgenommen hat, sind dialektische Gegenpole und stehen gemeinsam in einem dialektischen Prozeß, der die der Gegenwart noch verbliebene Freiheit aufzehrt. Das Selbst, das sich einmal eine Vergangenheit, das auch nur einen Zipfel von sich in die Vergangenheit gesetzt hat, versinkt schrittweise und unabdingbar als Ganzes in ihr. So eben ist schon durch die Ursünde, die erste Fehlentscheidung die Richtung des menschlichen Lebens und der gesamten Geschichte auf den Tod hin irreversibel geworden. Eine restitutio ad integrum erscheint, wenn überhaupt, so nur noch durch das Übel und durch den Tod hindurch, aber nicht als deren Abwendung möglich.
Wir haben die Organe des Leibes in ihrer Beziehung zum Zentralnervensystem und die Tiere in ihrer Beziehung zum Menschen als Entsprechungen zu verstehen gesucht. Daran wird auch hier zu erinnern sein. Wie der Mensch nach dem Genesisbericht den Tieren Namen gab, aus denen abzulesen war, daß er diese Geschöpfe nicht als Verwandte, nicht als sein "Gegenüber" erkannte und sie damit in die Fremdheit, in die "Sackgasse" der Naturanpassung und der Spezialisierung stieß, weshalb sie aus seinen Vorbildungen zu seinen Verbildungen wurden, so entfremdet sich auch das reflektierende subjektive Zentralorgan die objektiven Organe und treibt sie gleichsam in Sackgassen der Entwicklung, in denen sie ihren aus dem Zusammenhang gelösten Sondergesetzen folgen und damit sich selbst wie den Gesamtorganismus aus der Ordnung bringen, also krank machen. Sie funktionieren nun außerhalb des Ganzen, sie verselbständigen sich, weil sich das reflektierende Gehirn ihnen gegenüber verselbständigt hat, sie werden einem falschen Telos zugedrängt und können, wenn die Isolierung lange genug anhält, eine irreversible Verdrängung erleiden, die jede Rückkehr zur ursprünglichen Ordnung ausschließt, so wie sich ja auch die einmal ausspezialisierten Tiere nicht mehr zu Vorbildungen des Menschen zurückentwickeln können.
Es wäre zu fragen, ob nicht, solange noch einer bestimmten seelischen Regung ein bestimmter leiblich-sinnlicher Ausdruck entspricht, der Zusammenhang von Seele und Leib, eine gewisse Harmonie zwischen beiden immer noch besteht und also insofern der leibliche Ausdruck das gleiche Vorzeichen hat wie die seelische Regung, so daß etwa einer Hemmung auf der einen eine Hemmung auch auf der anderen Seite parallelgeht. Das Leibliche isoliert sich und verkehrt sich dagegen in dem Grad, in dem die Kommunikation der Pole sich lockert und die direkte Einwirkung der Seele auf den Körper unmöglich wird. Es kommt zu einer irreversiblen Erkrankung, für deren weiteren Verlauf der Kranke als bewußter Mensch nicht mehr verantwortlich gemacht werden kann. Er hat seine Verantwortungsfähigkeit verscherzt. Es besteht für ihn unter gewissen Voraussetzungen wohl noch die Möglichkeit einer sozusagen "inneren Bekehrung", die sich aber im Leiblichen nicht mehr auswirkt. Der so bekehrte Mensch kann nur noch auf das göttliche Gnadengeschenk eines "neuen" Leibes hoffen. Diese innere Bekehrung, die ihre ganze Hoffnung auf das Eschatologische wirft und weltlich resigniert &endash; denn äußerlich bleibt alles beim alten &endash;, ist genau das, was das NT meint, wenn es von Bekehrung spricht. Der Christ hofft darum niemals auf ein bessere Zukunft, denn das würde heißen, auf die Reversibilität seiner faktisch irreversiblen Krankheit, sondern auf die Erweckung von den Toten, auf den neuen Himmel und die neue Erde, also nicht auf die Genesung des zeitlichen Lebens, sondern auf das Gnadengeschenk eines unsterblichen "geistlichen" Leibes.
Es mag aber wohl geschehen, daß auf einer wesentlich tieferen Ebene die Entstehung einer irreversiblen organischen Krankheit aus einer Neurose zu einer Art Bekehrung führt oder wenigstens als ihre Begleiterscheinung auftritt. So berichtet z. B. V. v. Weizsäcker von einem Trinker und Luminalsüchtigen, der zur Entwöhnung in die Klinik kam. Alle Versuche der Ärzte in dieser Richtung schlugen aber zunächst fehl. Da wurde der Patient plötzlich &endash; ob als Folge der Trunksucht oder nicht, kann dahingestellt bleiben &endash; von einem schweren Leberleiden befallen, und damit war er auch von seiner Sucht geheilt. Er fühlte sich, obwohl nun körperlich krank, seelisch wohl, er war ein ausgeglichener und zufriedener Mensch. Man darf vielleicht sagen: Das Leiden hatte ihn geläutert, er hatte durch die Verantwortungslosigkeit der neuen irreversiblen Krankheit gegenüber die Verantwortungsmöglichkeit als psychisches Wesen wiedergefunden.
Daß die Gottbezogenheit des Menschen Grundbedingung seiner Gesundheit ist, nämlich seines rechten Verhältnisses sowohl zur eigenen Existenz wie auch zum Anderen, zum Nächsten und zur Welt überhaupt, diese Ansicht wird heute nicht nur von Theologen vertreten, sie ist auch unter Medizinern durchaus wieder salonfähig geworden. Aber den meisten fehlt es da doch noch immer an der zuletzt entscheidenden Einsicht, daß es sich nämlich nicht um die Beziehung zu irgendeinem vagen Göttlichen oder Transzendenten, zu einem unbestimmten und nebelhaften Absoluten, zu einer metaphysischen Idealität, sondern nur um den Glauben an den einen persönlichen Gott handeln kann, der dem Menschen allein in Jesus Christus begegnet. Hans Trüb, der einstige Schüler und spätere Gegner C. G. Jungs etwa bemerkt in seinem Buch "Heilung aus der Begegnung": "Als angesprochenes Du und antwortendes Selbst steht der Mensch somit grundhaft im Glauben. Das heißt: er steht, solange er in der Antworthaltung auf die ihn ansprechende Stimme aus der Transzendenz vertrauend lebt, in der sein Selbst konstituierenden und seine Seele einenden Wirkmächtigkeit des Glaubens, und kraft dieser Grundhaltung partnerischer Bereitschaft bleibt er fähig, aus seiner Mitte heraus in die konkrete Weltbegegnung einzutreten und die Anrufe dieser Welt sinn- und situationsgemäß zu beantworten. Verweigert er sich jedoch in offener oder verdeckter Entscheidung seines Selbst dieser partnerischen Grundsituation, läßt er sich aus der dialogischen Haltung der Duverbundenheit und des Vertrauens herausfallen, dann verliert er sogleich auch das Vermögen, der Welt wahrhaft partnerisch zu begegnen ... "16). Das alles ist ohne Zweifel sehr schön und sehr richtig, und es läßt sich auch gar nichts dagegen sagen, nur erschöpft es eben noch längst nicht das Problem. Wären unsere Krankheiten ausschließlich Neurosen, die sich durch Wiederherstellung der rechten Seelenhaltung und Einrichtung auf den Sinn in Ordnung bringen ließen, dann freilich brauchte kaum viel mehr gesagt zu werden. Einem Menschen aber, der sich &endash; wäre es immerhin durch eine Neurose &endash; eine irreversible Erkrankung zugezogen hat, ist damit in keiner Weise geholfen; denn irreversibel wie seine Krankheit ist ja nunmehr auch sein Mißverständnis zu Gott. Er weiß gar nichts mehr von dem persönlichen, ihm als Du begegnenden und ihn ansprechenden Gott, auf den es ankäme, und nur darum redet er in unbestimmter Weise vom Transzendenten oder einer metaphysischen Macht, vielleicht auch von "Gott", mit welchem Wort er aber doch nur eine sehr undeutliche und verschwommene religiöse Allerweltsvorstellung verbindet, so etwa wie Martin Buber oder Karl Jaspers, die nicht nur zufällig die beiden Hauptgewährsmänner Trübs sind. Der persönliche Gott als das Du, zu dem wir allen in ein echtes dialogisches Verhältnis treten können, steht uns ausschließlich in dem Menschen Jesus gegenüber. Er und niemand sonst ist der "Heiland" nicht bloß für die Neurosen, sondern auch für alle irreversiblen Krankheiten bis hin zu den unheilbaren und tödlichen, allerdings nicht so, daß nun der Glaube an ihn zur Gesundung von diesen Krankheiten innerhalb der zeitlichen Existenz führen würde, sondern so, daß er mit den Grenzen der zeitlichen Existenz auch die Grenze der Krankheit und des Todes durchbricht, weil der, an den da geglaubt wird, selbst als der Gekreuzigte und Auferstandene diese Grenzen schon durchbrochen hat. Mit ihm in Kommunikation stehen heißt, den Dialog mit dem Leben selbst aufgenommen zu haben.
Im übrigen ist auch die Neurose als solche nur in einem sehr relativen Sinn, gemessen nämlich an den durch sie eventuell hervorgerufenen organischen Leiden, aber nicht an sich und absolut reversibel. Es steht mir keineswegs einfach frei Neurotiker zu werden oder nicht, genau so wenig wie es mir in diesem empirischen Leben freisteht, zu sündigen oder nicht. Die Einzelsünde, die ich begehe, die einzelne Fehlentscheidung, die ich jeweils treffe, hängt gewiß irgendwie auch von meiner Freiheit ab, in der Hauptsache aber ist auch sie bereits vorentschieden. Ich befinde mich ja immer schon unter dem Verhängnis des non posse non peccare und bin daher ein irreversibler Sünder von Anfang an. Und genau so bin ich auch ein irreversibler Neurotiker a priori. Die individuelle und gelegentliche Neurose ist wie die individuelle und gelegentliche Sünde lediglich ein Symptom der Urneurose bzw. der Ursünde. Sie mag ihrem individuellen Charakter nach reversibel sein, aber das doch nicht anders als ein äußerliches Krankheitssymptom, mit dessen Behebung im Grunde noch gar nichts erreicht ist.
Der Unterschied zwischen Organneurose und Psychoneurose ist kein prinzipieller, sondern bloß ein regionaler. Wir werden uns daher, da es uns ja nur um die Herausarbeitung des Grundsätzlichen und Typischen geht, hier wesentlich kürzer fassen können. Ist in der Organneurose der Leib als Gegenpol der Seele, so in der Psychoneurose das seelisch Unbewußte als Gegenpol des Bewußten der von der Krankheit ergriffene Bezirk, der Ort, an dem die wahrnehmbaren Symptome auftreten. Wie dort dieses oder jenes Organ, so entgleitet hier diese oder jene Partie des Unbewußten der Kontrolle des den Teilen übergeordneten sinnhaften Ganzen. Nicht nur der Magen, der Darm oder die Luftröhre, auch ein seelisches Vermögen, z. B. die Ich-Du-Beziehung, der Wille zur Selbsterhaltung usw. kann sich dem Ich-Zentrum gegenüber verselbständigen und ausschweifend werden.
Bildet die Organneurose den Übergang von der neurotischen Störung zur irreversiblen organischen Krankheit, so die Psychoneurose den Übergang zur Psychose. Als typisch können hier vor allem die sogenannten Zwangsneurosen gelten. Der Kranke steht unter dem Zwang, gewisse Handlungen immer von neuem zu wiederholen, etwa sich fortlaufend zu waschen, gewisse Zeremonien zu verrichten, z. B. die Bleistifte auf seinem Schreibtisch zu ordnen, bestimmte Worte und Sätze herzusagen und dergleichen mehr. Jeder von uns ist übrigens bis zu einem gewissen Grad in diesem Sinn Zwangsneurotiker, und vieles von dem, was man den Aberglauben des Alltags nennen könnte, gehört hierher. Wer hätte noch nie "toi, toi, toi!" gesagt, dreimal auf Holz geklopft oder sich eingebildet, er müsse auf seinem Weg zur Arbeitsstätte bestimmte Pflastersteine betreten, wenn alles gut gehen soll. Ohne Zweifel beruht auch dieses Phänomen wieder auf einer Störung des Verhältnisses zur Zeit und das heißt immer zur Sinnkomponente der Existenz. Es fehlt die selbstverständliche Kontinuität zwischen dem Jetzt und dem Dann. Die neurotische Reflexion hemmt den glatten Ablauf des zeitlichen Geschehens. Wenn Achill, der Verfolger der Schildkröte darauf reflektieren würde, daß er immer erst den von dem Tier soeben verlassenen Punkt erreichen muß, dann könnte er die Verfolgte tatsächlich niemals einholen, dann wäre er ein Zwangsneurotiker, und Zeno aus Elea behielte recht.
Um die Frage beantworten zu können, unter welchen Vorbedingungen eine neurotische Störung mehr zur Organneurose oder mehr zur Psychoneurose inkliniert, bzw. eventuell in eine irreversible Organerkrankung oder in eine Psychose umzuschlagen droht, wird man vor allem zu bedenken haben, daß der leibliche Organismus als objektive Seite des Selbst diesem weniger unmittelbar eignet als das Psychische. Der Kranke wird darum vermutlich zur Organneurose neigen, sofern er sich von seinem Konflikt relativ zu distanzieren oder über ihn zu erheben vermag, zur Psychoneurose dagegen, sofern er sich mit ihm identifiziert. Die ausgesprochen organische Erkrankung bleibt, wenn auch noch so schwer und schmerzhaft, gemessen an der Psychose eine verhältnismäßig äußerliche und damit harmlose Angelegenheit, selbst dann, wenn sie zum Tod führen sollte, ein Konflikt, dessen sich die Person in ihrem Kern gewissermaßen schon entledigt hat, ein auf die Nicht-Ich-Seite des Ich abgeschobenes Übel. Der Organneurotiker steht sozusagen über seiner Neurose, ähnlich wie der tragische Heros über seinem Schicksal, der Psychoneurotiker aber steht mitten drin in ihr. Andererseits freilich gilt auch wieder, daß die Organneurose weniger leicht ansprechbar und darum grundsätzlich irreversibler ist als die Psychoneurose; denn indem der Patient seinen Konflikt in die Leiblichkeit verlagert, unterwirft er ihn der Naturkausalität und entzieht ihn so dem Zugriff der Freiheit, der eigenen ebenso wie der des Anderen, also etwa des Therapeuten.
Die ganze moderne Tiefenpsychologie und Psychotherapie ist die Schöpfung von Siegmund Freud, eines der genialsten Geister der letzten Jahrhundertwende, und Freud verdanken wir auch den so überaus aufschlußreichen Begriff der "Verdrängung". Eine emotionale oder voluntative oder manchmal auch kognitive Regung verdrängen heißt, sie nicht wahr haben, nicht als eigene anerkennen wollen und sie deshalb gewaltsam aus dem Bereich es subjektiven Bewußtseins, der Ichzugehörigkeit ausschließen. So verdrängt etwa der hastige Hysteriker, wie gezeigt wurde, die Start-Situation, indem er auf die Zielsituation reflektiert, wobei sich die Reflexion bewußt, die Verdrängung aber unbewußt vollzieht. In gleicher Weise verdrängt Adam die Tiere des Paradieses aus dem Umkreis möglicher Gefährtenschaft, indem er ihnen solche Namen gibt, die ihre Fremdheit, ihr Anderssein dem Menschen gegenüber und also ihre Nichtgewolltheit bezeichnen. Es verhält sich mit der Verdrängung nicht etwa so, wie der mit der Psychoanalyse nur oberflächlich Vertraute oft meint, daß das Nicht-Gewollte mit klarem Bewußtsein aus dem Bewußtseinsbereich entfernt wird. Der Gegenstand der Verdrängung ist vielmehr immer nur etwas, das, aus dem Unbewußten zum Bewußten aufsteigend, die Schwelle dorthin noch nicht überschritten hat oder im äußersten Fall doch nur gerade erst im Begriff ist sie zu überschreiten. Wäre es anders, dann könnte es niemals zu neurotischen Störungen kommen; denn dann hätte der Verdränger den ganzen Vorgang hell beleuchtet vor sich und wäre jederzeit in der Lage, den selbst geschlungenen Knoten auch selbst wieder zu lösen. Nur weil sich schon die Verdrängung als solche in den dunklen Regionen des Seelischen abspielt, weiß der Neurotiker nichts von seiner Verantwortlichkeit und glaubt sich in einen vom Schicksal verschuldeten Widerspruch geworfen.
Das Unbewußte ist die Seinseite, d. h. die gegebene Grundlage und die der Formung durch den Sinn vorbehaltene Vorform des Bewußtseins. Mit Triebhaftigkeit im üblichen und üblen Sinn des Wortes hat die ursprüngliche Unbewußtheit nicht das mindeste zu tun. In einem dem bewußten Willen widerstreitenden, ihn hemmenden und störenden Trieb verwandelt sich die unbewußte Intention erst infolge der Verdrängung. Die den Bewußtseinsregungen zunächst vollkommen konforme und ihnen dienstbare Intention wird in eine falsche Richtung gelenkt, durch den bewußten Weichensteller auf ein falsches Geleise abgeschoben, einem Un-Sinn unterworfen und kann so weiterhin dem Bewußtsein nicht nur nicht mehr Ausgangsbasis sein, sondern zieht darüber hinaus dieses selbst hinter sich her nach der verkehrten Richtung hin. Um beim anschaulichen Beispiel zu bleiben: Erst der Mensch, der sich die Tiere entfremdet hat, gerät in Gefahr von ihnen verführt und selbst "tierisch" gemacht zu werden, tierisch nämlich im Sinn der bereits von ihm verbildeten Tiere. Dieser Mensch hat nun auch tierische Treibe, d. h. überhaupt Triebe als das, was man gewöhnlich darunter versteht.
Der unbewußte Trieb bringt zum Ausdruck, was das Bewußtsein unbewußterweise selbst will. Ich will die Zukunft in der Reflexion. Reflektierte und objektivierte, beabsichtigte und vorweggenommene Zukunft aber ist tatsächlich gar keine echte Zukunft mehr, sondern eine imaginär in die Zukunft projizierte Vergangenheit, ein in das bloß schematisch Noch-nicht verpflanztes Nicht-mehr; denn nur die Vergangenheit, nur das Nicht-mehr kann objektiv sein. Also will ich de facto die Vergangenheit, den Rückschritt, während ich die Zukunft, den Fortschritt zu wollen meine. Und eben das macht die sinnvolle Bewegung unmöglich. Ich verfange mich in einen Widerspruch mit mir selber. In diesem widersprüchlichen Wollen und Doch-nicht-wollen überkommt mich nun irgendwie die dumpfe Ahnung, daß ich mich an meiner Seinsgrundlage, an meinem ursprünglichen Unbewußten schuldig gemacht habe, und ich fühle darum ebenso dumpf das Bedürfnis, meine Schuld abzutragen. Da mir aber das Unbewußte nunmehr nur noch in Gestalt der Triebhaftigkeit zugänglich ist, binde ich mich unausweichlich auch in meinem Schuldgefühl und meinem Sühnebedürfnis an die Ungestalt, d. h. ich diene nicht dem Sein seiner Sinnigkeit, sondern seiner Unsinnigkeit nach, und eben darin kommt die Zwangsneurose zum Durchbruch.
Aus gewissen typischen Symptomen der Zwangsneurose glaubte Freud den Schluß ziehen zu müssen, daß die auftretenden Schuldgefühle und Angstzustände zurückzuführen seien auf verdrängte und durch die Verdrängung deformierte Triebe, die sich nun in dieser Weise zu erkennen geben. In Wahrheit aber handelt es sich um die genau umgekehrte Kausalverknüpfung: Nicht der verdrängte Trieb verwandelt sich in Schuldgefühl oder Angst, sondern das seinem eigentlichen Sinn nach nicht verstandene und aus diesem Grund gleichfalls verdrängte Schuldgefühl verwandelt sich in triebhaften Zwang. Von den naturalistischen Voraussetzungen Freuds aus beurteilt kann freilich immer nur der Trieb das Gegebene und das Bewußtsein das Abgeleitete sein. Auch Freud ist in seiner Weise Darwinist. Aus dem Unbewußten, aus dem Trieb muß alles kommen und muß alles erklärt werden. Der Trieb ist Tabu, und somit läßt er sich nicht als Erzeugnis des Bewußtseins verstehen, kann die letzte Verantwortlichkeit des bewußten Willens nicht erkannt werden. Sünde, Schuld, Angst, das alles wird zuletzt als bloße Triebdeformation und somit als Selbsttäuschung interpretiert.
Da es kein Sein ohne irgendeinen Sinn gibt und die Hemmung der sinnhaften Entfaltung daher nicht nur Stillstand und Erstarrung im Sein, sondern immer schon Verkehrung des Sinnes in den Un-Sinn oder Wider-Sinn und das heißt auch des Eidos in das Anteidos bedeutet, so steht der Zwangsneurotiker über sein bloßes Gehemmtsein hinaus ständig unter dem Druck der Angst vor dem Widersinn, dem er in einer Art von Kult dient, einer Art von Dämonenkult nämlich, dessen letzter Zweck es ist, sich den Dämon vom Leib zu halten, sich vor dem Sturz in den Abgrund zu retten. Aus dem bewußten
Nicht-Können des Sinnhaften und dem unbewußten Wollen des Widersinnhaften wird das bewußte Nicht-Wollen des unbewußt gewollten Widersinnhaften, der verzweifelte Kampf dessen, der sich Gott versagt hat, gegen die andrängenden Dämonen, gegen die Schlange. Durch das strenge Einhalten eines Gesetzes / Waschritual, Ordnungsritual, gleichsam liturgische Deklamation in Wort und Ton usw. /, das er sich scheinbar selber vorgeschrieben hat, ihm aber in Wahrheit vom Dämon des Un-Sinnes auferlegt ist, will sich der Zwangskranke wenigstens in seinem Sein erhalten. Von hier aus ließe sich jede starre religiöse und kultische Gesetzlichkeit wie etwa die der Juden, vor allem der nachchristlichen orthodoxen Juden, die sich ihrem Messias und damit ihrem Sinn verschlossen haben, als kollektive Zwangsneurose verstehen.
Man ist Gott gehorsam, weil man ihn liebt und ihm vertraut, man ist dem Teufel gehorsam, weil man vor ihm Angst hat und ihm mißtraut. Durch magische Handlungen verschiedener Art, durch Zauberkreise, die man um das eigene Sein legt, muß man sich vor seiner unheimlichen Macht schützen. Dabei hat alle Magie, auch die der typischen Zwangsneurotiker, das Eigentümliche an sich, daß sie einerseits dem Dämon widersteht, ihn aber andererseits auch begünstigt. Darum streiten Satan und der Erzengel Michael um den Leib des Moses, d. h. um das Gesetz / Jud. 9 /. Wie Gott die Liebe, so will der Teufel unsere Angst, weil sie seiner Macht über uns förderlich ist. Wir sagten früher, daß Achill, der die Schildkröte nicht erreicht, weil er auf jeden seiner Schritte reflektiert, ein Neurotiker sei. Streng genommen aber hätten wir sagen müssen, daß er insolange nur noch ein Hysteriker ist und zum Neurotiker oder Zwangsneurotiker erst dann wird, wenn er meint, sozusagen pflichtgemäß reflektieren zu müssen, wenn sich ihm das Nicht-Können in ein gesetzlich vorgeschriebenes
Was der Zwangsneurotiker treibt, seine Magie, mit der er sich dem Abstieg ins Dämonische, dem Sog des Gegensinnes widersetzt, der ganze Formalismus seines Ordnung-Haltens und Ordnung-Machens ist nicht nur eine besondere Technik, sondern das Urbild, das eigentliche Urbild aller Technik überhaupt, also gerade auch dessen, was man heute Technik nennt und bewundert. Der technische Mensch, der homo faber baut und bewahrt nicht etwa dem Urgebot entsprechend die ihm anvertraute Schöpfung auf Gott und sein Reich hin, sondern wehrt sich nur mit verzweifelter Anstrengung und mit allen Mitteln gegen das Heraufkommen des Dämonenreiches. Die berühmte und gerühmte Organisation ist das Zwangszeremoniell einer Menschheit, die ihren Sinn, nämlich die Gottebenbildlichkeit aus den Augen verloren hat, die aus Übermut auf sich zu reflektieren begann und nun aus Not, aber ohne Erfolgsaussicht, ja gegen ihren Willen selbstzerstörerisch weiterreflektieren muß; ohne Erfolgsaussicht, weil eben die Zaubermittel, mit denen man den Teufel bekämpft, gleichzeitig auch seinen Zwecken dienen. Der Rahmen des Kreises, den der Magier um sich zieht, scheidet ihn vom Teufel und verbindet ihn mit ihm, so wie ja auch ein Bilderrahmen das Bild sowohl von der Umgebung abhebt wie auch zu ihr in Beziehung setzt. In der Technik, heißt das, die sich der Mensch erfindet, um mit ihrer Hilfe sein Dasein gegen die Mächte der außermenschlichen Welt zu verteidigen, verbirgt sich sein heimliches Ja zu eben diesen Mächten, das positiv kultische Moment also, das langsam aufkeimt und sich dann, etwa in Gestalt der Kriegsmaschinen, zu voller Blüte entfaltet. Solange die Technik bewußterweise lediglich im Dienst der Lebenserhaltung zu stehen scheint, ist sie freilich ebensowenig Zwangsneurose im eigentlichen Sinn wie das früher erwähnte Nicht-Können des reflektierenden Achill. Dazu wird sie erst dort, wo das magisch-kultische Moment in Erscheinung tritt, wo man aus ihren Prinzipien eine Weltanschauung, ja eine Religion macht, den Gott der Maschine anzubeten beginnt, z. B. wie im Bereich des Bolschewismus, Hymnen an den Traktor dichtet, statt an Gott, der das Korn wachsen läßt. Der Teufel kann keinen einzigen Halm hervorbringen, aber er ist ein großartiger Ingenieur, und darum lenkt er den Blick des Menschen von der Natur ab und auf die Technik hin. Der eurasische Osten ist heute das Land, zwar längst nicht der höchsten Industrialisierung, aber der zwangsneurotischen Maschinenanbetung, der materialistisch-mechanistischen Religion, des Kultes der rationalen Kausalität, der Organisation, der Bürokratie usw. Sein Gegenspieler, das angelsächsische Nordamerika repräsentiert den anderen Pol technischer Möglichkeit, nicht Magie, nicht Kult, nicht Anbetung der Maschine, aber ihre letzte folgerichtige Ausgestaltung im Dienst des Menschen und allerdings auch im Dienst der Menschenvernichtung / Atom- und Wasserstoffbombe /. Von den chthonischen Mächten, von den Dämonen weiß man hier kaum etwas, man glaubt vielmehr im hellsten Licht der olympischen Götter zu leben, die man gelegentlich auch mit dem Christengott vermischt oder verwechselt. Aber man ahnt doch irgendwie, daß da irgend etwas nicht ganz stimmt, daß dieses strahlende Licht auch seine finsteren Schatten wirft, daß es keinen Olymp ohne Tartaros gilt, und dieser Ahnung entspricht eine eigentümliche, rational unerklärliche Angst, Angst vor dem Bolschewismus, aber keineswegs nur vor ihm allein, sondern vor den Verborgenheiten hinter den allzu deutlichen, allzu optimistisch beurteilten, allzu nüchternen und allzu flachen Vordergründigkeiten überhaupt. Nirgends auf der Welt ist darum die Angstneurose so aktuell und die Psychoanalyse, allerdings nur in Gestalt eines sehr platten Freudianismus, so modern wie in den USA von heute. In dem Hysteriker McCarthy etwa bricht die Hysterie einer ganzen Zivilisation durch, die Hysterie, die noch hysterisch ist, aber doch schon dicht an der Schwelle der Zwangsneurose steht.
Der Zwangsneurotiker, der Neurotiker überhaupt ist an das Antitelos, an den Dämon "fixiert", so wie der geistig und seelisch Gesunde an Gott zwar nicht fixiert, aber in antwortender freier Liebe gebunden ist. Die Neurose, auch die des einzelnen Neurotikers, hat immer etwas mit Heidentum zu tun, so wie umgekehrt alles Heidentum mit Neurose. Die reflexive Selbstisolierung des Ichbewußtseins schiebt die metaphysischen Bezüge, vor allem die Gottesbeziehung, in das Unbewußte ab, wo sie nun in triebhaft dumpfer Gestalt ihr Wesen haben. Der das Angesicht Gottes verfehlende und sich damit seiner eigenen Mitte beraubende Mensch vergißt als bewußtes Wesen Gott und bleibt nur noch unbewußt auf ihn bezogen, welche Bezogenheit dem Bewußtsein aber als eine zwanghafte, ungewollte und dämonische erscheinen muß; denn dem freien Gott kann man existentiell auch nur in Freiheit begegnen. Jedenfalls ist das, was den Menschen unbewußterweise mit Gott verbindet, immer zwielichtig und ambivalent, von woher dann auch das Gottesbild, die "natürliche" und das heißt ja die heidnische Gottesvorstellung ihren zweideutigen Charakter erhält, der sich entweder als ein Schillern zwischen Gut und Böse, eben zwischen Göttlichkeit und Dämonie, oder als manichäische Aufspaltung der Götterwelt in siderische und tellurische Mächte darstellen kann.
Es ist somit in keiner Weise verwunderlich und überraschend, wenn die Tiefenpsychologie &endash; vor allem die C. G. Jungscher Prägung &endash; in den Abgründen des Unbewußten uralte mythologische Vorstellungen, sogenannte Archetypen aufspüren konnte: die "große Mutter", den "Vater" usw. Aber man irrte sich in der Meinung, daß diese mythologischen Gestalten das eigentliche und letztgültige religiöse Urgut der Menschheit überhaupt ausmachen. So verhält es sich gerade nicht. Im Unbewußten findet man das religiöse Urgut ebensowenig wie unter den Tieren, den prähistorischen und den rezenten, die Vorformen des Menschen. Man findet vielmehr da wie dort immer nur Verbildungen, Karikaturen des Ursprünglichen, nämlich Verdrängungsprodukte, deren ganzes So-Sein, deren Habitus dadurch bestimmt ist, daß hier etwas verdrängt wurde. Die unter den verschiedenen Schichten des Unbewußten vergrabene und nun von der archäologischen Psychologie oder der psychologischen Archäologie wieder ans Tageslicht geförderte "große Mutter" etwa ist keineswegs der wohlerhaltene mumifizierte Abklatsch einer einst lebendigen Muttergöttin, sondern eine erst infolge des Verdrängungsprozesses in diese Gestalt verwandelte metaphysische Realität ganz anderer Art, die wir gar nicht mehr rekonstruieren können. Dem analytischen Neurotiker ist darum auch gar nichts damit geholfen, wenn man ihm solche, mit der psychologischen Geburtszange aus seinen seelischen Eingeweiden hervorgeholte Archetypen vor die Nase hält. Als der bewußte Mensch, der er ist, kann er mit ihnen nichts anfangen, kann er sich auch nicht mit ihnen "auseinandersetzen"; denn sie sind ja bereits das höchst fragwürdige Ergebnis einer Auseinandersetzung, nämlich der Selbstaufspaltung, und die läßt sich nicht dadurch rückgängig machen, daß man die beiden inzwischen völlig inkongruent gewordenen Spaltungsprodukte wieder aufeinanderlegt, so als ob nichts geschehen wäre.
Daß jede Neurose in ihrer besonderen Weise "Fixierung" an einen Götzen ist, darauf hat, zwar allzu umständlich, weitschweifig und wortreich, aber im Entscheidenden doch zweifellos zutreffend, erst kürzlich Wilfried Daim in seinem Buch "Tiefenpsychologie und Erlösung" hingewiesen. Es kommt deshalb darauf an, den Neurotiker von dem Gegenstand seiner Fixierung abzulösen. Das darf natürlich nicht in der Weise geschehen, daß man ihm ein anderes Fixierungsobjekt anbietet, etwa seine Berufspflichten, die soziale Gemeinschaft oder dergleichen; denn auch das wären ja wieder nur Götzen. Das wäre nur eine "Bekehrung" von einem Heidentum zum anderen. Am allerwenigsten darf hier Gott oder Christus zum Nothelfer zum Deus ex machina gemacht werden. Eine Fixierung an den wahren Gott gibt es ja gerade nicht, sondern nur die freie Entscheidung für ihn, und am Grad der Freiheit in der Entscheidung allein läßt sich die Wahrheit oder Unwahrheit, die Göttlichkeit oder Götzenhaftigkeit des erwählten Gottes ablesen.
Der Neurotiker fixiert sich übrigens gar nicht primär an irgendeinen Götzen, sondern an sich selber, er will sein "wie Gott" und verfällt sodann den Götzen. Er fixiert sich an sein eigenes Sein, an sein Jetzt und verfällt damit der Vergangenheit als der kausalen Bedingung des bloßen Jetzt, er verfällt also auch den Archetypen, den mythologischen Bildern. Diese waren vorher gar nicht da, sie haben keinerlei Realität an sich. Sie entstehen erst, sie wachsen aus dem Nichts herauf als die selbstimaginierten Idole dessen, der sich in sein Ich verkrampft hat. Von sich muß darum der Neurotiker erlöst werden und nicht von irgendeinem Anderen. Solange er glaubt, es mit einem Anderen zu tun zu haben, von dem er sich befreien, das er niederzwingen, mit dem er sich auseinandersetzen muß, bleibt er immer noch an sich gebunden und wird bestenfalls die Fixierungsobjekte vertauschen. Man wird ihm z. B. zeigen können oder zeigen zu können glauben, daß die viel berufene "Mutterbindung" die Quelle aller seiner Übel ist, man wird es vielleicht erreichen, daß er der "Mutter" den Laufpaß gibt, aber was ist damit gewonnen? Aus der Mutterbindung wird er nur in eine andere Bindung flüchten und sich eventuell einreden, in dieser neuen Bindung ungebunden, also erlöst und gesund zu sein, und diese eingebildete Gesundheit wäre noch weit schlimmer als die als Krankheit empfundene Krankheit von vordem, nämlich eine symptomlose Krankheit.
Die Psychoneurose ist grundsätzlich gekennzeichnet erstens durch den Bruch zwischen Bewußtsein und Unbewußtsein und zweitens durch das Gefesseltbleiben des Bewußtseins an das ihm entglittene, von ihm verdrängte und vergessene Unbewußte. Als das Vergessene ist das Vergessene doch da und macht sich bemerkbar. Ich bin es nicht mehr und ich bin es trotzdem noch immer. Ich glaube es los zu sein, es nicht mehr zu haben, aber dafür hat es mich. Ich halte mich für das Subjekt, dessen Objekt es ist, aber dann kehrt es den Spieß um, macht mich zum Objekt und sich zum Subjekt. Ich, der scheinbare Herr über mein Wissen und Nicht-Wissen, über mein Erinnern und mein Vergessen, bemerkte plötzlich, daß das Nicht-Gewußte daran ist, von mir nichts zu wissen und das Vergessene, mich zu vergessen. Das Irreale übermächtigt mich und indem es mich übermächtigt, wird es zu einem realen Irrealen oder einen irrealen Realen, und das heißt eben zu einem Dämon, zum Dämon der Neurose.
Der Kultur- oder Religionshistoriker, der die Vergangenheit rekonstruiert, handelt genau ebenso wie der Psychoanalytiker, der das Unbewußte und ja auch die Vergangenheit, vor allem die Kindheit seiner Patienten durchstöbert. Beiden geht es um die Wiedererweckung von Vergessenheiten, aber nicht für das subjektive, sondern für das objektive Bewußtsein. Die rekonstruierte Geschichte und die aufgedeckten Komplexe, Fixierungen usw. stehen nun da als Dinge, die sich anschauen lassen und nicht als lebendige Erfahrungen; und Dinge sind etwas ganz und gar anderes, unterliegen ganz und gar anderen Kategorien als Erfahrungen. Das so und so beschaffene Ding von damals oder das so und so beschaffene Phänomen des Unbewußten und nunmehr objektiv Bewußten gehört als Komplement zum betrachtenden Jetzt, es ist dessen eigene andere Seite. Als der, der ich in diesem Augenblick der bin, der ich bin, habe ich diese bestimmte Vergangenheit und ist mein Unbewußtes in dieser bestimmten Weise strukturiert. Das heißt, die Geschichte der Vorzeit, die der Historiker "entdeckt" und einzig und allein entdecken kann, paßt haargenau als Gegenbild zum Subjekt des Entdeckers selbst. Man darf dabei nicht naiv glauben, sich auf irgendwelche Tatsachen berufen zu dürfen, die scheinbar einfach vorliegen, auf Urkunden, Denkmäler u. dgl.; denn auch die passen ja genau zur Subjektivität dessen, der sie findet. Er kann gar keine anderen finden. Das rekonstruierte Einst der Historiographie wie der von der Psychoanalyse bloßgelegter Komplex ist nicht etwas, das sowie es sich da zeigt, einmal aktuelle Gegenwart, bzw. an sich und unabhängig von seinem Betrachtetwerden mögliche unmittelbare Seelenerfahrung war. Das Jetzt hat sich weder über jenes Einst noch über diesen Komplex hinausgehoben, es ist das Jetzt mit jenem Einst und diesem Komplex, es ist an beide fixiert, oder richtiger: in beiden kommt seine eigene Fixiertheit zum Vorschein.
Für die Beurteilung der historischen Vergangenheit und ihres Charakters hat die Einsicht, zu der wir eben vorzudringen suchten, unabsehbare Folgen. Vor allem ergibt sich aus ihr, daß wir in der uns anhängenden Vergangenheit einfach das Unbewußte, das "kollektiv" Unbewußte der sie erforschenden Kulturmenschheit und die Symptome ihrer kollektiven Psychoneurose vor uns haben. Indem sich uns etwas das frühe Altertum unserer Geschichte darstellt als an bestimmte metaphysische Mächte, an Götter und Dämonen gebunden, sind tatsächlich wir selber die so Gebundenen und Fixierten. Kein Wunder also, wenn sich im Unbewußten des einzelnen Neurotikers ganz ähnliche Gestalten wiederfinden. Wir haben die Mythologie von damals keineswegs hinter uns gelassen und überwunden, wir sind nicht über sie hinweg zu reineren und freieren Formen der Geistigkeit vorgedrungen, sondern unsere nüchterne Rationalität ist nur das polare Gegenstück, das andere korrelative Symptom der gleichen Erkrankung, so wie die Zukunftshast des Hysterikers das Gegenstück ist zu seiner Vergangenheitsgebundenheit. Auf die bewußt-willentliche Fixierung an die Zukunft antwortet als ihre eigene andere Seite dialektisch die unbewußt-triebhafte Fixierung an die Vergangenheit. Und wie der Hysteriker von beiden, von der Zerrissenheit zwischen ihnen nur geheilt werden kann oder könnte durch eine Art Wiedereinpflanzung in die Gegenwart, so müßte auch der kollektiv-neurotischen Menschheit die Mitte zwischen ihrer rationalistischen Bewußtheit und ihrer mythologischen Unbewußtheit wiedergegeben werden, wenn sie zur Wahrheit der geschichtlichen Existenz zurückfinden soll. Daß dies in der Offenbarung und nirgends sonst stattfindet, nämlich im Einbruch der ewigen Gegenwart mitten hinein in die empirische Geschichte, das läßt sich in diesem Zusammenhang nur andeuten. Der Neurotiker ist der seinem Gott entlaufene Mensch, das verirrte Lamm, das nur gerettet wird, wenn ihm der "gute Hirte" nachgeht und es wiederfindet.
