JULIUS SCHMIDHAUSER

MNEMOSYNE
GEDENKEN UND DANK

Die Taten der Mütter und Väter für das Kind Mensch

 

 

erschienen 1954

VERLAG LAMBERT SCHNEIDER · HEIDELBERG

Geschrieben im Jahre 1953 in Fex-Plattas, ob Sils-Maria, Engadin und San Georgio, Losone/Tessin

 

 

INHALT:

ERSTES BUCH
DIE WELTWENDEN DER MÜTTER UND DER VÄTER

ERSTES KAPITEL
DIE ARCHETYPEN DER INNEREN MENSCHWERDUNG

- Archetypus Mensch
- Mütter und Väter &endash; die Archetypen der ersten Weltwenden
- Die Söhne &endash; der Archetypus der heutigen Wende
- Ebenbürtige Bestimmung der Töchter
- Söhne und Töchter sind ohne Mütter und Väter nicht zu verstehen
- Muttergeist geht dem Vatergeist in der Menschwerdung voraus
- Der Geist der Söhne weiß wieder um die Mütter

 

ZWEITES KAPITEL
DER GRIECHISCHE ANTEIL

- Der Stern der Geburt
- Chinesisches Gleichgewicht
- Semitische Entscheidung
- Indogermanische Spannung
- Die zwei abendländischen Herkünfte
- Dauernde Macht der Juden und die griechische Unsterblichkeit
- Der jüdische Geist der Schöpfung oder das magische Wort
- Das weibliche Genie Griechenlands oder der Kult des Seins
- Dynamis der Juden &endash; griechische Stasis

 

ZWEITES BUCH
DIE MUTTERGOTTHEIT ODER DIE EINPFLANZUNG DES MENSCHEN IN DIE ERDE

ERSTES KAPITEL
POLARE WELT DER MÜTTER

- Die Einpflanzung des Menschen in die Erde
- Gleichnis der Erde und der töchterlichen Pflanze:
- Gründung im Dunkel &endash; Drang in das Licht
- Waage der Welten
- Das verlorene Gleichgewicht

 

ZWEITES KAPITEL
POLARE WELT DES MYTHOS

- Der mythische Doppelblick oder die Unechtheit der heutigen Zweckmythen
- Die Mythe vom Chaos, der ungründigen Welt
- Die Gegenmythe von Eros, dem Mittler
- Anmerkung: Extremer Polarismus des indischen Mythos

 

DRITTES BUCH
DIE NEUEN GÖTTER ODER DIE EINPFLANZUNG DES MENSCHEN IN DIE HIMMEL

ERSTES KAPITEL
ZEUS &endash; DER VATER

- Die »Neuen Götter«, die »Himmlischen«
- Kleiner Exkurs über den heutigen Streit um den Mythos
- Zeus &endash; der Vater
- Das Goldene Zeitalter: Der titanische Bund von Himmel und Erde &endash; die nie vergessene Zeit

 

ZWEITES KAPITEL
APOLLON &endash; DER SOHN

- Apollon &endash; der Sohn
- Ferne des Titanischen
- Gegenpol zu den Erdgottheiten
- Vorkämpfer im Götterkrieg gegen die Mütter
- Mnemosyne, das dankende Gedenken &endash; die Mutter der Musen
- Apollon &endash; nicht Dionysos &endash; wird zum Führer der Musen
- Apollon &endash; Licht und Tod

 

DRITTES KAPITEL
PALLAS ATHENE &endash; DIE TOCHTER

- Die dritte vorausweisende Figur
- Pallas entspringt dem Haupte des Zeus
- Gewaltsame Geburt
- Kriegerischer Geist
- Die Mutterlose &endash; die Tochter der Metis
- Der Kluge Geist
- Die Geburt der Athene erschüttert das All
- Kleines Nachwort

 

 

 

ERSTES BUCH
DIE WELTWENDEN

DER MÜTTER UND DER VÄTER

 

ERSTES KAPITEL
DIE ARCHETYPEN

DER INNEREN MENSCHWERDUNG
Archetypus Mensch

 

Es gibt wenige allesverwandelnde Wenden der Welt. So zahllos die Veränderungen sind, so zählbar sind die Ereignisse, in denen ein Sprung, weil ein Ursprung geschieht. Auch der Wissenschaft ist &endash; dem Gesamtstil der Zeit gemäß &endash; heute ein Organ dafür gewachsen: sie spricht bei sprunghaften Wenden von »Mutationen«.

Immer dann, wenn ein neuer Archetypus mächtig wird, der alle Dinge auf seine Weise zu prägen vermag, wandelt sich das Gesicht der Welt.