Man kann die organische Krankheit, und zwar jede ohne Ausnahme bis herunter zur Körperverletzung durch scheinbar zufällige äußere Einwirkungen, als irreversibel gewordene Organneurose verstehen, wobei allerdings dahingestellt bleibt, ob sich der Übergang von der Reversibilität zur Irreversibilität im kranken Individuum selbst oder im Transindividuellen vollzogen hat, in welchen zweiten Fall der Kranke als der Einzelne außerhalb der Verantwortung steht und nur noch Leidender ist. In diese Richtung weist etwa die Bemerkung V. v. Weizsäckers, es sei überraschend, "wie häufig und wie beinahe regelmäßig man findet, daß eine Angina oder ein Asthma-Anfall usw. anfängt wie eine Neurose, daß also die Symptombildung, die Materialisierung, wie sie auch bei den Neurosen / besonders bei der Hysterie / vorkommt, erfolgt. So sieht es aus, als ob auch die organischen Krankheiten einen eigenartigen, eigentümlichen Eindruck der Pathogenese geben, als ob die dieselbe wäre wie bei der Neurose ..., so daß man fragen könnte: ja ist vielleicht die organische Krankheit auch eine Art von Neurose? Dann kommt aber eine ganz deutliche Störung dieser Betrachtung insofern, als man eben nun nicht versteht ..., warum der eine Mensch ein Asthma bronchiale bekommt und keinen Diabetes"17). Die Frage ließe sich auf doppelte Weise beantworten: erstens mit dem Hinweis auf den Ausdruckswert der besonderen Krankheit für eben diesen einzelnen Menschen und zweitens in Beziehung auf die Kausalität, die Naturkausalität nämlich, der die Krankheit als objektives, dem Bewußtsein entzogenes Phänomen unterliegt. Handelt es sich um ausgesprochen organische Erkrankungen, dann setzt die dem Objekt gemäße kausale Betrachtungsweise ein, die nicht nach dem Sinn, sondern nach der Ursache fragt. Man kann nicht dieselbe Erscheinung in gleich befriedigender Weise sowohl kausal wie auch final erklären. Mit dem Übergang in des explizit organische Leiden schlägt die Finalität in Kausalität um. Kantisch ließe sich daß auch so ausdrücken: Die organische Krankheit fällt in den Geltungsbereich der der theoretischen Vernunft, die Neurose in jenen der der teleologischen Urteilskraft zugeordneten Kategorien, und zwischen den beiden gibt es keine Brücke. Es bleibt beim Entweder-oder.
Kausal bedingt heißt zeitbedingt, vergangenheitsbedingt. Kausalität nach Ursachen und lineare Zeit konstituieren einander wechselseitig. Die Akausale oder Finale, also auch das typisch Neurotische, transzendiert die Zeit wie auch den Raum als Form des diskontinuierlichen Nebeneinanderseins. Das gilt auch schon bis zu einem gewissen Grad von allen rein physischen Nervenempfindungen. Es ist bekannt, daß Menschen, denen ein Glied, ein Arm oder ein Bein, amputiert wurde, lange nachher noch Schmerzen in dem gar nicht mehr vorhandenen Körperteil zu spüren glauben, weil ja die Nervenstränge, die dorthin verlaufen, bis zur Amputationsstelle noch intakt sind. Was der betreffende Nerv spürt, wird also in einen bloß imaginären Ort des Leibes verlegt. Aber auch sonst sind Nervenschmerzen oft kaum lokalisierbar. Man glaubt den Schmerz zuweilen an einer ganz anderen Stelle zu empfinden als dort, wo er tatsächlich erregt wird, was sich etwa durch einen Druck auf den vermeintlichen Ort leicht nachprüfen läßt. Diese Tatsache erlaubt den Schluß, daß der Nerv zum Raum ein ganz eigenartig negatives Verhältnis hat oder doch mindestens eine von der etwa des Gesichtssinnes stark abweichende Raumvorstellung, vielleicht sogar, daß räumliche Abstände in seiner Welt gar nicht existieren. Er verhält sich ähnlich wie ein Hellseher, dem in der Trance Hier und Dort, Jetzt, Dann und Damals miteinander verschmelzen, anders ausgedrückt: die sichtbare Vielheit wird ihm zur Einheit; die Einheit der Subjektivität, des Ich dominiert über die Mannigfaltigkeit der Körperorgane.
Das falsch lokalisierte Schmerzgefühl des Amputierten zeigt übrigens, daß der Nerv nicht nur den Raum, sondern auch die Zeit transzendiert; denn der um ein Glied ärmere Mensch spürt ja eben jetzt noch, was damals war, sein verlorenes Bein oder seinen verlorenen Arm. Ebenso hört man zuweilen von Operierten, daß sie nach dem Erwachen aus der Vollnarkose das Gefühl hatten, als würde gerade erst jetzt der schmerzhafte Eingriff an ihnen vorgenommen. Auch das deutet auf eine gewisse Hellsichtigkeit der Nerven, vielleicht auf ein eidetisches Erinnerungsvermögen durch die Nacht der Bewußtlosigkeit hindurch, und es ließe sich denken, daß es ebenso wie Rückgriffe in die Vergangenheit auch Vorgriffe in die Zukunft geben könnte. In diesem Zusammenhang wäre zu erwähnen, daß bei Nervenleiden, etwa bei Migräne, die Schmerzen zu verschiedenen Zeiten an ganz verschiedenen Körperpartien auftreten, einmal im Kopf, dann wieder im Magen oder im Bauch, daß bei nervösen Darmbeschwerden die Spasmen an jeweils anderen Stellen ohne ersichtliche äußere Ursache sich peinlich bemerkbar machen usw.
Eine Krankheit läßt sich offenbar um so leichter und um so sicherer lokalisieren, je mehr sie organisch, also somatisch und je weniger sie neurotische oder psychogen bedingt ist. Je organischer, desto kausaler, und um so kausaler darf darum auch die Therapie sein bis hin zum chirurgischen Eingriff. Als die objektivste Form der Therapie hat die Chirurgie nur dort die Voraussetzungen ihrer Anwendbarkeit, wo auch die zu heilende Krankheit ihrer Natur nach objektiv ist, keinesfalls aber in Fällen neurotisch bedingter Leiden. V. v. Weizsäcker berichtet von einer Patientin, die, an einer neurotischen Verkrampfung des Mageneinganges erkrankt, einem Chirurgen in die Hände fiel. Der Arzt nahm eine Operation vor, an deren Folgen die Kranke starb. Durch diese Operation wurde nämlich ein an sich vollkommen gesundes Organ zerstört und die Patientin so erst wirklich organisch krank gemacht. Es handelte sich da um den brutal kausalistischen Eingriff in eine Lebenssphäre von transkausaler Natur. Von allen medizinischen Praktikern fehlt verständlicherweise dem Chirurgen am meisten das Fingerspitzengefühl für sinnbestimmte Zusammenhänge.
Grundsätzlich wird man sagen dürfen, daß im allgemeinen, wenn auch sicher nicht in jedem Fall, chronische Krankheiten der Neurose verwandter sind und demgemäß mit der Eigenart des besonderen erkrankten Menschen mehr zu tun haben als akute. Die chronische Krankheit eigne ich mir gleichsam an oder, was ja im Grunde dasselbe ist, sie macht mich zu ihrem dauernden Eigentum, weil ich so bin wie ich bin. Sie drückt wenigstens häufig eine bleibende charakterbestimmte Verhaltensweise des einzelnen Patienten aus, sie gehört zu ihm wie seine Gesten, sein Sprechstil, seine Handschrift, sein Gang, sein Physiognomie, sie kommt aus seinem Wesen und fällt ihn nicht einfach unversehens von außen an. Das endogene Moment prävaliert hier jedenfalls gegenüber dem exogenen, das subjektive gegenüber dem objektiven, das aktive gegenüber dem passiven. Der chronisch Kranke ist krank, der akut Kranke wird krank. Dort hat die Krankheit ihre Wurzel im Widerspruch des Menschen zu sich selber, hier mehr im Widerspruch mit der Außenwelt. Es läßt sich darum kaum vorstellen, daß etwa Jesus Christus an einer chronischen Krankheit gelitten haben könnte, schon gar nicht an einer Neurose natürlich. Die Welt aber konnte ihn sehr wohl töten, die grundsätzlich gottfeindliche Welt nämlich, in die er sich als der Sündenlose freiwillig hineingestellt hatte. Die Spötter unter dem Kreuz sagten bekanntlich von ihm: "Anderen hat er geholfen, sich selber kann er nicht helfen." / Mk. 15, 31 /. Er konnte sich nicht helfen, weil dieses Nicht-Können, diese Ohnmacht der weltlichen Macht gegenüber von vorneherein zu seiner "Knechtsgestalt" gehörte. Als der Sich-Helfende hätte er sein eigenes Werk verleugnen, seinen eigenen Entschluß rückgängig, hätte er aufhören müssen, sich selber treu zu sein. Gerade als der, der sich die Treue hielt, mit sich einig war, konnte er aber niemals ein Neurotiker und wahrscheinlich auch kein chronisch Kranker sein; denn der Neurotiker ist mit sich uneinig. Dagegen scheint die Krankheit des Paulus, die er selbst 2. Kor. 12 7 erwähnt, eine Art Neurose gewesen zu sein. Sie wurde ihm, wie er sagt, gegeben, damit er sich nicht überhebe, d. h. damit er sich seiner Menschlichkeit im Angesicht der Göttlichkeit seines Herrn bewußt bleibe. Der innere Widerspruch des Menschen wird durch den Glauben, durch die Hinwendung zu Gott innerhalb der zeitlichen Existenz nicht zum Verschwinden gebracht, im Gegenteil, er tritt nun erst recht hervor, wenn auch freilich als ein im Glaubensakt transzendierter. Davon aber weiß nur der Glaubende allein etwas. Die Anderen sehen bloß die äußeren Symptome, die sich in nichts von jenen irgendeines anderen an der gleichen Krankheit Leidenden unterscheiden. An dem geheiligten Menschen kommt seine natürliche Unheiligkeit, die Unheiligkeit der natürlichen menschlichen Existenz überhaupt zum Vorschein. Daß er geheiligt wurde, ist ja höchst unnatürlich. Darum sind die Heiligen wahrscheinlich fast immer schwach und chronisch krank. An dem heiligen Gott aber, der in die Welt eingeht, kommt etwas ganz anderes zum Vorschein: nicht die Unheiligkeit seiner eigenen, sondern die der Menschlichkeit außer ihm, die Unheiligkeit der ihn umgebenden Welt. Indem er durch sie und nur durch sie, also in keiner Weise durch sich selber leidet, wird ihre und nicht seine chronische Krankheit offenbar. Seine Krankheit, wenn wir das, was er zu dulden hat, so nennen dürfen ist ganz und gar und absolut exogen. Das endogene Moment, das für die chronische Krankheiten der Menschen, auch der heiligen unter ihnen, gerade entscheidend ist, fehlt hier vollkommen. Da kommt alles von außen und nichts von innen. Er trägt nicht seine, sondern unsere Krankheit.
Mit der Behauptung, die chronische Krankheit sei der Neurose verwandter und habe mit der individuellen Eigenart des erkrankten Menschen im allgemeinen mehr zu tun als die akute, ist noch nicht gesagt, daß der Einzelne seine Krankheit auf dem Weg über eine Neurose erworben haben muß, sondern nur, daß die chronische Krankheit die Herkunft aller organischen Krankheiten aus der Neurose besonders deutlich werden läßt. Sie zeigt, daß der Mensch wesenhaft krank ist, daß er mit sich im Widerspruch lebt, der eine so und der andere anders. Mit sich im Widerspruch leben aber heißt Neurotiker sein. Die akute Erkrankung sieht aus wie ein Schlag von außen, der den Patienten nur zufällig getroffen hat, ohne eigene Beteiligung, die chronische dagegen gestattet eine solche harmlose Deutung kaum, sie lenkt den Blick vielmehr zwingend auf ihren endogenen Charakter, d. h. auf ihren Ursprung aus der a priori gegebenen Gebrochenheit der menschlichen Natur.
Unter den vielen Krankheiten, von denen der Mensch befallen werden kann, nehmen die Infektionskrankheiten eine hervorragende Stelle ein, nicht nur ihrer Häufigkeit, sondern auch ihrer Eigenart wegen. Infektionskrankheit bedeutet Gemeinschaftskrankheit, Krankheit, die den Einzelnen in seiner Rolle nicht als Individuum, sondern als Mitmensch trifft. Infiziert werde ich von einem Anderen, von meinem "Nächsten", vielleicht in seltenen Fällen auch von einem Tier und in noch selteneren von einer Pflanze, jedenfalls von einem Lebewesen. Wir wollen uns hier auf den ersten dieser drei möglichen Fälle beschränken, schon darum, weil er allein der eigentlich typische ist. Die Infektionskrankheit läßt erkennen, daß das Zusammenleben mit anderen Menschen auch seine Gefahren hat, daß die Existenz des Anderen meine bedroht, daß der Andere immer auch mein Feind ist, selbst wenn er das gar nicht weiß und gar nicht sein will. In einer Gemeinschaft, in der das eine Individuum auf das anderer Krankheiten überträgt, stimmt etwas nicht. Die Infektionskrankheit bringt eine Fragwürdigkeit, ein negatives Moment, man könnte auch sagen ein chronisches Leiden der menschlichen Gemeinschaft zum Vorschein. Da führt der eine den anderen entgegen der ursprünglichen Schöpfungsordnung zum Tod statt zum Leben, wird der eine dem anderen zum Fluch statt zum Segen.
Infektionskrankheiten können entweder epidemisch auftreten wie Pest, Cholera, Pocken, Grippe, Kinderlähmung usw. usw. oder sich vom Einzelnen übertragen wie die Geschlechtskrankheiten, die Lepra, die Tollwut. Diesen beiden Grundmöglichkeiten und Grundformen der Infektion entsprechen auch zwei Grundformen menschlicher Gemeinschaft: das Kollektiv und die persönliche Beziehung. Die Epidemie überfällt gleichsam von oben her ab das anorganische Gewimmel der auf einem bestimmten Ausschnitt der Erdoberfläche Versammelten, die andere Art der Infektion dagegen pflanzt sich vom Ersten auf den Zweiten und von diesem auf den Dritten fort, etwa vom Mann auf die Frau und von der Mutter auf das Kind. Dieser Unterschied ist morphologisch wichtig, wenn er vielleicht auch dem Mediziner unwichtig erscheint. Er bringt nämlich zum Ausdruck, daß wir als Massenpunkte in anderer Weise gefährdet sind als in unseren persönlichen Beziehungen, daß diese Masse in anderer Weise als die Lebensgemeinschaft ursprünglich krank ist.
Gesund ist ein Organismus, dessen sämtliche Organe in ihrem Sein auf den gemeinsamen Sinn bezogen sind, und gesund ist eine Gemeinschaft, deren Glieder gleichfalls sinnhaft miteinander verbunden sind, so daß der Sinn jedes Einzelnen sich dem Sinn des Ganzen einfügt. Hier wie dort bedeutet Krankheit Sinnverlust oder Sinnverkehrung. Der Sinn wird zu Un-Sinn. Die Glieder der Gemeinschaft befruchten einander nicht mit dem Keim des Lebens, sie stecken einander vielmehr an mit dem Keim des Sterbens. Das zeigen ganz eklatant vor allem die venerischen Krankheiten, aber dasselbe gilt in irgendeiner Form doch auch von jeder anderen Infektion. Die von einer Seuche befallene Gemeinschaft steht unter dem Zeichen des Widersinns und hat die Richtung auf das Antitelos, sie ist sozusagen fixiert an eine dämonische Macht, an den Dia-bolos, den Zerwerfer. Darum haben wissenschaftlich unverbildete Epochen und Kulturen die Epidemien auch immer den Dämonen zur Last gelegt und sie nicht biologisch-kausal zu interpretieren versucht. Wenn das menschliche Dasein überhaupt einen Sinn hat, dann kann auch seine Gefährdung und Zerstörung nur vom Sinn her zureichend gedeutet werden.
Die Krankheit hat zwar, wie wir schon oft sagten, ihren Ursprung in der Hybris des Bewußtseins, aber sie tritt in Erscheinung am Unbewußten, und dieses Unbewußte erfährt den Krankheitserreger als Dämon. So sieht der König David nach der Volkszählung den Pestengel vor sich stehen. In dem Maß freilich, in dem der Mensch individualistisch und subjektivistisch wird, seine das Oben mit dem Unten verbindende Herzmitte zum Verkümmern bringt, verliert er auch die Dämonensichtigkeit, und zerlegt sich für seinen Blick der Krankheitsdämon ebenso in eine Vielheit wie er selber nur noch ein Teilchen der Summe ist. Aus dem Pestengel wird der Pesterreger der Bakteriologen. Der Arzt arbeitet demgemäß auch nicht mehr wie der Priester mit Beschwörungen, Exorzismen und Bittprozessionen, sondern mit der Serumspritze, die dem Einzelnen als solchem verabreicht wird. Daß diese Therapie erfolgreicher ist als die ältere, läßt sich nicht bestreiten, dafür gibt es unzählige Beweise, es fragt sich nur, ob die Menschen, die mit ihrer Hilfe am Leben erhalten werden, der Erhaltung auch wert sind oder ob nicht dem Fortschritt der Heilkunst ein Rückschritt des menschlichen Durchschnittswertes entspricht, also des Durchschnittswertes eben dessen was da geheilt wird. Die Bakterien sind die des Sinnes entkleideten und auf das bloße Sein reduzierten Dämonen, atomisierte Dämonen oder mikroskopierte Dämonen, und ihnen gleichgeordnet ist der von ihnen infizierte, ebenfalls auf das bloße Sein reduzierte Mensch, der mikroskopierende, der atomisierende und atomisierte Mensch. Wer im Sinn steht, der hat es auch mit sinnhaften Feinden zu tun, mit Wesen, mit bösen Geistern, wer sich dem Sinn versagt, sieht und bekämpft nur noch Kausalitäten. Die Wirklichkeit zerlegt sich ihm in diskontinuierliche Mikroben.
Daß die Macht der großen Epidemien ungefähr gleichzeitig mit dem Dämonenglauben zusammenbricht, ist ein Tatsache, die sich rein historisch leicht festlegen läßt. In der sterilisierten, klaren und trockenen Luft der Zivilisation können beide nicht gedeihen. Allem Anschein nach ist es die gleiche Geisteshaltung, nämlich die des Rationalismus und der Aufklärung, die die Atmosphäre desinfiziert, so daß die überindividuellen Mächte in ihr keine Nahrung finden. Die überindividuellen Mächte, das heißt freilich nicht nur die Teufel, sondern auch die Engel, nicht nur die bösen, sondern auch die guten Geister der Gemeinschaft. Die Gemeinschaftskrankheit entfaltet sich eben nur auf dem Boden der Gemeinschaft. Entzieht man ihr diesen Boden, dann stirbt sie, und es besteht der begründete Verdacht, daß ihr Sterben im Lauf der beiden letzten Jahrhunderte das Sterben der lebendigen menschlichen Gemeinschaft zur Voraussetzung hatte, daß Individualismus und Subjektivismus ihre eigentlichen Todfeinde waren und daß wir darum, aufs Letzte gesehen, eigentlich keinen Grund haben, zu triumphieren; denn was da verloren wurde, wiegt den Gewinn mindestens auf. Der Dämon ist zwar ein verkehrter Gott, aber doch immerhin ein verkehrter Gott. Er verschwindet sowohl vor dem Angesicht des wahren Gottes wie auch in der Wüste der Gottlosigkeit, und wo wir uns heute befinden, ob vor jenem Angesicht oder in dieser Wüste, das ist eine Frage, die zu beantworten nicht eben sehr schwer fallen dürfte. Der wahre Gott ist mein Gott und dein Gott; dem Abgott gilt, trotz allem, was sich gegen ihn sagen läßt, das Gleiche, und so ist auch die Infektionskrankheit meine und deine Krankheit, also unsere Krankheit. Gibt es das Wir nicht mehr, ist jeder für sich isoliert, dann gibt es auch keine Wir-Krankheiten. Die Isolierung des Einzelnen, ihre Ver-Einzelung also war seit jeher das wirksamste Präventivmittel gegen die Ausbreitung der Epidemien, und das muß auch symbolisch verstanden werden.
Wir kennen Massenkrankheiten, die keine Infektionskrankheiten sind, sondern ausgesprochene Individualkrankheiten wie z. B. und vor allem den Krebs, neben der Hypertonie heute zweifellos die häufigste Todesursache. Das Carcinom wächst am Organismus wie ein einzelnes Organ, das sich dem Ganzen gegenüber selbständig gemacht, wie ein Individuum, ein Kapitalist etwa oder ein Diktator oder auch wie ein einzelne Gesellschaftsklasse, wie das Proletariat, das sich aus der Gemeinschaft gelöst hat. / Man könnte vielleicht das Proletariat die Metastase des Kapitalismus nennen /. Von solchen Krankheiten werden die Vielen befallen nicht weil sie zusammengehören, sondern weil sie nicht zusammengehören, weil sie nur noch nebeneinander leben und keinen gemeinsamen Gott mehr haben. Ist die Seuche der Dämon der Abgötterei, der falschen Religion, so der Krebs mit allem, was zu seinen Verwandten zählt, die Krankheit des Atheismus, der Religionslosigkeit. Der Krebs hat übriges eine auffallende und außerordentlich bezeichnende Strukturähnlichkeit mit der Neurose, und auch die Neurose beruht auf der Selbstisolierung des reflektierenden Individualisten und Subjektivisten.
Es gibt freilich auch heute noch in der zivilisierten Welt Infektionskrankheiten, die epidemieartig auftreten wie die Grippe oder die Kinderlähmung, aber diese Krankheiten werden in der Regel nicht durch Bakterien sondern durch Viren hervorgerufen, und das Virus verhält sich zum Pestbazillus ungefähr so wie dieser zum Pestengel des Altertums oder auch wie der atomhafte Individualist von heute zu dem in die Gemeinschaft eingebetteten Menschen von einst. Den Bazillus fand man mit dem Mikroskop, die Viren findet man, wenn überhaupt, nur mit dem Ultramikroskop. Das heißt mit anderen Worten: die Gemeinschaftlichkeit dieser Gemeinschaftskrankheiten läßt sich kaum noch sicher feststellen. Je unsichtbarer und unauffindbarer der Krankheitserreger, um so dünner ist gleichsam der Faden, der den Infizierende an den Infizierten bindet, um so mehr nähert sich der Charakter der Infektionskrankheit dem der bloßen Massenkrankheit. Es könnte sehr wohl sein, daß es auch ein Krebsvirus gibt, vielleicht ein Virus zur zweiten Potenz, aber das würde an dem, was früher über den Krebs gesagt wurde, gar nichts ändern.
Infektionskrankheiten sind im allgemeinen nicht erblich. Die einzige Ausnahme bildet wohl die Syphilis, die als die Geschlechtskrankheit kat' eksochçn eben alles befällt, was mit der Geschlechtlichkeit des Menschen zusammenhängt, also auch die Nachkommenschaft18). Erblich sind dagegen die Krankheitsanlagen, die endogenen Dispositionen. Vor allem bekommt jeder ohne Ausnahme die Anlage zum Sterben von seinen Eltern mit. Erblichkeit bedeutet hier freilich nur die zeilich-kausale Interpretation der Teilhaberschaft an einem die Individuen übergreifenden Malignum. Allein in der Tatsache, daß ein Mensch von anderen Menschen gezeugt und geboren wird, daß ihm also ein Anfang in der Zeit gesetzt ist, liegt bereits seine Sterblichkeit beschlossen. Zeugung und Geburt nehmen den Tod des Gezeugten und Geborenen vorweg; die Kindheit ist, wie wir schon gesagt haben, eine dem Greisentum polar entsprechenden Krankheit.
Pest, Cholera, Pocken usw., sagt Müller-Eckhard, "diese damals gefürchteten, heute praktisch ausgestorbenen? Seuchen könnte man als Kinderkrankheiten der Menschheit auffassen; sie waren Begleiterscheinungen des Aufwachens der Menschheit, die aus dem Bewußtseinszustand einer magischen und mystischen Daseinsform in die Wirklichkeit einer hellen und krassen Bewußtheit kam"19). Kinderkrankheiten sind Infektionskrankheiten, weil das Kind noch bewußtseinsmäßig in lebendiger Beziehung zu seiner Umwelt lebt, in der participation mystique nach dem bekannten Ausdruck von Levy-Brühl. Es ist gar nicht dieses besondere Kind, sondern das Kind als solches, das da von der Krankheit befallen wird. Indem das an Scharlach, an Diphtherie oder an den Masern erkrankte Kind wieder gesund wird, stirbt es sozusagen aus der unreflektierten Kindheit in einen reflektierten Zustand hinein. Damit widersprechen wir allerdings gerade der These von Müller-Eckhard, nach der "ein Kind Kinderkrankheiten hat, um gesünder zu werden." Wenigstens ist die "Gesundheit" nach der Kinderkrankheit eine Gesundheit nicht auf die Perfektion, sondern auf das individualistisch reduzierte Leben hin. Da Kind stirbt durch seine Krankheiten hindurch schrittweise in die Weltimmanenz der Erwachsenen hinein.
Sehr eindrucksvoll und überzeugend sind die Ausführungen Müller-Eckhards über die fast allen Kinderkrankheiten folgende "Häutung", die sich als äußeres Sinnbild der inneren seelischen Häutung verstehen läßt. Wenn sich der Patient nach der Krankheit häutet, so bedeutet das offenbar, daß er ein Äußeres, durch das er wie durch alles Äußere und Objektive an ihm, vor allem durch seinen Leib selbst, zur Außenwelt in Beziehung steht, abstößt, um ein relativ Inneres zum Vorschein zu bringen, ein Eigeneres und Eigentlicheres, ein mehr Subjektives. Die abgestoßene Haut stirbt ab, d. h. sie spielt im Verhältnis zu dem nun genesenen Kranken ungefähr die gleiche Rolle wie der an einer Epidemie zugrunde gegangene Teil des von ihr befallenen Volkes zum überlebenden. Diese Überlebenden sind das Innere, das der Umwelt weniger verhaftete, mit ihr weniger intim verbundene Element, der individualistische oder subjektivistische Kern, der nun seinerseits gegen die betreffende Krankheit relativ immun ist, welche Immunität aber allerdings auch mit dem Verlust des ursprünglichen seelischen Umfangs bezahlt werden muß. Mit der Immunität gegen das Übel geht auch eine Immunität gegen ein Gutes zusammen. Nachdem sich die Geschlechter unserer Vorfahren in solcher Weise wiederholt gehäutet haben, sind wir allmählich gegen ihre Seuchen immun geworden, gegen ihre Krankheiten ebenso wie gegen ihre Dämonen. Auch die Hexenverbrennungen waren so eine Art Häutung, und unter der verbrannten Haut kam dann der immune, der aufgeklärte und rationalistische Mensch hervor, der an keine Teufel und an keine Hexen mehr glaubt, weil er mit der alten Haut auch die für das Metaphysische empfindlichen Nervenspitzen abgestoßen hat. Und genau ebenso verhält es sich mit der Häutung der Kinder, die durch ihre Krankheiten hindurch zu Erwachsenen werden. Der äußeren Virulenz der Bakterien und der Dämonen, ihren Toxinen setzt der erwachsene, wie der historisch späte Mensch seine innere Virulenz, seine subjektiven Antitoxine entgegen. Das eigene Gift schützt ihn vor den fremden Giften, aber man stirbt schließlich auch am Eigengift, an Selbstvergiftung. An die Stelle der Infektionskrankheiten treten der Krebs, die Hypertonie und die Neurosen.
Viele Kinder häuten sich freilich nicht, sondern sterben vorher. Aber der Tod des Kindes ist ein Zurücksinken in die Ungeborenheit und nicht wie der des Erwachsenen oder gar des Greises ein Ab-Leben, ein Sich-zu-Ende-Leben. Das Subjekt des Leidens bzw. der das Leiden bedingenden Reflexion liegt gar nicht im Kind selbst, sondern außer ihm, in denen, die, indem sie selber sich zu Ende leben, das Aufkeimende in die Ungeborenheit zurücktreiben. Wo gesagt werden kann: "Die Knaben werden müde und matt, und die Jünglinge fallen." / Jes. 40, 30 /, dort ist nicht so sehr der Einzelne als vielmehr das Volk krank und gebrechlich, d. h. nicht mehr regenerationsfähig. Unter diesem Aspekt sind also doch auch die Kinderkrankheiten Alterserscheinungen. Man kann aber das Phänomen der Kinderkrankheiten sowohl so wie auch anders betrachten; denn es handelt sich hier um ein eklatant dialektisches Verhältnis. Kindheit und Greisentum, das Anfangs- und das Endstadium sind die schwachen Stellen, die beiden Achillesfersen des menschlichen Daseins. Daß der Mensch eine Kindheit, einen Anfang in der Zeit hat, kennzeichnet ihn nicht weniger als das Greisentum als sterbliches Wesen, als einen negativ Begrenzten. Betroffen wird von der Kinderkrankheit nicht das einzelne Kind seiner Einzelheit nach, sondern die Kindheit des Menschen überhaupt. Sie ist es, die als endogener Faktor dem äußeren Krankheitserreger entgegenkommt und mit ihm kollidiert.
Das äußerste Extrem dessen, was wir hier die "organische Krankheit" nennen, bildet die körperliche Verletzung durch einen Unfall oder dergleichen. Von einer Krankheit im gewöhnlichen Sinn läßt sich da kaum noch reden, weil nämlich der für die echte Krankheit immer auch konstitutive endogene Faktor überhaupt zu fehlen scheint. Der Verwundete leidet und stirbt dem unmittelbaren Eindruck nach nicht an sich, sondern ausschließlich an der Welt, an seiner objektiven Umgebung. Er wird nur verwundet oder getötet. In jüngster Zeit hat man jedenfalls beobachtet, daß es gewisse Menschen gibt, die, wie von einem eigentümlichen Pech verfolgt, in ihrem Leben einen Unfall nach dem anderen erleiden, während andere, die vielleicht sogar einen besonders gefährlichen Beruf ausüben, wie Dachdecker, Feuerwerksmeister, Schornsteinfeger usw., von allen Unfällen verschont bleiben. Bezeichnenderweise waren es nicht etwa die Ärzte in den chirurgischen Kliniken, die diesem Umstand ihre Beachtung schenkten und die Erforschung der bestehenden Zusammenhänge veranlaßten, sondern die Experten der Versicherungsgesellschaften. Die sogenannte Unfallsanfälligkeit ist heute ein viel besprochenes und oft behandeltes Problem, vor allem für die Psychiater und Psychotherapeuten. Ob es da auch in den besten Händen liegt, wird zu fragen sein; denn der Psychologe &endash; ob Mediziner oder nicht &endash; wird von Berufs wegen dazu neigen, die Unfallsanfälligkeit auf eine, etwa durch Analyse des Unbewußten feststellbare seelische Disposition zurückzuführen und das heißt, die Person des Patienten für den Unfall verantwortlich zu machen, also z. B. von neurotisch bedingter Unvorsichtigkeit, von unbewußten Fehlleistungen usw. zu sprechen, kurz das Subjekt zur Ursache und den Unfall zur Wirkung zu machen. Aber jede kausale Erklärung solcher Art trifft das Problem gar nicht wirklich, weil ja der Unfall zu seiner Voraussetzung immer auch eine Gelegenheit hat, die nicht vom Verunglückten herbeigeführt wird, sondern einfach auf ihn zukommt. Es besteht also bei den Unfallanfälligen jedenfalls und mindestens auch eine geheimnisvolle Affinität zwischen der subjektiven Disposition und der objektiven Gelegenheit. Der Anfällige lebt in einer ihm angemessenen Schicksalswelt, die gewiß irgendwie auf ihn zugeschnitten ist, aber keinesfalls ätiologisch aus seinen psychologisch feststellbaren Voraussetzungen mit Hilfe von Verstandeskategorien hergeleitet werden kann. Die Welt verhält sich ihm gegenüber wie ein Raubtier, das ständig auf der Lauer liegt, um ihn im geeigneten Augenblick anzufallen. Das hat ganz gewiß seinen letzten Grund in einem Mißverhältnis zur Welt &endash; nur in einer Welt, zwischen der und mir Feindschaft besteht, gibt es Raubtiere &endash;, aber dieses Mißverhältnis muß durchaus nicht die Schuld des Anfälligen selbst sein, es kann vielmehr unter Umständen sogar umgekehrt in seiner Integrität, in seiner außergewöhnlichen Unschuld, ja in seiner Heiligkeit wurzeln, die die Dämonen gegen ihn aufbringt.
Natürlich besteht die Möglichkeit, daß ein Mensch auch aus rein inneren Gründen für Unfälle besonders anfällig ist, aber auch hier denken wir nicht an so oberflächliche Zusammenhänge wie sie etwa durch bloße Unachtsamkeit oder unbewußte Mißgriffe bedingt sind. Ich befinde mich z. B. seelisch in einer scheinbar aus-weg-losen Lage, meine Stimmung ist auch dementsprechend, und da werde ich auf der Straße, auf dem Weg also, von einem Radfahrer angefahren, nicht weil ich unvorsichtig war, denn so ließe sich immer noch ein Kausalnexus zwischen meiner Stimmung und dem Unfall herstellen, sondern weil der Radfahrer die Verkehrsvorschriften nicht beachtet hat. Man wird in solchen und ähnlichen Fällen vielleicht sagen, das Ereignis paßte genau zu der Lage, in der ich mich befand, ganz gewiß, aber das Zusammentreffen ist weder ein von mir her psychologisch erklärbares noch auch ein bloß zufälliges, vielmehr muß das äußere Ereignis hier tatsächlich als nicht weiter ableitbarer Ausdruck der inneren Situation, eben der Aus-weg-losigkeit verstanden werden.
Ich will nur ein einziges konkretes Beispiel für das eigenartige und im Bereich des Sichtbaren freilich nur sehr selten erscheinende Gesetz des Unfalls anführen: Ein mir persönlich bekannter Gutsbesitzer in Ungarn hatte bei irgendeiner Gelegenheit schon als ganz junger Mensch zwei Finger seiner linken Hand verloren. Viele Jahre nachher verkroch sich eines Tages das vierjährige Söhnchen dieses Mannes unter den Kutschbock des im Hof wartenden Wagens. Der Kutscher, der bald darauf den Bock bestieg, bemerkte das Kind nicht und trat ihm mit dem eisenbeschlagenen Absatz seines schweren Stiefels genau die gleichen Finger der linken Hand ab, die auch dem Vater fehlten. Hier hatte sich also der Unfall oder die Disposition für einen ganz bestimmten Unfall gewissermaßen vererbt, ähnlich wie eine Krankheit oder eine Krankheitsanlage. Vor solchen und ähnlichen Fällen versagt jedenfalls die Psychologie mit ihren Erklärungsmethoden durchaus. Selbstverständlich fehlt auch hier der endogene Faktor nicht, nur läßt er sich nicht im Individuum lokalisieren und bleibt darum unfaßbar. Der Unfallanfällige ist sozusagen ein Schicksalspunkt der Menschheit, in dem sich die endogene Disposition einer überindividuellen Größe gleichsam zuspitzt, ähnlich wie im Einzelnen immer bestimmte Organe besonders anfällig für Krankheiten sind. Es ließe sich denken, daß es in diesem Sinn nicht nur Schicksalsmenschen, sondern auch Schicksalsvölker, also unfallanfällige Völker gibt, wie z. B. das jüdische Volk und vielleicht auch das deutsche. Das Wort "Schicksal" ist da allerdings nur ein unzulänglicher Ausdruck, hinter dem sich ein viel tieferes Geheimnis verbirgt, nämlich das Geheimnis einer schöpfungsmäßig bedingten Bestimmung, und es bliebe zu entscheiden, ob es sich dabei um Gnade oder um Verwerfung handelt, ob der Unfallanfällige ein von Gott Geschlagener oder ein Erwählter ist oder beides zugleich, ein als Erwählter Geschlagener und als Geschlagener Erwählter.
Keine Versicherungsgesellschaft wird sich bereit finden, mit einem Soldaten, der in den Krieg zieht, einen Lebens- oder Unfallversicherungsvertrag abzuschließen. Die Gefahr, daß der Versicherte selber oder einer seiner Hinterbliebenen davon schon in allernächster Zeit Gebrauch machen könnte, wäre allzu groß. Kriege wie auch Naturkatastrophen &endash; Erdbeben, Überschwemmungen usw. &endash; sind Unfallepidemien. Die Unfallanfälligkeit steigt da sprunghaft von 0,5 auf 50 Prozent. Der Krieg wird vom Menschen selbst entfesselt, er kommt von innen und ist insofern endogen bedingt. Die Naturkatastrophe dagegen kommt von außen, sie hat also eine gewisse Ähnlichkeit mit den Seuchen, und tatsächlich ist es ja auch der technischen Zivilisation gelungen, beide erheblich einzudämmen. Während aber so die Epidemien allmählich einschrumpfen, sich auf immer kleinere Gebiete erstrecken und schließlich ganz verschwinden, breiten sich die Kriege umgekehrt immer weiter aus, bis sie zu Weltkriegen werden. Die Epidemie gefährdet vor allem die Schwachen. Die Widerstandsfähigeren und Lebenskräftigeren haben die größere Chance durchzukommen. Im Krieg fallen die Jünglinge und werden die Knaben schwach, d. h. die Jungen und Starken sterben, wogegen die Alten, die Krüppel, die Gebrechlichen, die "Untauglichen", also alle, deren Leben ohnehin nur noch an einem Faden hängt, übrig bleiben. Dort findet eine positive, hier eine negative Auslese statt. In den Kriegen früherer Zeiten bleiben wenigstens die Frauen und die Kinder relativ verschont, so daß für den Nachwuchs, für das Schließen der Bresche immerhin gesorgt war, heute in der Epoche der Weltkriege, der Luftangriffe und der Atombomben sind fast alle in gleicher Weise bedroht. Überblickt man diese Zusammenhänge, so ergeben sich daraus bestürzende Schlußfolgerungen. Die Epidemien erweisen sich dann nämlich als Kinderkrankheiten und "Häutungen", die Weltkriege als Alterskrankheiten der Menschheit, als Symptome ihres Greisentums. Das Kind wird von außen angefallen, der Greis stirbt von innen her an seiner eigenen Lebensunfähigkeit. Am Kind stirbt, wenn es die Krankheit übersteht, die Haut, der Greis fault aus dem Kern. Und so ist das Fortschreiten von der großen Seuche zum großen Krieg, die Abnahme des Seuchenumfangs und die Zunahme des Kriegsumfangs ein deutliches Alterssymptom des menschlichen Geschlechtes.
Der medizinische Laie ist geneigt, in der Psychose, der sogenannten "Geisteskrankheit" eine Art Potenzierung der Neurose, vor allem der Psychoneurose zu sehen, zum Teil gewiß mit Recht, zum Teil aber auch sehr mit Unrecht. Zweifellos läßt sich die Psychose oder doch wenigstens manche Psychose als irreversibel gewordene Zwangsneurose deuten, ähnlich wie die organische Krankheit als irreversible Organneurose. Der Psychoneurotiker hat immer noch eine gewisse Kontrolle über seine Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen, er ist sich, auch wenn er ihnen praktisch nicht zu widerstehen vermag, rein theoretisch ihrer Unsinnigkeit wohl bewußt, er kann sogar über sie lächeln, sich ihrer schämen usw. Dasselbe gilt vom Psychotiker nicht mehr. Und hier zeigt sich der entscheidende Unterschied. Gerade mit dem Verlust der Selbstkontrolle hört die Psychose auf, eine Angelegenheit des eigentlich seelischen oder geistigen Bereiches zu sein und sinkt ab ins Somatische, freilich in die dem Seelischen entsprechende somatische Region, nämlich in die des Gehirns, erweist sich damit aber doch auch als eine besondere organische Erkrankung, als eine Erkrankung des den anderen Organen übergeordneten Organs.
Die Neurose hat, da sie eine Störung des Verhältnisses zwischen Seele und Leib, zwischen zerebralem und abdominalen Selbst, zwischen Bewußtsein und Unbewußtsein darstellt, ihr Zentrum in der "Herz-Mitte", dort, wo die Entscheidungen fallen. Hier ist also tatsächlich die Geistigkeit des Menschen, sein Persönlichstes in Unordnung, seine innere Einheit wie seine Beziehung zum Anderen. Darum eben unterliegt die Neurose immer auch, wenn nicht sogar in erster Linie der moralischen Beurteilung. Sie fällt noch in den Bereich der Verantwortlichkeit, selbst in der Gestalt eines ausgesprochenen Nicht-Könnens; denn sie weiß noch irgendwie um dessen Herkunft aus dem Nicht-Wollen. Sie bleibt darum auch immer mehr oder weniger ansprechbar. Es besteht die Möglichkeit, ihr mit dem Wort beizukommen. Gerade das läßt sich von der Psychose unter keinen Umständen behaupten. Der Psychotiker als solcher ist weder ansprechbar noch verantwortlich. Sein Verhalten und seine Handlungen sind ethisch genau so bedeutungslos wie das Wachstum eines Carcinoms oder das Fortschreiten einer Sklerose. Selbstverständlich hat im Letzten auch die Psychose ihren Ursprung in einer Entscheidung, obgleich nicht unbedingt in einer individuellen, als Psychose aber ist sie bereits aus der Sphäre der Entscheidung in die der Entschiedenheit übergegangen, nicht anders wie irgendeine Organkrankheit.
V. v. Gebsattel betont, "daß auch die großen Formkreise geistiger Erkrankungen, welche das Thema der Psychiatrie bilden ..., Zustände in sich schließen, die einerseits als eine schwere Beeinträchtigung des Werden-Könnens zu verstehen sind, andererseits als ein Inbegriff von Reaktionen auf diese basale Störung. Was hier indessen grundlegend anders ist / als bei den Neurosen / ist der Umstand, daß hier die basale Störung, / welcher Natur auch immer sie sein möge /, jedenfalls nicht primär geistiger Natur ist, d. h. daß sie nicht in einer Weise des Sichverhaltens zum Werden, zum Sein-Können, zur Möglichkeit der Selbstverwirklichung gründet"20). Gemeint ist also, daß die Psychose nicht wie die Neurose unmittelbares Symptom einer Fehlentscheidung ist. Psychosen können auch rein biologisch, bakteriell, toxisch oder sogar mechanisch verursacht sein, Neurosen niemals. Diese haben ihren Ursprung immer in einer psychisch-pneumatischen Verhaltensweise. Deshalb, d. h. weil die Neurose und nicht die Psychose den eigentlichen Wesenskern des Menschen berührt, wäre auch sie und nicht die Psychose eine "Geisteskrankheit" zu nennen. Die "innere Zerrissenheit des Menschen und die sie begleitende Schwermut / also die Neurose / ist die eigentliche Geisteskrankheit, eine Krankheit, die wirklich im Geist des Menschen ihre Wurzel hat, während die Geisteskrankheiten unserer Lehrbücher / wie Paranoia, Dementia, Manie usw. / somatisch, biologisch oder biopsychisch usw. fundiert sind, also im Sinn der ätiologischen Betrachtungsweise gar keine Geisteskrankheiten darstellen"21). An einer Psychose kann auch ein Tier leiden, an einer Neurose nur der Mensch allein, wogegen freilich die Tierpsychologen, die Neurosen mit Störungen der Nervenfunktionen verwechseln, manches einzuwenden haben werden. Wem würde es aber einfallen z. B. den Dummkoller eines Pferdes als Geisteskrankheit zu bezeichnen? Hinter der Neurose, auch wenn sie sich etwa in an sich unsinnigen Zwangshandlungen oder in organischen Leiden äußert, verbirgt sich immer ein Sinn, die Wahngebilde des typischen Psychotikers dagegen sind wesenhaft unsinnig, welche Tatsache allein schon durch ihre schematische Gleichartigkeit bei ganz verschiedenen Individuen bewiesen erscheint.
Trotzdem besteht zwischen der Psychose und den anderen, gewöhnlich so genannten organischen Krankheiten ein bemerkenswerter Unterschied. Im Fall der organischen Krankheit nämlich ist nur das jeweils erkrankte Organ selbst, in der Psychose aber der kranke Mensch als solcher unansprechbar. Als Psychotiker ist demnach der Mensch in einem viel tieferen und totaleren Sinn krank als in seinem organischen Gebrechen. Die Psychose hat sein Wesen getroffen, seine dominante Region. Er ist "besessen", d. h. eine fremde Macht hat von ihm Besitz ergriffen, hat ihn restlos in ihrer Gewalt, so daß er über sein Selbst überhaupt nicht verfügt, ja im Grunde gar kein Selbst mehr ist. Man könnte hier an das Begriffspaar obsessio und possessio denken. Der Neurotiker ist obsediert, d. h. besetzt, der Psychotiker aber possediert, d. h. besessen. Gewiß kann unter Umständen eine obsessio, eine Besetztheit in possessio, in Besessenheit übergehen, aber sie wird damit auch etwas grundsätzlich anderes. Obsediert, nämlich vom Satan oder einem seiner Engel obsediert waren, wenigstens nach der Voraussetzung der Richter, die Hexen, die man auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Einen Possedierten dagegen hätte man auch nach diesen Voraussetzung nicht hinrichten dürfen, ohne damit einen Justizmord zu begehen. Der Possedierte gehörte nicht auf den Scheiterhaufen, sondern in das Narrenhaus; denn ihn konnte man für sein Verhalten nicht verantwortlich machen. Wenn Jesus in den Evangelien einen Besessenen heilt, dann redet er nicht diesen selbst an &endash; denn der Possedierte ist ja unansprechbar &endash;, sondern den bösen Geist, den Dämon, der ihn besessen hält, der von ihm Besitz ergriffen hat. Einen Obsedierten, einen Neurotiker dagegen hätte er persönlich angesprochen, und das hat er ja auch tatsächlich getan, z. B. mit den Pharisäern, diesen Zwangsneurotikern der Gerechtigkeit und des Gesetzes.
Der Unterschied zwischen Psychose und Neurose ließe sich vielleicht auch so definieren, daß hier zwar eine Art Spaltung zwischen subjektivem und objektivem Ich besteht, aber nicht so radikal, daß es zu einem völligen Bruch, also zur Schizophrenie gekommen wäre. Darum äußert sich das Leiden deutlich in der Objektivität der Person, entweder organneurotisch im Somatischen oder psychoneurotisch im Unbewußten. Die Psychose dagegen löst das objektive Selbst vollkommen vom subjektiven ab. Den Psychotiker hat der Geist fallen gelassen. Der Leib kann hier gleichsam unbelästigt von Seele und Geist für sich funktionieren. Er wird in seiner Ganzheit zu einem einzigen Krebsgeschwür. So ließe sich eventuell die eigenartige, etwa von Müller-Eckhard hervorgehobene robuste physische Gesundheit der meisten Psychotiker und ihre Widerstandskraft gegen Infektionskrankheiten erklären. Der Mensch bleibt hier unter dem Niveau der Menschlichkeit gesund.
Wahnsinn ist De-mentia, Abwesenheit des Geistes, Entgeistetheit. Der Wahnsinnige lebt als Schläfer, als Träumer oder auch als schon Toter in der Welt der Wachen wie ein Leib, der sich ohne Seele selbständig gemacht hat, wie ein Unbewußtsein ohne zugehöriges Bewußtsein, wie eine Nacht in die nur zuweilen und unbestimmt das Licht des Tages hineindämmert, um den "Umnachteten" nicht ganz sterben zu lassen. Die Irren befinden sich eigentlich gar nicht mehr in unserer menschlichen Wirklichkeit. Mit ihrem Geist, der eben nicht ihr Geist ist, sind sie darüber hinaus und mit ihrer faßbaren Existenz sind sie unter sie abgesunken. Sie sind zur Vergangenheit geworden und leben als Bruchstücke der Vergangenheit fremd unter den Gegenwärtigen. Auch der Neurotiker ist an die Vergangenheit fixiert / Mutterbindung! /, aber er steht außerdem doch auch im Heute und führt einen ständigen Kampf mit seinem allzu mächtigen Gestern. Er verhält sich da grundsätzlich nicht anders als der Gesunde; denn wir alle kämpfen ja unaufhörlich mit unserer Vergangenheit, um uns den Weg in die Zukunft freizumachen. Der Psychotiker jedoch kämpft in umgekehrter Richtung. Von seinem Standpunkt in der Vergangenheit aus, wo er Fuß gefaßt hat, wehrt er die Gegenwart ab, sträubt er sich gegen die Umwelt, vor allem gegen die anderen Menschen, die "Normalen", die die Gegenwart repräsentieren. Er verhält sich ähnlich wie die Tiere in ihrem Abwehrkampf gegen den sie vergewaltigenden Menschen, und er gleicht ja auch in vieler Hinsicht dem Tier, so wie umgekehrt das Tier dem Wahnsinnigen. Seit Adam den Tieren ihre fatalen Namen gegeben hat, sie damit von seinem Geist isoliert, sie entgeistert oder de-mentiert hat, sind sie alle in ihrer Art wahnsinnig.
Erkranken kann niemals der Sinn, sondern immer nur das Sein, nicht der Geist, sondern nur der Leib, und zwar darum, weil er sich dem Sinn, dem Geist entzieht und so dem Unsinn, dem Ungeist verfällt. Also ist auch die Psychose eine Seins- und nicht eine Sinnerkrankung. Wie bei der organischen Krankheit das erkrankte Organ, so sinkt in der Psychose das Organ des Sinns, das Gehirn auf das bloße Sein zurück und verkehrt sich in Widersinn, weshalb hier das ganze Individuum widersinnig wird, und dieses Individuum löst sich aus dem überindividuellen persönlichen Zusammenhang, aus der dialogisch bestimmten Gemeinschaft, genau so wie sich ein erkranktes Einzelorgan aus der harmonischen Gemeinschaft mit den übrigen Organen desselben Leibes löst. Der Psychotiker ist ein krankes Organ am überindividuellen Organismus. Er flieht die Gemeinschaft, um sich zu isolieren oder einer imaginierten Pseudogemeinschaft, in der er ein Gott, ein König, ein Genie, ein Heiliger oder dergleichen ist, einzugliedern. Dieser Flucht in die Welt der Wahnvorstellungen entspricht auf der anderen Seite der Verfolgungswahn. Seine eigene feindliche Einstellung zu den Menschen der Welt, in der er nicht als König oder Heiliger anerkannt wird, stellt sich ihm dar als Bösartigkeit und Feindschaft der Anderen ihm gegenüber. Die nächsten Anverwandten, die um ihn sind, die Ärzte und Wärter der Anstalt, in der er sich befindet, erscheinen ihm wie hinterlistige und heimtückische Wesen, die nur den einen Gedanken haben, ihn zu schädigen und von seinem eingebildeten Thron zu stürzen. In seinem Reich verwandelt sich die Ordnung des Unsinns in Sinn und die Ordnung des Sinnes in Unsinn. Wir haben früher von den mythologischen Mächten der Vergangenheit, von den Archetypen des Unbewußten geredet, auf die vor allem C. G. Jung hingewiesen hat. Eben diese Mächte, die den Neurotiker nur locken und bedrohen, sind es, die den possedierten Psychotiker in ihrer Gewalt haben, denen er hörig ist. "Es ist nachdenklich genug", bemerkt der Theologe Thurneysen, "daß heute die Psychologie die innere Natur des Menschen als ein von einer Hierarchie von Wesenheiten beherrschtes Feld darstellt und somit beinahe zu einer Art Dämonologie oder Angelologie wird, die unter Umständen und unter gewissen Vorbehalten in eine Beziehung zu bringen ist zur biblischen Vorstellung von diesen Dingen"22).
Die Heiligkeit der heiligen Mächte, an die sich etwa der religiös Wahnsinnige hängt, wie auch seine eigene eingebildete Heiligkeit ist ja von recht sonderbarer Art, eine Heiligkeit, wie die des Lichtengels, zu dem sich nach 2. Kor. 11, 14 der Satan verstellt, eine Heiligkeit, die ständig argwöhnisch ihre Umgebung belauert, ob sie von ihr auch nach Gebühr gewürdigt wird, und die sofort Hörner und Krallen zeigt, wenn sie sich in ihrer Erwartung enttäuscht findet.
Der Psychotiker ist nicht ansprechbar, d. h. dieselben Worte bedeuten in seinem Mund und in seinen Ohren etwas ganz und gar anderes als in Mund und Ohren der übrigen Menschen, sie sind Ausdruck und Träger des Gegensinnes. Das wird um so deutlicher, je höher sich das Gespräch über die Ebene des niederen Seins, des bloß Vegetativen und Animalischen erhebt. Relativ vernünftige Gespräche über Essen und Trinken und andere physische Angelegenheiten sind eventuell noch möglich, sowie aber die Rede auf geistigere Dinge kommt, bricht der Wahnsinn durch; denn hier herrscht die "fixe Idee", die Bindung an den Widersinn. Die Sprache ist das Medium der zwischenmenschlichen Beziehung, und darum wird gerade an ihr die Destruktion dieser Beziehung, die Idiotie des Idioten offenbar. Der Idiot redet Unsinn, weil er auf den Unsinn hin existiert, und der Unsinn wird um so unsinniger, je höher er in die Seinsregion aufzusteigen meint.
G. H. Schubert sagt, in seiner "Geschichte der Seele"23): "Was dem Eintreten des Wahnsinns, die Ursache seines Entstehens sei welche sie wolle, vorhergeht, das ist ein Ohnmächtigwerden jener innerlich bildenden Kraft des Geistes, durch welche mitten im Leben der irdischen Leiblichkeit der neue, geistige Leib des Jenseits gestaltet wird. Durch einen Akt seines eigenen Willens hat der Geist ... die eigene Persönlichkeit aufgegeben und von sich gestoßen, dem dieses eigenen, inneren Leibes ledigen wird nun der neue krankhaft ersehnte, ein Wahnleib gegeben. Der Geisteskranke ist jetzt zu einem Fürsten oder König, ja zu einem Gott geworden." Ich weiß nicht, ob ein einziger von den Psychiatern der letzten hundert Jahre &endash; V. v. Gebsattel vielleicht ausgenommen &endash; das Wesen der Psychose ebenso tief durchschaut hat wie dieser Arzt und große Christ der Romantik. Der Behauptung, der Geist habe durch einen Akt seines Willens die eigene Persönlichkeit von sich gestoßen und den Wahnleib angenommen, können wir freilich so nicht zustimmen. Um einen freien Willensakt als letzte Ursache der Erkrankung, sofern darunter der Wille des Erkrankten selbst zu verstehen wäre, handelt es sich bei der Psychose wahrscheinlich nur in den allerseltensten Fällen. Charakter, Freiheit, Entscheidung, das alles spielt hier eine wesentlich geringere Rolle als in der Neurose. Sonst wäre ja die Entstehung temporärer Psychosen infolge toxischer Einwirkungen gar nicht möglich. Abgesehen davon aber sprechen die zitierten Sätze tatsächlich die letzte Wahrheit über die Psychose aus. Die Sinnhaftigkeit des Menschen beruht darauf, daß er in seiner vorläufigen Existenz, in der paradiesischen wie in der außerparadiesischen, auf seine Gottebenbildlichkeit und das heißt auf den Leib seiner Verklärung, auf den "geistigen Leib" ausgerichtet ist. Der vergängliche Leib hat seinen Sinn im unvergänglichen, im "geistigen Leib des Jenseits", wie Schubert sagt. Verliert er diesen Leib, diesen keimhaften Leib, dann erhält er dafür den Wahnleib, in dem er zum Ebenbild nicht Gottes, sondern des Abgottes heranreift. Wo der Mensch, der als Psychotiker vor uns steht, sein Selbst hat, ob in dem, was sich an ihm wahrnehmen läßt oder vielleicht in einem uns unzugänglichen Transzendenten, das können wir nicht wissen. Es wäre ja möglich, daß der Wahnsinnige in geheimnisvoller Weise bereits erlöst ist, so wie ein Toter, der vor uns im Sarg liegt. Als das sich unseren Sinnen darbietende Wesen aber gehört er ganz ohne Zweifel den Dämonen und dem Widersinn der Satansebenbildlichkeit, genau so wie der tote Körper im Sarg den Würmern.
Immer und in jedem Fall, von ihren ersten Andeutungen in der Hysterie angefangen bis zur handfesten äußeren Körperverletzung ist die Krankheit eine Störung oder Zerstörung des persönlichen Gefüges, eine Aufspaltung dessen, was in seiner Entfaltetheit Eines sein sollte, in eine disharmonische und diskontinuierliche Zweiheit, wobei der in die Natur hinausstehende Pol &endash; wir nannten ihn je nachdem das Sein, den Leib, das Unbewußte oder das Abdomen &endash; in das Wirkungsfeld der äußeren Kausalität, der reinen Objektivität gerät und die Tendenz zeigt, zu dem Staub zurückzukehren, von dem er genommen wurde. Im Tod findet dieser Prozeß sein Ende, das leibliche Selbst zerfällt, es wird Vergangenheit. Die Psychose steht hart an der Grenze des Todes, ja sie ist schon eine Art Tod, ein scheinlebendiger Tod, ein Tod nämlich, in dem die Leiblichkeit zwar den Sinn verloren hat, aber durch den verkehrten Sinn, den Un-Sinn oder Wider-Sinn zusammengehalten wird, zuweilen besser und fester als durch den in seinem zeitlichen Leben immer schon relativ ohnmächtigen Sinn. Der Tod ist bloßer Nullpunkt der Existenz, Nicht-Existenz, der Wahnsinn liegt gleichsam unterhalb dieses Nullpunktes in einer negativen Existenz, die man vielleicht mit allen gebotenen Vorbehalten und freilich nur symbolhaft auch eine höllische Existenz nennen könnte. Der Wahnsinnige darf verstanden werden als ein Sinnbild für das, was aus Adam vor der Vertreibung aus dem Paradies geworden wäre, wenn er nach den Früchten des Erkenntnisbaumes auch noch die des Lebensbaumes gegessen hätte.
Ein besonderes und noch zu bedenkendes Problem bildet die Tatsache, daß die sogenannten Geisteskrankheiten, die Psychosen also, viel seltener auftreten als die organischen Krankheiten. Jeder Mensch stirbt einmal, aber nur sehr wenige werden wahnsinnig. Niemand ist ständig leiblich gesund, aber nur dieser oder jener verfällt in geistige Umnachtung. Der naheliegende Hinweis auf die Vielzahl der Organe, von denen das Gehirn eben auch nur eines ist, kann hier nicht befriedigen; denn die Gehirnerkrankung unterscheidet sich wesenhaft und prinzipiell von den Erkrankungen aller übrigen Organe, des Herzens, des Magens, der Leber, der Milz usw. Es braucht nur geringfügige Anlässe, um den Menschen organisch krank werden zu lassen, aber nur außergewöhnliche Umstände führen zur Psychose, abgesehen davon, daß diese den Menschen ganz anders in seinem Wesenskern trifft als sonst irgendein Leiden. Man könnte hier im Grundsätzlichen sicher zutreffend daran erinnern, daß der Leib a priori das Verneinte, das bewußte Ich dagegen das Verneinende, als jener der Leidende, dieser der Leid zufügende Teil ist. Aber es müßte dann doch noch weiter gefragt werden, wieso und woher denn die Subjektivität die Kraft gewinnt, sich gegen die schädlichsten Einflüsse zu behaupten, und darauf wäre wohl zu antworten, daß dieser Teil der Person das ist, was er ist, aus der, wenn auch usurpierten Selbstidentifikation mit dem wahren Gott, mit dem Göttlichen am Menschen. Er usurpiert also doch auch die Unsterblichkeit dieses Göttlichen, er spielt wenigstens die Rolle des Unsterblichen, obgleich er sie niemals bis zuletzt durchhalten kann. Insofern hat Carus recht, wenn er meint, daß das Selbstbewußtsein "den Gedanken seiner eigenen Ewigkeit erfaßt" und "aus diesem Grund an und für sich außer dem Bereich der Krankheit steht"24). Er irrt bloß, indem er es dabei mit einem legitimen und nicht nur usurpierten Besitz der Subjektivität zu tun zu haben glaubt; denn dieses Bewußte, das im Gegensatz zum Unbewußten steht, ist eben tatsächlich nicht der wahre Geist, sondern eher seine Karikatur. Es ist darum auch in Wahrheit bereits krank &endash; obwohl in anderer Weise als der Körper &endash; während es sich für gesund hält, ja gerade diese seine vermeintliche Gesundheit macht seine Krankheit aus. Die relative Unverletzlichkeit des Gehirns &endash; symbolisch dargestellt durch die harte Schädeldecke gegenüber den weichen Umhüllungen der Abdominalorgane &endash; hat nichts mit Ewigkeit und Integrität zu tun, sie karikiert nur die Ewigkeit in der Gestalt einer verhältnismäßig langen zeitlichen Dauer, einer gewissen Starrheit und Unveränderlichkeit auch der Gehirnzellen. Aber wehe, wenn die Schale bricht und die weiche Nuß dahinter verletzt wird.
Gesundung, Genesung, Heilung
Ist Krankheit Versehrung des Menschen, so Gesundung Wiederherstellung der Unversehrtheit, restitutio ad integrum. Versehrung bedeutet vor allem Zerstörung des Einklanges von Sein und Sinn, Gesundung demnach Wieder-in-Einklang-Kommen. Genau wie die Krankheit hat auch die Gesundung ihren Sinn-Aspekt und ihren Seins-Aspekt, ihren subjektiven und ihren objektiven oder ihren endogenen und ihren exogenen Faktor. Sie erfolgt sowohl von innen heraus vom Kranken selbst her wie auch von außen aus der gegenständlichen Welt. Im ersten Fall reden wir von Genesung, im zweiten von Heilung. Das Subjekt der Genesung ist der Kranke: ich genese, das Subjekt der Heilung ist ein Anderer oder ein Anderes: ich werde geheilt. Wer oder was die Subjektivität des Heilenden trägt, läßt sich nicht ebenso eindeutig bestimmen wie die Subjektivität des Genesende. Der Heilende kann unter Umständen auch der Kranke selber sein, wenn er sich z. B. irgendein Heilmittel zuführt. Dann ist zwar Heilender und Genesender die gleiche Person, aber doch jedesmal in anderer Weise; denn als der Heilende steht er sich als dem Kranken gegenüber wie der Arzt dem Patienten. Der Heilende kann zweitens ein anderer Mensch sein, ein Heilkundiger, also ein Arzt oder ein Pfleger und endlich drittens eine Person, die sich in das Schema Subjekt-Objekt überhaupt nicht einordnen läßt, die dieses Schema transzendiert, d. h. zuletzt Gott. Aber auch der heilende Mensch, der "Arzt" im weitesten Sinne dieses Wortes bleibt eine mehrdeutige Figur. Es wäre etwa möglich, daß mich ein Anderer lediglich durch seine Liebe heilt, durch seinen tröstenden und ermunternden Zuspruch, der mir die Kraft gibt, aus mir heraus den Weg zur Genesung zu finden. Auch dieser Liebende ist ein Arzt, aber doch sicher nicht in der gleichen Weise wie irgendein fremder Mann, der mir, ohne auf mein persönliches Selbst einzugehen, ein Rezept ausschreibt oder ein Geschwür aufschneidet und dafür sein Honorar fordert. Die Genesung vollzieht sich also immer in gleicher Weise, die Heilung aber in sehr verschiedener und damit allerdings auch die Gesundung als die jeweilige Resultante aus den beiden Komponenten Genesung und Heilung. Es könnte sein, daß ein "Geheilter" noch kein Genesener und infolgedessen auch kein wahrhaft Gesundeter ist, und es könnte vielleicht ebensogut sein, daß vom "Genesenen" umgekehrt das Gleiche gilt.
Gesundung ist weder ohne Genesung noch ohne Heilung möglich. Das Erste leuchtet ohne weiteres ein und bedarf keines besonderen Beweises. Aber auch das Zweite läßt sich ohne Schwierigkeit einsichtig machen. Krankheit bedeutet Vereinseitigung, Isolierung, Herauslösung aus dem lebendigen Zusammenhang einer Ganzheit. Der Kranke ist ein isolierter und insofern reduzierter Mensch. Er verfügt als solcher gar nicht mehr über die Mittel und Möglichkeiten, die zur Wiederherstellung des Ganzen nötig wären. Das Fehlende muß da von außen kommen, zu ihm hinzu gebracht werden ohne sein eigenes Zutun, und dieses Fehlende ist eben der exogene Faktor der Gesundung, der heilende Faktor, den vor allem der "Arzt" in seinen verschiedenen Gestalten repräsentiert. Der Arzt kann dabei interpretiert werden sowohl als Ursache wie auch als Telos der Heilung, d. h. als der allein Aktive, demgegenüber der Patient sich rein passiv verhält, oder als der Ansprechende, der die Antwort, die Genesungsantwort des Patienten auslöst, in welcher Antwort, da sie ja Antwort auf den Anspruch des Heilenden ist, der Kranke nicht nur genest, sondern auch gesundet. Diese Gesundung aus dem Dialog zwischen Genesendem und Heilendem wird allerdings nur dann vollkommen sein, wenn der Heilende Gott selber ist, aber Gott kann auch durch einen Menschen, also etwa durch einen Arzt, zum Menschen reden. Jedenfalls verhält sich der Kranke als der direkt oder indirekt vom heilenden Gott angesprochene niemals rein passiv. Freiheit zwingt ja nicht, sondern erweckt wieder Freiheit. Der Angeredete reagiert mit seinem Vertrauen, mit seinem Glauben auf die Anrede, und darum wird zu ihm, wenn er geheilt, genesen und gesundet ist, auch immer zu sagen sein: "Dein Glaube hat dir geholfen". Der heilende Gott vertraut sich dem kranken Menschen an und fordert ihn auf, sich auch ihm anzuvertrauen. Ebenso müßte im idealen Fall der Patient sich dem Arzt und der Arzt sich dem Patienten anvertrauen. Kommt es nur zu einem einseitigen Vertrauensverhältnis, dann bleibt, wenn nicht die Heilung, so doch die Gesundung aus.
In dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter, das in 95 von 100 Fällen ganz flach im Sinn einer bloßen Wohlfahrtsethik ausgelegt wird, fragt der Schriftgelehrte zunächst: "Wer ist denn mein Nächster?", was soviel bedeutet wie: Wer ist der, dem ich Liebe erweisen, dem ich helfen, dem ich Gutes tun, den ich heilen muß? Darauf antwortet Jesus mit der bekannten Gleichniserzählung und schließt daran die höchst erstaunliche und ganz und gar unerwartete Frage: "Welcher dünkt dich, der unter diesen dreien &endash; dem Priester, dem Leviten und dem Samariter &endash; der Nächste sei gewesen dem, der unter die Mörder gefallen war?" Erstaunlich ist diese Frage darum, weil sie die Ordnung von Heilendem und Heilungsbedürftigem, wie sie der Schriftgelehrte im Auge hat, umkehrt. Da ist der Mensch auf einmal gar nicht mehr der, der Gutes zu tun hat an irgendeinem Nächsten, da ist der Andere nicht das Objekt, an dem sich der Gerechte bewährt, nicht der Passive, der sich die Wohltat einfach gefallen lassen muß, nicht das an sich gleichgültige "Material der Pflichterfüllung" / Fichte /, sondern der Wohltäter, der Heilende und Rettende, der Aktive, dem ich mich anvertrauen soll. Da heißt den Nächsten lieben nicht, ihm gönnerhaft Gutes tun und sich in der Rolle des Gebers gefallen, sondern liebend aus seiner Hand die Gabe entgegennehmen, die im Letzten eine Gabe Gottes ist. Ich soll meinen Nächsten lieben, weil ich von ihm Heilung empfange und nicht, weil er von mir geheilt wird. Er, der Andere ist der, den ich brauche, den ich als einen mir Zugehörigen anerkennen muß, dem ich mich hingeben muß, wenn ich gesund werden will. Er ist mein Arzt und meine Arznei. Gewiß gilt dann auch die Umkehrung, also auch das Gebot, ihm Gutes zu tun, aber doch nicht, weil dich als der Reiche ihm dem Armen, ich als der Habende ihm dem unglücklichen Habenichts gegenüberstehe, sondern weil er mir, gerade auch in seiner Armut und in seinem Unglück offenbar wird als einer, ohne den ich niemals reich und niemals glücklich sein könnte. Aufs Letzte gesehen bleibt immer er der Reiche und bleibe ich der Arme, gleichgültig wie sich nach weltbürgerlichen Begriffen das Verhältnis von Arm und Reich jeweils darstellen mag. Das Gleiche gilt natürlich auch vom Arzt in seiner Beziehung zum Patienten. Nur wenn der Arzt im Patienten und der Patient im Arzt den "Arzt" sieht, den "Nächsten" in seiner Rolle als Stellvertreter Gottes oder Christi, als "barmherzigen Samariter", ohne den es keine Heilung gäbe, nur dann läuft der Dialog zwischen beiden richtig.
Gesundung, Genesung und Heilung verhalten sich zueinander wie Geist, Seele und Leib, ja sie sind eigentlich nur eine besondere Darstellungsform eben dieser Dreiheit. Die Heilung als solche ist eine leibliche, die Genesung eine seelische und die Gesundung eine geistige Angelegenheit. Nehme ich als geistige Person meinem Sinn entsprechend die rechte Richtung auf das rechte Telos ein, dann gesunde ich meiner Totalität nach, dann genese ich als seelisches und werde ich geheilt als leibliches Wesen. Die Gesundung ist das Herz, die Genesung das Hirn und die Heilung das Abdomen der restitutio ad integrum. Die erste zieht die beiden anderen nach sich, manifestiert sich auch in ihnen. Der Geist ist wie überall, so auch hier creator spiritus. Fehlt er und fehlt mit ihm die Gesundung, dann kann die Genesung nur Scheingenesung und die Heilung nur Scheinheilung sein. Bei der Heilung tritt dieser Fall ein, wenn etwa der Arzt zu einem Gott wird, der "nur von außen stößt", zu einer kausal wirkenden Ursache, zu einem Heilmechaniker.
Wie alles, was ich mir selber oder Anderen an Gutem tue, bzw. von Anderen tun lasse, so hat auch die Heilung sozusagen zwei Sinnspitzen. Die eine weist voraus in die zeitliche Zukunft, auf ein Ziel, das reflexiv bewußt und beabsichtigt realisiert werden soll, die andere weist gleichsam nach oben aus der Zeit heraus. Die erste geht den "Weg allen Fleisches", d. h. den Todesweg, die zweite den Lebensweg. Die erste bewegt sich in genau der gleichen Richtung wie das, wogegen sie zu kämpfen meint, als wie die Krankheit und ist darum im Tiefsten nur eine andere Gestalt der Krankheit selbst. Sie hebt das eine Übel auf, um ein anderes, wahrscheinlich noch schlimmeres an seine Stelle zu setzen. Sie treibt den Teufel mit Beelzebub aus, sie verjagt den einen bösen Geist, um für sieben andere Platz zu machen. Sie tötet z. B., indem sie Sulfonamide oder Antibiotika anwendet, so und so viele Krankheitserreger und züchtet doch gleichzeitig ein neues widerstandsfähigeres Bakteriengeschlecht heran. Die zweite dagegen bringt den Prozeß des Sterbens tatsächlich zum Stillstand und öffnet dem Leben ein Ventil. In allem menschlichen Heilen vermischen sich fast immer beide Momente miteinander, so daß man darüber weder eindeutig positiv noch eindeutig negativ urteilen darf. Zweifellos aber gewinnt mit fortschreitender geschichtlicher Entwicklung die zeitliche Sinnspitze immer mehr die Oberhand über die vertikale. Die Reflexion löscht die Lichter der Unmittelbarkeit mehr und mehr aus.
"Wäre der Mensch einfach", sagt Hippokrates, "könne er wahrlich nicht Schmerzen leiden"; dann könnte er nämlich, fügen wir hinzu, überhaupt nicht leiden und also auch nicht krank sein. Die Zwie-Fältigkeit des Menschen, die Möglichkeit des "Für-sich-Seins" ist die Bedingung seines Bewußtseins und damit seiner Menschlichkeit. Entartet aber die Zwie-Fältigkeit zur
Zwie-Spältigkeit, dann wird sie zur Bedingung seines Leidens, seines Schmerzes, seiner Krankheit, Daraus folgt, daß Gesundung zwar die Zwiespältigkeit beheben, die Zwiefältigkeit aber bestehen lassen muß. Soweit die Theorie dieses Doppelte beachtet, in dem sie erstens den Widerspruch, der sich in der Krankheit äußert, auflöst und zweitens die Menschlichkeit des Menschen ehrfurchtsvoll bewahrt, bleibt sie unangefochten. Sie überschreitet aber die Grenzen ihrer Befugnis in dem Augenblick, da sie mit der Zwiespältigkeit auch die Zwiefältigkeit aufhebt, den Konflikt durch Zerstörung der Polarität zu beseitigen versucht, d. h. durch Entmächtigung des einen Poles zugunsten des anderen; denn damit vernichtet sie die Voraussetzung des Selbstbewußtseins, der Freiheit, der persönlichen Existenz, damit nimmt sie dem "Geheilten" die Fähigkeit, seine Bestimmung als Mensch zu erfüllen. Sie macht ihn "einfach".
Heilung oder richtiger Gesundung wird, wie wir schon sagten, definiert als restitutio ad integrum. Diese Definition ist rein formal zweifellos unangreifbar. Aber was heißt Integrität? Gibt es einen Maßstab, an dem sich die Abweichung von der Integrität messen läßt? Bedeutet Integrität Perfektion oder vielleicht nur Durchschnittsnorm? Von Perfektion könnte doch nur dann die Rede sein, wenn das Leben des Menschen, des sogenannten gesunden Menschen nämlich, nicht mehr auf den Tod zulaufen würde. Da aber ein solcher Zustand niemals auch annäherungsweise zu erreichen ist, bleibt die Integrität ein recht vager Begriff. Sie kann demnach scheinbar wirklich nur den Durchschnitt oder bestenfalls das empirisch feststellbare Optimum meinen. Wie aber läßt sich auch nur ein relatives Optimum feststellen, wenn die Perfektion fehlt, im Blick auf die allein das Wort Optimum einen vernünftigen Sinn hätte? Es wäre ja möglich, daß sich gerade das, was sich mir zunächst als Optimum darzustellen scheint, die körperliche Kraft, die Langlebigkeit, die Immunität gegen Gifte und Infektionen usw., eines Tages als Verhängnis erweist. So gehen z. B. die größten und stärksten Tiere aus Nahrungsmangel viel schneller zugrunde als die kleinen und schwachen. Die Amöbe ist, wenn man mir diesen Komparativ gestatten will, viel unsterblicher als der Elefant. Bleibt also doch nur der Durchschnitt, von dem aber nach einiger Überlegung niemand behaupten wird, daß er einen brauchbaren Wertmaßstab abgibt. Vor allem übersieht die Definition, daß der Mensch gar nicht als ein irgendwie fixierbares Seiendes, sondern nur als ein Werdendes, als auf ein Telos hin Gerichtetes seinem Wesen nach verstanden werden kann, und so ist mit dem "integrum", solange man dieses Telos nicht kennt, gar nichts anzufangen.
Wir sprechen nun zunächst von der Möglichkeit einer Genesung ohne Heilung, d. h. einer Gesundung nur von innen heraus ohne jeden Beitrag von außen, ohne objektiven exogenen Faktor. Eine solche Genesung tritt etwa dann ein, wenn der erkrankte Organismus selbst die Kräfte aufbringt, die zur Überwindung des Zwiespaltes in ihm ausreichen, wenn er also etwa das Gegengift erzeugt, das das in ihn eingedrungene Fremdgift paralysiert. Ganz ohne Heilung von außen, ganz ohne "Arzt" verläuft aber auch ein solcher Genesungsprozeß freilich nur dem Anschein nach; denn der Kranke nimmt ja mindestens Nahrung zu sich und atmet Sauerstoff ein. Den Arzt im engeren Sinn braucht dieser Patient nur darum nicht, weil er ihn bereits hat. Wenn er imstande ist, den antithetischen Krankheitszustand synthetisch zu bewältigen, so bedeutet das, daß er insofern über die Sinn-Ganzheit verfügt, gegen die der Unsinn nicht ankommen kann. Sinn-Ganzheit hat jedoch immer teleologische Gerichtetheit zur Voraussetzung, ja sie fällt mit dieser zusammen, und somit ist hier eigentlich das mit der Person des Genesenden ja keineswegs identische Telos der heilende Arzt. Der Kranke verdankt seine Gesundung tatsächlich nicht den eigenen, sondern den ihm vom Telos zuströmenden synthetischen Kräften, also etwa auch dem Sauerstoff und den Speisen, die er empfängt.
Gehen wir nun einen Schritt weiter und nehmen wir an, daß der Kranke die nötigen Gegengifte zwar nicht selbständig hervorbringt, nicht unbewußt organisch produziert, aber in der umgebenden Natur, sagen wir in Gestalt bestimmter Heilpflanzen, vorfindet und sie sich einverleibt. Er hat also gewisse pharmakologische Kenntnisse a priori. Es gibt bekanntlich desgleichen bereits im Tierreich und nicht erst beim Menschen. Schon in sehr frühen Zeiten der Geschichte hat man bemerkt, daß manchmal in Gegenden, in denen diese und jene Krankheiten besonders häufig auftreten, gerade auch die Pflanzen wachsen, die als Heilkräuter vor allem in Frage kommen. Gift und Gegengift befinden sich da also in einer eigentümlichen Nachbarschaft. Ihre Gegensätzlichkeit hat gleichsam die Erinnerung an ihre ursprüngliche synthetische Polarität noch nicht ganz verloren. Sie stehen immer noch unter der Dominante einer teleologischen Ganzheit, wie Männlichkeit und Weiblichkeit, Säuren und Basen, positive und negative Elektrizität. Solange es Nachbarschaften solcher Art gibt, darf man noch von einer sozusagen potentiellen Gesundheit auch der Erkrankten reden; denn die brauchen ja hier nur nach den Heilpflanzen zu greifen wie der Hungrige nach der Nahrung oder der Durstige nach dem Wasser. Die Einseitigkeit ist noch nicht so weit fortgeschritten, daß sie die Existenz des Vereinseitigten ernstlich in Frage stellen würde. Der Hinweis auf die Ähnlichkeit der Arzneizufuhr mit der Nahrungsaufnahme hat seine nicht zu übersehende Bedeutsamkeit; denn im Grunde sind Hunger und Durst schon eine Art Krankheit und darum Essen und Trinken schon eine Art Heilung. Daß der Mensch genötigt ist, von außen Nahrung aufzunehmen, zeigt, daß er nicht aus sich selbst existiert und demnach als Kranker auch nicht aus sich selbst genesen kann. Der Unterschied zwischen Sättigung und Heilung liegt nur darin, daß die Nahrung zu dem sie Aufnehmenden in keinem Widerspruchsverhältnis steht, während Gift und Gegengift Feinde sind, die nur über einen Kampf auf Tod und Leben zum Ausgleich kommen.
Theophrastus Paracelsus bemerkt einmal: "Die Natur ist so subtil und so scharf in ihren Dingen, daß sie ohne große Kunst nicht will gebraucht werden: Denn sie gibt nichts an den Tag, das auf sein Statt vollendet sei, sondern der Mensch muß es vollenden: Diese Vollendung heißt Alchimia." Dazu führt Hans Blüher1) aus, der wahre Grundgedanke der Alchimie sei die Veredlung bzw. Vollendung der Gesteine in der Richtung auf das Gold und der Pflanzen in der Richtung auf den Weizen / ich würde lieber sagen: auf den "Baum des Lebens" /. Aber die Goldwerdung der Gesteine müsse sich vollziehen "entsprechend einem innerlichen Weg des Menschen, der ihn / den Menschen / gleichfalls zur Vollendung führt." Bringt Paracelsus diese tiefe Weisheit mit der Heilkunst in Zusammenhang, so heißt das, daß die auf ihre Vollendung gerichtete Pflanze vermöge dieser ihrer Tendenz sich der Tendenz des Menschen auf seine eigene Vollendung hin angleicht, daß der Mensch und die Pflanze auf das gleiche Telos ausgerichtet sind und den gleichen Sinn haben. Nicht nur der Mensch sucht die Nahrung, sondern auch die Nahrung den Menschen, nicht nur der Kranke und Vergiftete das Gegengift, sondern auch das Gegengift den Vergifteten. Die Pflanze etwa, die sich als Speise dem Menschen darbringt und opfert, will sich damit durch den Menschen zum Lebensbaum vollenden. Das wenigstens ist der Ursinn des Essens im Paradies vor dem Sündenfall. Das Gleiche ließe sich mutatis mutandis auch von den Mineralien sagen, sofern sie auf das edelste Mineral, nennen wir es meinetwegen das "Gold", hin angelegt sind, so wie der Mensch auf das vollkommene Ebenbild Gottes. Hier wird also noch etwas davon gewußt, daß die ganze Schöpfung einen über ihr So-Sein hinausreichenden Sinn hat, und daß von echter Heilung nur die Rede sein kann, wo man diesen Sinn, den status perfectionis im Auge behält. Wir leben freilich nicht mehr im Paradies vor dem Sündenfall. Unsere Nahrungsaufnahme und erst recht unsere pharmakologische Therapie ist noch etwas ganz anderes und etwas viel negativeres als der unschuldige Genuß der Baumfrüchte im Garten Eden, aber eine Beziehung zwischen beiden besteht trotzdem; denn sonst könnte es so etwas wie Sättigung oder Gesundung auch in den uns allein bekannten prekären und immer zweideutigen Formen gar nicht geben. Mag alle Heilung bloßes Flickwerk sein, der Glaube daran, daß sich etwas flicken läßt, hat seinen Grund in der Erinnerung an das Paradies und vielleicht auch in der geheimen Hoffnung auf das Reich Gottes, wo die Bäume des Lebens zu beiden Seiten des Flusses wachsen / Off. 22, 2 / und die Straßen mit durchsichtigem Gold gepflastert sind / 21, 21 /.