Ein solcher neuer Archetypus ist der Mensch selbst. Ebenso unverwandt formt er sich aus dem Tierreich heraus. Er vollendet nicht die tierische Bahn, er verläßt sie, bestimmt von einem neuen schöpferischen Ansatz.

Lange genug sah man, berauscht von der Idee des Fortschritts, im Menschen nur das Ende der Linie des Tieres. Man billigte ihm die höchste Stufe zu, aber man sah den Sprung nicht, der Welten voneinander trennt. Der Mensch aber ist gerade nicht bestimmt durch die Vervollkommnung eines bestimmten Organes, auch nicht des Gehirnes. Nur abgespaltene Köpfe können im Menschen ein spezialisiertes Gehirntier sehen. Sie verfehlen dadurch gerade das Menschliche des Menschen, seine Gesamtnatur, der nichts fremd ist.

Die Natur hat immer Auswege gesucht und hat doch immer wieder in das Auswegslose geführt. Der Mensch aber ist der eigentliche Ausweg der Natur. Auch Pflanze und Tier sind archetypische Gestalten &endash; der Mensch allein aber ist der schöpferische Ansatz zu einem Gesamtwesen, das aus ursprünglicherer, noch ungeschiedener Schicht heraus die ganze Genesis der Natur in sich versammelt.

Wir haben keinen Anlaß, den Menschen aus dem Gesamtzusammenhang der Natur zu reißen. Die Sonderstellung des Menschen darf nicht mißbraucht werden zu seiner Absonderung. Es gibt nur Eine Welt. Jegliche Flucht in sogenannte »andere Welten« ist uns genommen. Wir haben keinen Anlaß zur Überheblichkeit. Auch wir sind nur ein Versuch.

Innerhalb der Genealogie der Weltwerdung ist der Mensch der Versuch, aus der Gefangenschaft von Gestirn, Pflanze und Tier in das Offene zu kommen. Das Offene aber sehen wir nicht mehr in der Freiheit des tierischen Ausbruchs, wozu uns die letzten Jahrhunderte verführten wie einst Jahrhunderttausende vorher. Wir sehen das Offene in der Freiheit des nicht festgelegten, des ganzen Seins.

*

Schon Herder, der neben Goethe unter den Deutschen am meisten Sinn für das Menschliche des Menschen besaß, sah in der Geburt des Menschen das Ganze der Natur in schöpferischer Wandlung:

Es ist die ganze Einrichtung aller menschlichen Kräfte, die ganze Haushaltung seiner sinnlichen und erkennenden, seiner erkennenden und wollenden Natur ...

Die herderisch-goethesche Welt hatte &endash; im Gegensatz zur kantisch-hegelschen &endash; die Leidenschaft für das Eine und das All, das Hen kai pan der menschlichen Natur. Aus dieser Leidenschaft ging der erste, der herdersche Versuch hervor, die Menschwerdung des Menschen an ihren eigentümlichen Zeichen geschichtlich zu erweisen.

Herder hat in seiner Geschichtsphilosophie für den Archetypus des Menschen geleistet, was Goethe in seiner Naturschau für den Archetypus der Pflanze. Herder mag menschbetont sein, Goethe naturbetont. Goethe jedoch ist der Mensch, den Herder archetypisch sieht, der Mensch, der mit allen seinen Kräften Mensch ist.

Hinter beiden aber steht eine große Tradition, die in Paracelsus ihr mächtigstes Gestirn hat.

Die rationalistische Welt ist fanatisch bestimmt, den Menschen entweder aus der Natur herauszureißen oder in ihr untergehen zu lassen. Im Zuge dieser beiden Tendenzen hat dieselbe rationalistische Welt den Menschen nacheinander zum Engel und zum Tier gemacht.

Es ist dagegen die doppelte Leidenschaft des herderisch-goetheschen Geistes, zugleich die Einheit der Welt und die Einzigkeit des Menschen zu erweisen.

Als Goethe den Zwischenkieferknochen beim Menschen findet, ein Glied, das dem Menschen scheinbar fehlte und als Beweis seiner Unverwandtheit mit den anderen Wesen diente, da ist es der Jubel über die geschlossene Lücke, der ihm die Briefworte an Herder vom 27. März 1784 eingibt:

Ich habe gefunden &endash; weder Gold noch Silber, aber, was mir unsägliche Freude macht, das os intermaxillare am Menschen.