Die Möglichkeit, eine Krankheit durch Medikamente oder auch durch die Kunst des Arztes zu heilen ist zunächst nichts anderes als die über die individuellen Grenzen hinaus erweiterte Fähigkeit des Organismus, aus sich selbst heraus heilende Kräfte und Gegengifte zu erzeugen. Das Vorhandensein solcher Kräfte im lebendigen Leib wie auch heilkräftiger Mittel und heilkundiger Menschen außer ihm gehört einfach mit zur relativen Gesundheit und zur Regenerationskraft der Schöpfung, auch noch im Zustand der corruptio. "Der Herr schafft aus der Erde Heilmittel, und der verständige Mann wird sie nicht verschmähen." / Sir. 38, 4 /. Er wird auch den Arzt nicht verschmähen, wie das gleiche höchst merkwürdige Kapitel ausdrücklich betont. Freilich gibt es daneben auch andere Bibelstellen, die weit weniger anerkennend von Arzt und Arznei reden. So wird von dem König Asa tadelnd gesagt: "Doch auch in seiner Krankheit wandte er sich nicht an den Herrn, sondern an die Ärzte." / 2. Chron. 16, 2 /. Wo liegt da nach der Meinung der Bibel die Grenze zwischen der erlaubten und der unerlaubten Konsultation des Arztes und dem erlaubten und unerlaubten Gebrauch von Heilmitteln? Offenbar ist die Heilung, die man empfängt, die einem zuteil wird wie ein Geschenk, immer Heilung aus der göttlichen Gnade, die andere aber, nach der man eigenmächtig greift, die man sich gewissermaßen raubt, Heilung gegen den Willen Gottes und damit nur Scheinheilung, vielleicht sogar eine neue noch bösere Krankheit unter der Maske der Gesundung. Alles, was wir als Krankenheilung kennen und erfahren, liegt zwischen diesen beiden Extremen und bleibt darum doppeldeutig. Ob irgendein Heilmittel erlaubt ist oder nicht, ob im besonderen Fall das zitierte Sirachwort gilt oder das Urteil über den König Asa, das hängt in erster Linie gar nicht von dem Mittel selbst ab, sondern von der inneren Haltung, aus der heraus es der Kranke anwendet, von der "Sinnspitze", über die hinweg es anvisiert wird. Es mag so und so den gleichen äußeren Erfolg haben, d. h. zur Genesung führen, aber der Genesene als solcher wird trotzdem jeweils ein anderer sein, einmal ein wahrhaft Gesunder und einmal nur ein Scheingesunder, der mit dem Mittel den Keim zu einer neuen Krankheit in sich aufgenommen hat. Der natürlichen Zwiespältigkeit des menschlichen Wesens aber entspricht auch die Zwiespältigkeit der Haltung den Heilmitteln gegenüber, so daß fast immer Gesundung und Scheingesundung einander durchdringen werden.
In allen bisher erwähnten Fällen von Genesung handelte es sich nur dem ersten äußeren Anschein nach um Genesung ohne Heilung, also um eine Gesundung lediglich von innen heraus ohne exogenen Faktor. Es wird darum zu fragen sein, ob es eine solche absolut autonome Genesung überhaupt geben kann. Denken wir uns einmal einen unumgänglichen Menschen, der sich mit keinem verträgt, mit keinem auskommt, mit jedem Streit anfängt, einen typischen Querulanten also oder einen asozialen Charakter. Auch dieser Mensch ist in seiner besonderen Weise krank, wenn auch nicht gerade im medizinischen Sinn. Er könnte nun aber seiner Krankheit entgehen, besser gesagt, ihr ausweichen, indem er sich aus jedem Gemeinschaftsverhältnis mit anderen Menschen löst, sich ganz und gar isoliert, ein Sonderling und Einsiedler wird. Solange er sich dieser Selbstbeschränkung unterzieht ist er gesund, bzw. kann seine latente Krankheit nicht ausbrechen, es kann zu keiner Symptombildung kommen. Aber seine Gesundheit oder seine Genesung hat doch auch ihre Kehrseite. Es fehlt da zweifellos etwas, das einfach zur Vollmenschlichkeit gehört, ein integrierendes Moment, weshalb sich von einer echten restitutio ad integrum eben doch nicht sprechen läßt. Dieser Genesene ist zwar ganz sicher aus sich heraus genesen, er hat keine fremde Hilfe in Anspruch genommen, aber er ist dabei auch kleiner, weniger umfangreich geworden, er hat sich um Möglichkeiten verkürzt, ohne die man kein wirklicher Mensch sein kann. Er hält sich unterhalb der dem geselligen Normalmenschen angemessenen Daseinsebene. Er hat zwar keine Feinde, aber auch keine Freunde mehr. Dasselbe wäre ungefähr zu sagen von einem Volk oder einem Staat, der oder das sich etwa durch seine verfassungsmäßig festgelegte und international garantierte Neutralität aus allen Schwierigkeiten und Konflikten heraushält, die die freie Auseinandersetzung mit anderen Völkern und Staaten unvermeidlich mit sich bringt. Man könnte also auch von gleichsam asozialen Nationen reden. Eine solche Nation kann im eigenen Haus sehr geordnet leben, viel geordneter und sauberer als die weniger glücklichen anderen, ihr innerer Wohlstand wird vielleicht kaum etwas zu wünschen übrig lassen. Man wird sie nicht ohne einen gewissen Neid betrachten. Und doch fehlt auch da etwas, nicht im leiblichen, aber im seelischen Bereich. Die Sekurität erhält man nicht umsonst, sie muß irgendwie bezahlt werden, wahrscheinlich mit einer Verkümmerung des Herzens, nämlich des den Sinn ausstrahlenden und die Beziehung zu andern herstellenden Zentralorgans. / Ein Schweizer hat mir einmal gesagt: "Vielleicht geht es der Schweiz nur darum so gut, weil Gott auf sie vergessen hat." Ein außerordentlich tiefsinniges Wort. / Jener Sonderling ebenso wie diese neutralisierte Nation erhält sich sozusagen bei Gesundheit oder hat die bereits verlorene Gesundheit wiedererlangt durch Einhaltung einer strengen Diät. Und damit haben wir das entscheidende Wort gefunden. Der Kranke, der sich selbst gesund macht, indem er sich gewisse Dinge versagt, die sonst zum normalen natürlichen Leben gehören, der gewisse Kanäle nach außen verstopft, der sich mit Hilfe einer Diät kuriert, ist der ohne Heilung Genesene. Damit soll gar nichts gegen Diätkuren im allgemeinen gesagt sein. Die Diät kann mir schließlich auch sehr gegen meinen Geschmack und gegen meine Wünsche von einem rigorosen Arzt auferlegt sein. Ich kann unter ihr sehr leiden und sie als schweres Opfer empfinden, ähnlich etwa wie ein Gefangener seine höchst unfreiwillige Kommunikationslosigkeit. In allen ähnlichen Fällen handelt es sich aber nicht um das, was wir hier unter "Diät" verstehen; denn wo der Wunsch nach Durchbrechung der Schranken bestehen bleibt, betrifft die Diät nur eine sehr periphere Schicht des Wesens. Die Möglichkeiten sind hier nicht abgeschnitten, sondern nur von außen eingeengt. Der "Genesene" wird sich hier auch gar nicht für einen wahrhaft Gesunden halten. Wir brauchen da nur zum Beispiel an einen Diabetiker denken, der während der genauen Einhaltung seiner Speisevorschriften keine Symptome zeigt. Gemeint ist hier nur jene Art Diät, die mit Selbstzufriedenheit zusammenhängt, die das eingeengte Leben, das armselige Leben unterhalb des vollmenschlichen Niveaus höher schätzt als das andere, weitere, die mit den Möglichkeiten auch die Bedürfnisse und das Wissen um den Wert der Selbstentbreitung ertötet. Etwas davon steckt freilich, darüber sollte man sich nicht täuschen, in jeder Gesundung durch Diät, und wieder kommt es zuletzt und in entscheidender Weise auf die innere Haltung des so Genesenen an, ob er sich zufrieden verkriecht in seinen goldenen Käfig oder ob er in positiver Resignation das ihm auferlegte Schicksal trägt.
Reduziert sich in der Genesung ohne Heilung der Kranke selbst, so wird er in der Heilung ohne Genesung umgekehrt von außen, von der Therapie, vom Handeln des Arztes her reduziert. Die Genesung ohne Heilung ist darum ein Problem, mit dem sich der Mensch als Kranker, die Heilung ohne Genesung eines, mit dem sich der Mensch als Therapeut auseinanderzusetzen hat. Dort ist der Patient, hier der Arzt Subjekt der Entscheidung, die Person, auf der die Verantwortung liegt, die Verantwortung nämlich für die Bewahrung der Vollmenschlichkeit des Menschen, ohne die es keine Gesundung gibt, die Verantwortung dafür, daß der Daseinssinn nicht verkürzt oder verbogen wird. Der Unantastbarkeit des Sinnes, der allein Gesundung verbürgt, müßte unter Umständen auch der mögliche Erfolg eines Genesungs- oder Heilungsprozesses geopfert werden.
Durch jede Heilung, die nicht auch Genesung ist, die der Körper nicht aus einem eigenen Vermögen mitvollzieht, die ihm also nur von außen therapeutisch appliziert wird, wird der Kranke bis zu einem gewissen Grad in seinem Wesen reduziert, auf ein tieferes Niveau des Existierens herabgesetzt. Da die Therapie von außen kommt und sofern sie von außen kommt, trifft sie auch nur die relativ peripheren Regionen des Erkrankten und nicht das Zentrum, aus dem die Krankheit entspringt. Sie stellt somit auch die Gesundheit nur in dieser peripheren Region wieder her. Darum steht alle menschliche Therapie überhaupt und nicht etwa nur die moderne oder neuzeitliche in einem fragwürdigen Zwielicht. Der Mensch erkrankt weil und indem er sich seiner Welt und sich selbst gegenüber vereinseitigt. Die Welt ist es, die nun über die andere, die fehlende Seite verfügt und dem Kranken die Heilung nur dadurch ermöglicht, daß sie ihm das Fehlende, z. B. in Gestalt eines in der Natur vorhandenen Gegengiftes, einer Heilpflanze oder dergleichen anbietet. Macht er aber von diesem Anerbieten Gebrauch in der bewußten Absicht geheilt zu werden, dann gleicht er sich damit unvermeidlich der Natur an, so etwa wie sich die Tiere den Bedingungen ihrer Umwelt angeglichen oder angepaßt haben und so zu Kümmerformen der Menschenvorbildlichkeit geworden sind, d. h. dann verzichtet er zugunsten dessen, was ihm nunmehr nur noch objektiv gegeben ist, auf etwas von seiner Selbstheit, seiner Substanz, seiner Eigentlichkeit, er gewinnt seine Gesundheit zurück um den Preis seiner vollen Souveränität, seiner ihm ursprünglich zugedachten Herrschaft über die Welt. Er ist nicht seine Gesundheit, er hat sie nur. Sie hängt ihm an wie ein Fremdes, mit dem sich zu identifizieren, das der eigenen Ichheit zuzurechnen überaus gefährlich ist. Soll er dabei keinen Schaden nehmen, so muß er sich, indem er geheilt wird, von seiner neuen Gesundheit innerlich lossagen, seine Gesundheit so haben, als ob er sie nicht hätte, sich von seinem Sein in ihr befreien in eine Freiheit jenseits ihrer. Anders ausgedrückt: er muß innerlich seine Krankheit bis zur letzten Konsequenz, vielleicht bis zum Tod und durch den Tod hindurch durchstehen, gleichgültig, ob er in den Augen des behandelnden Arztes geheilt ist oder nicht. Er muß sein geheiltes Leben verlieren, um sein wahres zu retten und zu erhalten. Genau so weit wie das an ihn von außen herangebrachte Heilmittel oder die Person des Arztes objektiv von seinem Zentrum abliegt, muß er sich subjektiv der Welt entfremden, in der er als der "Geheilte" weiterlebt, weil er sonst seiner Totalität nach dem bloß Objektiven verfallen würde.
In der Therapie &endash; auch in der allerprimitivsten &endash; wird die Krankenheilung zur Technik, und umgekehrt ist alles, was wir Technik nennen, gar nichts anderes als eine Art Therapie. Die Technik ermöglicht uns etwas die Bewältigung von räumlichen und zeitlichen Entfernungen, die im Prinzip durchaus der Distanz, hier der qualitativen Distanz, zwischen dem die Krankheit erregenden Gift des Vergifteten und dem heilenden Gegengift gleichen. Die Ferne, die wir technisch überwinden, z. B. mit dem Flugzeug, aber auch mit der Photographie unseres Urgroßvaters, ist der Abgrund zwischen uns und dem, was wir aus unserer Unmittelbarkeit verloren haben. Es geht um die Synthese zwischen hier und dort, von jetzt und damals, und die Herstellung der Synthese bedeutet abermals Anpassung an das Dort und das Damals in seiner Dortigkeit und Damaligkeit, also an das Objekt, an die "Welt". Der technische Mensch, der homo faber ist auf dem Weg ein angepaßtes Tier zu werden, der Natur zu verfallen, während er sie zu meistern glaubt, ein verkürzter oder reduzierter Mensch, und auch er kann der drohenden Gefahr der Selbstverkümmerung nur entgehen, wenn er die Wirklichkeit in genau dem Grad, in dem sie technisiert ist, transzendiert, wenn er die "Welt" nicht "lieb" hat, d. h. nicht zu seinem Selbst rechnet, wenn er sie ebenso wie jene therapeutisch erzeugte Gesundheit nicht ist, sondern nur noch hat als ob er sie nicht hätte.
Die moderne Zivilisation vermittelt dem Menschen aber nicht nur räumliche und zeitliche Fernen, sondern auch sogenannte "geistige Werte", und das zwar durch die Presse, den Film, das Radio, den Televisor usw. Zweifellos wissen heute viel mehr Menschen als früher etwas von Bach oder von Mozart, von Shakespeare oder von Kant. Sie verdanken dieses Wissen dem Rundfunkgerät in ihrer Wohnung. Und das Rundfunkgerät übernimmt hier die Rolle des Arztes, der das heilende Gegengift gegen das Gift der Unwissenheit in Form von Bildungstabletten verabreicht, die allabendlich vor dem Schlafengehen einzunehmen sind. Bildung als Therapie könnte man also sagen. Aber wieder kommt die Therapie von außen und trifft nur die periphere Region. Sie produziert am laufenden Band den reduzierten Bildungsmenschen, den Bildungsproletarier, der bloß seine Bildung hat und nicht gebildet ist. Zwischen ihm und seiner Bildung besteht ein durchaus diskontinuierliches Verhältnis. Damit hängt die eigentümliche und überaus beachtenswerte Tatsache zusammen, daß etwa das auf der Kinoleinwand erscheinende bewegte Bild die Kontinuität der lebendigen Bewegung nur vortäuscht, während es sich in Wahrheit aus einer Unzahl kleinster diskontinuierlicher und damit toter Einzelmomente zusammensetzt. Und genau so diskontinuierlich wie das Leben auf der Leinwand, ist auch das Wissen, mit dem es den Zuschauer bereichert, ist auch der Mensch, der als der so bereicherte und insofern wissende noch er selber zu sein glaubt, während er sich de facto der Diskontinuität des nur noch Objektiven, der Diskontinuität, die vor allem zwischen ihm und seiner Welt besteht, verschrieben hat.
Es bleibt zu bedenken, daß Gesundheit der Zustand des sinnhaft auf das ihm angemessene Telos hin ausgerichteten Menschen ist und Krankheit demnach der andere Zustand der Abgewichenheit von diesem Telos. Die Gesundheit kann darum niemals selbst Telos, niemals selbst Ziel und Zweck werden, ohne daß damit auch schon der Ausblick nach dem wahren Telos verstellt wäre. Der Wille zur Gesundheit ist also unter gar keinen Umständen identisch mit der Willenshaltung, deren Ausdruck die Gesundheit ist; und darum haftet aller Therapie ohne Ausnahme, da sie sich ja immer die Gesundheit des Kranken zum Ziel setzt, a priori eine gewisse Fragwürdigkeit an. Es gibt zu denken, daß Christus unter den vorzüglichen Werken der Nächstenliebe wohl das "Besuchen", aber nicht auch das "Heilen" der Kranken erwähnt, obwohl doch er selbst so viele Kranke geheilt hat. Dieser ganzen Überlegung liegt so nahe, daß es verwunderlich wäre, wenn sie nicht schon dieser oder jener angestellt hätte. Und tatsächlich haben ja auch gerade in jüngerer Zeit manche Ärzte begriffen, daß es zuletzt gar nicht eigentlich darauf ankommt, die Gebrechen zu beseitigen, den physischen oder psychischen Organismus, die leibliche oder seelische Maschinerie wieder in Gang zu bringen, sondern darauf, den kranken Menschen wieder in die rechte Richtung zu stellen, in dem man ihm die Augen für seinen Daseinssinn öffnet. Leider aber geschieht das, wo es überhaupt geschieht, gewöhnlich doch wieder im Dienst der Therapie, d. h. im Dienst der wiederherzustellenden Gesundheit, der restitutio ad integrum, und so wird die Ordnung von Mittel und Zweck abermals auf den Kopf gestellt: das Mittel wird zum eigentlichen Zweck und der Zweck zum Mittel. Man stellt dem Patienten ein Ziel vor die Augen, um ihn gesund zu machen, statt alles ganz allein und ohne jede Rückblendung auf eine Karte des Zieles zu setzen. Das aber ist noch weit schlimmer als die bloße Ignorierung des Zieles zugunsten des Heilzweckes. Man hat hier vor allem an Verirrungen nach der Art der "Christian Science" zu denken. Die Anhänger dieser Sekte gebärden sich sehr fromm und sehr christlich, aber in Wahrheit sind Christentum und Christus für sie nichts anderes als Apothekerwaren. Sie suchen keineswegs zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit; darauf kommt es ihnen nur an, sofern es die Voraussetzung bildet für das Andere, von dem sie wünschen, daß es ihnen zufallen möge, nämlich die Gesundheit, und somit suchen sie zuerst diese.
Der Mensch erkrankt, sobald er aufhört in sich dialogisch zu sein und dialektisch wird, d. h. sobald die beiden sein Wesen konstituierenden Pole in eine dialektisches Gegensatzverhältnis zueinander geraten. Die dialektische Bewegung treibt nicht, wie der spekulative Idealismus und in seinem Gefolge dann auch der dialektische Materialismus meinte, zur Synthese fort, sondern zu immer weiterer "Auseinandersetzung" der Pole, also zu fortschreitender Verschärfung ihres Widerspruches. Die Krankheit selbst ist die Antithetik, das Nein zur Gesundheit, zur synthetischen Verbundenheit. Im Verhältnis zu ihr wird nun aber auch die Gesundheit antithetisch, nämlich dialektischer Gegenpol der Krankheit und insofern selbst krank. Tritt die Heilung als Ja zur Gesundheit und Nein zur Krankheit auf, als die kämpferische Widersacherin des Übels, so wird sie gleichfalls Glied eines dialektischen Prozesses. Wir können die Heilmethode, die sich so versteht als Offensivaktion gegen die Krankheit, die rationale, die technische oder auch die allopathische Therapie nennen. Im Gegensatz zu ihr versucht die magische oder homöopathische Therapie der Krankheit nicht durch schroffe Verneinung, sondern umgekehrt durch einen Akt des Nachgebens, gleichsam durch Begünstigung des Krankheitserregers beizukommen: Similia similibus curantur / Ähnliches wird durch Ähnliches kuriert /, wie sich Samuel Hahnemann, der Begründer der Homöopathie ausdrückte. Wir verstehen aber hier den Begriff "Homöopathie" in einem viel weiteren und viel grundsätzlicheren Sinn als Hahnemann und seine Nachfolger ihn verstanden wissen wollen und werden deshalb, um Mißverständnisse auszuschalten, in der Folge auch lieber nicht von homöopathischer, sondern von magischer Therapie reden. Da sich diese Therapie in bewußten Gegensatz stellt zur technisch-rationalen &endash; Nicht-Dialektik contra Dialektik, Irrationalismus contra Rationalismus &endash; so wird paradoxerweise gerade auch sie wieder dialektisch. Sie will den Kranken gesund machen durch Anpassung an die Krankheit, durch einen therapeutischen Pazifismus, durch Verneinung der Verneinung. Beiden Einseitigkeiten entgeht die Therapie nur dann, wenn sie imstande ist, die Ebene des Gegensatzes von Krankheit und Gesundheit zu transzendieren, indem sie nämlich zu jenem lebendigen Urbild durchstößt, von dem Krankheit und Tod nur die verzerrten Abbilder sind. Daraus läßt sich aber allerdings keine lehrbare und lernbare Methode machen, keine rationalistische oder irrationalistische Praxis. Wie die aller Dialektik transzendente Gesundheit einfach eine Gnadengabe des Schöpfers an das Geschöpf, so ist auch die zu dieser Gesundheit führende Heilung oder Gesundung ein Gnadenakt aus der gleichen Quelle, weshalb hier, wenn überhaupt noch von Therapie, so von charismatischer Therapie gesprochen werden muß. Aber wie schon erwähnt wurde, benützt ja auch das NT dieses Wort, wenn es etwa in der Johannesoffenbarung heißt, daß die Blätter der Lebensbäume eis therapeian der Völker oder der Heiden bestimmt sind.
Wir unterscheiden also zwischen technischer, magischer und charismatischer Therapie. Die erste läßt sich wie jedes Handwerk schulmäßig erlernen, in die zweite kann man als Adept, als Zauberlehrling eingeweiht werden, zur dritten muß man berufen sein. Nur für die erste gibt es wissenschaftliche Lehrbücher und strenge Regeln, für die zweite vielleicht Geheimlehren und Einführung durch den Mystagogen, für die dritte weder das eine noch das andere; denn sie bleibt ein Wundergeschenkt. Die charismatische Therapie treibt den Teufel durch Gott aus, so wie Christus das tat, die magische durch Beelzebub, die wissenschaftlich-technische überhaupt nicht, sondern verschießt vielmehr krampfhaft die Augen vor dem dämonischen Aspekt der Krankheit und hält sich an die oberflächlichen Symptome, die sie behandelt. Sie verhält sich zur Magie ungefähr so wie die Aufklärung zu den Hexenprozessen. Auch hier glaubte man den Wahn überwunden zu haben, während man sich tatsächlich nur für den Teufel blind gemacht hatte.
Die technische Methode bemüht sich um die Durchsetzung und Aufrechterhaltung der innerweltlichen menschlichen Autonomie und demgemäß um die Niederringung aller äußeren Widerstände, im medizinischen Bereich genau so wie auch sonst überall. Sie beschränkt den Menschen auf sein individuelles Dasein. Die magische Methode schließt mit den gefährlichen außermenschlichen Naturmächten ihren Pakt, sie erwirkt unter Umständen Schonung um den Preis des Nichtverstehens, der Kapitulation vor dem Feind und verkürzt den Menschen gerade um das, wodurch er Mensch, nämlich Herr der Schöpfung ist. Sie gliedert ihn dem Makrokosmos ein, statt umgekehrt den Makrokosmos zu vermenschlichen und entkleidet ihn damit seiner Würde, seiner Gottebenbildlichkeit. Der metaphysische Bezug, der dort einfach abgeschnitten wird, bleibt hier freilich offen, das mag in den Augen gewisser Romantiker ein großer Vorzug sein, aber lieber keine Metaphysik, lieber völlige Blindheit als eine Metaphysik der Dämonen, und darum werden wir, vor die Wahl gestellt, uns eben doch für die Technik und nicht für die Magie entscheiden.
Zur charismatischen Therapie verhält sich die wissenschaftlich-technische genau so wie das Gesetz zum Evangelium oder auch wie die Moral zum Glauben. Und wie dort das Gesetz unumschränkte Geltung hat, wo das Evangelium nicht gehört und erfahren und angenommen wurde, oder wie dort die Normen der Moral die höchste Instanz bilden, wo nicht geglaubt wird, so bleibt auch die technische Therapie die allein vertretbare, solange die Charismatiker der Heilung fehlen. Es ist zwar so, daß die wissenschaftliche Medizin niemals über die bloße Symptomtherapie hinaus und niemals an den eigentlichen Kern der Krankheit herankommt und sogar, da sie an diesem Kern vorbeisteuert, im Letzten das Übel verschlimmern hilft, aber genau das Gleiche gilt ja auch von allem anderen innerweltlich-menschlichen Wirken, sei es auf ethischem, charitativem, sozialem oder politischem Gebiet. Überall wird hier bestenfalls das empirisch Gute im Gegensatz zum empirisch Bösen bevorzugt und damit der dialektische Prozeß vorangetrieben, der den Urwiderspruch potenziert. Immerhin bleibt doch jenes Gute die Thesis und nicht das Böse, und die Thesis deutet sehr anders als die Antithesis die Synthesis wenigstens symbolisch an. Die technische Therapie kann nicht heilen, sie kann nur "reparieren" / Max Picard /, aber mehr dürfen wir, so wie wir sind, auch nicht verlangen.
Der Patient und der Arzt
Heilung oder Therapie ist an die Person des Heilers, des Therapeuten, also des Arztes gebunden, über dessen Vieldeutigkeit schon gesprochen wurde. Er kann im extremen Fall ein bloßer Techniker der Heilkunde sein, ein Handwerker, der sein Handwerk wie irgendein anderes erlernt hat und das Erlernte anwendet, er kann aber auch ein in besonderer Weise begnadeter Mensch sein, ein Heilkünstler, dem sich das Phänomen der Krankheit in seinem Sinngefüge erschließt und der darum auch die Fähigkeit hat, den rechten Hebel zu finden, dessen Handhabung den Heilungsprozeß einleitet. Für den Arzt der ersten Kategorie bleibt jeder beliebige Patient immer nur ein "Fall", der sich in das erlernte Schema einordnen läßt, für den anderen dagegen ist jeder Fall ein durchaus neuer und somit eben kein Fall, sondern eine Einmaligkeit, der man von Person zu Person beikommen und auf die man sich jeweils umstellen muß. Über das zu fordernde Ich-Du-Verhältnis zwischen dem Arzt und seinem Patienten ist schon sehr viel gesagt und geschrieben worden. Aber ein solches Verhältnis kann selbstverständlich niemals zustande kommen, solange der Arzt als der wissenschaftlich gebildete und approbierte Fachmann auftritt. Ob er das tut oder nicht, das hängt zuletzt gar nicht so sehr von ihm als von diesem einzelnen Menschen, sondern vielmehr von der geistigen Struktur der Heilkunde ab, deren Repräsentant er ist und deren epochal bedingter Atmosphäre er sich nur in ganz seltenen Fällen wird entziehen können. Einer wesenhaft unpersönlichen und rationalen medizinischen Wissenschaft entspricht auch ein grundsätzlich unpersönliches rationales Verhältnis des Arztes zum Kranken und umgekehrt; denn hier trägt der Mensch als Kranker genau die gleiche Schuld und Verantwortung wie der Mensch als Arzt. Dem Arzt, der den Kranken nur als Fall behandelt, steht der Patient gegenüber, der im Arzt bloß den Heiltechniker oder den Sanitätsfunktionär sieht, der die Aufgabe hat, ihn wieder gesund zu machen, also ein Mittel zum Zweck und nichts weiter ist. Ein solcher Patient verdient nicht nur keinen anderen Arzt und keine andere Therapie, er wünscht sich im Grunde auch keinen anderen und keine andere. Wie er selber kausal denkt, so will er auch dem Kausalitätsgesetz gemäß untersucht und behandelt sein. Wäre die Beziehung von Mensch zu Mensch und also auch vom Kranken zum Arzt und vom Arzt zum Kranken in der rechten Ordnung, dann gäbe es überhaupt keine Krankheit und so ist mit der Krankheit auch schon die ganze Problematik dieser Beziehung gegeben. Ein kranker Mensch ist ein in Unordnung geratener und lebt in einer in Unordnung geratenen Welt mit ebensolchen anderen Menschen. Die gleiche Antithetik, die in Form irgendeiner Krankheit zum akuten Ausdruck kommt, besteht auch zwischen Mensch und Mensch, zwischen dem Patienten und seinem Arzt, und im Bereich des Antithetischen ist die ausgleichende Synthese niemals zu erreichen, ja bei Berührung der Pole wird sich der Gegensatz erst recht verschärfen.
Da wir in einer Epoche leben, die in jeder Weise und in jedem Bereich durch die Isoliertheit der Individuen gekennzeichnet erscheint, tritt auch der Arzt dem Kranken vor allem als der Andere im Sinn des Fremden entgegen, d. h. als der bloße Verursacher einer eventuellen Heilwirkung. Heilung wird somit begriffen als ein kausal bedingter Vorgang, und der rationale Kausalcharakter bestimmt eben auch die Beziehung des Arztes zum Kranken. Als eines von den Symptomen dieser Beziehung darf unter anderem die Tatsache gelten, daß die Frau als Ärztin heute schon fast gleichberechtigt neben dem männlichen Kollegen steht. Nicht als ob die Frau ein zweitrangiges Geschöpf wäre. Das ist sie durchaus nicht, auch nicht und gerade nicht dem hilfebedürftigen Kranken gegenüber. Es gibt wahrscheinlich überhaupt keine bessere "Ärztin" als die Gattin, die ihren Mann oder die Mutter, die ihr Kind pflegt, und auch die sybillenhafte "weise Frau" oder das Kräuterweiblein ist aller Ehren wert. Aber eben solche urtümliche Anlagen und Fähigkeiten gehen der Frau verloren in dem Augenblick, da sie aus dem natürlichen Zusammenhang der Familie oder der magischen Gemeinschaft herausgelöst und in den beruflichen Betrieb der wissenschaftlichen Medizin eingespannt wird. Hier schlägt ihr weibliches Kommunikationsvermögen sofort dialektisch um in den krassesten Rationalismus, und übrig bleibt nur noch die amtlich beauftragte therapeutische Funktionärin, die sich sklavisch an seelenlos angelernte, richtiger angebüffelte Klischees hält. Die Mißachtung des persönlichen Geheimnisses verträgt die Frau noch viel weniger als der Mann. Ihr Reich ist das der intimen Beziehungen zwischen den Menschen und nicht die laute Öffentlichkeit des Berufslebens. Wird sie in diese verpflanzt, dann verkümmert unvermeidlich gerade ihr Bestes, und dann verliert mit ihr auch der Mann seinen lebendigen Hintergrund, den Humusboden, aus dem er die Kraft für sein öffentliches Wirken schöpft, die Kraft, in der weltlichen Verlorenheit noch immer Person bleiben zu können und sich nicht bis zum letzten Rest an die tote Kausalität mechanischer Relationen verschwenden zu müssen.
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Die Struktur des Heilungsvorganges hängt nicht nur vom Verhalten des Arztes allein, sondern mindestens ebenso und vielleicht sogar noch mehr von dem des Kranken ab. Es kommt da ganz entscheidend auf den Geist an, in dem der Patient den Arzt aufsucht, konsultiert und seine Behandlung hinnimmt, die Therapie an sich auswirken läßt. Irgendeine bestimmte Behandlungsweise etwa, die, so wie sie der Arzt von sich aus versteht und handhabt, die Herabsetzung der kranken Person auf ein tieferes Niveau menschlicher Existenz intendiert, um dort die "Gesundheit" wiederherzustellen, kann trotzdem zu einer Heilung über dem Niveau der "normalen" Gesundheit führen, wenn der Patient sie nur in einer höheren Schicht seines Wesens empfängt und verarbeitet. Aber freilich läßt sich auch der umgekehrte Fall denken, daß der Kranke die Behandlung, die vom Arzt durchaus zu Recht als Steigerung des Persönlichkeitswertes verstanden wird, durch ihre engherzige und rein egoistische Hinnahme zur Reduktion verkehrt, so daß er nun als der Geheilte kleiner ist als der, der er vorher als Kranker war. Das Verhältnis zwischen dem Arzt und dem Patienten sollte ein dialogisches sein, in dem beide Partner zugleich Gebende und Nehmende sind. Wenn sich aber auch nur der Kranke allein wirklich dialogisch verhält, vielleicht einem durch und durch rationalistischen Arzt und einer rein kausalistischen Therapie gegenüber, so wird er in diesem Sich-Geben immer auch schon ein Nehmender, ein die Heilung in rechter Weise Empfangender und also ein Gesunder sein. Ist er aber nur ein Nehmender, nur ein nehmen Wollender, ohne jede Bereitschaft, sich zu geben, dann wird das, was er nimmt, die Gabe, die er vielleicht von einem an sich sehr dialogisch eingestellten Arzt erhält, doch nur ein Danaergeschenk für ihn sein. Man könnte sagen: er ißt sich mit dem ihm von eben diesem Arzt verabreichten Heilmittel das Gericht.
Jeder Mensch hat in sich ein Letztes und Unübersteigbares, ein nur ihm allein Eigenes, sein Mysterium, das für ihn wie für jeden Anderen Mysterium bleibt. Ein echter Dialog zwischen zwei Menschen ist nur dort möglich, wo die Mysterien beider einander begegnen, wo der eine sein Mysterium als Mysterium dem Mysterium des anderen als einem Mysterium zeigt. Beider Mysterien hören damit nicht auf Mysterien zu sein, im Gegenteil, aber sie werden aneinander hell, sie erfahren sich in der Begegnung als das, was, an sich unauflöslich und unaufhebbar, dennoch das Eine anzeigt, das in Beiden, obgleich in verschiedener, unwiederholbarer Weise als dieses und jenes Mysterium seinen Ausdruck gefunden hat. So erfährt jeder von ihnen am Mysterium des anderen den Hinweis auf das Jenseits seiner eigenen Grenze und damit die keines weiteren Ausdrucks bedürftige Wahrheit beider Mysterien. Daraus folgt, daß eine Haltung, die den Anderen nicht auf sein Eigenstes hin ernst nimmt und nicht bereit ist, ihm das Eigenste zu erschließen, sondern das fremde wie das eigene Selbst auf ein allgemeines Schema zu reduzieren sucht, niemals die Erlösung aus der Gefangenschaft unterhalb des Eigensten wirken kann.
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Die jeweils besondere Beziehung zwischen dem Arzt und dem Patienten ist schließlich auch noch in sehr bestimmter Weise bedingt durch die Art der zu behandelnden Krankheit. Daß es andere Krankheiten sind, die dem "Physico" und andere, die dem "Chirurgico" zufallen, nämlich die mehr zentripetalen diesem und die mehr zentrifugalen jenem, wobei zentripetal gleich exogen und zentrifugal gleich endogen zu setzen ist, hat schon Paracelsus ausdrücklich betont. Das hat ganz und gar nichts zu tun mit unserem modernen ärztlichen Spezialistentum, das ja weniger die einzelnen Krankheitsarten als die einzelnen Organe und Organgruppen verschiedenen Ärzten zuweist. Hier dagegen handelt es sich um die Frage nach der besonderen Kausalität der Krankheitsentstehung. Ist eine Krankheit von außen verursacht, geht sie von der Weite ins Zentrum, wie Paracelsus sagt, dann ist der Chirurg, geht sie aber vom Zentrum in die Weite, dann ist der Physikus / der Internist / für sie zuständig. Der Arzt verhält sich also zum Kranken ähnlich wie der Krankheitserreger. Der
ätiologisch-kausalen Bedingung der Krankheit entspricht auch eine ätiologisch-kausale Therapie und damit ein ätiologisch-kausales Verhältnis des Arztes zum Patienten. Ein Mensch, der sich bei einem Unfall ein Bein gebrochen hat, ist medizinisch vollkommen einwandfrei beurteilt wirklich nur ein "Fall" unter tausend gleichartigen Fällen. Niemand wird sich vermessen, dam behandelnden Chirurgen seine rein sachliche oder technische Haltung dem beschädigten Glied gegenüber übelzunehmen. Dieser Chirurg hat tatsächlich nichts weiter zu tun als den Schaden zu "reparieren". Bei akuten Vergiftungen und sogar bei manchen Infektionen verhält es sich kaum wesentlich anders. Handelt es sich jedoch um vorwiegend endogen bedingte Leiden, etwa um Organneurosen oder auch um andere chronische Organerkrankungen, so wird demgemäß die Therapie gleichfalls endogenen Charakter haben müssen. Man wird den Arzt nicht von der Aufgabe entbinden können, hier auf den Kranken "einzugehen", eine dialogische und persönliche Beziehung mit ihm aufzunehmen, gleichsam dem Mysterium, aus dem die Krankheit entspringt, das eigene Mysterium zu offenbaren. Der Arzt muß darauf verzichten, selbstherrlich wie ein Chirurg vorzugehen und den Patienten wie ein Objekt zu behandeln. Er kann da nur die Rolle eines Mäeutikers, eines Geburtshelfers übernehmen, der den Kranken dazu veranlaßt, seine Gesundung oder seine Genesung selbst zu gebären. Die eigentliche Aktivität liegt auf der Seite des Patienten. Verhält der sich rein passiv wie ein Narkotisierter während der Operation, so ist auch der beste Arzt praktisch machtlos, verhält er sich im guten Sinn aktiv, so wird er vielleicht auch noch unter den Händen eines Scharlatans und unter den Bedingungen einer grundsätzlich falschen Therapie gesund werden. So beruhen z. B. die echten Heilerfolge der Psychoanalyse sicher nicht auf der Richtigkeit der Freudschen Theorie, sondern darauf, daß auch noch die an sich abwegige Behandlungsmethode den Kranken zu einer Aktivität anreizt, die ihm schließlich die Heilung bringt.
Unter den Todesursachen spielt der Unfall in unserer Epoche zweifellos eine weit bedeutendere Rolle als früher einmal, und zwar der durch die Technik, durch die Verkehrsmittel, die Maschinen usw. bedingte Unfall. Auch die Verwundungen im Krieg haben heute viel mehr als in vergangenen Jahrhunderten den Charakter des Unfalls. Wer von einer Fliegerbombe oder auch nur von einem Granatsplitter oder einem Maschinengewehrgeschoß getötet wird, erliegt eigentlich einem Unfall. Von den mit dem Schwert Erschlagenen oder mit der Lanze Erstochenen läßt sich das nicht auch ohne weiteres sagen; denn hier ist es ausdrücklich der Mensch, der den Menschen tötet. Der Tötung haftet ein persönliches oder dialogisches Moment an. Diese Art Tötung gehört in die Frühzeit, in das Kindheitsalter des Menschengeschlechtes. Der erste Tod, von dem die Bibel berichtet, der Tod Abels war ein solcher Tod. Nur Menschen, die noch miteinander sprechen können, die also dialogisch kommunizieren, können sich auch so töten wie Kain den Abel erschlug. Erst wenn der Dialog verstummt, bedient man sich der Feuerwaffen, der weittragenden Geschütze, der Raketen, der Flieger- und Atombomben. Und nun erst wird der "Heldentod" zum Unfall, z. B. zum Tod auf der Latrine oder im Luftschutzkeller.
Es ist nun höchst merkwürdig und aufschlußreich, daß mit dem Unfallcharakter des gewaltsamen Todes auch die chirurgische Therapie an Bedeutung gewinnt. Da wie dort nämlich drängt die ätiologische Kausalität die teleologische allmählich in den Hintergrund. Der Chirurg geht auf den Patienten ebensowenig ein wie der Bomben werfende Flieger auf die Stadtbewohner unter ihm oder auch schon der sein Geschütz abfeuernde Artillerist auf den Feind, den er beschießt. Die zunehmende Tragweite der Kanonen spielt hier eine sehr wichtige symbolische Rolle. Je entfernter der Feind, um so weniger ist er ein Du, um so weniger gleicht er dem Abel, den Kain erschlägt. Der Unfall und die hochentwickelte Chirurgie gehören beide zu den Alterserscheinungen der Menschheit. Der alte Mann ist in jeder Weise der Sklerotiker, der sich innerlich verhärtet und gegen die Außenwelt abschließt, bzw. zu ihr nur noch in kausaler Beziehung steht. Der Chirurg ist heute sehr schnell bei der Hand. Er operiert fast alles, sogar das Herz und das Gehirn. Er bemächtigt sich immer mehr der Gebiete, die früher dem "Physikus" vorbehalten waren. Es kommt so oft zu ganz erstaunlichen Heilerfolgen, aber eben zu Heilungen ohne Genesung und darum zuletzt auch ohne Gesundung.
Dem scheint zu widersprechen, daß in den letzten Jahrzehnten nicht nur die Chirurgie allein, sondern gerade auch die Psychotherapie, d. h. die Therapie der Neurosen sehr viel von sich reden macht. Der Neurose gegenüber wird zweifellos die Person des Arztes und nicht sein handwerkliches Können zum entscheidenden Faktor. Gewiß ist es auch sonst nicht gleichgültig, ob der Patient in dialogischer Beziehung zu seinem Arzt steht oder nicht. "Allein, erst wo das Leiden des Kranken jene besondere Ichnähe besitzt, die ein körperlich-seelischer Symptomenkomplex aufweist, wo das Leiden, im Charakterlogischen verankert, das Selbstgefühl, die Produktivität des Leidenden berührt, wie im weitverzweigten Erscheinungsgebiet der Neurose, da bildet sich die Einwirkung der ärztlichen Person auf die des Kranken das therapeutische Urphänomen, das alle therapeutischen Einzelmaßnahmen trägt und begründet"2). Zu fragen ist allerdings, ob der Arzt als Arzt damit nicht überfordert wird, ob hier nicht vielmehr an seine Stelle &endash; wenn vielleicht auch in seiner eigenen Person &endash; der Freund, der Seelsorger, der liebende Mitmensch zu treten hätte. Darum meint ja auch v. Gebsattel schließlich selbst, daß eine "Einwirkung solchen Ranges ... niemals Gegenstand ärztlicher Zielsetzung sein kann, obschon man sie gelegentlich sich ereignen sieht"3).
Wir suchen aber nun vor allem Antwort auf die Frage, warum gerade heute im Zeitalter der rationalen Chirurgie und der chirurgischen Rekordleistungen auch die scheinbar so irrationale Psychotherapie in Gemeinschaft mit einer allgemeinen psychosomatischen Medizin, die ihre Verwandtschaft mit Vorstellungen der Romantik nicht verleugnen kann, das allgemeine Interesse so sehr beansprucht. Das kann zwei Gründe haben und hat sie offenbar auch: erstens das Bedürfnis nach einem Ausgleich, nach dem Gegenschlag und zweitens den Wunsch, sich nun doch auch noch jener Gebiete der Pathologie zu bemächtigen, die bisher der Rationalisierung entzogen waren. Das erste Motiv liegt offen zutage. Man braucht, um sich davon zu überzeugen, nur die zahllosen Angriffe gegen die naturwissenschaftliche Medizin zu lesen, die sich in fast allen Werken der modernen Psychotherapeuten finden. Dagegen beruht die eigentlich klassische Psychoanalyse von Freud bis C. G. Jung viel eher auf dem im naturwissenschaftlichen Denken selbst angelegten Streben, die Gesetze des Psychischen unter die gleichen Kategorien zu bringen, die für das Biologische gelten. Und man wird nicht fehlgehen mit der Annahme, daß diese zweite Tendenz als die eigentlich ausschlaggebende der Neurosenforschung den dynamischen Impuls gegeben hat, von dem sie auch heute noch lebt und sich damit in genau der gleichen Richtung bewegt wie die Chirurgie. Man täuscht sich darüber nur deshalb so leicht, weil zwar nicht die therapeutische Methode, wohl aber der Gegenstand, auf den sie angewendet wird, wesenhaft irrational bleibt. Es verhält sich damit ähnlich wie mit der modernen Physik, die ja auch nicht weniger rationalistisch, sondern sogar noch weit rationalistischer ist als die klassische von gestern, dabei aber allerdings bemüht sein muß, ihren Rationalismus mit den allerkompliziertesten Mitteln der grundsätzlichen Irrationalität ihres neuen Forschungsgebietes anzugleichen. Was da am Ende übrig bleibt an Irrationalität, d. h. der Unsicherheitsfaktor, der mathematisch nicht zu bewältigende Rest, ist ja nicht ein Ergebnis der Forschungsarbeit, wie das freilich oft genug behauptet wird, sondern ganz im Gegenteil gerade das, was sich dieser Arbeit widersetzt, in ihr apriorisches Kategoriensystem nicht eingeht und sie einfach zur Kapitulation zwingt, der dunkle Winkel, in den hinein sich der Lichtstrahl der ratio nicht treiben läßt. Und wem würde es einfallen, ein Triumphgeschrei darüber anzustimmen, daß es ihm endlich gelungen ist, einen solchen dunklen Winkel zu finden.
Die Möglichkeit einer Psychotherapie soll natürlich damit in keiner Weise bestritten werden, noch weniger die Möglichkeit einer Psychodiagnose. Der Arzt kann unter Umständen sehr wohl die seelischen Hintergründe oder Begleitumstände auch einer rein physischen Erkrankung feststellen. Er wird das sogar immer tun müssen, wenn er ein einigermaßen umfassendes Krankheitsbild erhalten will. Aber die Diagnose wie die Therapie wird nur dann in der psychischen Sphäre ansetzen dürfen, wenn der Arzt bereit ist, sich selbst mit eben jener Schicht seines eigenen Ich zu engagieren, die er beim Patienten zu berühren wagt. Er muß, heißt das, sich genau so weit subjektiv betroffen sein lassen wie er in die Subjektivität des Kranken eindringt, er muß sich diesem schenken, er muß ihn lieben können. Kann er das nicht und behandelt er demgemäß den seelischen Konflikt des Anderen nur objektiv, so wie die psychischen Symptome, dann setzt er den Persönlichkeitswert des Leidenden herab. Dann erniedrigt er ihn. Für eine rechte Psychotherapie gibt es selbstverständlich keine festliegenden und allgemein anwendbaren Regeln, weil sich eben die Liebe überhaupt nicht unter das Gesetz bringen läßt. Jesus heilt alle Krankheiten von der Seele her; denn er tut das aus der bedingungslosen Liebe heraus, die sich sogar für die Sünde des Kranken in den Tod gibt, er engagiert sich ohne jede Einschränkung.
V. v. Gebsattel redet einmal von "existentiellen Neurosen" und versteht darunter solche, die sich aus dem Infragegestelltsein des Lebenssinnes überhaupt ergeben, also etwa als Folge religiöser Krisen auftreten. Man kann demgegenüber die begründete Meinung vertreten, daß Neurosen in ihrer letzten Tiefe zum Unterschied von echten organischen Krankheiten immer existentielle Angelegenheiten sind. weil sie nämlich ihren Sitz im Zentrum haben und den ganzen Menschen betreffen. Gerade darum aber sind sie auch nur aus dem Zentrum heraus zu kurieren, d. h. die Mitte des Menschen muß als solche angesprochen werden, was immer nur aus der Mitte einer anderen Person heraus geschehen kann. Der Therapeut muß dem Patienten hier wirklich als der "Nächste" im biblischen Sinne begegnen, und da erhebt sich sofort wieder die Frage, ob er das als bloßer Arzt jemals vermag. Der Arzt verhält sich dem Kranken gegenüber nun einmal objektivierend und hat, solange er in seiner Rolle bleibt, aller besseren Einsicht zum Trotz auch gar nicht die Möglichkeit, sich anders zu verhalten. Er wird darum auch unvermeidlich eine objektive Heilung intendieren, und das bedeutet, er wird bestenfalls das Symptom beseitigen und damit ungewollt den Kranken dazu verführen, über das eigentliche Grundübel hinwegzusehen, den Kern seines Leidens zu ignorieren.
"Alle psychotherapeutische Sinnerschließung mit dem Patienten setzt ... den echten partnerischen Kontakt zum Therapeuten voraus", meint Hans Trüb4). Wir fragen aber, ob der hier geforderte, und zwar rein theoretisch sicher zu Recht geforderte partnerische Kontakt überhaupt erwartet werden darf innerhalb einer Beziehung, die gerade dadurch gekennzeichnet ist, daß der Eine notwendig zum Objekt des Anderen wird. Der Arzt tritt dem Kranken erstens als der "Mann der Wissenschaft",
d. h. als Repräsentant einer unpersönlichen Macht, als Gelehrter und Fachmann dem Laien, als Wissender dem Unwissenden und zweitens als Honorarforderer entgegen. Für das Subjekt der Wissenschaft kann der Patient a priori niemals etwas anderes sein als Objekt &endash; denn das wissenschaftliche Denken kommt seiner Natur nach von der Subjekt-Objekt-Relation nicht los &endash;, niemals etwas anderes als ein "Fall". Als das Objekt der Wissenschaft ist der Kranke aber auch schon der Negierte, der seines Personcharakters, auf den es ja eigentlich ankäme, Beraubte. Nur dort, wo der Mensch auch für sich selber bereits objektiv ist, also in den peripheren Regionen seiner Physis, erscheint die Behandlung durch den Arzt der Situation und ihrer Struktur angemessen, nicht aber dort, wo es um sein Eigenstes, um seine Subjektivität geht. Für das Auge der Wissenschaft wird und muß sich, zu welchen Kniffen sie auch immer ihre Zuflucht nimmt, die Psyche in eine Sache, der Sinn in ein Sein verwandeln und damit dem Wesen nach verfälscht werden. Was der Analytiker da herausarbeitet und an die Oberfläche bringt, kann gar nichts anderes sein als ein Zerrbild, eine fratzenhafte Karikatur der seelischen Wirklichkeit, mit der sich dann im therapeutischen Vorgang der Patient auch noch identifizieren soll. Das aber heißt nichts anderes als ihn veranlassen, sich um einer höchst problematischen "Gesundheit" willen selbst zu verstümmeln. Daß man in der Psychotherapie mit bloßen Analysen und wissenschaftlichen Objektivationen allein nicht weiterkommt, wissen die Analytiker, soweit sie nicht ganz verbohrt sind, natürlich auch sehr genau. Sie wissen um die Bedeutung jenes "partnerischen Kontaktes", ja sie führen, wie das bereits Freud praktiziert hat, diesen Kontakt sogar methodisch mit bewußter Absicht herbei, sie reden mit besonderem Nachdruck von der sogenannten "Übertragung". Aber gerade so wird abermals ein prinzipiell unobjektivierbares Etwas, eben die persönliche Ich-Du-Beziehung dem wissenschaftlichen Kalkül unterworfen und experimentell ausgewertet. Das ist dann freilich genau genommen schon nicht mehr Wissenschaft, aber jedenfalls noch weniger lebendiger unmittelbarer Dialog, sondern bestenfalls Magie. Die magisch-mythologischen Bilder, die etwa C. G. Jung mit seiner Analyse beschwört, sind tatsächlich gar keine psychischen Realitäten, gar keine "Dinge an sich", die der Forscher aus der Finsternis ans Licht hebt, so wie sie bereits vorher im Verborgenen vorhanden waren, sondern Produkte des magischen Exorzismus. Da wird man dann die Teufel, die man gerufen, nämlich ins Leben gerufen hat, nicht mehr los. Das an sich Unobjektivierbare läßt sich nicht wissenschaftlich und das heißt auch schon nicht von Berufs wegen bearbeiten. Die argwöhnische Frage, die H. Trüb einmal aufwirft: "Wird nicht die psychotherapeutische Arbeit in dem Maße, als sie sich personal orientiert, als Berufsarbeit vor eine unlösbare Problematik gestellt"5), diese Frage kann nur mit einem bedingungslosen Ja beantwortet werden. Der Arzt hat nicht die Möglichkeit, den Patienten in einem Atemzug als Du, als Mitmenschen, als Freund und Bruder und als Gegenstand seiner Wissenschaft, seiner Berufstätigkeit anzureden; denn da und dort hat er jedesmal eine ganz andere Seele vor sich, nämlich einmal die lebendige und einmal die psychologische, und es bleibt ausgeschlossen, die eine mit der anderen zur Kongruenz zu bringen.
Reden wir vom Arzt als vom Berufsmenschen, so reden wir auch schon von dem, der von seinem Beruf lebt und also Honorar fordert. Mit diesem Anspruch auf Honorar &endash; ob unmittelbar an den Patienten oder an dessen Krankenkasse ist gleichgültig &endash; steht der Arzt dem Behandelten sogar noch dann gegenüber, wenn er im besonderen Fall vielleicht aus Menschenfreundlichkeit oder aus einem ähnlichen Grund auf jede Entlohnung verzichtet; denn dann ist eben mindestens die Dankbarkeit für diesen Verzicht das heimlich geforderte Honorar. Als der, wenn auch nur potentiell auf Bezahlung Anspruch Erhebende sagt der Arzt von allem Anfang an zum Patienten Nein, er stellt ihn in seinen Dienst, in den Dienst seines Lebensunterhaltes, er macht ihn zu einem Mittel und das bedeutet wieder zum Objekt. Der Chirurg, der ein Glied amputiert oder einen Appendix entfernt, hat ohne Zweifel das volle Recht auf Honorar; denn er hat es mit Objekten zu tun, deren Objektivität von niemanden in Frage gestellt wird. Das seelische Geheimnis des Anderen aber, sein "Komplex" ist weder ein Körperglied noch ein Appendix.
Für dieses seelische Geheimnis kann nur entweder der bedingungslos Liebende zuständig sein oder der Geistliche, das heißt zuletzt Gott. Es gibt eben nur einen Einzigen, von dem der Mensch in seinem Innersten angetastet werden darf, ohne dadurch einen Schock zu erleiden, ohne verformt zu werden und seine Würde zu verlieren. Von ihm, dem bedingungslosen Jasager allein kann ich mir auch bedingungslos alles gefallen lassen, auch die Psychoanalyse, die dann eben gar keine Analyse mehr ist, sondern Gericht und das heißt auch schon Zurechtrichtung, also Synthese. Mag darum der Pfarrer X auch immerhin ein schlechter Seelsorger sein, einer, der von Psychologie und Psychotherapie keine Ahnung hat, allein die Tatsache, daß er nicht als dieser Mensch da, schon gar nicht als Repräsentant der theologischen "Wissenschaft", sondern einfach als Interpret des göttlichen Wortes vor mir steht, vor dem Leidenden und Hilfebedürftigen nämlich ist entscheidend. Wer zum Pfarrer geht, geht nicht so zu ihm wie zum Arzt, er erwartet gar nichts von diesem Menschen in seiner Menschlichkeit, er erwartet alles ganz allein von Gott, dessen an sich völlig unwichtigerer Diener und Handlanger der Pfarrer ist.
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Die Therapie beginnt mit der Diagnose. Dieser Satz ist von grundsätzlicher Relevanz, weil im allgemeinen die Meinung herrscht die Therapie schließe sich erst an die Diagnose an wie ein Zweites an ein Erstes. In Wahrheit aber erscheint in der besonderen Art der Krankheitsfindung die Art der Krankenbehandlung bereits vorweggenommen, ja die Krankheitsfindung selbst, die Untersuchung des Patienten durch den Arzt mit allen Manipulationen und allen gestellten Fragen ist schon ein Stück der Behandlung. Wie der Arzt den Kranken ansieht, wie er zu ihm spricht, wie er ihn betaste, wie er die Sache des Anderen zu seiner eigenen macht, das alles, diese ganze Teilnahme am fremden Leiden ist schon Kampf gegen das Leiden und damit eben Therapie. Wo dagegen die Diagnose sich von vornherein als ein von der Therapie Getrenntes, etwa als ihre kausale Voraussetzung versteht, dort versteht sich folgerichtig auch die Therapie als ein von der Person des Kranken getrennter Vorgang oder als die bloß kausale Voraussetzung, als die Ursache seiner Gesundung, und dort fallen dann überhaupt alle Momente des Heilungsprozesses auseinander.
Die Diagnose ist die Kunst, in den Symptomen die Krankheit zu erkennen, also gewissermaßen induktiv vom Einzelnen und Besonderen zum Allgemeinen und, von der Folgeerscheinung zum Grund aufzusteigen oder vom Äußeren zum Inneren vorzudringen. Aber es gibt zwei sehr verschiedene ja geradezu gegensätzliche Formen der Induktion und damit auch der Diagnose, man kann sie die nominalistische und die realistische nennen. Die erste schließt rein rational und wissenschaftlich exakt vom Besonderen auf das Allgemeine, vom Symptom auf die Krankheit, die zweite sieht unmittelbar im Symptom ihren eigenen Ausdruck, ihre Selbstdarstellung. Die erste faßt sozusagen auf den Prämissen festen Fuß und versteht diese als das die Konklusion Bedingende, die zweite überschreitet die Prämissen schon im ersten Anlauf und läßt sie als ein Vorläufiges und an sich Unwichtiges zurück. Diesen Unterschied hat übrigens bereits Hegel in seiner Logik tief durchschaut. Der Arzt, der nur logisch-rational schließt &endash; und darauf beschränken sich freilich die weitaus meisten Diagnostiker &endash; ist nur ein medizinischer Handwerker, ein Banause nach dem Sprachgebrauch der Antike. Wer dagegen imstande ist, die Krankheit im Symptom zu erschauen, bewährt sich damit als Empiriker im besten Sinn dieses Wortes, wenn auch die Blinden den Begriff der Empirie auf die bloße Deskription von Oberflächenerscheinungen, von sogenannten "Tatsachen" und die nachfolgenden formal logischen Schlußfolgerungen einschränken zu dürfen glauben. Alles andere halten diese "Empiriker" dann für Spekulation und Phantasterei. Man darf hier an das Wort Christi von jenen erinnern, denen die Wahrheit im Gleichnis gegeben ist, damit sie sehend nichts sehen und hörend nichts hören. Auch die Bemerkungen des Paulus am Anfang des Römerbriefes gehören in diesen Zusammenhang, die Bemerkungen nämlich über die Möglichkeit der Erkenntnis Gottes aus seinen Werken, sowie über die Schuld, die in der Unfähigkeit zu solcher Erkenntnis offenbar wird. Wer Gott in seinen Werken nicht erkennt, sondern etwa nur aus ihnen auf ihren Urheber "schließen" zu können meint und sich selber nicht als ein zum Ebenbild Gottes geschaffenes Wesen versteht, und eben das ist seine Sünde.
Eine der tiefsten und bemerkenswertesten Einsichten V. v. Weizsäckers findet sich formuliert in dem Satz, daß "das Lokalisieren und Datieren / einer Krankheit / nur durch eine Flucht vor ihrer ursprünglichen Einheit möglich sind"6), weil nämlich Stelle und Beginn der Krankheit ebenso wie Raum und Zeit überhaupt ursprünglich zusammengehören. Dabei darf aber freilich nicht unbedacht bleiben, daß die Krankheit selbst &endash; übrigens genau ebenso wie die Sünde &endash; Flucht aus der
raum-zeitlichen Einheit, nämlich aus der Gegenwart bedeutet. In der Krankheit manifestiert sich diese Flucht. Die Krankheit ist das Zeichen, das Symptom dafür, daß die Flucht stattgefunden hat. Der Mensch wird krank / und sündig /, indem Raum und Zeit auseinanderfallen, indem er selber diesen Bruch vollzieht. Je leichter sich eine Krankheit lokalisieren und datieren läßt, um so mehr ist sie Krankheit im eigentlichen Sinn, nämlich organische und auch unmittelbar lebensgefährliche Krankheit. Auf ethischem Gebiet entspricht der datier- und lokalisierbaren Krankheit die Einzelsünde im Gegensatz zur Ursünde. Je schwächer das Bewußtsein vom Zusammenhang beider Sünden, um so mehr der Sünde verfallen ist der Mensch und um so weiter hat er sich vom status integritatis, dem Zustand der Unschuld und Sündenlosigkeit entfernt. Ebenso gilt: Je schwächer das Bewußtsein vom Zusammenhang der einzelnen Krankheit oder auch des einzelnen Symptoms, des Lokalisierbaren und Datierbaren mit der weder zeitlich noch räumlich zu fixierenden Urkrankheit, um so kränker ist der Kranke, bzw. um so weniger trifft der sich an diese Symptome haltende Diagnostiker das Zentrum, von dem her das Übel angepackt werden müßte.
In den Symptomen und durch die transparenten Symptome hindurch das sie bedingende Urübel, das malignum primum erkennen, das meint etwas ganz und gar anderes als bestimmte Symptome lehrbuchmäßig als Ausdrucksweisen bestimmter Krankheit klassifizieren und etikettieren, wenn auch gewiß die medizinische Pädagogik zunächst ohne Hilfsmittel dieser Art niemals wird auskommen können. Auch das Studium der formalen Logik hat ja schließlich seinen bedingten Wert, der nur nicht dazu verführen darf, in ihm den letzten und unüberschreitbaren Wert zu sehen. Das methodische Fortschreiten von den Prämissen zur Konklusion muß einmal zu der Einsicht führen, daß nicht die Konklusion an der Prämisse sondern die Prämisse an der Konklusion hängt. Eine Diagnose, die dahin nicht kommt, die vielmehr den Prämissen, also den Symptomen sklavisch hörig bleibt, kann auch dem Patienten als einer erkrankten Person niemals gerecht werden. Damit soll aber durchaus nicht etwa für die psychogene Deutung aller Krankheitserscheinungen plädiert werden. Eine solche dogmatische Voreingenommenheit wäre unter Umständen noch viel gefährlicher als die handwerksmäßige induktive Diagnostik, weil sich hier die medizinische Wissenschaft etwas zumuten würde, wozu ihr als Wissenschaft, d. h. als erlernbarer Disziplin die Fähigkeit grundsätzlich abgeht. Wird die psychogene Deutung zur Methode gemacht, so bekommt der Diagnostiker tatsächlich nur eine Karikatur der "Seele", aber nicht diese selbst in den Griff; denn Seele läßt sich überhaupt nicht "in den Griff" bekommen, sie kann nicht zum Objekt der Diagnose gemacht werden, ohne damit aufzuhören Seele zu sein. Der auf psychogene Deutungen und Diagnosen erpichte Arzt vermischt in Wahrheit zwei vollkommen inkommensurable Verfahrensweisen miteinander: die rationalistische und die intuitive. Er sucht, indem er sich als Irrationalist und Seher gebärdet, das Irrationale abermals zu rationalisieren oder zu verwissenschaftlichen.
Versuchungen dieser Art gefährden natürlich vor allem den Psychotherapeuten, der es mit Neurosen und ihnen irgendwie benachbarten krankhaften Erscheinungen zu tun hat. Es mag wohl erlaubt sein, gelegentlich körperliche Leiden auf psychische Störungen und Konflikte zurückzuführen, vielleicht auch noch, wie Weizsäcker, eine angina tonsillaris aus einer erotischen Erschütterung zu erklären und diese Erklärung der kausal-rationalen aus äußeren Ursachen vorzuziehen. Ob erlaubt oder nicht erlaubt, das hängt hier ganz und gar von der Person des Arztes, von seinem persönlichen Verhältnis zum Kranken ab. Ist dieses Verhältnis ein dialogisches, dann wird gerade durch eine solche Diagnose der Freiheit des Kranken Ehre erwiesen. Behandelt aber der Arzt den die Krankheit angeblich auslösenden seelischen Konflikt wieder nur wie ein objektives Symptom, dann verlagert er das, was an sich Freiheit ist, in die Region der Unfreiheit, dann entwürdigt er den Patienten noch weit mehr als ein rationalistischer Diagnostiker, der lediglich physische Symptome aus physischen Ursachen erklärt und die Psyche ungeschoren läßt, das tun würde. Wenn Jesus zu dem Gichtbrüchigen sagt: "Deine Sünden sind Dir vergeben" und sodann: "Stehe auf und wandle", so handelt es sich dabei zweifellos um eine psychogene Deutung des Übels, um eine Diagnose also, die bis zum Urübel, bis zur Sünde des Kranken vordringt. Jesus redet als Person den Gichtbrüchigen als Person an; er redet ihn als der Freie auf sein Freiheit hin an. Ein wissenschaftlich geschulter Mediziner hätte die Gicht vielleicht aus einem chronischen Nierenleiden und die seelischen Depressionen des Kranken aus seinem leiblichen Unbehagen erklärt. Er hätte damit den Menschen als freies Wesen ignoriert, noch nicht aber auch negiert. Das geschieht erst dort, wo die Diagnose zwar einerseits ein seelisches Geschehen, etwa einen Willensakt, an den Anfang der Krankheitsgeschichte setzt, andererseits aber den betreffenden Willensakt selbst gar nicht seiner Freiheit nach respektiert, sondern einfach in eine Kausalkette einordnet. In dieser Weise verfährt vor allem die an schulmäßigen Regeln orientierte psychoanalytische Diagnose.
Das Jagdrevier der Psychoanalyse ist das Unbewußte oder Unterbewußte. Dorthin vorstoßen heißt aber nichts anderes als in das Reich der Toten und des Todes, in den Hades hinabsteigen, um sich vom Gott der Unterwelt Auskunft über den Sinn des Lebens im Licht zu holen. "Die Mutter Nacht, die sich das Licht gebar", wird hier auf den Thron der alles beherrschenden Magna Mater gehoben, zur Arché gemacht, der alles ganz allein sein Dasein verdankt. Ob ich das Jetzt kausal aus der Vergangenheit erkläre wie der Rationalist oder tiefenpsychologisch aus dem Unbewußten, bedeutet rein formal kaum einen Unterschied, nur daß es sich im zweiten Fall mehr um eine magische als um eine wissenschaftliche Methode handelt. Bezeichnend ist hier der Satz von Le Bon: "Gleichwie die Toten unendlich zahlreicher sind als die Lebendigen, so sind sich auch unendlich mächtiger. Sie beherrschen das gewaltige Reich des Unbewußten, das unsichtbare Reich, aus dem alle Kundgebungen des Verstandes und Charakters stammen"7). Das Bewußte wird da auf das Unbewußte, das Lebendige auf das Tote gegründet. Das Negative also hat den Primat vor dem Positiven. Die Herkunft, der Grund steht eindeutig im Schatten des Nicht-mehr-Seienden und drückt so auch dem Seienden den Stempel des Nicht-mehr-Seins auf. &endash; Die Diagnose der Tiefenpsychologie dringt nicht in das Herz, sondern nur in den seelischen Unterleib vor, in den dialektischen Gegenpol des Zerebralen.
Da die psychologische Betrachtung des Menschen ihrer objektivierenden Tendenz wegen bloß die Bedingtheiten und Abhängigkeiten, also das Sein, aber nicht auch den Sinn erreicht, d. h. von der Dimension der Freiheit ausgeschlossen bleibt, kann sie immer nur die Fragwürdigkeiten und Unsauberkeiten der seelischen Tiefenschichten ans Licht zerren, bzw. muß sich aus ihrer Perspektive notwendig alles in dieser Richtung umgestalten und entstalten. Freiheit läßt sich objektiv nicht fassen, und so erscheint der sich frei gebärdende Mensch durch die Brille des Psychologen gesehen unvermeidlich als ein Lügner, der bloß die Maske der Freiheit trägt, die Maske nämlich, hinter der sich als einzige echte Realität der Trieb, die Unfreiheit verbirgt. Darum verfälscht die Psychologie schon in ihrem ersten Ansatz, schon mit der Voraussetzung, unter der sie ihr Geschäft beginnt, das Bild ihres Gegenstandes. Sie selbst ist eigentlich die Lüge, die sie in ihr Opfer hineinprojiziert. Sie macht aus Freiheit Zwang, aus Wille Trieb und verkündet dann triumphierend als ihre großartige Entdeckung, daß der arme Patient Zwang für Freiheit und Trieb für Willen ausgibt.
Daran ändern auch eventuelle, die Auffassung des Analytikers scheinbar bestätigende Angabe und Geständnisse des Analysanden nicht das mindeste; denn solche Geständnisse erfolgen ja keineswegs unabhängig von der Befragungsart und das will sagen von der methodischen Voreingenommenheit des Inquisitors. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es zurück. Darauf hat man übrigens schon wiederholt aufmerksam gemacht. So meint z. B. Heyer: "Deswegen träumen, nebenbei gesagt, auch die Patienten aus verschiedenen Schulen und Richtungen der Psychotherapie meist die in diese Auffassung passenden Träume. Das ist nicht, wie man gemeint hat, Suggestion oder einseitige Ausdeutung, sondern das Ergebnis davon, daß das bewußte Ich des Analysanden im Feld der analytischen Situation allmählich entsprechend geformt wird; und nun gerinnt mehr und mehr in dieser Form, was aus den prärationalen Tiefen aufsteigt"8). Dasselbe gilt aber ohne Zweifel mutatis mutandis mehr oder weniger von jeder irgendwie wissenschaftlich voreingenommenen Diagnose, nicht nur von der psychoanalytischen allein, also auch etwa von der Diagnose rein organischer Krankheiten. Es verhält sich damit ähnlich wie mit den rationalen Kategorien innerhalb des die allgemeine philosophische Erkenntnistheorie interessierenden Bereiches. Wer die Natur unter den Voraussetzungen des rationalen Denkens beobachtet, wird auch nur Rationales in ihr entdecken. Da wie dort geht es um das dem Gegenstand vom Erkenntnissubjekt vorgeschriebene Schema, um den "Raster", der dem reproduzierten Bild aufgenötigt wird.
Heyers Kritik richtet sich vor allem gegen die ältere Psychoanalyse, also gegen die Schule Freuds. Demgemäß heißt es in der gleichen Schrift: "Der kühle Nichts-als-Beobachter der alten Psychoanalyse war in Analogie gedacht zu dem damaligen naturwissenschaftlichen Wunschbild des nur registrierenden Experimentators. Daß es diesen völlig unpersönlich feststellenden Beobachter nicht gibt &endash; nicht geben kann &endash;, hat die ... Erkenntnis der Physiker / Atomphysik, Heisenbergs Unsicherheitsrelation / erwiesen; der Beobachter bzw. das Beobachtungsverfahren greift störend in den Ablauf ein, sobald dieser selbst hintergründiger Natur ist"9). Es wird aber noch zu prüfen sein, ob die Konsequenzen, die spätere Psychotherapeuten etwa C. G. Jung &endash; aus dieser Einsicht gezogen haben, auch wirklich ausreichen, bzw. ob das Ziehen einer wirklich ausreichenden Konsequenz überhaupt möglich ist, solange der Psychotherapeut Psychotherapeut, der Psychologe Psychologe, der Beobachter Beobachter bleibt.
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Am Ende spitzt sich alles zu auf die Frage, ob das sogenannte Unbewußte wirklich der Ort ist, wo das Geheimnis der Seele seinen Sitz hat oder nicht vielleicht die Fläche, auf die sich dieses Geheimnis projiziert und radikal verfälscht in dialektischer Umkehrung darstellt, sobald der Arzt oder auch der Patient den Versuch macht, es seiner grundsätzlichen Unobjektivierbarkeit zum Trotz dennoch zu objektivieren. Es wäre sehr wohl denkbar, daß das, was im Unbewußten tatsächlich gefunden und von dort heraufgebaggert wird, geradezu das polare Gegenteil dessen ist, was in Wahrheit gesucht wurde, nämlich nicht der Ursprung der neurotischen Störung, sondern wieder nur ein Symptom, und zwar ein noch symptomhafteres, ein noch weit exzentrischeres Symptom als die zunächst wahrnehmbaren Erscheinungen, die hysterischen Exzesse, die Zwangsvorstellungen, die Organaffektionen usw. Ihre Wurzel hat die Neurose immer in einer Fehlentscheidung, aber gerade das Reich der Entscheidungen erbirgt sich dem Instrumentarium der Tiefenpsychologie, fällt gar nicht in das Gesichtsfeld des den finsteren Abgrund des Unbewußten absuchenden Teleskops. Dort gibt es nie etwas anderes zu sehen als Triebe und triebhafte Fehlleistungen, in die sich die Fehlentscheidungen verkehrt haben. Und so stellt die Diagnose am Ende als Ursache heraus, was de facto bloße Wirkung ist.
Wenn gesagt wird, der echte Psychotherapeut hätte dem Patienten als Partner und nicht als Psychologe gegenüberzustehen, so heißt das, daß er nicht vom Hirn, sondern vom Herzen her ihm zugewandt sein müßte, und zwar wieder vom Herzen und nicht dem Hirn des Anderen. Der Neurotiker ist ein Herzkranker und kein Hirnkranker. Solange das nicht erkannt und solange demgemäß das Selbst des Menschen im Hirn lokalisiert wird, bleibt die Beziehung des Arztes zum Kranken und des Kranken zum Arzt schief. Die herkömmliche Analyse richtet sich auf den dialektischen Gegenpol des Hirnbewußtseins, eben auf das Unbewußte, d. h. auf das seelische Abdomen, und das darum, weil sie vom Hirnbewußtsein, vom Erkenntnis-Ich des Arztes ausgeht. Dem Erkenntnis Ich als dem Subjekt aber ist als sein Objekt das Trieb-Ich und nichts außerdem zugeordnet. Dorthin allein stößt die Analyse durch oder richtiger, fällt sie durch und verfehlt so das eigentliche, die Dialektik von Bewußtsein und Unbewußtsein transzendierende Zentrum.
Der Tiefenpsychologe setzt als selbstverständlich voraus, was gar nicht selbstverständlich ist, nämlich, daß die "Tiefe" des Seelischen mit seiner Nachtregion, mit seiner "Unterwelt" zusammenfällt, mit dem Tartaros, in den einst die Götter des Olymp die Titanen und Giganten verstoßen haben. Aber ist auch wirklich dort das Mysterium der Seele verborgen oder nicht vielmehr in einem "Licht, da niemand zukann"? Und käme es deshalb nicht vielleicht gerade darauf an, dem verstörten Gemüt des Neurotikers den Weg dahin, in seine eigene verlorene Lichtregion zu zeigen und ihn so sein wahres Geheimnis entdecken zu lassen? Eine "Analyse" freilich wird so etwas niemals zustande bringen; denn Analyse heißt Objektivation, und Objektivation führt notwendig ins Objektive, also ins Totenreich, ins Schattenreich, in die Vergangenheit, in die Gestorbenheit. Der Analytiker müßte ein Liebender sein, aber dann wäre er kein Analytiker, sondern ein Synthetiker. Irgendwer, ich glaube Gabriel Marcel, hat einmal gesagt, lieben heißt, den Geliebten so sehen, wie ihn Gott gewollt hat. Und Gott, der ja ein Gott der Lebendigen und nicht der Toten ist, will niemanden als von Trieben Umgetriebenen, niemanden als Gestorbenen und Vergangenen, sondern jeden als Gegenwärtigen. Wer liebt, schnüffelt nicht in den Abgründen des Unbewußten, in den Träumen und Vergangenheiten des Geliebten herum, er sucht dem Anderen vielmehr in seinem gegenwärtigen sinnhaften Sein zu begegnen. Man wird mit Recht wieder einwenden können, daß man so etwas von einem Arzt nicht erwarten und auch nicht verlangen darf, aber dann ist eben der Arzt als Arzt hier überhaupt nicht am Platz.
Die Zuständigkeit des Arztes, des gelehrten Mediziners erstreckt sich auch schon im Umkreis der Diagnose nur auf solche Krankheiten, die ihrer eigenen Objektivität wegen durch Objektivation nicht wesentlich verfälscht werden können. Zwar ist keine einzige Krankheit an sich so objektiv, daß sie sich ihrer Totalität nach einer wissenschaftlichen Diagnose darbieten würde, aber der allerdings immer unvermeidliche Fehler nimmt doch wenigstens mit dem Grand der Objektivation ab und wird in den Grenzfällen schließlich so gering, daß er praktisch kaum noch eine Rolle spielt. Dem Arzt ist kein Vorwurf zu machen, wenn er wissenschaftlich diagnostiziert, wohl aber trifft der Vorwurf eine Wissenschaft, die ihre Grenzen überschreitet, eine Psychologie, die mit wissenschaftlichen Kategorien sich der Psyche bemächtigen zu können glaubt, also jede wissenschaftliche Psychologie ohne Ausnahme.
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Als Diagnostiker verhält sich der Arzt vorwiegend rezeptiv, als Therapeut aktiv. Aber es gibt keine Rezeptivität ohne Aktivität, und die einer Rezeption folgende Aktivität ist immer die in jener bereits enthaltene. So bringt etwa die Technik an Aktivität nur zum Vorschein, was schon in der sie begründenden Naturwissenschaft wirksam war. Man darf darum sagen: Wie die Diagnose, so die Therapie. Wenn der Arzt den Kranken so oder so untersucht, wird er ihn auch so oder so behandeln. Es sind die gleichen Kategorien, die da wie dort das Verhalten bestimmen. Betrachtet der Diagnostiker den Patienten als Objekt und seine Krankheit als einen Fall, so wird die damit festgelegte Distanz vermutlich auch für die therapeutische Methode maßgebend bleiben, wogegen unter gewissen Voraussetzungen auch durchaus nichts einzuwenden ist, weil ja die besondere Art der Krankheit von sich aus eine besondere Therapie und die ihr jeweils entsprechende Distanz zwischen Arzt und Krankem erfordert.
Dem Grad der Objektivität nach ließe sich die Therapie ungefähr einteilen in die chirurgische, die chemische, die biologische, die neurologische und die psychologische. Jede von ihnen entspricht einer anderen Wesensschicht des Menschen. Aber diese Schichten haben nicht, wie man zuweilen gesagt hat, verschiedene Kausalitäten, sondern die jeweils höhere ist immer auch die weniger kausale. Darum erscheint das kausale Denkschema der Chirurgie am meisten, der Psychotherapie am wenigsten angemessen. Bedient sich der eine Herzneurose behandelnde Arzt der gleichen Kategorien wie der Chirurg, der einen gebrochenen Knochen einrichtet, so muß er unvermeidlich den Charakter der Krankheit verfehlen. Er trägt der relativen Willensbestimmtheit der Neurose nicht Rechnung, sondern geht an das Leiden in ähnlicher Weise heran wie der Ingenieur an eine schlecht funktionierende Maschine. In seiner Polemik gegen C. G. Jung bemerkt demgemäß Hans Trüb: "Auch als Psychotherapeut war Jung vor allem Forscher. Das heißt: ihn interessierten bei der Neurosenbehandlung und &endash;heilung mehr die objektivierbaren psychologischen Befunde als die konkreten Lebensschicksale der einzelnen Patienten. Mit dieser Aussage soll unterstrichen werden, daß die Grundtendenz seiner Therapie von der forscherischen Leidenschaft her bestimmt und geprägt wurde, und daß von daher seine Behandlungsmethode in ihrer Struktur einen eigenartig objektiven und unpersönlichen Charakter hat"10). Das gilt freilich nicht nur von der Therapie Jungs allein, sondern überhaupt von der ganzen modernen Psychotherapie, soweit sie Schule macht, und nicht einmal nur von der Psychotherapie. Zu einem wahrhaft befriedigenden Ergebnis wäre nur zu kommen, wenn man imstande wäre, dem Kranken die ihm angemessene Sinnrichtung wiederzugeben, und das heißt zuletzt immer die Sinnrichtung auf Gott hin. Das aber hätte die sein ganzes Handeln bis ins Letzte hinein bestimmende Gläubigkeit des Arztes zur Voraussetzung. Fehlt der Glaube oder wird er auch nur in Diagnose und Therapie nicht entscheidend wirksam, dann wird der Unsinn nicht durch den Sinn, sondern lediglich durch einen anderen Unsinn ersetzt. Die eine Fixierung wird gelöst zugunsten einer anderen, gewöhnlich zugunsten der Fixierung an den behandelnden Arzt. Der ungläubige Arzt bringt unwillkürlich sein eigenes Telos, nämlich das Pseudotelos seines Unglaubens oder Irrglaubens mit und oktroyiert es dann auch dem Patienten irgendwie auf. W. Daim hat darum durchaus recht, wenn er meint, es sei "das Absolutum der Psychoanalytiker selber, das das Material so zensuriert, daß es einen Aufweis der falschen Verabsolutierung bisher verhinderte"11).