Das, was damals als etwas ganz Außerordentliches galt, das ist nun eine selbstverständliche Voraussetzung der Naturforschung. Es ist aber für uns heute noch bedeutsam, daß ein Mensch wie Goethe eine solche Freude empfand über den Zusammenschluß der so lange getrennten Welten.

Auf diesem Hintergrund einer einzigen panischen Welt wächst jedoch mit den mächtigsten Akzenten der herderisch-goethesche Mensch. Daß der Mensch wirklich Mensch sei &endash; wie die Pflanze Pflanze &endash;, das ist zugleich Ethik und Pathetik des goetheschen Zeitalters.

*

Dieser Geist schien in der Sintflut des naturwissenschaftlichen Naturalismus des 19. Jahrhunderts untergegangen zu sein. Heute aber reifen &endash; wie dies in der geheimen Ökonomie der Zeiten zu geschehen pflegt &endash; Früchte jenes Geistes, der nie zum geschichtlichen Zuge kam, um so mehr aber eine geheime Macht blieb.

Es ist kein Zufall, daß eine modernste Forschergruppe zum Teil ausdrücklich, zum Teil stillschweigend sich zum Geist bekennt, der Herder und Goethe auf Grund der Natur-Einheit die Einzigartigkeit des Menschen als des panischen Wesens begründen ließ. Die Forschungsarbeit ist von anderer Art, der Geist aber, der vom Ganzen des Geistes aus das Ganze des Menschen faßt, der archetypische Geist, ist derselbe.

Wir ermessen den Unterschied zum Jahrhundert Darwins, wenn wir in einer neuen naturwissenschaftlichen Anthropologie die folgenden Sätze lesen:

... der Mensch ist das noch nicht festgestellte Tier, er ist irgendwie nicht »festgerückt« Er ist ... ein Wesen, welches in sich eine Aufgabe vorfindet &endash; und gerade deshalb braucht er eine Deutung seiner selbst, um die es immer gegangen ist und auch hier geht ... die Natur hat dem Menschen eine Sonderstellung angewiesen ... sie hat im Menschen eine sonst nicht vorhandene, noch nie ausprobierte Richtung der Entwicklung eingeschlagen ...

Diese Sätze finden sich bei Arnold Gehlen in seinem Buche »Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt«. In einer für eine noch anfängliche Forschung klassischen Einfachheit finden wir die neue Lehre bei Adolf Portmann. Andere bedeutende Namen gesellen sich dazu. Und man kann sagen, daß sie den lebendigsten Kern der heutigen biologischen Forschung bilden. Dieser Kern strahlt schon heute weit aus.

Dies Buch war abgeschlossen, als der erste Band der großangelegten »Historia mundi«, die von Fritz Kern begründet wurde, erschien. Diese Geschichte reicht endlich einmal tief in den Zeitraum des Menschen hinein und behandelt den frühen Menschen nicht nur mit Geist, sondern erkennt ihn als wachsende Geistschöpfung von Anfang an. Ungeahnt rasch erfüllen sich so Intentionen dieses Buches, die auf Erweiterung unseres Geschichtsbildes und auf die entscheidende Wirksamkeit des Geistes in der Geschichte des Menschen ausgehen. Das aber ist bedeutsam für unsere Zeit, die in ihrem Zentrum von genetisch-geschichtlicher Denkweise bestimmt ist. Heute bestimmt das Geschichtsbild weithin das Denkbild. Das Buch vermeidet Skylla und Charybdis des heutigen Denkens: die Charybdis, den reißenden Fortschrittswahn eines automatischen Evolutionismus und die Skylla, den Gegenkult der unwandelbaren Brutalität. Ein anderes ist: die große Thematik des Buches bleibt offen.

Es ist darum nur scheinbar still geworden um das erregende Ereignis der Geburt des Menschen. Aufklärerisch laut und geschäftig ließen sich die Fanatiker der geradlinigen Entwicklungslehre vernehmen. Nicht weniger scharf kämpfte die angegriffene Gegenseite der Gläubigen des biblischen Schöpfungsberichtes. Dieser Kampf ist erschöpft.

Die heutige Stille ist nicht die der Gleichgültigkeit &endash; es ist die Stille echter Forschung. Die Verdienste der vielentdeckenden biologischen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts dürfen nicht geschmälert werden. Ihre eilfertige Lösung der »Welträtsel« aber trug nicht die Zeichen der Verantwortung. Die neue Forschung ist bescheidener und ehrfürchtiger. Schon Planck pries auf erstaunliche Weise in seinem anderen Forschungsgebiet gegen den gewohnten Geist des »Nur« die Ehrfurcht. Langsam wird die neue biologische Forschung der Höhe oder, wenn man will, der Tiefe des Geschehnisses Mensch gerecht. Weit weg von der Geradlinigkeit der Entwicklung kommt sie nicht mehr aus ohne die Annahme eines neuen schöpferischen Entwurfes Mensch. Sie ist daran, das bisherige naturwissenschaftliche Bild des Menschen als der Höchststufe einer Tierspezies durch das Bild eines von Grund aus neuen Typus zu ersetzen.