Der ärztlichen Therapie als Heilung von außen fällt innerhalb des Komplexes der Gesundheit die gleiche Rolle zu wie im religiös-ethischen Bereich dem Gesetz. Weder das Gesetz noch die erlernbare Kunst des Arztes hat die Macht, dem abgeirrten Menschen die rechte Richtung wiederzugeben, ihn umzuformen oder neu zu formen nach der Ordnung einer vom Sinn bestimmten Existenz. Beide können nur notdürftig dem weiteren Überhandnehmen des Unsinns, also der Sünde und der Krankheit wehren, vor dem drohenden Abgrund Geländer und Barrieren von zweifelhafter Standfestigkeit aufrichten. Du sollst nichts Böses tun! Du sollst nicht krank sein! Das Nein zum Nein, die Negation der Negation bleibt da wie dort die ultima ratio, d. h. Gesetz und Therapie kommen nicht hinaus über die Dialektik von Gut und Böse, von Gesundheit und Krankheit, das entscheidende Ja, das synthetische Positive erreichen sie niemals. Sie überanstrengen sich und erschöpfen sich in dem aufreibenden Kampf mit einem Gegner, den endgültig zu besiegen ihnen jede Möglichkeit fehlt, weil sie ja selber das Prinzip ihrer eigenen Gegnerschaft in sich haben und so dem Feind unterliegen auch indem sie ihn zunächst scheinbar überwinden. Das Gesetz erst bringt die ganze Macht der Sünde zum Vorschein, da es sich in seinen letzten Konsequenzen selbst vom Ungeist der Sünde infiziert erweist, und ebenso bringt die Therapie die Macht der Krankheit zum Vorschein, wenn sie in der Hybris ihrer glänzendsten Erfolge plötzlich ihre eigenen, diese Erfolge weit übersteigenden Gefahren erkennen muß. Auch in ihr wirkt die Kraft, die stets das Gute will und doch das Böse schafft. Gesetzesgerechtigkeit und medizinische Heilung bahnen keine Wege zur Vollendung, sind keine Bundesgenossen und Streiter Gottes, sondern sträuben sich nur verzweifelt gegen den Teufel. Der allein durch Therapie "gesund" Gewordene ist wie der allein durch das Halten des Gesetzes "Gerechte", der Pharisäer, als ein lediglich Nicht-Kranker oder Nicht-Ungerechter im Grunde nichts weiter als ein pathologischer oder ethischer Nullpunkt. Diese "Gesundheit" wie diese "Gerechtigkeit" entspricht der "Wahrheit" der formalen Logik oder der reinen Mathematik, die auch nichts weiter als Nicht-Unwahrheit ist, oder dem Sieg der Technik über die Natur, der den Menschen von der außermenschlichen Natur hoffnungslos scheidet, statt ihn mit ihr zu versöhnen. In allen diesen Fällen geht es um die Reduktion der Existenz auf das bloße Sein ohne Sinn, um den Versuch, das Leben dadurch zu retten, daß man es entkeimt und konserviert, daß man es also bewahrt, ohne es gleichzeitig zu bauen. Aber Bewahren ohne Bauen bedeutet Verkümmerung und darüber hinaus unversehens Verkehrung in den Unsinn, sobald, was ja so gut wie immer geschieht, das Sein als solches für sinnhaft gehalten wird. Der Teufel liebt es, wenn man ihn bekämpft; denn gerade so erreicht er am Ende doch sein Ziel.
Trotzdem bleibt das Gesetz die einzige Möglichkeit der praktischen Ethik und die Therapie von außen die einzige Möglichkeit der praktischen Medizin. Der Arzt mutet sich zuviel zu, wenn er sich anmaßt, aus einem Praktiker des Gesetzes ein Praktiker des Heils werden zu können, d. h. wenn er entweder seine Heilung als Heilung ausgibt oder das, was am Menschen mit Heilung zusammenhängt, zu einem Moment der Therapie degradiert, anders ausgedrückt: wenn er entweder das Nein zum Negativen für ein Ja zum Positiven hält oder das Ja zum Positiven in ein Nein zum Negativen verkehrt. Während der erste Fehler noch relativ harmlos sein kann, kommt der zweite einem Eingriff in das Allerheiligste gleich. Um ihn zu vermeiden, muß man freilich den Vorhang kennen, der das Allerheiligste vom Profanen scheidet, und dieser Vorhang läßt sich nicht objektiv aufzeigen; denn sonst wäre er eben nicht der Vorhang zum Allerheiligsten, sondern irgendein beliebiger Vorhang zwischen zwei Profanräumen. Es wäre da etwa zu erwägen, ob nicht bereits gewisse chirurgische Operationen am Herzen und vor allem am Gehirn das grundsätzlich Unantastbare antasten, also den verbotenen Bezirk des Allerheiligsten entweihen.
Da alle Krankheiten nur Symptome eines Übels sind, das in einer den pathologischen Phänomenen transzendenten Region liegt, ist jede Heilung, die sich auf die Krankheit selbst beschränkt, bloße Symptomtherapie oder, wie man ebensogut sagen kann, Verkürzung des Übels auf seine Erscheinungsform in der Immanenz. Verkürzung des Übels aber heißt auch Verkürzung der durch die Heilung wiederhergestellten "Gesundheit" und damit zuletzt Verkürzung des nun "geheilten" Menschen auf eine von der Beziehung zum Transzendenten abgeschnittene Stufe des Daseins. Man weiß, daß die bloße Zurückdrängung äußerer Symptome, etwa des Fiebers oder eines Ausschlages, nicht zur Heilung, sondern umgekehrt zur Verschlimmerung des Leidens führen kann. An die Stelle des an sich vielleicht unbedeutenden Symptoms tritt die Affektion eines lebenswichtigen und besonders empfindlichen Organs oder dergleichen. Wenn nun aber, zu welcher Einsicht wir uns gedrängt fühlen, jede Krankheit ihrem ganzen überhaupt möglichen klinischen Befund nach aufs Letzte gesehen nichts anderes ist als das Symptom einer diagnostisch niemals feststellbaren tiefer liegenden Erkrankung, folgt dann daraus nicht, daß alle Therapie ohne Ausnahme verworfen und verdammt werden müßte? Niemandem, der auch nur einigermaßen bei Verstand ist, wird es einfallen, eine solche, geradezu wahnsinnige Konsequenz zu ziehen. Gewiß kann die Therapie an den eigentlichen Krankheitsherd nicht heran und gewiß bleibt sie darum immer Symptombehandlung, aber ebenso wie das Symptom jedenfalls ein Symptom und das heißt ein Symbol der Krankheit ist, so kann mindestens auch die Therapie ein Symbol der Heilung bzw. der Gesundung sein. Solange sie das bleibt und solange sie nichts weiter als das sein will, ist ihr kein Vorwurf zu machen, hat sie ihre volle Rechtfertigung. Dem Symptom als "Geste der Krankheit" entspricht dann die Therapie als "Geste der Heilung". Auch hier läßt sich das Gleiche wieder vom Gesetz oder genauer vom Handeln nach dem Gesetz, von den sogenannten "guten Werken" sagen. Dieses Handeln ist zwar nicht Heiligung, aber doch Geste, Symbol oder Symptom der Heiligung; es kann das wenigstens sein, und sofern es sich selbst so versteht, sogar schon ein Stück Heiligung. Darum ist Christus nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen, d. h. ihm seinen wahren Sinn und seine wahre Würde zu geben. Darum ist der Jünger Christi zwar frei vom Gesetz nach dem Verständnis der Pharisäer und dennoch daran gebunden, nämlich an das nunmehr für den Sinn und für die Heiligung transparente Gesetz. Wie so im Rahmen der evangelischen Wahrheit der Gesetzeslehrer, so hat im Rahmen der Heilung und der Gesundung der Therapeut seinen Platz. Aber auch seine Therapie muß transparent sein für die Gesundheit, die sich seiner Macht entzieht.
Krankheit und Tod, daran soll noch einmal mit allem Nachdruck erinnert werden, sind Symbole oder Symptome nicht nur eines Ur-Übels, nicht nur der corruptio originalis, sondern auch und sogar vor allem der vom Menschen allerdings verfehlten Ur-Entscheidung für die perfectio, für die Vollendung zur Gottebenbildlichkeit. Und im Licht dieser Zweideutigkeit von Tod und Krankheit selbst steht natürlich auch ihre Bekämpfung, also die Therapie, sofern sie sich als Symptom, als Geste der Gesundheit begreift. Sie wird nicht bloß nein sagen dürfen zum Leiden, nicht bloß darauf ausgehen, das zeitliche Leben so lange wie nur irgend möglich zu erhalten, so als ob dieses Leben das endgültige und allein wertvolle wäre, sie wird vielmehr darauf bedacht sein müssen, dem Dasein seinen wahren und ursprünglichen Sinn als Vorform und Vorbild der Vollendung und damit auch der Krankheit und dem Tod ihren unverkehrten Sinn als Formen des Übergangs zur Endgültigkeit wiederzugeben. Von hier aus erhielte dann der Ausdruck der restitutio ad integrum erst sein volles Recht als restitutio ad statum integritatis. Krankheit und Tod haben ihre Dämonie und ihre Heiligkeit. Die Dämonen sollen ausgetrieben werden, aber ausgetrieben aus dem Heiligtum und nicht mit ihm.
Da ja alles empirische Leben sterbliches Leben und das heißt zuletzt selbst schon Sterben ist, kommt V. v. Weizsäcker zu dem Schluß, daß die eigentliche Aufgabe des Arztes die Ermöglichung der Euthanasie sei und nicht die, dem Tod zu trotzen und das Leben unter allen Umständen zu verlängern. So ohne weiteres und ohne Korrektur wird sich diese Auffassung freilich nicht übernehmen lassen. Es wird sehr genau zu prüfen sein erstens, ob es der Wahrheit entspricht, daß das Leben seinem Wesen nach auf den Tod zugeht, und zweitens, ob und unter welchen Voraussetzungen der Arzt den Tod des Patienten zum Ziel seines eigenen Handelns machen darf. Offenbar darf er das nur insofern als er sich selber mit dem Kranken gemeinsam hoffend und vertrauend unter das Gesetz des Todes stellt und das wieder kann er bloß dann, wenn er im Tod mehr als allein den Tod, nämlich das Ende des Lebens erkennt, wenn ihm der Tod überhaupt, vor allem der eigene, transparent geworden ist für den guten Ursinn der menschlichen Existenz. Das aber wird ihm niemals als dem Arzt, sondern nur als dem gläubigen, und zwar ausdrücklich im christlichen Sinn gläubigen Menschen möglich sein, und dann ist er bereits Seelsorger und nicht mehr eigentlich Arzt. &endash; Ursprünglich sind die Priester auch die Ärzte gewesen, Leben und Tod lagen sozusagen in einer Hand. Später, ungefähr seit Hippokrates, kam es zur deutlichen Trennung der beiden Berufe. Nun war der Arzt für das Leben und der Priester für das Sterben zuständig. Das mußte so kommen, weil das Leben, das empirische Leben nämlich, den Tod nicht mehr bewältigen konnte, weil die Diskontinuität die Kontinuität allmählich überwog. Wenn nun Weizsäcker Tod und Leben wieder in die Hand eines einzigen Menschen, diesmal des Arztes legen möchte, so bedeutet das offenbar die genaue Umkehrung der ursprünglichen Situation, die Übermächtigung des Lebens durch den Tod.
Soll das Tun des Arztes, wie wir früher sagten, Symbol oder Symptom der Gesundung sein, so hängt die Erfüllung dieser Forderung allerdings vom Patienten ebenso ab wie vom Arzt; denn hier geht es um eine Möglichkeit, die nur im dialogischen Bezug zu realisieren ist. Der Arzt mag immerhin ein gläubiger und demütiger Mensch sein, der sich des gleichnishaften Charakters seiner Handlungen ganz und gar bewußt bleibt, das hilft dem Kranken gar nichts, solange der eben doch die Dimension der bloßen Gesten und Symptome nicht zu transzendieren vermag. Die Heilung, der therapeutische Eingriff wird dann für ihn der inneren Haltung des Arztes zum Trotz nur zu einer Reduktion, zu einer Verkürzung seiner Existenz führen. An sich ist ja die medizinische Heilung als solche niemals etwas anderes als das. Es kommt darauf an, ob der Geheilte darüber Klarheit gewinnt oder nicht, d. h. ob er sich in seiner relativen Geheiltheit als Gleichnis versteht für den von Gottes Gnade endgültig und für alle Ewigkeit Geheilten oder ob es auch nur zu jenen gehört, die mit sehenden Augen nicht sehen und mit hörenden Ohren nicht hören, ob er, so ließe sich sagen, bereit ist, die mit aller Therapie verbundene Reduktion im klaren Wissen um ihren Reduktionscharakter auf sich zu nehmen, um mit einem Auge oder mit einer Hand zum Leben einzugehen, oder ob er sich in seiner nunmehr reduzierten Gestalt einfach für wiederhergestellt hält und so hinter die Krankheit zurück, statt über sie hinaus schreitet. &endash; Von keinem einzigen der drei durch Jesus Christus wiederauferweckten Toten wird in den Evangelien irgend etwas berichtet, das sie weiterhin als aktive Teilnehmer an den Dingen der Welt und den Geschehnissen des irdischen Lebens erscheinen ließe, von Lazarus gerade nur, daß er "auch mit zu Tische saß, als Jesus von der Schwester Maria "zum Tage seines Begräbnisses" gesalbt wurde. / Joh. 12, 2.7 /. Diese Menschen existieren, so möchte man beinahe sagen, nur noch wie unwirkliche Gespenster mitten unter den "Lebendigen". Sie tragen weiter die Male ihres Gestorbenseins an sich, sie sind gewissermaßen reduziert auf eine bloße Scheinexistenz. Aber das kommt eben daher, daß ihre Auferweckung im Raum der sichtbaren Welt nur ein Gleichnis bleibt für die andere Auferstehung in die neue Welt, von der die Augen diesseits des Todes nichts sehen können. Sie leben eigentlich bereits dort und scheinen von dort in das alte Leben nur noch zurück.
Technische, magische und charismatische Therapie
Es geht in diesem letzten Kapitel eigentlich nur noch darum, die bereits geknüpften Gedankenfäden noch etwas weiter auszuspinnen, das insbesondere über die Heilung, nämlich über den Anteil des Arztes und seiner Mittel im Gesundungsprozeß Gesagte oder doch wenigstens Angedeutete noch ein wenig gründlicher zu bedenken. Wir haben von technischer, magischer und charismatischer Therapie gesprochen, je nachdem inwieweit der Heilungsakt nicht nur auf das Sein, sondern auch auf den Sinn eingeht oder nicht eingeht, je nachdem wie sich der Arzt als Person zur Person des Patienten bzw. die Heilmethode zur Krankheit verhält. Dieses Verhältnis hängt ab, richtiger gesagt, sollte abhängen vor allem auch von der Art der Krankheit, d. h. das Heilmittel sollte sich zur Gesundung genau so verhalten wie der Krankheitserreger zur Krankheit. Ein von außen verursachtes Leiden wie z. B. eine Verletzung erfordert und rechtfertigt auch eine von außen her erfolgende Behandlung, eine psychisch bedingte Störung dagegen verlangt auch eine Therapie von der Psyche, also von innen her. Zwischen diesen beiden äußersten Grenzen gibt es eine lange Reihe von Abstufungen, denen sich die Heilung als der exogene Faktor jeweils anzupassen hätte. Je exogener die Krankheit, um so exogener auch die ihr entsprechende Therapie und umgekehrt. Exogen bedeutet hier so viel wie kausal bedingt, nämlich bewirkt von einer dem erkrankten Organismus transzendenten Ursache. Ursache und Wirkung stehen im Verhältnis der Diskontinuität, der Nicht-Identität, und zwar innerhalb des pathologischen ebenso wie innerhalb des angemessenen therapeutischen Gesamtkomplexes. Dabei wäre allerdings nochmals daran zu erinnern, daß keine einzige Krankheit, also nicht einmal die Verwundung durch einen Unfall oder dergleichen restlos vom Exogenen her zu verstehen ist, weshalb auch eine rein exogene, rein kausal strukturierte Therapie niemals das Ganze der Krankheit zu treffen vermag. Der mit seinen Heilmitteln, mit seinen Instrumenten und Medikamenten den Kranken behandelnde Arzt darf sonach selbst im klassischen Fall eines offensichtlich durch äußere Ursachen bewirkten organischen Schadens nicht genau so verfahren wie der Techniker, der eine verdorbene Maschine mit Werkzeug und Schmieröl wieder in Gang bringt. Zwar werden seine bloßen Handhabungen als solche sich von denen dieses Technikers prinzipiell kaum unterscheiden, aber sie werden sich dessen ungeachtet, wie viel sie auch immer zur Heilung beitragen mögen, nicht mit der Heilung selbst identifizieren, sondern nur als Symbol oder Symptom der Heilung verstehen dürfen.
Die technische Therapie, von der zuerst die Rede sein soll, hat immer auch den Charakter der Allopathie, was sich einfach aus ihrer engen Beziehung zum Kausalitätsgesetz ergibt. Allopathie heißt Bekämpfung der actio durch die reactio, des Giftes durch das Gegengift usw. Wenn ich etwa eine blutende Wunde verbinde, um durch den Verband das Entströmen des Blutes zu verhindern, so ist das ungefähr das einfachste Beispiel für das Verfahren der allopathischen Therapie. Jeder mechanische Kausalnexus gleicht im wesentlichen diesem Vorgang. Keine Ursache kann etwas verursachen oder bewirken, ohne einen Widerstand zu überwinden, ja die Überwindung des Widerstandes kennzeichnet geradezu das Eigentliche des kausalen Prozesses. Eine rollende Kugel bewirkt im Anstoßen an eine ruhende die Bewegung dieser zweiten, d. h. sie überwindet den Widerstand der ihrer eigenen Bewegtheit kontradiktorisch entgegengesetzten Ruhe, sie bekämpft das Gift "Ruhe" durch das Gegengift "Bewegung". Und das eben ist das Schema, an das sich auch die technische oder allopathische Therapie hält, ja äußerlich vielleicht sogar jede echte Therapie, sofern sie nichts anderes ist und nichts anderes sein will als Therapie, d. h. objektive Geste des Gesundungsprozesses.
Theophrastus Paracelsus unterscheidet, wie schon erwähnt wurde, zwei Grundarten der Krankheit, die endogene und die exogene und demnach auch zwei Kategorien von Ärzten, die "Physici" und die "Chirurgici", wir könnten sie mit allem Vorbehalt hinsichtlich der Terminologie auch die Internisten und die Externisten nennen. "Ein jegliche Krankheit, die vom Centro gehet in die Weite, ist zugehörig dem Physico. Aber die von Weite in Centrum gehet, die ist zugeschlossen / gemeint ist wieder zugehörig / der Chirurgico"12). Der Chirurg also ist der Externist, der Allopath, der technische Therapeut schlechthin, weil er es zunächst und vor allem mit den kausal bedingten, den exogenen Krankheiten zu tun hat. Wenn eine Epoche, wie etwa das 19. und das beginnende 20. Jahrhundert, vorwiegend kausal-mechanisch denkt, so wird sie selbstverständlich das Problem der Therapie unter dem Aspekt des Chirurgen beurteilen. Die zeitgenössische Medizin wird, wenn irgend möglich, allen Krankheiten chirurgisch beizukommen versuchen oder sich doch wenigstens den Formen des chirurgischen Denkens angleichen. Die Chirurgie selbst wie auch die ihr geistesverwandte Chemotherapie oder die Bakteriologie wird erstaunliche Erfolge und Fortschritte aufzuweisen haben, während die mehr mit dem Fingerspitzengefühl arbeitende interne Medizin im gleichen Grad verkümmert. Indem die optischen Instrumente, die Röntgenapparate usw. sich vervollkommnen, verliert allmählich das natürliche Auge seine Sehschärfe, das natürliche Ohr seine Hörschärfe. Die externistische Grundeinstellung will alles kausal aus äußeren Ursachen erklärt haben und bemüht sich darum auch vor allem um eine Therapie von außen. Schon in der Diagnose fragt man viel mehr nach den externen Krankheitserregern, etwa nach den die Infektion erzeugenden Mikroorganismen als nach dem endogenen Faktor, der von innen heraus dem exogenen entgegenkommt oder sich ihm versagt, und das sehr zum Unterschied von älteren Denkweisen, z. B. gerade auch der des Paracelsus.
Spielt aber de facto bei irgendeiner Krankheit der endogene Faktor die entscheidende Rolle, so müßte demgemäß auch die Therapie sozusagen endogener werden oder, wenn wir dazu unfähig sein sollten, ihr eigenes Handeln auf den Anteil des exogenen Faktors an der betreffenden Krankheit herabsetzen, sich mehr und mehr auf die gestenhaften Möglichkeiten ihres Tuns beschränken. Verstößt sie gegen diese Regel, so wird ihr Zuviel an Heilung ein Zuwenig an Genesung auf der Seite des Patienten und also auch an echter Gesundung zur Folge haben. Die Gesundheit, die sie scheinbar herstellt, wird sich unterhalb der Ebene des dem Menschen angemessenen sinnhaften Lebens halten. Der Schluß, zu dem sie kommt und den sie vermutlich als ihren Erfolg bucht, ist tatsächlich nur ein Kurzschluß, nämlich die Herstellung einer bloßen Scheinsynthese innerhalb des Immanenzbereiches, d. h. des Bereiches der Antithetik, die Abriegelung des Zuganges zur Transzendenz der echten Synthese. Genau so kurzschlüssig wie die "Heilungen" dieser Art sind ja auch die sichtbaren Erfolge der rationalen Wissenschaft und der Technik. Räumliche und zeitliche Abstände werden da gleichsam nur in der Horizontalen, nämlich unterhalb des sie überspannenden und in lebendiger Weise verbindenden Bogens überbrückt, wodurch dem Abstand, der Distanz, dem Gegenüber von Hier und Dort sein die wahre Einheit ausdrücklicher Sinn genommen wird. Diese Überbrückung ist dann nur noch Negation der Distanz, Vernichtung ihres positiven Gehaltes. Das alles hat freilich seine Wurzel im peccatum originale; denn der Mensch, der sich an Gottes Stelle setzt, ist ja eben der kurzschlüssige. Er verkehrt z. B. die erotische Liebe, die Einheit der Geschlechter in der Transzendenz vor Gottes Angesicht in die bloße sexuelle Vereinigung von Mann und Weib im Versteck, wohin er vor den Augen des Schöpfers flieht.
Die Krankheit, die, wie sich Paracelsus ausdrückt, von der Weite ins Zentrum geht, deren Entstehungsursache also außerhalb der erkrankten Person liegt, trifft diese in ganz ähnlicher Weise wie ein Windstoß einen auf der Straße liegenden Fetzen Papier oder wie ein herabfallendes Hagelkorn eine Blüte, d. h. der Kranke erscheint hier als Ding unter Dingen eingeordnet in den allgemeinen Kausalzusammenhang, er wird seiner dinghaften Seite nach beschädigt, und ebenso wird er wieder seiner dinghaften Seite nach vom Chirurgen zusammengeflickt oder "repariert". Auch die Chirurgie geht aus der Weite ins Zentrum. Wenn nun die Medizin einer Epoche darauf aus ist, möglichst allen Krankheiten, auch den tiefer liegenden, auf chirurgischem Wege beizukommen, so heißt das, daß nach dem Verständnis dieser Epoche das Wesen des Menschen sich in seiner Dinglichkeit erschöpft, daß man glaubt, der Kranke sei geheilt, wenn er nur wieder in die Lage versetzt ist, seiner beruflichen Arbeit im Rahme des sozialen Getriebes nachzugehen. So hat man etwa während des letzten Krieges Soldaten, die ein Bein verloren hatten, nach der Verheilung der Wunde, ausgerüstet mit einer Prothese, ohne Bedenken wieder auf den Pilotensitz eines Flugzeuges oder an das Steuer eines Kampfwagens gesetzt. Daß der Verlust eines Gliedes mehr bedeutet als bloß die Verminderung des Körpervolumens, daß da, bildlich gesprochen, auch die Seele des Mannes um ein Bein ärmer geworden war, das wurde einfach ignoriert, weil es das Fassungsvermögen der verantwortlichen militärischen und politischen Instanzen überstieg. Die gleiche Tendenz, den Menschen auf seine Dinglichkeit oder, was dasselbe sagt, auf seine sinnentleerte Diesseitigkeit einzuschränken, ihn mit dem zu identifizieren, was sich an ihm sehen und betasten läßt, findet auch in vielen anderen typischen Erscheinungen unserer Zeit ihren Ausdruck, etwa darin, daß man imstande ist, die Stimme eines Sängers oder Schauspielers auf Schallplatte und Tonband, sowie das bewegte Bild des Menschen im Film festzuhalten und nach Belieben zu reproduzieren. Wenn in frühen Jahrhunderten dergleichen nicht möglich war, so in erster Linie nicht darum, weil der Generation von damals noch die nötigen Kenntnisse fehlten, sondern weil es ihr niemals eingefallen wäre, den Menschen mit seiner bloßen Sichtbarkeit oder Hörbarkeit gleichzusetzen und sich mit den von der Vollwirklichkeit abstrahierten Bildern und Lauten zufriedenzugeben. Nur ein selbst reduzierter Mensch kann sich auch mit Reduktionen begnügen und sie mit der realen Existenz verwechseln oder doch diese Existenz so gering einschätzen, daß er ihr Bild, ihre bloße Reproduktion immerhin ernst nimmt. Was sich im Film oder auf dem Tonband konservieren läßt, ist immer nur das keiner Selbstübersteigerung, keiner Transzendierung Fähige, das nackte Sein. Auch hier handelt es sich um den Kurzschluß unterhalb des synthetischen Bogens.
Hypertrophie der chirurgischen Technik in der Medizin bedeutet im Letzten Ehrfurchtslosigkeit vor dem Sinn des Lebens und damit vor dem Lebendigen überhaupt. Als ein besonders krasses Beispiel ließe sich hier etwa die Praxis der Vivisektion anführen, der handgreiflichen mechanischen Vergewaltigung des Organischen. Schon griechische Ärzte wie Erasistratos und Herphilos pflegten nicht nur lebendige Tiere, sondern auch lebendige Menschen, nämlich Verbrecher zu sezieren, die ihnen zu diesem Zweck überlassen wurden. Der König Mithridates von Pontus soll mit eigener Hand Versuche an Verurteilten gemacht haben, um die Funktionen der inneren Organe zu studieren. Dagegen wandten sich, wie Celsus berichtet, die sogenannten Empiriker, weil es grausam sei, daß "der Leib und die Bauchhöhle lebender Menschen geöffnet werden und daß eine Kunst, die Beschützerin des Menschen sein wolle, irgend jemandem nicht allein überhaupt eine Qual, sondern sogar die allerfurchtbarste bereite"13). So grausam ist man heute freilich längst nicht mehr, aber es wäre falsch, daraus auf größere Ehrfurcht vor dem Lebendigen zu schließen. Das Gegenteil trifft zu. Man scheut sich wohl, dem anderen Menschen oder auch dem Versuchstier Schmerzen zu bereiten, aber das doch nur deshalb, weil man die Eigentlichkeit des Leidenden in der Region seiner Schmerzempfindlichkeit sucht. Jene Vivisektion von zum Tode verurteilten Verbrechern war gewiß höchst inhuman und dem Geist der Heilkunst zuwider, aber die Wehleidigkeit, die uns derartige Schlächtereien verbietet, ist noch viel inhumaner; denn sie entstammt zuletzt doch nur der völligen Blindheit für die Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz und keineswegs der elementaren Achtung vor der Würde des Lebens. Nicht das Hinaus über, sondern das Hinunter unter die Ebene, auf der solche Scheußlichkeiten geschehen konnten, veranlaßt uns, das eventuelle Opfer der Vivisektion wenigstens vorher zu narkotisieren. Aber ein narkotisierter Mensch ist noch viel weniger Mensch als einer, der unter dem Messer der Chirurgen vor Schmerzen brüllt.
Das Problem der Narkose und der künstlichen Anästhesie verdient übrigens einige Beachtung. Seine ethische Relevanz ist kaum zu übersehen. Wenn kirchliche Kreise sich früher einmal gegen die Betäubung der Frauen während der Geburt wandten, weil in der Bibel geschrieben steht: "Du sollst mit Schmerzen Kinder gebären", so wird man das, vor allem aus Argwohn im Hinblick auf die pharisäischen Motive einer solchen Haltung, schwerlich billigen können, aber auch der Pharisäer verdankt seine immerhin bedingte Glaubwürdigkeit schließlich doch einem gewissen Wahrheitsgehalt seiner von ihm freilich mißbrauchten Prinzipien. Die chirurgische Therapie bildet das genaue Gegenstück der Verwundung. Wie die Wunde gewöhnlich durch harte anorganische Gegenstände / Waffen usw. / erzeugt wird, so sucht der Chirurg mit seinen "Waffen" / Messern, Scheren, Lanzetten, Skalpellen usw. / den Schaden zu heilen. Mechanische Kausalität also hier wie dort. Von allen Kranken ist der Verwundete, von allen ärztlich Behandelten der Operierte der unfreieste, und gerade diese Unfreiheit wird durch die Narkose wie auch schon durch jede Lokalanästhesie noch in besonderer Weise symbolisch unterstrichen. Der gefühllos gemachte Patient ist nur noch Objekt des Therapeuten. Der Operierte, der alle Schmerzen des Eingriffs ertragen muß, leidet zweifellos mehr als der Narkotisierte, aber vielleicht rettet er unter Umständen durch das Fegefeuer des körperlichen Schmerzes etwas hindurch, das dem Anästhesierten unwiederbringlich verloren geht, vielleicht besteht zwischen dem schneidenden Arzt und dem geschnittenen schreienden Kranken noch immer eine dialogische Beziehung, die dort fehlt, wo der Patient bewußtlos auf dem Operationstisch liegt. Die chirurgische Therapie ist die schmerzhafteste, weil rationalste und darum dem Wesen des Lebendigen am wenigsten angemessene. Im Schrei des Schmerzes antwortet die Freiheit auf ihre Bedrohung, sagt das bewußte Selbst leidenschaftlich Nein zu seiner Behandlung als Objekt. Mit den der modernen Medizin zur Verfügung stehenden Mitteln kann der Schmerz beinahe vollkommen ausgeschaltet und der Schmerzensschrei sozusagen erstickt werden, aber das auf Kosten nicht der Objektivität, sondern der Selbstheit, der Subjektivität. Damit soll natürlich nicht für Operationen ohne Narkose Propaganda gemacht werden. Viele, wenn nicht die weitaus meisten der heute üblichen chirurgischen Eingriffe wären bei Bewußtsein gar nicht zu ertragen, ja nicht einmal durchzuführen. Der Operierte würde vor Schmerz sterben oder wahnsinnig werden. Zu fragen ist nur, ob eine Therapie auf der Grundlage der Bewußtlosigkeit, vom Arzt wie vom Patienten her beurteilt, nicht den Verzicht auf gewisse unabdingbare Werte der menschlichen Existenz zur Voraussetzung hat, bzw. nur auf der Basis eines menschlichen Selbstverständnisses möglich ist, dem diese Werte bereits aus dem geistigen Blickfeld entschwunden sind.
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Was einmal tot ist, kann nicht wieder lebendig gemacht werden. Das ist eigentlich die erste Grundregel aller menschlichen Therapie ohne Ausnahme. Wenn wir unsere Toten begraben oder verbrennen, statt zu versuchen, sie wieder ins Leben zurückzurufen, so kann man das eine Art Therapie am Leib der immer schon im Sterben begriffenen und als kranken Menschengemeinschaft nennen. Wir entfernen das abgestorbene Glied aus dem Bereich der noch lebendigen Glieder, um die Ansteckung durch den Tod zu verhindern oder doch zu verzögern, um Lebenszeit zu gewinnen. Genau das Gleiche tut ein Chirurg, der ein brandiges Bein amputiert, ein Carcinom herausschneidet oder auch ein Zahnarzt, der einen kariösen Zahn zieht. Niemandem wird es einfallen, einen solchen Zahn etwa durch Psychotherapie wieder gesund machen zu wollen. Und eben darauf, Totes zu entfernen, beruht alle erlernbare, alle rationale, technische allopathische Medizin. Es ist gewiß möglich, ja oft sogar sicher so, daß der Kranke nach der Scheidung des Abgestorbenen vom noch Lebendigen wieder auflebt, aber seine neu gewonnene Gesundheit ist nun doch eine reduzierte, die Gesundheit eines etwa um ein Bein oder einen Zahn verminderten Menschen, so wie die Familie, die den Vater begraben hat, nun eben eine vaterlose Familie ist. Wir wollen damit sagen, daß die technische Therapie genau genommen gar nicht mit Lebendigem, sondern mit Totem umgeht. Die Allopathie ist ihrem Grundcharakter nach dialektisch und nicht dialogisch. Unter der Dialektik zum Unterschied vom Dialog verstehen wir hier das "Zwiegespräch" nicht zwischen Personen, sondern zwischen toten Dingen oder auch zwischen bloßen Begriffen. Dialektisch ist das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Thesis und Antithesis, zwischen Gift und Gegengift, aber nicht auch zwischen Wort und Antwort. Die Dialektik bildet das Schema der Allopathie auf allen Gebieten der Praxis. Dialektische Pole sagen zueinander Nein, dialogische sagen zueinander Ja. Und nur das Neinsagen läßt sich theoretisch-wissenschaftlich erlernen, das Jasagen niemals; denn es kommt aus der Freiheit des Herzens. Alles Verneinte ist als solches tot und alles Verneinende ebenfalls. Darum nannten wir die Dialektik das Zwiegespräch zwischen toten Dingen. Soweit sich die Therapie auf ihre Wissenschaftlichkeit, auf ihre Erlernbarkeit, auf ihre Studierbarkeit beschränkt, muß sie sich in den Grenzen der Technik, der Allopathie halten, muß sie sich also, bildlich gesprochen, damit begnügen die Toten zu begraben, und dieses Geschäft hat Jesus bekanntlich den Toten, d. h. den Dialektikern zugewiesen. Gewiß kann man auch noch etwas anderes tun als das Tote negieren, das Tote vom Lebendigen absondern, nämlich zum Leben Ja sagen, indem man z. B. die Hungrigen speist, die Durstigen tränkt, die Nackten bekleidet usw., das wäre dann nicht mehr Dialektik, sondern Dialog, eine dialogische Therapie, aber dazu gehört Liebe, und Liebe ist weder lehrbar noch lernbar oder sofern doch auch in einem gewissen Sinn, besteht zwischen dem Lehrenden und dem Lernenden bereits eine dialogische Beziehung, die als apriorische Vorgegebenheit den Rahmen des
Nur-Wissenschaftlichen sprengt.
Zur technischen Therapie in ihrer paradigmatischen Gestalt als Chirurgie gehört neben der Entfernung des Toten auch der Ersatz des Entfernten durch ein anderes, aber ungefährliches, nicht mehr ansteckendes Totes, durch die Prothese. Fehlende Glieder oder fehlende Zähne, sogar fehlende Organe werden heute durch künstliche ersetzt, und das Gebrechen wird auf diese Weise "geheilt". Wer hätte auch etwas dagegen einzuwenden, wenn ein Einbeiniger einen Stock oder eine Krücke benützt, um sich damit fortzuhelfen, statt mühsam auf einem Bein zu hüpfen, und die Prothese ist in einem solchen Fall gar nichts weiter als eine besser und zweckmäßiger angebrachte Krücke. Sie verändert in keiner Weise den Organismus, sie bedeutet keinen Eingriff in die Integrität der physischen Person. Wäre die ärztliche Kunst damit zufrieden, Prothesen zu schaffen, so gäbe es das ganze Problem der Therapie, die Frage nach ihrer tieferen Berechtigung überhaupt nicht. Wir haben es hier mit einem Grenzfall zu tun, in dem die Legitimität der Krankenbehandlung durch einen handwerklich geschulten Fachmann nicht dem geringsten Zweifel unterliegt. Dem Kranken wird wirklich nur geholfen, und jede Schädigung bleibt ausgeschlossen. Seinen letzten Grund hat das offenbar darin, daß durch die Prothese ein rein mechanischer Mangel rein mechanisch behoben wird. Mit der kunstgerechten Behandlung von Knochenbrüchen oder selbst von Wunden verhält es sich nicht viel anders. In solcher Beschränkung auf die Reparatur peripherer Schäden hat die Chirurgie gewisse Ähnlichkeiten mit der Mathematik und der theoretischen Physik im Rahmen des Wissenschaftskomplexes. Wie man aber etwa in der Literaturwissenschaft mit mathematischen Formeln nichts mehr ausrichten kann, weil sich das Wesen der Sache den rationalen Kategorien entzieht und das teleologische Denken an die Stelle des ätiologisch-kausalen tritt, so versagen die Mittel und Methoden der Chirurgie dort, wo es keinen möglichen Ersatz des Abgestorbenen durch Prothesen gibt, wo es sich um mehr als nur mechanische Probleme handelt, wo das Gebiet beginnt, das Paracelsus dem Physikus, dem Internisten, dem Neurologen usw. zuteilt, oder man sollte doch wenigstens in diesem Bereich sich die Anwendung solcher Mittel und Methoden verboten sein lassen, auch dann, wenn äußere sichtbare Erfolge sie zu rechtfertigen scheinen.
Das gilt vor allem für die Schocktherapie, sowie für die chirurgische und chemotherapeutische Behandlung von sogenannten Geisteskrankheiten, also von Psychosen. Es ist sehr schwer oder wahrscheinlich überhaupt nicht sicher zu bestimmen, wo die Grenze liegt, die nicht nur die Chirurgie, sondern die ganze technische Therapie im weitesten Sinn dieses Wortes nicht mehr überschreiten darf; denn objektive Grenzen sind eben nur innerhalb des Objektiven selbst feststellbar, niemals aber zwischen dem Objektiven und dem Jenseitigen. Diese Grenze fällt bereits der ethischen Problematik zu, und die Lösung ethischer Probleme bleibt der verantwortungsbewußten Entscheidung vorbehalten. Indem ich eine Entscheidung fälle, bestimme ich erst die mir gesetzte Grenze, bzw. setze ich selber mir die Grenze entweder richtig oder falsch. Ob so oder so, das wird sich nach vollzogener Entscheidung erweisen. Wäre es anders, dann wäre ich eben nicht frei, und dann hätte die Frage nach Recht oder Unrecht gar keinen Sinn. Der Arzt wie der Patient versteht sich aber als freies Wesen, und somit ist auch ihm die Aufgabe gestellt, die Grenze zu ziehen, bis zu welcher eine bestimmte Therapie gehen darf, bzw. bis zu welcher man sie sich gefallen lassen darf. Vor allem natürlich bezieht sich das auf den Arzt; denn der Patient wird in vielen Fällen gar keine Entscheidungsmöglichkeiten haben.
Das Recht zur chemischen, physikalischen oder chirurgischen Behandlung von Psychosen leitet man &endash; bewußter- oder unbewußterweise &endash; immer aus einer vorgefaßten materialistischen Weltanschauung ab, aus einer unkritisch als selbstverständlich vorausgesetzten Metaphysik und Ontologie, nach der das Sinnhafte nur eine Funktion des Seinshaften, das Geistige und Seelische nur eine Funktion des physikalisch gedeuteten Körperlichen ist, das Gehirn Gedanken fabriziert wie die Leber die Galle oder die Niere den Urin. Und wenn man in sowjetrussischen wie in amerikanischen, in staatlichen wie in "kirchlichen" Krankenhäusern die Geistesgestörten nach genau den gleichen Methoden behandelt, so wirft das ein eigenartiges Licht sowohl auf die problematische Sicherheit der "Welt" wie auch auf die beklagenswerte Unsicherheit der heutigen Theologie und der westeuropäischen Humanität. Es ist im Grunde genau dasselbe, wenn in einem kirchlichen Hospital der Patient X der Schocktherapie unterzogen und wenn an einer theologischen Fakultät das NT wie ein Objekt der historisch-kritischen Wissenschaft behandelt wird. Hier wie dort steht im Hintergrund die Metaphysik Lenins und Stalins.
Was gelegentlich der Schockbehandlung "am Gehirn geschieht an meßbaren und registrierbaren Veränderungen hat den eindeutigen Charakter einer Hirnverletzung und -schädigung. Im Fall der Schockbehandlung hat die naturwissenschaftlich und kausal-mechanisch denkende Medizin ihr eigenes Kausalitätsprinzip verleugnet: sie weiß selbst nicht, was sie tut! Eine gezielte Therapie ist die Schocktherapie nicht mehr. Jedesmal trifft man ins Ungewisse und ins Dunkle. Man experimentiert mit Krampfentladungen, mit der Minderung der geistigen Funktion, mit dem Abbau der Person und nicht zuletzt: mit dem Tod selbst"14). Jedenfalls findet die Schockbehandlung auf einer der Krankheit nicht entsprechenden Ebene statt. Krankheiten, die sich geistig und seelisch zu erkennen geben, verlangen auch eine Therapie, die dem Rechnung trägt; denn sonst greift man mit dem Untergeordneten ein in das Übergeordnete, und das heißt: man tötet. Wird eine höhere Schicht der menschlichen Gesamtperson auf dem Niveau der niederen behandelt, so bedeutet das Reduzierung des ganzen Menschen auf die niedere. Dort mag er dann "gesund" werden, aber jedenfalls nicht mehr als vollwertiger Mensch.
Das alles gilt erst recht von chirurgischen Gehirnoperationen wie etwa von der Lobotomie. Ein mir persönlich bekannter Doktor der Philosophie wurde, nachdem er bereits einmal an einer Psychose erkrankt, sodann scheinbar geheilt und schließlich wieder rückfällig geworden war, abermals in eine Anstalt eingeliefert, wo sich die Ärzte für die Lobotomie entschieden. Nach der Operation verschwanden auch tatsächlich die Symptome der Psychose. Der Patient dachte und redete wie ein Normaler, man konnte mit ihm sogar über die schwierigsten philosophischen Probleme diskutieren, wenn auch nur auf der Basis strengster Rationalität, aber er erweckte den Eindruck nicht mehr eines lebendigen Menschen, sondern eines Denkautomaten. Er konnte weder lachen noch weinen, und überhaupt war an ihm keine Gefühlsregung mehr zu bemerken. Das Hirn lebte sein eigenes Leben, völlig isoliert von der Existenzmitte. Die "Heilung" kam also auf Kosten der Persönlichkeit des Patienten zustande. Der Psychotiker baut sich anstelle der wirklichen eine imaginierte Welt und auch einen imaginierten Leib auf, er bildet sich ein, dieser oder jener zu sein, dieses oder jenes zu erleben. Aber damit hat er doch immerhin noch eine Beziehung zu Leib und Welt überhaupt. Der durch die Lobotomie "Geheilte" wird nun zwar frei von solchen Wahnvorstellungen, aber ohne sein Verhältnis zur wahren Wirklichkeit zurückzugewinnen. Er lebt in dieser Wirklichkeit wie sein eigenes Gespenst.
Ähnliches wäre wohl auch von der allem Anschein nach freilich harmloseren Vagotomie zu sagen, der operativen Ausschaltung des vegetativen Nervensystems bei Magengeschwüren und anderen organneurotischen Störungen wie angina pectoris, Hypertonie usw. und selbst bei ausgesprochen organischen Leiden. Hier wird die Verbindung zwischen Bewußtsein und Unbewußtsein, zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen Sinn und Sein des Patienten unterbrochen. Die Organe werden ihren eigenen autonomen Nerven überlassen. Der die Krankheit bedingende Konflikt wird gelöst, indem man die beiden disharmonierenden Pole nicht harmonisiert, sondern isoliert, gleichsam wie zwei Raufbolde, die sich miteinander nicht vertragen können, in zwei getrennte Zellen einsperrt, statt sie zu versöhnen. An die Stelle der zu erstrebenden Synthesis tritt die absolute Antithesis, die so absolut ist, daß mit dem Dialog auch die Dialektik unmöglich gemacht wird. In gleicher Weise verfährt eine Revolution, die ihre Auseinandersetzung mit der ihr nicht mehr konvenierenden Vergangenheit zu Ende bringt, indem sie die Vertreter der in ihren Augen rückständigen Weltanschauung, die sogenannten Reaktionäre einfach liquidiert, d. h. abschlachtet oder verhungern läßt, bzw. in Konzentrationslager einsperrt und dort zu Robotern degradiert. Auch der vom vegetativen Nervensystem abgeschaltete Magen ist so ein Roboter, ein maschinenmäßig arbeitender Sklave, ein sinnloses, auf das bloße Sein reduziertes Organ, ein reines Objekt, dessen Nur-Objektivität aber unvermeidlich auch einen Verlust für die Subjektivität des Subjektes, ein Trauma bedeutet.
Wir haben früher gesagt, die eigentliche Aufgabe der technischen Therapie erschöpfe sich darin, das Tote vom Lebendigen zu scheiden, weil das bereits Tote nicht mehr lebendig gemacht werden kann und das Noch-Lebendige gefährdet. Die Lobotomie wie die Vagotomie scheidet aber nicht Totes, sondern Lebendiges von Lebendigem, und das ist etwas ganz und gar anderes. Gewiß beruht die Krankheit darauf, daß das Lebendige zum anderen in Widerspruch geraten ist, und gewiß müßte die Therapie diesen Widerspruch aufheben, aber aufheben, indem sie ihn hinauf hebt und nicht, in dem sie die Kommunikation durchschneidet, d. h. das Leben tötet, das auch im Widerspruch, im Gegensatz, im Kampf lebt. Die Ruhe, die so erreicht wird, ist unter allen Umständen nichts weiter als Friedhofsruhe. Haß ist zweifellos weniger als Liebe, aber immer noch mehr als Beziehungslosigkeit. Das übersieht man gerne aus Bequemlichkeitsgründen, aus einem quietistischen Bedürfnis, in der Medizin ebenso wie in der Politik und auch noch auf manchem anderen Gebiet. Man redet dann von Toleranz, von "Koexistenz", von "leben und leben lassen" und meint damit eigentlich nur: du gehst mich nichts an, ich gehe dich nichts an, also lassen wir uns gegenseitig in Ruhe. Die Konflikte zwischen den großen politischen Mächten sollen, wenn nicht gelöst, so doch ausgeglichen werden durch die Neutralisierung strittiger Gebiete, durch Sicherheitsverträge auf der Basis der Nicht-Einmischung usw., was aber nicht etwa zu einem produktiven Mit-Sein, sondern zu einem sterilen indifferenten Nebeneinander und zur Verewigung der verschiedenen "eisernen Vorhänge" führt. Auch die Lobotomie erstrebt ein solches Nebeneinander, eine solche Koexistenz zweier Gehirnteile, und auch die Vagotomie neutralisiert das rebellische Organ. Neutralisierung und Koexistenz sind die letzten armseligen Rezepte des Menschen, der sich nicht mehr zu helfen weiß, der vor der ihm gestellten Aufgabe bedingungslos kapituliert und sich in seiner Ratlosigkeit wenigstens noch ein bescheidenes "Glück im Winkel" hinter Scheuklappen zu retten sucht. Die Welt, die ihm der Schöpfer ursprünglich als Herrschaftsgebiet anvertraut hatte, ist ihm durch eigene Schuld viel zu groß und viel zu gefährlich geworden, und so verkriecht er sich nun in einen Maulwurfbau.
Es gibt übrigens auch noch viele andere höchst merkwürdige Übereinstimmungen zwischen der modernen medizinischen und der politischen Therapie; denn es ist ja der gleiche Geist, der hier wie dort von außen die Heilung erzwingen will. So zeigt z. B. die Bekämpfung von Infektionen durch Sulfonamide und Antibiotika eine unverkennbare Verwandtschaft mit den Anstrengungen der westlichen Welt, sich dem Vordringen des Bolschewismus zu widersetzen. In beiden Fällen lassen sich vorläufige, manchmal sogar überraschende Erfolge gar nicht leugnen, aber in beiden Fällen nimmt doch auch die Wirksamkeit der angewandten Mittel immer mehr ab, je länger der Kampf dauert. Die Antibiotika züchten ein Geschlecht von resistenteren Krankheitserregern heran, so daß sich schon heute recht düstere Prognosen für eine gar nicht allzuferne Zukunft stellen lassen. Hier wird dem Organismus nicht eine Kraft zugeführt, die ihn befähigt, von sich aus den Feind zu besiegen, sondern das extrem allopathische Mittel bleibt ihm äußerlich, drängt die Krankheit rein mechanisch zurück und drückt sie gleichsam zusammen wie eine elastische Feder, deren Spannkraft aber durch den Druck wächst, während der Druck selbst allmählich erlahmt. Diese Medikamente erweisen sich wirksam gegen akute Krankheitserscheinungen, die eben als akute eigentlich immer nur Symptome sind; denn akut heißt soviel wie sichtbar. Die einseitige Bekämpfung akuter Symptome verhindert aber nicht nur nicht, sondern fördert ganz im Gegenteil das Chronischwerden des Leidens. Den analogen politischen Reim dazu kann man sich ohne Schwierigkeiten selbst machen.
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Daß eine chirurgische oder chemotherapeutische Behandlung das "Niveau" der Psychosen und Neurosen niemals erreichen kann, ist relativ leicht einzusehen. Wie aber verhält es sich nun mit der eigentlichen Psychotherapie, d. h. mit der psychologischen Behandlung psychischer Störungen? Kann man nicht wenigstens hier von einer qualitativen Entsprechung zwischen Krankheit und Heilmethode reden? Es geht dabei freilich nur um die Neurose; denn die Psychose als organische Erkrankung des Zentralnervensystems ist ihrem Wesen nach von der Psychologie her nicht mehr zu fassen, obgleich ihre Symptome psychologisch interessant sein mögen. Man könnte die Psychose beinahe eine umgekehrte Organneurose nennen, weil bei dieser der Krankheitsherd im Psychischen und das Symptom im Organischen, bei jener dagegen der Krankheitsherd im Organischen und das Symptom im Psychischen liegt.
Die moderne, von Freud begründete und von seinen Nachfolgern lediglich verfeinerte oder variierte Psychotherapie, die Psychoanalyse, die Tiefenpsychologie, die psychosomatische Medizin usw. sucht der psychischen Störung mit psychologischen Mitteln auf den Grund der Erkenntnis psychologischer Zusammenhänge beizukommen. Das erweckt zunächst den Anschein, als ob es sich hier tatsächlich um eine Art Bekehrung des medizinischen Denkens von seiner sonstigen Gebundenheit an das Kausalitätsprinzip handelte. Aber gerade das Gegenteil ist der Fall. Die kausal bestimmte Methode soll nun auch auf den ihr bisher verschlossenen Lebensbezirk ausgedehnt werden. Dabei komplizieren sich allerdings, der Inadäquatheit des Gegenstandes entsprechend, die Verfahrensweisen, genau so etwa wie die mathematischen Formeln komplizierter werden, wenn es nicht mehr darum geht, mechanische, sondern elektrische, chemische, atomare und vielleicht sogar biologische Vorgänge zu berechnen, ohne dabei aber doch aufzuhören mathematische zu sein. Die größere Kompliziertheit verführt jedoch leicht zu dem Fehlschluß, die kausal-mathematische Methode habe sich gewissermaßen ins Transmathematische erhoben oder zu ihm "bekehrt", während man sich doch in Wahrheit nur bemüht, auch dieses Transmathematische, koste es was es wolle, in die Zwangsjacke der Mathematik hineinzupressen. Ebenso stimmt es auch nicht, daß sich der moderne Psychotherapeut, wie oft behauptet wird, wieder dem Seelsorger nähert, sondern er nimmt vielmehr umgekehrt dem Seelsorger auch noch das aus der Hand, was bisher dessen ureigenstes Ressort war. Weit mehr noch als die somatische Therapie macht die Tiefenpsychologie Gott überflüssig und hilft mit, ein auf das allem Sinn entfremdete Sein beschränktes Menschengeschlecht heranzuzüchten. Das ganze Testunwesen, das ja ohne Tiefenpsychologie gar nicht möglich wäre, weist genau in diese Richtung. Hier wird der Berufsmensch, der Facharbeiter, der Roboter als Homunkulus in der Retorte zur Idealgestalt des homo sapiens gemacht.
Selbst solche Psychotherapeuten, die theoretisch das Kausalitätsschema der älteren Psychoanalyse entschieden ablehnen, wie M. Boss und andere, glauben z. B. immer noch, die Erlebnisse der Kindheit als Erklärungsgrund für neurotische und organneurotische Störungen erwachsener Menschen heranziehen zu dürfen. Sie übersehen dabei vollkommen den inneren Zusammenhang des ganzen Lebens, daß man also genau so gut die Kindheit eines Menschen aus seinem Mannesalter wie dieses aus jener erklären kann. Es ist die zeitlich überhaupt nicht datierbare Entscheidung, die in gleicher Weise alle Altersstufen prägt und jeder von ihnen gleich gegenwärtig bleibt. Werden Störungen des Erwachsenen einseitig aus Kindheitserlebnissen gedeutet, dann kommt das eben einer rein kausalen Interpretation gleich; das Tun und Verhalten des Erwachsenen wird zur Wirkung einer vergangenen Ursache degradiert, seine Freiheit, aus der die verantwortliche Entscheidung entspringt, wird ihm abgesprochen. Er wird veranlaßt, seine Kindheit zu objektivieren, sich mit ihr auseinanderzusetzen und sich so von der Ursache, unter deren Druck er steht, loszusagen. Es könnte nun so scheinen, als ob er damit wirklich be-freit, d. h. mit einer neuen Freiheit beschenkt wäre, aber es scheint doch nur so; denn tatsächlich gewinnt er diese neue Freiheit nur dadurch, daß er sich aus einem Sinnzusammenhang löst, der unabdingbar zu seinem integralen Selbst gehört. Er wird "gesund" durch die Amputation seiner Jugend, so wie ein an Sepsis Erkrankter durch die Amputation des vergifteten Gliedes. Die psychoanalytische Therapie hat somit weit mehr Ähnlichkeit mit der Chirurgie als mit der Seelsorge, die dem Gestörten die Verantwortung für seine Entscheidung gerade nicht abnehmen würde. Aber diese psychologische Chirurgie ist ungleich gefährlicher als die bloß somatische, weil sie im Zentrum des Menschen ihre Operation vornimmt und zur Verstümmelung der geistigen Person führen kann.
Es muß natürlich nicht gerade ein Kindheitserlebnis sein, das der Analytiker dem Patienten als Ursache seines Leidens vorhält. Jede "Ursache" ohne Ausnahme führt, sobald sie mit der Wurzel der Krankheit identifiziert wird, zur Reduktion erstens der Krankheit selbst auf ein bloßes Symptom und zweitens des Kranken auf die Ebene dieser Symptomatik. Der Therapeut verbaut dem Patienten damit den Blick auf den wahren Ursprung seiner Störung und verweist ihn auf einen Daseinsbereich unterhalb des Personzentrums. Der Arzt "erklärt" z. B. die neurotische Erscheinung aus der Mutterbindung des Patienten, der diese Erklärung auch gelten läßt und so vielleicht wirklich geheilt,
d. h. störungsfrei gemacht wird, aber das doch nur, weil er veranlaßt wurde, sich mit dem viel tiefer liegenden Konflikt, für den auch die Mutterbindung bloß eine symbolische Darstellung war, überhaupt nicht mehr zu beschäftigen. Mit diesem "geheilten" Neurotiker steht es dann ähnlich wie mit einem leidenschaftlichen Wahrheitssucher, den man befriedigt, indem man ihm als Lösung der ihn bedrängenden Probleme etwa eine mathematische Gleichung anbietet, und der nun auf diese Metabasis hereinfällt, so daß er meint, mit dem mathematischen Ausdruck die Wahrheit selbst gefunden zu haben.
Ein Kind, das im Halbdunkel ein Gespenst zu sehen glaubt und sich davor fürchtet, läßt sich leicht beruhigen, sobald ihm gezeigt wird, daß der Gegenstand des Schreckens nichts als in herabhängendes Wäschestück war. Genau wie die Mutter dieses Kindes macht es auch der Psychoanalytiker, wenn er neurotische Zwangsvorstellungen aus dem Oedipuskomplex, dem Oresteskomplex, der Mutterbindung oder irgendwelchen ins Unbewußte verdrängten Kindheitserinnerungen herleitet und sie damit zeitlich distanziert, bzw., was dasselbe sagt, rationalisiert. Hier wie dort kommt die Lösung des Konfliktes dadurch zustande, daß das beängstigende Phänomen in einen begreiflichen Kausalzusammenhang eingeordnet und so seiner Unheimlichkeit entkleidet wird. Die Wirklichkeit wird entzaubert, ihrer Spontaneität beraubt. Diesem Gewinn steht aber immer auch ein Verlust gegenüber, und zwar ein Verlust auch auf der Seite des nunmehr Geheilten, der Verlust nämlich des metaphysischen Sinnes, der mit der Freiheit unabdingbar zusammenhängt. Das Kind, das sich vor Gespenstern fürchten kann, ahnt mehr von den Abgründen der Wirklichkeit als die Mutter, die nur an ihre Wäsche denkt. In einer rationalen, in einer durch und durch kausalen bedingten Welt verfalle auch ich der Kausalität und also der Unfreiheit. Der Marxismus etwa, der alles Religiöse als "ideologischen Überbau", anders ausgedrückt, als Zwangsvorstellung nominalistisch abwertet, ist eine Art psychoanalytische Therapie am Kollektiv und tendiert mit Notwendigkeit zur Eingliederung der Einzelsubjekte in einen rational-kausalen Mechanismus. Die Rationalisierung bedeutet hier Scheidung von Ich und Nicht-Ich, psychische Vagotomie oder Lobotomie. Genau so wie bei diesen chirurgischen Eingriffen werden die beiden kollidierenden Pole voneinander getrennt. Die Synthesis wird ersetzt durch die Diairesis. Synthesis aber heißt soviel wie Geist oder Sinn, Diairesis soviel wie Geistlosigkeit oder Sinnlosigkeit. Dem Menschen, der mit seiner eigenen Geistigkeit, mit seinem Sinn nicht zurechtkommt, wird ein bequemeres untermenschliches Dasein diesseits aller geistigen Problematik angeboten. Lebe wie ein Wiederkäuer, und du bist alle deine Konflikte und Komplexe los. Wäre die Psychotherapie wirklich das, was sie zu sein vorgibt, nämlich eine, wenn auch säkularisierte Seelsorge &endash; wobei freilich noch zu fragen bliebe, ob sich Seelsorge jemals säkularisieren läßt &endash;, dann müßte sie ganz und gar auf den einzelnen Kranken als auf einen unwiederholbaren Sonderfall eingehen, dann müßte sie immer wieder von vorne beginnen, dann dürfte sie niemals versuchen, aus ihrem Verfahren eine allgemein anwendbare Methode und aus ihren Einsichten eine auf Universitäten lehrbare Wissenschaft zu machen. Da sie aber gerade das tut, gerät sie immer wieder in Gegensatz zu ihrem eigenen Prinzip, zu ihrem Anspruch Psycho-Therapie zu sein. "Die ganz unpersönlichen Gaben?, insbesondere der dogmatischen und orthodoxen Psychoanalyse", sagt Müller-Eckhard, "gleichen einer in New York, in Wien oder in Berlin gekauften Aspirinschachtel. Es ist immer das gleiche Aspirin. Nicht nur gleich im Geschmack, sondern auch: gleiches Gewicht, gleiche chemische Zusammensetzung. Die Eintönigkeit dieses seelenlosen Schemas wirkt auf den Patienten mehr und mehr wie ein Schock. Er sieht sich auch hier in ein Nichts geworfen, er betritt leere Räume, er wird in eine ihm absolut fremde, eigentümliche und neutrale Zone gezerrt, in der er nicht mehr persönlich aufgerufen ist. Der Patient X und Y werden genau so behandelt wie er auch. Auch sie befinden sich in dieser neutralen? Zone. Auch sie hören dieselben Worte und beantworten die gleichen Fragen"15).
Zwischen Freud und Jung, zwischen älterer und jüngerer Psychoanalyse besteht insoweit kein Unterschied. Beide analysieren den Patienten auf ein Typisches und Allgemeines hin, also auf etwas, das keineswegs ihm als dieser besonderen Person eigentümlich ist, sondern ihn in eine Rubrik einzuordnen gestattet. Der von Jung eingeführte Begriff des "kollektiven Unbewußten" ist dafür außerordentlich bezeichnend. Daraus allein aber geht schon deutlich genug hervor, daß es in dieser Art Psychologie ebenso wie in irgendeiner technischen somatischen Therapie um die rein wissenschaftlich-rationale Aufdeckung von Gesetzen und Axiomen geht, daß gerade die wirkliche Seele mit ihrer Freiheit der Störungsfaktor ist der zuletzt ausgeschaltet werden soll. Auch der persönliche Kontakt zwischen Arzt und Patient bleibt demnach, wenn er sich überhaupt einstellt, eine in das methodische Heilverfahren eingebaute Vorläufigkeit, vergleichbar den Fäden, mit welchen eine Operationswunde vernäht wird und die nach der Vernarbung wieder entfernt werden. Man fordert den Patienten auf, sich seelisch nackt auszuziehen. Hat er das getan, dann setzt der Therapeut seine subjektive Überlegenheit rücksichtslos ein und verdoppelt vielleicht sogar nach dem Rezept Freuds das Honorar, um die "Übertragung" wieder rückgängig zu machen.
Der diagnostischen Allgemeinheit des Schemas entspricht die Heilung auf ein Allgemeines hin, die Nivellierung des Kranken. Nivellierung bedeutet natürlich auch die Verabreichung der gleichen Aspirintablette an Mr. X in New York und Herrn Y in Berlin, aber eine solche Nivellierung ist unbedenklich, weil sie sich auf eine Wesensschicht bezieht, die unterhalb der persönlichen Differenzierung liegt. Eben das gilt jedoch nicht vom Bereich des Psychopathologischen. "Die Genesung von der Neurose ist zugleich ein Problem des Individuums wie der Gattung, und Entscheidungen, welche zugunsten eines gesundheitlichen Optimismus von Individuen ausfallen, können sehr wohl einer höheren Idee vom Menschen und ihrer Darstellung im einzelnen Abbruch tun. Wie oft hat der Arzt begabten Persönlichkeiten Mut zu ihrer eigenen Bahn zu machen, wenn sie in schwachen Augenblicken sinnverdunkelnder Schwermut die psychoanalytische Methode zu Hilfe rufen, um durch sie vom exponierten Aufenthalt in den Grenzgebieten religiöser und künstlerischen Entscheidungen befreit zu werden. Wie oft auch hat man gerade begabteren Individuen gegenüber den beunruhigenden Eindruck, daß sie mit der sogenannten Gesundung ein eigenartiges, stärkeres, einsameres, größeres Leben preisgegeben haben, weil dieses mit Zuständen von Schwermut, Not, Zerrissenheit, Fragwürdigkeit, kurz mit Zuständen von Kranksein unlöslich verknüpft war"16). Man denkt beim Lesen dieser Sätze unwillkürlich an den "Pfahl", den der Apostel Paulus in seinem Fleisch trug, von dem er befreit sein wollte, aber gerade nicht befreit werden konnte, weil dieser Pfahl mit zu der ihm geschenkten göttlichen Gnade gehörte. Hätte sich Paulus einem modernen Psychotherapeuten anvertraut, statt sich im Gebet an Gott zu wenden, dann wäre er vielleicht "geheilt" worden, dann wäre es aber auch aus gewesen mit seinem Apostelamt. Es ist nur selbstverständlich, daß Menschen, die dem Ursinn alles Menschlichen in besonderer Weise verbunden sind, auch an der Unschuld, d. h. an dem Bruch zwischen Sinn und Sein tiefer leiden müssen als andere. Solche Menschen können ihre Neurose wahrscheinlich nur um den Preis ihres stellvertretenden Schuldbewußtseins und das heißt ihrer Erwähltheit verlieren.
Eine echte Psychotherapie müßte dem Kranken und also dem Menschen überhaupt die Urschuld als seine eigene Schuld offenbar machen und ihn sodann auf den einzigen Erlöser von dieser Schuld verweisen. Alle "Verdrängung" ist im Letzten Schuld-Verdrängung, und die Analyse erfüllt ihre Aufgabe solange nicht als sie den verdrängten Komplex nicht als Schuld aufdeckt, und das zwar mit allem Ernst, der an diesem Begriff haftet, sondern ihn gerade umgekehrt zu verharmlosen sucht. Dann kommt das heraus, was Martin Buber einmal am Beispiel einer psychoanalysierten Frau schildert, die wohl "gesund" wurde, aber auf Kosten ihres Wissens um Schuld. "Jene unablässige schmerzensreiche Mahnung an das Ungesühnte, an das gestörte und zurechtzuschaffende Verhältnis zum Sein war ausgetilgt. Ich nenne diese erfolgreiche Kur die Auswechselung des Herzens. Das zu restloser Zufriedenheit funktionierende Kunstherz / die Herzprothese? / tut nicht mehr weh; das vermag nur eines von Fleisch und Blut"17).
Ein sehr eindrucksvolles Beispiel für eine gelungene Analyse entnehme ich dem schon wiederholt zitierten Buch von Müller-Eckard: Ein reifer Mann, hoher Regierungsbeamter leidet unter einer Zwangsneurose. Er sperrt sich täglich, oft stundenlang, in sein Arbeitszimmer ein, um dort in fast ritueller Form eine größere Anzahl farbiger Bleistifte und Federhalter peinlich genau auf seinem Schreibtisch zu ordnen, erst der Länge nach, dann der Farbe nach. Ob so oder so, diese Entscheidung bereitet ihm sehr schwere Sorgen und Ängste. Außerdem werden alle Bleistifte daraufhin geprüft, ob sie gut gespitzt und ob die Minen intakt sind; das alles, obgleich oder gerade weil er diese Bleistifte und Federhalter niemals benützt, sondern sich ausnahmslos eines alten und bereits sehr schadhaften Füllhalters bedient. Die Analyse ergibt schließlich, daß der Patient vor vielen Jahren ein Liebensverhältnis mit einer Büroangestellten hatte. Die beiden hielten ihre Schäferstündchen immer nur im Amtszimmer des Mannes und niemals an einem anderen Ort. Eines Tages, als sie sich in der Nähe des Schreibtisches umarmten und küßten, fielen die dort liegenden Bleistifte zu Boden und zerbrachen zum Teil. Der Mann, der weder verheiratet war noch jemals vorher eine Frau geliebt hatte, empfand dieses Verhältnis als schwere Schuld und suchte es darum später aus seiner Erinnerung zu verdrängen. Er wollte also von seiner Vergangenheit nichts mehr wissen, aber die Vergangenheit war stärker als dieser Wille, sie setzte sich im Unbewußten fest und führte schließlich zu jener Zwangsneurose. Das Ordnen der Bleistifte, deren Vorgänger damals zu Boden gefallen und zerbrochen waren, enthüllte sich als symbolische Sühnehandlung. Der Patient fühlte den Drang, das damals in Unordnung Geratene wieder in Ordnung zu bringen und sich so von seiner "Schuld" zu befreien. Daß er seine Liebschaft, die übrigens keinerlei bösen Folgen hatte, überhaupt als Schuld empfand und daß er von seiner Vergangenheit nicht loskommen konnte, hatte allerdings noch einen tieferen Grund. Er war nämlich ein typischer Muttersohn, weshalb ihm jede Beziehung zu einer jungen Frau als Verrat an der Mutter erschien. Eben darum hatte er auch nicht geheiratet. Mutterbindung aber heißt nichts anderes als Fixierung an die Vergangenheit. Dieselbe Macht also, die den Patienten an seine Mutter fesselte, machte es ihm auch unmöglich zu dem nun längst vergangenen erotischen Erlebnis in ein freies Verhältnis zu kommen. Nach der Bewußtmachung ihres Ursprungs verschwand die Zwangsneurose vollkommen.
Es bleibt aber zu fragen, ob diese Heilung auch wirklich eine echte, d. h. die Überwindung des die Neurose bedingenden Konfliktes war oder doch auch wieder nur eine Scheinheilung auf Grund einer Persönlichkeitsreduktion, einer seelischen Amputation. Vor der Analyse identifizierte sich der Patient immerhin, wenn auch nur unbewußt mit seiner Vergangenheit, während er sie bewußt verdrängt und vergessen hatte. Durch die Analyse wurde sie zum Bewußtsein gebracht, von diesem objektiviert, in einen Gegenstand der Reflexion verwandelt und damit abreagiert. Insofern war der Patient nun von ihr frei. Die Thesis / unbewußte Subjektivität / war zugunsten der Antithesis / bewußte Objektivität / aufgehoben. Aber gerade das bedeutet Reduktion oder Amputation, und zwar betrifft die Reduktion sowohl das gegenwärtige bewußte Ich, das zu einem bloßen Jetzt-Ich, wie auch das vergangene unbewußte, das zu einem bloßen Damals-Ich, zu einem historischen Ich degradiert wurde. Die beiden miteinander im Konflikt befindlichen Pole sind nicht versöhnt, sondern auseinander geschnitten. Der Patient ist um seine, wenn auch wie immer entstellte und erkrankte Synthesis von Gegenwart und Vergangenheit betrogen. Der Konflikt äußert sich darin, daß die Vergangenheit einerseits krampfhaft festgehalten, andererseits ebenso krampfhaft negiert wurde, aber der Krampf war trotz allem noch Ausdruck einer vorhandenen lebendigen Beziehung, die nun dahin ist. Eine wahrhaft seelsorgerliche Therapie hätte dem Kranken sein Schuldgefühl nicht ausgeredet, sondern gerade umgekehrt dessen tiefere Berechtigung aufgewiesen. Schuldig wurde er ja gar nicht erst durch seine Liebelei und die vermeintliche Untreue der Mutter gegenüber. Darin symbolisierte sich ihm vielmehr nur die allgemein menschliche Schuld der Verfallenheit an eben die Vergangenheit, der man sich versagt, und wer von dieser Schuld etwas erfährt, sei es auch in Gestalt einer Neurose, ist nicht kränker, sondern gesünder als die Anderen mit ihrem guten Gewissen.
Jede Neurose beruht auf einer Fixierung, und zwar wie wir schon gesehen haben, im Grunde immer auf einer Fixierung an die Vergangenheit oder, was dasselbe sagt, an ein Objektives, das eben als solches die Subjektivität des Subjektes an ihrer Entfaltung hindert; mit anderen Worten: der Mensch kann zu seinem Sinn nicht hindurchfinden, solange er seinshaft an ein bloßes Sein gebunden bleibt. Genaugenommen gilt das freilich von jeder Krankheit überhaupt. So ist z. B. ein an einer unheilbaren Blutvergiftung seines linken Unterschenkels Erkrankter gewissermaßen an diesen Unterschenkel fixiert, und eben darin besteht seine Krankheit. Da der Unterschenkel dem Tod verfallen ist, bleibt kein anderer Ausweg als seine Amputation. Im Bereich des Psychischen aber verhält sich das ganz anders. Natürlich hat auch hier die Therapie die Aufgabe, die Fixierung zu lösen, nur läßt sich das nicht auf dem Weg der reinen Negation des Fixierungsobjektes, der bloßen Ablösung eines Toten von einem Lebendigen erreichen; denn das Seelische ist wesenhaft unteilbar. Wird auch hier einfach getrennt und geschnitten, dann bleibt ein unheilbares Trauma zurück. Das von dem einen Fixierungsobjekt geschiedene Selbst braucht entweder ein anderes, womit nur eine neue Neurose entstünde, oder es müßte seinen verlorenen Sinn wiederfinden, d. h. ein Positives, von dem her dann allerdings auch das ursprüngliche Fixierungsobjekt eine Sinn bekäme. Bildlich gesprochen: die Psyche kann niemals durch Amputation, sondern immer nur durch Heilung des erkrankten Gliedes in Ordnung gebracht werden. Man kann wohl mit einem Bein oder mit einem Auge, aber nicht auch mit einer halbierten Seele ins Himmelreich eingehen. Durch echte Psychotherapie müßte die Lebensrichtung des Kranken eine radikale Umkehrung erfahren. Der Magenneurotiker z. B. ist an seinen Magen fixiert. Der von der Magenneurose Geheilte wäre der, dessen Magen zwar nun nicht umgekehrt an ihn fixiert, wohl aber sinnvoll auf ihn ausgerichtet ist. Das Gleiche gilt mutatis mutandis von der zwangsneurotischen Bindung an die Vergangenheit. Beim Geheilten ist die Vergangenheit sinnvoll an ihn, bzw. an seine Gegenwart und Zukunft gebunden und nicht etwa in die Vergessenheit abgedrängt oder durch Objektivation entmächtigt. Dabei bleibt vorausgesetzt, daß der betreffende Mensch selbst von sich aus die Umkehrung vollzieht, sich aus Freiheit für seinen Sinn entscheidet. Diese Metanoia kann ihm kein Therapeut und keine Therapie jemals abnehmen, die sich ja ihrer Natur nach auf das Abnehmen von Totem beschränken muß. Im Bereich neurotischer Konflikte gibt es kein Totes, das von Lebendigem zu scheiden wäre. Da ist vielmehr alles lebendig, und somit stößt hier die technische Therapie an ihre Grenzen. Die Bekehrung vom Sinnwidrigen zum Sinnhaften bringt der Arzt als Arzt niemals zustande.
Wir leugnen, um das nochmals ausdrücklich zu betonen, keineswegs die Möglichkeit der Heilung, besser gesagt der Entfernung psychopathologischer Symptome durch Psychotherapie, wir leugnen nur, daß es sich im Fall einer solchen "Heilung" auch um Gesundung handelt. Ich kann gewiß einem Menschen, der unter dem Druck einer Schuld leidet, unter Umständen sein Schuldgefühl ausreden, sein Gewissen beschwichtigen und ihn so von seinem Leiden befreien. Er wird vielleicht äußerlich, d. h. für sich und andere wahrnehmbar, seine Lebensfreude wiedergewinnen. Er wird das, was ihn bedrückt hat, vergessen haben, aber seinen Lebensumfang wird dementsprechend verkürzt sein, d. h. er ist nun kein Leidender mehr, aber er ist dafür ein Unseliger in dem Sinn, in welchem wir dieses Wort in unserem Exkurs über Schuld und Unschuld des Leidens gebraucht haben. Die illegitime Psychotherapie heilt also das Leiden um den Preis der Seligkeit, sie befreit von der Fixierung ohne dem Fixierten die Möglichkeit sinnvoller Bindungen zurückzugeben. Das Fixierungsobjekt als solches ist ganz ohne Zweifel ein Übel, aber das empfindet der Neurotiker ja auch selbst; den sonst würde er unter seiner Fixiertheit nicht leiden, und er leidet darunter, weil er immer noch irgendwie um seinen wahren Sinn weiß. Der Fixierte gleicht einem Abgöttischen, der seinem Abgott dient und ihn gleichzeitig fürchtet und verabscheut. Nimmt man ihm nun diesen Abgott, so wird er aus einem Götzendiener zu einem "aufgeklärten" Gottlosen, zu einem Atheisten, und eben der Atheismus ist die Unseligkeit.
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Im Gegensatz zur technischen Therapie, über die allein wir bisher gesprochen haben, versucht die magische nicht das Tote oder das Fixierungsobjekt abzulösen, sondern das Lebendige, das Gesunde oder Noch-Gesunde, das Subjektive und Bewußte dem Gesetz der Krankheit anzugleichen und damit die peinigende Spannung zu beheben. Das Selbst, das sich gegen die Verhaftung an das Objekt wehrt, wird veranlaßt, dieses zu bejahen, den Widerstand aufzugeben, sich auf den Willen des bekämpften Feindes umzustellen, mit ihm einen Bund zu schließen, sich ihm zu verschreiben, auf den eigenen Sinn zu verzichten und sich dem Widersinn zu unterwerfen. Es ist das der bekannte Weg der "Anpassung", den die Tiere und auch die sogenannten Naturvölker eingeschlagen haben, um sich an einem Leben zu erhalten, das diesen Namen kaum noch verdient, an einem Leben von der Dämonen Gnaden. Legt die technische Therapie den Akzent ganz einseitig auf die Heilung, so die magische umgekehrt auf die Genesung, aber freilich auf eine von außen initiierte Genesung, was schon einen Widerspruch bedeutet. Der Kranke wird bewogen, sich aus Freiheit unter die Herrschaft der Unfreiheit zu begeben, sich dem Diktat des Gegners zu beugen, um so begnadigt zu werden. Er vollzieht insofern die "Gesundung" von innen heraus, d. h. er wird nicht geheilt, sondern genest. Aber eben diese Entscheidung aus Freiheit für die Unfreiheit, und zwar bewußterweise, kennzeichnet jedes magische Verhalten überhaupt.
Am besten läßt sich das wieder an einem Beispiel aus der Psychotherapie deutlich machen. Nehmen wir an, ein Psychotherapeut entdeckt in der Analyse die verdrängte Bindung des Patienten an irgendwelche perverse sexuellen Wünsche. Er hebt diese Wünsche ins Bewußtsein und überredet sodann den Kranken, sich seinem Trieb nicht länger zu widersetzen, sondern ihm nachzugeben. Befolgt der Neurotiker diesen Rat, sagt er also zu dem Trieb bedingungslos ja, so wird damit die Störung wahrscheinlich behoben sein, nur freilich um den Preis der moralischen Integrität. Der Arzt hat das Spiel gewonnen, aber mit ihm auch der Teufel. Man hat bekanntlich der Psychoanalyse, vor allem der älteren, wiederholt vorgeworfen, sie verfahre immer nach diesem Rezept. Der Vorwurf ist zweifellos ungerecht und trifft wenigstens den Moralisten Freud in keiner Weise, richtig aber ist, daß das, was der Arzt bewußtermaßen vielleicht gar nicht will, trotzdem als Folge einer therapeutischen Veranstaltungen sehr oft eintritt, und daß sich dann auch der Arzt mit diesem Resultat seiner Bemühungen angesichts des Heilerfolges zufrieden gibt. Im übrigen kann Freud, solange er sich nur auf seine Theorie stützt, Konsequenzen solcher Art gar nicht ausweichen; denn wo es nichts als Triebe gibt, dort hat es keinen Sinn mehr, diesen oder jenen Trieb ethisch zu beurteilen oder zu verurteilen, dort ist eben der Mensch tatsächlich gesund in dem Augenblick, in dem er sich konfliktlos seinen Trieben überläßt.
Eine eigentümliche Hinneigung zum Magischen verbirgt sich schon im ersten Ansatz der Psychoanalyse und der Tiefenpsychologie überhaupt, also bereits im diagnostischen und nicht erst im therapeutischen Stadium; denn der Vorstoß in die dunklen Abgründe des Unbewußten, sowie die damit verbundene Entkleidung der Seele hat unverkennbare Ähnlichkeit mit dem, was die Johannesapokalypse das "Erkennen der Tiefe des Satans" nennt. Von hier aus und nicht etwa aus ihrem wissenschaftlichen Charakter ist auch die ungeheure Popularität der Psychoanalyse zu erklären. Die Seele des Menschen läßt sich gar nicht analysieren und objektivieren. Zu ihr kann ich nur Zugang haben als zu einem Du und niemals als zu einem Ding. Analysiere ich sie trotzdem, so verwandle ich sie damit in eine Pseudoseele oder in einen Pseudokörper. Ich materialisiere das an sich Unmaterialisierbare, ich vergegenständliche das seiner Natur nach Ungegenständliche oder ich meine doch wenigstens das zu tun und mache damit aus dem Analysanden ein seelen- und geistloses Wesen. Alle Magie operiert mit einem solchen ichhaften Nicht-Ich mit einem solchen Zwischengebilde zwischen Subjektivität und Objektivität, sie rationalisiert das Irrationale und irrationalisiert umgekehrt das Rationale. Was die tiefenpsychologische Diagnose zu sehen bekommt und die tiefenpsychologische Therapie eventuell wiederherstellt, ist jedenfalls alles andere als die Imago Dei. Daß das Übel in der Seele sitzt, nämlich dort, wo Bewußtes und Unbewußtes oder auch Seele und Leib einander berühren, stimmt ganz gewiß, ebenso daß dort und nirgends sonst die Therapie einsetzen müßte. Wir verfügen aber gar nicht über die Augen, die nötig wären, um den fraglichen Punkt zu entdecken, mindestens verfügt die Wissenschaft nicht darüber. Unsere Augen, die da analysieren, sehen nur das Anatomische, d. h. wörtlich das Auseinandergeschnittene, das Zertrennte, das immer schon Tote, und so entstellt sich für unseren forschenden Blick auch das, was wir da als Seele zu fassen meinen, unvermeidlich in ein Produkt der Anatomie. Um für eine echte Seelendiagnose legitimiert zu sein, müßten wir zuerst einmal andere Menschen mit anderen Augen werden, und dazu können wir uns nicht nach irgendeiner Methode selber machen.