Die ressentimentale Naturwissenschaft, die sich nicht genugtun konnte mit Herabsetzung des Menschen, hat unermeßlichen Schaden angerichtet: sie ist eine der Quellen des heutigen Nihilismus.

Heute aber sind Ärzte aus der Forschung selbst daran, die Wunde Mensch zu heilen. Wenn die Theologen und Philosophen den Menschen seit Jahrhunderten in die Oberwelt des Engels rissen, ihre Gegenspieler ihn aber in das Tier zurückstießen, so kommt heute die Forschung dazu, den Menschen zu sich selber zu bringen.

Damit aber steht die heutige Forschung &endash; wie schon einmal Herder und Goethe &endash; zwischen zwei Fronten. Sie hat die Dogmatisierung eines an sich bedeutungsreichen Mythos zu überwinden, der den Schöpfergrund enthüllte. Diesem Sinn des biblischen Schöpfungsmythos widerstreitet sie nicht, wenn sie die dogmatische Behauptung einer einmaligen persönlichen Schöpfung hinter sich läßt. Zugleich aber macht sich die neue Forschung frei vom nicht weniger tyrannisch behaupteten Dogma vom Menschen als der bloßen Fortbildung einer menschenähnlichen Affenart.

Diese Doppeltat bedeutet eine echte Überwindung von zwei sich gegenseitig bedingenden Feinden, die uns beide nicht mehr entsprechen. Sie überschreitet den naiven Glauben der Väter an ein paternal-alleinwirkendes Schöpfertum, das den biblischen Schöpfermythos überschattet. Sie überschreitet jedoch auch den frechen Unglauben der aufklärerischen Söhne der Neuen Zeit an höhere wie tiefere Seinsmächte, den Unglauben, der an die Stelle des Schöpfungsglaubens den Wahn eines automatischen Fortschritts gestellt hat.

Der mythische Schöpfungsbericht gründet auf eine mächtige Erfahrung: auf die des schöpferischen Zentrums, ohne das die Welt überhaupt nicht da wäre, weder in Existenz noch in Essenz. Doch auch die naturwissenschaftliche Entwicklungslehre entspricht einer nicht weniger mächtigen Erfahrung: sie gründet auf die schöpferische Genesis, das Werden des schöpferischen Keimes, seine Wandlungen, Metamorphosen.

Die beiden in ihrer Eifersucht todfeindlichen Mächte gehören zusammen. Es geschieht Schöpfung und es geschieht Entwicklung. Hier hat der heutige Geist einzusetzen. Von der Schöpfung aus gesehen, erfahren wir die Welt, wie sie schon Herder und Goethe erfuhren, als »creatio continua«, fortdauernde Schöpfung. Von der Entwicklung her sprechen wir mit Bergson von der »évolution créatrice«, der schöpferischen Entwicklung.

Der Schöpfergeist aber schafft mit der wirkenden Kraft von Urbildern, in denen er genealogisch treu und zum Erstaunen frei vorwärtsschreitet.

*

Die innere Geburt des Menschen ist unser Thema. Das Erscheinen des Menschengesichtes im äußeren Raum der Erde hat für uns jedoch beispielhafte Bedeutung. Es ist nur Eine Welt. Die äußere ist nicht von der inneren, die innere nicht von der äußeren zu reißen, sind wir im Bereich des Menschen. Die innere Geburt des Menschen ist zuletzt von derselben Art wie die äußere.

Dieses strenge Sichbedingen der inneren und äußeren Seite ist bestimmend für den Menschen. Wenn, wie heute, die innere Seite zu fehlen beginnt, beginnt auch sofort das Ende des Menschen. Der Mensch ist die innerlichste Geburt der Erde &endash; darum kann er äußerlich das unbewehrteste aller Wesen sein. Seinem Leib sind viele der sogenannten Vorfahren des Menschen weit überlegen &endash; das deutet jedoch nicht auf die Minderwertigkeit des Menschen, sondern auf seine ihm eigentümliche innere Kraft. Der Mensch verfügt über Kräfte, über die keines der anderen Wesen verfügt.