Wenn die Tiefenpsychologie das Gegenüber, die Polarität von Bewußtsein und Unbewußtsein für das Problem hält, von dem sie auszugehen, bei dem sie anzusetzen hat, so läßt sich dagegen freilich gar nichts einwenden; denn es handelt sich hier um eine Seite, vielleicht sogar um die wichtigste Seite oder Darstellungsform der in Unordnung geratenen und darum problematisch gewordenen Urpolarität. Dabei aber wäre zu bedenken, daß das Unbewußte, mit dem wir es zu tun haben und das sich als Störungsfaktor bemerkbar macht, nicht etwa nur das noch nicht Bewußte, sondern das
Gegen-Bewußte, das den Geist Negierende ist, wie übrigens dementsprechend das empirisch Bewußte das Gegen-Unbewußte. Eine bloß wie immer geartete Synthetisierung der beiden Pole läßt sich demgemäß gar nicht durchführen ohne gleichzeitige Auslieferung der menschlichen Gesamtperson an das Prinzip der Gegensätzlichkeit, d. h. entweder an das "technische" Nein des Bewußten zum Unbewußten oder an das magische Nein des Unbewußten zum Bewußten. In der erfahrenen und erlittenen Unversöhnlichkeit der Pole lebt paradoxerweise noch immer ein
Rest-Wissen um ihre ursprüngliche Versöhntheit. In der Ausschaltung des Gegensatzes aber geht dieses Rest-Wissen, dieses Ge-Wissen von der Unschuld her verloren. Die Gegensätze werden da auf der gemeinsamen Basis ihres Gegen-Seins verbunden, so etwa wie sich zwei Menschen miteinander verbünden können, nur weil sie sich gleicherweise gegen einen Dritten wenden, oder wie häufig genug der Haß, der Neid, die Rachsucht die Masse zusammenschweißt, und so die Karikatur einer Gemeinschaft zustande bringt. V. v. Gebsattel äußert sich zu diesem Problem: "Gefährlich, ja schädlich wäre es nun, mit Berufung auf tiefenpsychologische Gedankengänge und Normen dem Partner diese Zerreißung seines Herzens ausreden zu wollen. Im Gegenteil: sinnvoll kann es nur sein, eine echte Schulderfahrung durch Verankerung ihres Grundes im Transzendenten zu vertiefen und so die personale Existenz des anderen auf ihren eigentlichen Sinngrund hinzuweisen. Wird das vermieden oder gar verhindert, so wird in den Selbstverwirklichungsprozeß der Person störend eingegriffen. Das geschieht durch eine Verkennung des personalen Aspektes der Krise, die den Leidenden zum Arzt führt"18). Das alles ist gewiß von letzter Wahrheit, nur muß man fragen: Spricht hier der Arzt noch als Arzt und kann dergleichen dem Arzt als solchem überhaupt gesagt und zur Regel gemacht werden? Kann der Psychotherapeut von den äußeren Symptomen der Neurose, den psychischen oder den somatischen, absehen, um den Patienten dort zu fassen, wo die Wurzel des Übels sitzt, im geistigen Zentrum, im Ort der Spaltung? Müßte er dann nicht den Stab des Asklepios fortwerfen, um zum Kreuz und zur Bibel zu greifen, also aus einem Arzt ein geistiger Seelsorger werden? Diesen Weg hat vor allem die sogenannte "Logotherapie" von Viktor Frankl / "Ärztliche Seelsorge" / einzuschlagen versucht, damit aber doch eigentlich nur die dialektische Umkehrung der Freudschen Psychoanalyse vorgeschlagen. Wer so verfährt handelt ähnlich wie einer, der einem Hungernden theoretisch klar macht, daß seine Not aus der Sünde kommt, statt ihm ein Stück Brot zu geben. Der vom Leidenden angesprochene Mensch muß wissen, daß er zunächst einmal mit jenem in der gleichen Aporie steht, auf der gleichen Ebene, auf der gelitten oder auch nicht gelitten wird, auf der Leiden zugefügt und Leiden gelindert werden. Und gerade nur, wenn er das weiß, hat er auch Zugang zu der höheren Region, in der dann der Logos das Entscheidende zu sagen hat. Wie das sichtbare Leiden des Neurotikers ein Symptom seines unsichtbaren Konfliktes, so ist der Arzt als ein zum Handeln und Helfen aufgerufener Mensch sozusagen auch nur ein Symptom seiner geistigen Person und darum den sich ihm darbietenden Symptomen zugeordnet. Diese Bemerkungen haben unmittelbar nichts mit der magischen Therapie zu tun oder beschränken sich doch wenigstens nicht auf sie allein. Sie wurden aber gerade hier eingeschoben, weil der Arzt, der den Versuch wagt über die der medizinischen Wissenschaft gesetzten Grenzen hinaus Seelsorge zu treiben, nur allzu leicht der Versuchung erliegt, die Seelsorge selbst in eine magische Praxis zu verkehren. Das hängt einfach an der grundsätzlichen Objektgerichtetheit des medizinischen wie überhaupt des wissenschaftlichen Denkens. Das an sich gar nicht mehr objektiv Faßbare, also das teleologisch Bestimmte, das Sinnhafte, das synthetische Moment, der dialogische Faktor in der Beziehung zwischen den Polen, zwischen Subjektivem und Objektivem, zwischen Bewußtem und Unbewußtem, zwischen Seelischem und Leiblichem usw. wird so unwillkürlich auf den Hintergrund der Objektivität projiziert und damit selbst allen Gegenversicherungen zum Trotz objektiviert und verfälscht. Die Heilung des Bruches, die Versöhnung des Widerspruches wird angestrebt in einer Weise, die von vornherein den Akzent auf die objektive Seite, d. h. im psychologischen Bereich auf das Unbewußte legt. So kann z. B. die Triebpsychologie Freuds gar nicht anders als die Heilung der Neurose in der Integrierung des Trieblebens suchen, womit aber auch schon das Nichttriebhafte am Menschen auf den Trieb verwiesen wird; und eben das ist Magie. Was sich der Psychologie als Trieb darbietet, das ist, wie immer wieder betont wurde, der bereits korrumpierte, ja geradezu dämonisierte, weil dem Widersinn verfallene Trieb. Wird er in dieser Gestalt als natürliche Gegebenheit einfach hingenommen, wird er also so wie er dem Auge des psychologischen Forschers erscheint, in seiner isolierten Gegenständlichkeit für integer gehalten, dann muß notwendig jede auf dieser Voraussetzung aufbauende Diagnose und Therapie in ihren folgerichtigen Konsequenzen zur Synthetisierung auf den Widersinn hin verleiten. Der Psychotherapeut wird da zum Priester einer abgöttischen Religion; denn alle Abgötterei kommt aus der Objektivierung und Rationalisierung des Göttlichen oder umgekehrt aus der Vergöttlichung des Objektiven und Rationalen. Der rationalisierte Gott oder das vergöttlichte Rationale aber ist der Dämon.
Hat in der technischen Therapie das Somatische den Primat, so in der magischen das Psychische, d. h. dort werden die der Leiblichkeit relativ angemessenen rationalen Kategorien zunächst auf diese und sodann eventuell auch auf das Seelische angewendet, hier dagegen wird umgekehrt eine Anschauungsweise, die ursprünglich in der Psychologie beheimatet ist, eventuell auch auf das Leibliche übertragen. Während aber dort die Bedenklichkeit oder Gefährlichkeit der therapeutischen Methode mit der Annäherung an das Psychische zunimmt, nimmt sie hier ab, je weiter sie ins Somatische hinabsteigt; denn die Mißhandlung des Körpers berührt nicht ebenso wie die der Seele das eigentliche Lebenszentrum der Person. Das magische Denken dominiert, soweit es sich um die Heilung organischer Krankheiten handelt, vor allem in der homöopathischen Medizin, der wir darum noch eine kurze phänomenologische Betrachtung widmen wollen.
Krankheit läßt sich auch definieren als kämpferische Auseinandersetzung zwischen dem mikrokosmischen und dem makrokosmischen Prinzip, zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen, d. h. zwischen den Gesetzen, die das Einzelwesen als solches konstituieren und den anderen, die es in den Welt- oder Naturzusammenhang eingliedern. Da beide Pole immer schon in ihrer besonderen Weise verdorben sind und doch auch wieder nicht nur verdorben, sondern aller Verdorbenheit zum Trotz in ihrer Weise auch sanktioniert, läßt sich der Ausgang des Kampfes, also der Krankheit, ob so oder so, sowohl als Zerstörung wie auch als Gesundung verstehen. Von keinem der beiden Gegner, deren Streit die Krankheit bedingt, kann eindeutig gesagt werden, er sei der wahre Feind; denn der einzige wahre Feind ist die Gegnerschaft als solche. Der menschliche Arzt hat nur die Möglichkeit, den einen Gegner zu unterstützen und den anderen unschädlich zu machen, sich entweder dem makrokosmischen oder dem mikrokosmischen Faktor zu wiedersetzen. Das erste versucht die technische oder allopathische, das zweite die magische oder homöopathische Therapie. Bereits Schopenhauer kennzeichnet diese Alternative mit den Worten: "Einem solchen Prozeß arbeitet die Allopathie oder Enantiopathie aus allen Kräften entgegen; die Homöopathie ihrerseits trachtet ihn zu beschleunigen oder zu verstärken; wenn nicht etwa gar, durch Karikieren desselben, ihn der Natur zu verleiden; jedenfalls um die, überall auf jedes Übermaß &endash; jede Einseitigkeit folgende Reaktion zu beschleunigen. Beide demnach wollen es besser verstehen, als die Natur selbst, die doch gewiß sowohl das Maß, als die Richtung ihrer Heilmethoden kennt"19). Uns interessiert hier vor allem die Behauptung, daß die Allopathie den Prozeß, d. h. den objektiven Krankheitsverlauf unterdrückt, während ihn die Homöopathie beschleunigt und verstärkt. Jene schirmt das Individuum, als den Mikrokosmos gegen den Makrokosmos ab, diese begünstigt den Angriff von außen und veranlaßt damit den Mikrokosmos, das Gesetz des Gegners in seinen Willen aufzunehmen. Das bedeutet zwar in gewisser Weise die Aktivierung der Subjektivität und insofern die Verlagerung des Akzentes von der Heilung auf die Genesung, aber auf eine Genesung durch Verzicht auf die Autonomie zugunsten der Heteronomie. Darin eben kommt der innere Widerspruch, der paradoxe Charakter der Homöopathie als exogen bewirkter endogener Gesundungsprozeß zum Ausdruck.
Da jede der beiden therapeutischen Methoden das Ganze des Prozesses auf eine seiner Seiten beschränkt, führt auch jede, wenn ihr die Heilung gelingt, zu einer Reduzierung des Kranken, nur einmal in dieser und einmal in jener Richtung. Die rationalistische Allopathie reduziert auf das Mikrokosmische und Individuelle, die irrationalistisch-magische Homöopathie auf das Makrokosmische und Allgemeine. Den Prozeß unterdrücken heißt den äußeren, den Prozeß unterstützen den inneren Fein bekämpfen. Von diesen beiden Möglichkeiten ist aber immer noch die erste vorzuziehen, weil sie wenigstens unmittelbar das bewertet, was sich dem unbefangenen Blick als das relativ Wertvollere darbietet, weil der Mensch, indem er sie wählt, darauf aus ist, "der Schlange den Kopf zu zertreten", den Weg der "gesetzlichen" Gerechtigkeit und der Schamhaftigkeit zu beschreiten und seine Blöße mit Feigenblättern zu bedecken. Besonders fein und tiefsinnig ist übrigens Schopenhauers Bemerkung über die "Karikierung" der Krankheit durch die Homöopathie. Es handelt sich dabei nämlich durchaus um einen magischen Akt, um eine Art "Analogiezauber", durch den der Dämon ebenso befriedigt oder besänftigt und im Letzten doch betrogen werden soll wie der heidnische Gott, dem man ein Tieropfer an Stelle eines Menschenopfers darbringt. Auch der Pocken-Dämon wird zugleich besänftigt und um das von ihm eigentlich geforderte Opfer betrogen, indem man durch die Schutzimpfung an den Impfstellen einige wenige Pocken aufbrechen läßt und damit den Geimpften gegen die Krankheit immunisiert.
Hahnemann, der Schöpfer der Homöopathie und in seiner Weise zweifellos ein genialer Arzt, begründet sein Heilverfahren mit den Worten: "Fände man nun in der Erfahrung / wie man auch findet /, daß ein gegebenes Symptom einer Krankheit bloß von demjenigen Arzneistoffe gehoben würde, welcher ein ähnliches unter seinen / im gesunden Körper von ihm erzeugten / Symptomen aufzuweisen hat, so würde es schon wahrscheinlich, daß diese Arznei durch ihre Tendenz, gleichartige Symptome zu erregen, fähig würde, an dieser Krankheit Symptome gleicher Art zu tilgen. Das Heilvermögen der Arzneien beruht auf ihren mit den der Krankheit übereinstimmenden Symptomen, oder m. a. W. jede Arznei, welche unter ihren im gesunden menschlichen Körper von ihr erzeugten Krankheitsfällen die meisten der in einer gegebenen Krankheit bemerkbaren Symptome aufweisen kann, vermag diese Krankheit am schnellsten, gründlichsten und dauerhaftesten zu heilen"20).
Der spekulative Grundgedanke der Homöopathie, die ein echtes Kind der Romantik und der dialektisch-idealistischen Philosophie ist, ließe sich etwa so formulieren: Das Gegengift steht dem Gift nicht nur positiv als äußere Realität gegenüber, sondern ist bereits im Gift selbst als dessen eigene dialektische Antithese enthalten, ebenso wie selbstverständlich auch umgekehrt das Gift im Gegengift. Wird z. B. in einer Lösung das Gift auf ein Minimum reduziert, gleichsam auf ein
Fast-nicht-mehr, aber doch noch immer Vorhandenes, so repräsentiert das Fast-nicht-mehr vermöge seiner Negativität das Gegengift und neutralisiert als solches das Gift. Man kann demgemäß den einen der beiden Pole nicht nur mit dem anderen, sondern auch mit dem ihm selbst innewohnenden Nein zu seiner Einseitigkeit unwirksam machen. G. H. v. Schubert drückt das so aus: "Neben dem Gift wird in der sichtbaren Natur meist auch das Gegengift, neben der Gefahr die Hilfe, neben dem Hunger die Speise gefunden. Aber auch in dem Gift selber liegt das Heil verborgen, welches den zerstörenden Kräften Einhalt tut wie in dem Brennenden das Löschende"21). Heute würde man vielleicht sagen, daß jede Einseitigkeit, indem sie in der "Grenzsituation" scheitert, in ihr Gegenteil und damit in den Raum ihres Erlöstseins von sich selbst transzendiert. Schubert redet sodann im gleichen Zusammenhang weiter von einer Welt, "deren Triumphgesänge ertönen, und welche anbetend staunt, da wo das Leben in einsamer Nacht / gemeint ist offenbar die heilige Nacht / zu seiner tiefsten Erniedrigung in die Sichtbarkeit herabsteigt, und welche das Toben des leiblich Großen und der sichtbaren Gewalt verlacht"22). Hier wird unzweideutig auf die Kenosis Christi, auf sein Kommen in die "Knechtsgestalt" angespielt. Die Selbstoffenbarung Gottes in dem erniedrigten Sohn soll verstanden werden als das wahre Urbild des homöopathischen Verfahrens. In dem Menschen Jesus von Nazareth erscheint die natürliche Menschlichkeit des gefallenen Adam auf ein Minimum, auf ein Fast-nicht-mehr, auf eine homöopathische Dosis herabgesetzt, weshalb nun durch ihn die unsichtbare andere Seite, die Negation des Sündengiftes wirksam wird und die Welt geheilt, erlöst werden kann. Gott ist in den Schwachen mächtig. Man wird diesen geistvollen Gedanken seine Bewunderung kaum vorenthalten können. Das alles erscheint so großartig, daß die Gefahr, seinem Zauber zu erliegen, sich nur bei äußerster Wachsamkeit vermeiden läßt. Ich sage mit Betonung: die Gefahr; denn im entscheidenden Punkt bleibt das, was da vorgetragen wird, eben doch falsch. Christus erlöst die Welt nicht kraft seiner Selbsterniedrigung, sondern kraft seiner Göttlichkeit, die sich allerdings innerhalb dieser Welt als Knechtsgestalt darstellt. Die Göttlichkeit und nicht die Knechtsgestalt also ist das primär Gegebene. Gott steht zur Welt keineswegs in einem philosophisch definierbaren dialektischen Verhältnis. Wäre es so, dann allerdings ließe sich das Heil dadurch herbeizwingen, daß irgendein Mensch sich selbst auf ein Minimum reduziert und damit den im Verhältnis zu seiner sichtbaren sündigen Natur unsichtbaren Gegenpol aktualisiert, wie das jede asketische Praxis, z. B. die der indischen Büßer, immer wieder versucht. Auf solche Weise aber wird der freie Gnadenakt Gottes in eine menschlich-magische Veranstaltung umgedeutet. Zweifellos lassen sich auch mit dieser Methode gewisse metaphysische Kräfte entbinden, nur eben gerade nicht die göttlichen, sondern die dämonischen. Es kommt zu Scheinheilungen und Scheinerlösungen. Wir glauben richtig zu erkennen, daß auch die Homöopathie dieses Schema zu ihrem Hintergrund hat. Ihre Erfolge im Einzelnen mögen unbestritten sein, aber bekanntlich kann auch der Teufel Wunder wirken. Tatsächlich ist das bloße Nein zum Gift noch nicht identisch mit dem realen Gegengift; es ist vielmehr der im Gift enthaltene eigene Geist der Verneinung, der, wie alle Realität, so auch noch die des Giftes aufhebt. Im Teuflischen verneint sich das Sein selbst ohne ein anderes Sein an die Stelle des verneinten setzen zu können. Und so bedeutet die homöopathische Heilung aufs Letzte gesehen die Angleichung des "Geheilten" an die innerste Giftigkeit des Giftes.
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Nach der technischen und der magischen Therapie bleibt nun noch als dritte und letzte die charismatische, die aber freilich nicht ebenso wie die beiden anderen zu den Möglichkeiten medizinischer Praxis gehört, obwohl sie gewiß als Forderung auch über dem ärztlichen Handeln steht. Über sie läßt sich sehr wenig sagen; was unter ihr zu verstehen ist, das kann nur mit Vorsicht und Behutsamkeit angedeutet werden. Der Ausdruck "charismatische Therapie" klingt beinahe wie eine contradictio in adjecto; denn eben um Therapie, um eine Methode der Heilkunst handelt es sich hier ja nicht. Charisma heißt Gnade oder Gnadengeschenk. Das eigentlich Entscheidende steht also dem Menschen gar nicht zur Verfügung. Außerdem ist auch nicht die Heilung im Sinn einer durch die Anwendung irgendwelcher Kuren oder Mittel bewirkten Wiederherstellung des Kranken gemeint, sondern die Gesundung, nämlich die vollkommene Synthese von Heilung und Genesung, die restitutio als gleicherweise exogenes und endogenes Ereignis. Heilung und Genesung sind, jede in ihrer besonderen Weise, monologisch, die Gesundung aber vollzieht sich nur im Dialog. Wo sie wirklich geschieht, dort klingt das Außen mit dem Innen, das Gesund-machen mit dem Gesund-werden zusammen, so daß beide gar nicht mehr voneinander unterscheidbar sind. Jede Unterscheidung wäre hier schon Verfälschung.
Krankheit und Tod, daran wird jetzt nochmals zu erinnern sein, sind die verkehrten Abbilder, die tief schwarzen Schatten ihres strahlend hellen Urbildes, ja geradezu ihres Gegenteils, der Vollendung des Menschen zum gottebenbildlichen Leben. Die Gesundung müßte darum ihre Rückverwandlung eben dahin sein. Gesundung bedeutet eigentlich gar nichts anderes als Vollendung und also Verwirklichung dessen, wovon Krankheit und Tod selbst die Abbilder sind. Indem der kranke und sterbende Mensch gesundet, erfährt er seine Krankheit und seinen Tod in ihrer urbildhaften Eigentlichkeit als Gesundung. Alle der Heilung und der Genesung eigentümlichen Momente finden sich auch im Prozeß der Gesundung, aber sie erscheinen hier, gleichfalls urbildhaft, in einem ganz neuen Licht, sie offenbaren erst hier, was sie in Wahrheit sind oder in Wahrheit meinen, so etwa wie die erste Liebe offenbar wird, worauf alle innerweltlichen Beziehungen zwischen den Menschen, auch etwa im Kampf, in der Herrschaft oder in der Unterwerfung, im Letzten hinaus wollen. Als die empirischen Menschen, die wir sind, haben wir unseren Sinn für uns selbst usurpiert und sehen darum unser Sein uns entgleiten in den Unsinn. Das ist unsere Krankheit, das ist überhaupt die Krankheit. Gesundheit dagegen wäre der wieder zur Freiheit entbundene Sinn, dem sich das Sein widerstandslos und willig anfügt als ein Grund, und zwar gegründet von dem gleichen Urgrund, auf den hin sich auch der Sinn ausrichtet als auf seine Erfüllung. Nur wenn der Erkrankte in Einem den Grund seines Seins und die Erfüllung seines Sinnes wiedererhält, gesundet er als Geheilter und als Genesender von außen wie von innen.
In der geschichtlichen Zeit, eingespannt zwischen dem Nicht-mehr der Vergangenheit und dem
Noch-nicht der Zukunft leben wir ein gebrochenes und immer krankes Leben in einer gebrochenen und immer kranken Welt. Die Gesundung wird daher Gesundung nicht in diesem Leben und in dieser Welt, sondern ihrem einen Aspekt nach Gesundung von diesem Leben und von dieser Welt, ihrem anderen und tieferen Aspekt nach aber Gesundung eben dieses Lebens und eben dieser Welt sein müssen, das erste im Halblicht unserer natürlichen Kategorien, das zweite im hellen Licht des Durchbruchs durch alle Schatten. "Gesund ist", wurde schon in einem der ersten Kapitel gesagt, "nicht der, der die Möglichkeit und Eignung hat, ein Maximum an zeitlicher Lebensdauer zu erreichen und recht lange im Zustand der Vorläufigkeit zu verharren, sondern der andere dessen zeitliche Existenz so beschaffen ist, daß sie der Entscheidung über sich selbst hinaus den geringsten Widerstand entgegensetzt".
Der Sinn des menschlichen Lebens liegt jenseits der Grenzen unseres empirischen Daseins, also auch jenseits des Todes. Das Leben, das wir kennen, ist immer zweideutig, es ist einerseits gewiß Leben und insofern ein positives Gut, es ist aber andererseits auch wesenhaft sterbendes Leben und insofern negativ bestimmt, etwas, das nicht sein sollte. Wann immer wir dieses Leben zu erhalten und Krankheiten zu heilen oder von Krankheiten zu genesen suchen, wird darum auch unsere Therapie an dieser Zweideutigkeit teilhaben, sie wird, heißt das, in eine und demselben Akt das Leben als Leben und als Sterben begünstigen, sie wird mit dem Unkraut auch den Weizen ausraufen und mit dem Weizen auch das Unkraut pflegen. Jede Heilung schafft unvermeidlich auch neuen Tod. Stelle ich die Integrität an einer Stelle her, so zerstöre ich sie an der anderen. Handelt es sich aber nicht um eine Heilung solcher Art, wie sie der ärztlichen Kunst allein möglich ist, sondern um Gesundung, nicht um die bloß medizinische restitutio ad integrum, wobei die Frage nach dem integrum zuletzt in die Aporie führt, sondern um eine institutio ad perfectum, dann wird sich das am konkreten Menschen vielleicht auch in Gestalt einer zeitweiligen Wiederherstellung seiner wahrnehmbaren Kräfte äußern, soweit nämlich sein Leben Leben ist, aber überdies auch gerade als ein Mächtigerwerden des Todes über ihn, soweit sein Leben Sterben ist; denn seine Gesundung besteht in der Ausrichtung auf die perfectio, die unter allen Umständen dem Transzendenten zugehört.
Heilung hängt zusammen mit Kausalität, mit objektiv-rationaler Erkenntnis, mit Vergangenheit, Genesung mit Finalität, mit zielstrebigem Wollen, mit Zukunft. Aber wie die Einheit von Grund und Telos, von Vergangenheit und Zukunft, von Erkennen und Wollen, so läßt sich auch die Gesundung als Synthese von Heilung und Genesung nicht einfach durch additive Zusammenfügung der Pole erreichen. Die Gesundung hat den Primat vor ihren beiden empirischen Aspekten, und ebenso hat die Gegenwart den Primat vor Vergangenheit und Zukunft, der allgegenwärtige Gott vor seinen Ausdeutungen als Schöpfer und als Vollender und die Liebe vor der Erkenntnis und dem Wollen, vor dem Glauben und der Hoffnung. Nur als der, der da ist, ist Gott auch der, der da war und der da kommt, nur aus der Liebe zu dem Allgegenwärtigen heraus verwandelt sich das Erkennen in Glauben und das Wollen in Hoffnung; denn Glaube und Hoffnung nehmen das erkannte Vergangene und das gewollte Künftige in die liebende und wiedergeliebte Gegenwart hinein. Ist nun die Heilung das Werk der Erkenntnis, die Genesung das Werk des Willens, so ist die Gesundung das Werk der Liebe, nämlich der Liebe erstens dessen, dem der Sinn des Seienden sich zuwendet, und zweitens des auf diese Liebe antwortenden und damit seinen Sinn erfüllenden Seienden selbst. Der charismatische Therapeut kann darum grundsätzlich und zuerst nicht irgendein menschlicher Arzt sein, sondern nur Gott allein und ein Mensch bloß dann, wenn Gott durch ihn hindurch wirkt. Charismatische Therapie bedeutet sowohl Herstellung der Gegenwart, d. h. Heilung der zerbrochenen Zeit wie auch Ausrichtung des Sinnes auf sein göttliches Telos, Erweckung der Liebe und mit ihr auch des Glaubens an und der Hoffnung auf den liebenden Geliebten.
Es wurde gezeigt, daß die technische Therapie der strengen medizinischen Wissenschaft sich darauf beschränken muß, das Tote oder doch rettungslos dem Tod Verfallene vom Noch-Lebendigen zu scheiden, um so dieses vor der Ansteckung durch den Tod zu bewahren, bzw. das Weitervordringen des Todes zu verhindern, richtiger zu verzögern. Dieses Moment der Scheidung des Toten vom Lebendigen ist auch der charismatischen Therapie eigentümlich, und zwar sogar in radikalisierter, ja in absoluter Gestalt; denn von der vollkommenen Gesundheit her erweist sich auch das als krank und tot, was dem natürlichen Auge noch heil und lebendig erscheint. Unter diesem Aspekt gehört eventuell gerade das von uns der Rettung und Pflege wert Gehaltene zu dem bereits Toten, das amputiert werden muß, so daß die empirische Krankheit und der empirische Tod, die unsere eigene Therapie verzweifelt bekämpft, sich als therapeutische Taten eines übermenschlichen Arztes darstellen.
Krankheit und Tod als Gesundungsprozesse erkennen heißt aber auch schon sie bejahen, nur freilich bejahen nicht als Krankheit und als Tod; denn die Krankheit als Krankheit bleibt genau so wie der Tod als Tod ein eindeutig negatives Phänomen. Nicht Krankheit und Tod an sich, sondern ihr Gemeinsames hinter ihnen und von ihnen verborgenes tiefstes Mysterium ist unantastbar. Der "ideale" Patient müßte als ein unter den Händen des charismatischen Therapeuten Gesundender dahin kommen, sein Leiden bedingungslos anzunehmen ohne sich doch über dessen Negativität irgendwelchen Illusionen hinzugeben; denn nicht das Leiden, sondern allein das durch das Leiden hindurch zu Realisierende trägt ein positives Vorzeichen. Wer "das Kreuz auf sich nimmt", ignoriert nicht seinen düsteren Ernst, er läßt sich nicht dazu verleiten, seinen schmerzhaften Druck in einen Genuß umzulügen, er gibt ihm nur, das dahinter liegende Ziel vorwegnehmend, einen Sinn, den es an sich niemals haben kann. Der verborgenerweise gesund werdende Kranke wird leidend beten, daß dieser Kelch von ihm genommen werden möge, aber allerdings mit dem unerläßlichen Nachsatz: "Nicht mein, sondern dein Wille geschehe." Nur aus dem Geist dieses Nachsatzes, der gesprochen wird im unerschütterlichen Vertrauen zum Therapeuten, erhält die Krankheit ihren Sinn, wird sie Durchgang zu einer höheren Gesundheit, die dann tatsächlich überwundene und nicht bloß kupierte Krankheit ist.
Es geht weder darum, die Krankheit zu verneinen und zu bekämpfen noch auch darum, sie zu beschönigen und zu verharmlosen &endash; denn auch das wäre ja wieder nur eine Art Verneinung &endash;, es geht vielmehr ganz allein darum, die Gesundheit zu bejahen um jeden Preis, d. h. sich ohne Vorbehalt auf den Sinn einzustellen und in diesem Akt uneingeschränkter Bejahung das Ungesunde fahrenzulassen. Das dem Sinn entfremdete Sein, das vom Unsinn angefressene Leben wird damit zunächst freilich dem Tod überantwortet. Indem aber der Sinn sich wiederfindet in seiner Bezogenheit auf das absolute Telos, verfällt das Sein allem Augenschein zum Trotz gar nicht dem Nichts, sondern gleitet in die schöpferischen Hände des mit dem Telos wesensgleichen Grundes, in die Hände dessen, der da ist, der da war und der da kommt und der ein Gott der Lebendigen und nicht der Toten ist. Gerade auch das Sein, auch der Leib, auch die Vergangenheit verkehrt sich aus dem Tod zurück ins Leben als in seinen eigentlichen Daseinszustand. Wenn die Zukunft in Ordnung kommt, dann mit ihr auch die Vergangenheit. Das ist das Geheimnis der Auferstehung, zunächst der Auferstehung Christi, der allein konnte, was kein natürlicher Mensch kann: mitten in der Nacht der zeitlichen Existenz das Licht der ewigen Gegenwart im Auge behalten. Er ist der Erstling geworden unter denen, die da schlafen und auferstehen von den Toten / 1. Kor. 15, 20 /. Er ist der erste Auferstandene und eben damit auch der charismatische Therapeut aller anderen, denen ohne ihn die Gesundung versagt bliebe. Sein Leib konnte im Grab nicht verwesen, weil er in seinem Sein am Leben erhalten wurde durch den Sinn, der sich in vollendeter Gottebenbildlichkeit dem Vater zugewandt hatte. Wenn ein menschlicher Chirurg ein Bein amputiert, so bleibt der Operierte vielleicht am Leben, aber das Bein ist rettungslos dem Tod verfallen. Wenn sich dagegen der Mensch dem göttlichen Chirurgen überläßt, der ihm sozusagen seine ganze endliche Existenz amputiert, dann wird er nicht nur um diese verkürzt irgendwo in einem spirituellen Jenseits als ein Art leibloses Gespenst erwachen, sondern der amputierte Leib selbst wird in einer gegen Krankheit und Tod immunen Gestalt auferstehen.
Im Lukasevangelium / 4, 23 / erwähnt Jesus einmal das merkwürdige Sprichwort "Arzt, hilf dir selbst!" und bezieht es auf sich &endash; mit Recht; denn er ist tatsächlich Arzt und Patient in einer Person, aber er ist Arzt nicht nur für sich allein, sondern auch für alle anderen Menschen, ja für die ganze kranke Schöpfung in Raum und Zeit, und er ist Patient nur in uneigentlicher, nämlich stellvertretender Weise. Ohne krank zu sein, stellt er sich freiwillig, um der wahrhaft Kranken willen, unter das Gesetz der Krankheit, und, auch um ihrer willen, unterzieht er sich der schmerzhaftesten Therapie. Er läßt sozusagen ohne Narkose die Operation als Exekution an sich vollstrecken, er läßt sich bei vollem Bewußtsein nicht nur irgendein Glied, sondern das ganze kranke Leben amputieren und fordert von den wirklichen Patienten bloß, daß sie diese Operation, als ob sie auch an ihnen mitvorgenommen wäre, anzunehmen, sie auf sich zu beziehen. So handelt der absolute Arzt, der ideale Therapeut. Statt sich dem Kranken kühl und überlegen gegenüberzustellen und ihn als Objekt seiner Kunst zu behandeln, wie das menschliche Ärzte, in dieser Beziehung sehr ähnlich dem menschlichen Scharfrichter, eigentlich immer tun, macht er sich umgekehrt ganz und gar zum Objekt, zum Diener des Patienten, von dem er sich die Leiden zufügen läßt, die dieser ertragen müßte, um gesund zu werden, aber niemals ertragen könnte, ohne zu verzweifeln. Der menschliche Arzt heilt, wenn er überhaupt heilt, von außen, und eben dieses Von-außen der Heilung ist das Schmerzhafte an ihr, weil es den Kranken seines Innen, seiner Selbstheit, seiner Subjektivität beraubt. Christus aber nimmt gerade das Von-außen auf sich und öffnet damit dem Anderen den Weg des Von-innen, der Genesung, die zur Gesundung führt.
Therapie, Heilung im absoluten Sinn kann nur bedeuten: Wiederhinwendung des Seins auf seinen Sinn, Rückverkehrung der Todesrichtung in die Lebensrichtung, Zusammenfügung des Seelischen und Leiblichen im Geistigen, des Zerebralen und Abdominalen im kardialen Zentrum. Auf dem Boden der empirischen Wirklichkeit ist aber eine solche Therapie, die allein wahre Heil-Behandlung wäre, nicht möglich; denn was der Mensch getrennt und zerbrochen hat, kann nicht er selber wieder zusammenfügen, sondern nur der "Fachmann", der es ursprünglich gefügt hat. "Kein anderer als der sie fügte, bringt die zerstörte / Herz-Uhr / zum Gehen." In dem gleichen Lied heißt es weiter: "Dann müßt ich zum Meister wandern, der wohnt am Ende gar weit, weit draußen jenseits der Erde, wohl dort in der Ewigkeit." Das ist tiefer als der Dichter selbst vermutlich geahnt hat; denn es besagt, daß die endgültige Heilung nur durch ein Transzendieren der einmal zerbrochenen Wirklichkeit erlangt wird, und Voraussetzung alles Transzendierens bleibt die Transzendenz oder genauer: der Transzendente, der aus seiner Transzendenz heraus die Wände der Immanenz durchbricht. Der durchbrechende Transzendente aber ist Jesus Christus als Gottes- und Menschensohn. In seiner Menschengestalt, d. h. als der Therapeut, der zum Menschen herabsteigt, nimmt er das Leiden der Krankheit und der Heilung auf sich, aber sein Leiden, sein Tod ist nicht wie bei den übrigen Menschen bloßes Erleiden, sondern Entscheidung, nämlich Entscheidung, die Adam verweigerte und für die er den Tod als ihr verkehrtes Abbild eintauschte. Christus nimmt den Tod selbst aus seiner Unsinnigkeit in seine sinnvolle Urgestalt zurück, er macht ihn zum Schritt des gefallenen Menschen hin zu seiner Gottebenbildlichkeit und zu Gott, dessen Ebenbild er sein sollte. Indem der Sohn Gottes in der Endlichkeit stirbt, stirbt er auch der Endlichkeit und ersteht auf zur Ewigkeit. Die Auferstehung macht offenbar, wovon der Tod abgefallen ist, als er Tod wurde. Jesus Christus ist nicht etwa in der historischen Vergangenheit auferstanden, sondern in Jesus Christus ist die historische Vergangenheit in die Ewigkeit auferstanden, wobei das perfectum als modus dicendi gerade nicht ein praeteritum bedeutet. Die Offenbarung der Schrift stellt diesen Vorgang allerdings unter dem Bild eines vergangenen historischen Ereignisses dar, weil wir als noch nicht Gesundete, sondern vorläufig nur der Gesundung Gewärtige das Ewige nicht anders haben können als gleichnishaft unter den Kategorien der Zeit. Die Gegenwart, die wir noch nicht haben, die Versöhntheit von Vergangenheit und Zukunft, die "heile Zeit" Augustins wird uns zunächst nur andeutungsweise faßbar, entweder als das Nicht-mehr der Auferstehung oder als das Noch-nicht der Wiederkunft Christi, aber beide, Auferstehung und Wiederkunft, meinen doch die Gegenwart, in der sie sich zur Einheit verbinden.
Im Licht des Glaubens ist der Mensch simul peccator, simul justus und auch simul moribus, simul sanus. In der Zweideutigkeit dieses simul &endash; simul und in der inneren Gewißheit, daß nicht das peccatum und der morbus, sondern die justificatio und die sanitas das letzte Wort haben, ereignet sich die Gesundung. Gesundung heißt: Der Sinn, der Geist nimmt das Sein wieder an sich. Der Sinn kann wieder Ja sagen zu dem ihm entglittenen Sein, weil der, zu dem er Nein gesagt hat, zu ihm Ja sagt, ihn heilt, indem er ihm vergibt.
"Denn ich, der Herr, bin dein Arzt!" / Ex. 15, 26 /
ENDE
ANMERKUNGEN
Einleitung
1. Zit. nach v. Gebsattel, Prolegomena einer medizinischen Anthropologie, S. 361.
2. Eduard Thurneysen, Die Lehre von der Seelsorge, S. 203.
Sein und Sinn der menschlichen Existenz
1. Werke IV, 315.
2. Psyche, Ausgabe von Ludwig Klages, S. 58.
3. Arbeite zum Sexualleben und zur Neurosenlehre, W. Bd. V, S. 410; zit. nach P. Matussek, Metaphysische Probleme der Medizin, S. 30.
4. "Das Individualitätsproblem und die Subordination der Organe", Archiv f. d. ges. Psychologie, 1924, Bd. 4, sowie "Individualität und Fortpflanzung als Polaritätserscheinungen", Jena 1938.
5. a. a. O., S. 167.
6. Lehrbuch der Naturphilosophie, S. 224.
7. a. a. O., S. 257.
8. W. VII, S. 131 u. 138.
9. Geschichte der Seele, Bd. I. S. 59 u. 61.
10. Hierzu mein Buch "Der Baum des Lebens", Berlin 1937.
11. Der Erstgeborene, S. 269f.
12. Zitiert nach W. Leibbrand, Heilkunde, S. 343.
Gesundheit und Krankheit
1. Psyche, S. 259.
2. W. VII, S. 436f.
3. W. VIII, S. 267.
4. Kirchl. Dogmatik III/4, S. 425.
5. Prolegomena einer medizinischen Anthropologie, S. 368f.
6. Enzyklopädie, § 371 u. § 404.
7. a. a. O., S. 83.
8. Nach Herbert Fritsche, Der Erstgeborene, S. 205.
9. Zit. nach Leibbrand, Heilkunde, S. 218f.
10. Geschichte der Seele, I. 288.
11. Stieve, zit. nach Armin Müller.
12. Hans Trüb, Heilung aus der Begegnung, S. 108.
13. Die Krankheit, nicht krank sein zu können, S. 22.
14. O. v. Wittgenstein in "Hippokrates", Jg. 22, Heft 24.
15. Psyche, S. 283f. Hervorhebung von mir.
16. Parega und Paralipomena, S. 137.
17. a. a. O., S. 65.
Die Krankheit
1. Prolegomena einer medizinischen Anthropologie, S. 283.
2. a. a. O., S. 332, Fußnote 2.
3. a. a. O., S. 133.
4. Psyche, S. 121.
5. Zit. nach P. Matussek, Metaphysische Probleme der Medizin, S. 100.
6. Einführung in die psychosomatische Medizin, S. 76.
7. a. a. O., S. 75f.
8. Psyche, S. 266.
9. Zit. nach Max Kibler, Leib und Seele in der Heilkunde, "Hippokrates", Heft 7/1953.
10. Zit. nach Armin Müller.
11. M. Boss, a. a. O., S. 189.
12. a. a. O., S. 172.
13. a. a. O., S. 165.
14. Boss, a. a. O., S. 161.
15. Leibbrand, Heilkunde, S. 81.
16. a. a. O., S. 55.
17. Der kranke Mensch, S. 190.
18. Hiezu: Armin Müller, Syphilis-Metasyphilis.
19. Die Krankheit, nicht krank sein zu können, S. 92.
20. a. a. O., S. 332, Anm. 3.
21. v. Gebsattel, a. a. O., S. 131.
22. Die Lehre von der Seelsorge, S. 218.
23. Bd. II, S. 54f.
24. Psyche, S. 263.
Die Gesundung
1. Traktat über die Heilkunde, 3. Aufl., S. 23.
2. v. Gebsattel, a. a. O., S. 27.
3. a. a. O.
4. Heilung aus der Begegnung, S. 76.
5. a. a. O., S. 102
6. Der kranke Mensch, S. 244.
7. Zit. nach Heyer, Vom Kraftfeld der Seele, S. 100.
8. a. a. O., S. 173f., Anm. 29.
9. a. a. O., S. 51f.
10. a. a. O., S. 31.
11. Tiefenpsychologie und Erlösung, S. 69.
12. Zit. nach Leibbrand, a. a. O., S. 216.
13. Zit. nach Leibbrand, a. a. O., S. 87.
14. Müller-Eckard, Die Krankheit, nicht krank sein zu können, S. 129.
15. a. a. O., S. 144.
16. v. Gebsattel, a. a. O., S. 279f.
17. Geleitwort zu Hans Trüb, Heilung aus der Begegnung, S. 12.
18. a. a. O., S. 344.
19. Parega und Paralipomena, S. 137f.
20. Zit. nach Leibbrand, Heilkunde, S. 348.
21. Die Geschichte der Seele, I, 24.
22. a. a. O., S. 25.
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
SEIN UND SINN DER MENSCHLICHEN EXISTENZ
Der Mensch als Geschöpf
Leib, Seele und Geist
Die Symbolik des Leibes
Kindheit und Alter
Mensch und Tier
GESUNDHEIT UND KRANKHEIT
Krankheit und Sünde
Die zweifache Herkunft der Krankheit
Die Zweideutigkeit der Krankheit und der Gesundheit
Exkurs über Schuld und Unschuld des Leidens
DIE KRANKHEIT
Die Neurose
Die Organneurose
Die Psychoneurose
Die organische Krankheit
Die Psychose
DIE GESUNDUNG
Gesundung, Genesung, Heilung
Der Patient und der Arzt
Technische, magische und charismatische Therapie
ANMERKUNGEN