Das aber ist hochbedeutsam für uns, die wir die inneren Wenden des Menschen ins Auge zu fassen versuchen. Der Mensch mag die späteste Erscheinung sein &endash; er ist jedoch die späte Erscheinung des Frühesten. Er ist in seiner Hilflosigkeit, aber auch in seiner Allmöglichkeit dem schöpferischen Keim selber am nächsten. Er ist das Kind, das alles vor sich hat, noch nirgends festgefahren ist. Dem entspricht, daß der Mensch auch erst in später Zeit zu seinem eigentlichen, zu seinem sohnlichen Sein reift.

Doch vielleicht ist der Ausdruck des Frühen zu sehr an die Zeit gebunden, an die Anfänge. Der Mensch aber ist in der schöpferischen Verfügung über das Ganze des Seins das ursprünglichste der geborenen Wesen. Kein Wunder, wenn er auf einzige Weise um die Erkenntnis seines Ursprungs ringt. Kein Wunder, wenn die Mütter und Väter des Menschen den Ursprung für sich beanspruchen. Kein Wunder, wenn der Mensch sich dann als Mensch entdeckt, wenn er sich als Ursprünglicher, sei es als Kind, sei es als Sohn erkennt.

Niemals ist dies gespannteste aller Wesen verständlich, wenn es nur als Fortbildung einer Tierspezies begriffen wird. Das Tier ist traurig in seiner Abgeschlossenheit. Das menschliche Merkmal ist jedoch das der inneren Spannung, die dem archetypischen Offensein des Menschen entspricht. Der Mensch kennt alle Fruchtbarkeit, aber auch alle Furchtbarkeit eines im Element des Ganzen schöpferischen Wesens.

Es ist gut, wenn wir dies endlich einsehen. Verständlicher wird unsere Geschichte in ihren jähen Umschlägen und ihrem reißenden Drängen zum immer Äußersten. Immer wieder stürzten wir uns bisher &endash; wir tun es heute wie gestern &endash; in eine Möglichkeit des Menschen, als ob es die einzige wäre, als ob darum alles Vorgängige auszulöschen, alles Kommende zu verhindern sei.

Wenn wir nun an die inneren Wenden des Menschen herangehen, dürfen wir zwei Dinge nie vergessen: einmal, daß es ein ganzes Wesen ist, das in eine seiner Gestalten eingeht und darum das Ganze zu bestimmen versucht &endash; dann aber, daß auch die mächtigsten Erscheinungen unseres Wesens das schöpferisch Ganze, das den Archetypus Mensch ausmacht, nicht zu erschöpfen vermögen.

Wir sind mit allen anderen Wesen dem Gesetz der Zeit unterworfen, ja mehr als alle anderen Geschöpfe dem Gesetz des Wechsels, des Umschlags &endash; zugleich aber sind wir wie kein anderes Wesen der Erde aus dem schöpferischen Grunde des Ganzen aller Versonderung in einem eindeutigen abgeschlossenen Typus überlegen.

Das aber muß uns heute, da wir absolutistischer als je daherkommen, bescheidener machen. Der Mensch beginnt nicht mit uns. Schauen wir zu, daß er mit uns nicht aufhört. Eine unendliche Schöpfung liegt hinter uns wie vor uns. Welche Geistestaten formten unsere Stirne, daß sie einmal als Götterstirne erbildet werden konnte. Und welcher Liebe bedurfte es, um die Brüste des Weibes so zu formen, daß sie einmal Göttinnen würdig befunden wurden.

Zum Menschen als dem schöpferischen Geschöpf gehört gemäß den beiden Bestimmungen des Schöpferischen und des Geschöpflichen der hohe Mut, frei einen neuen Anfang zu wagen, zugleich aber auch die Ehrfurcht vor aller schöpferischen Tat, die göttlich und menschlich an uns geschah.

*

Der Sprung zum Menschen ist der abgründigste. Der Weite des Sprunges aber entspricht in genauem Verhältnis die Länge der zur Ausformung des neuen Typus erforderlichen Zeit.

Das neue Urbild des Menschen hat im Maße seiner Grundverschiedenheit Mühe, die Tiernatur verwandelnd zu durchdringen. Wenn es sich nur um eine spezialisierende Fortbildung handeln würde, der Mensch wäre längst am Ziele. Da der Mensch jedoch ein neuer Typus ist, geht das Wachstum seiner äußeren und inneren Figur über unfaßlich lange Zeit.

Die eine Wahrheit ist: der Mensch ist erschaffen mit seinem Archetypus. Ebenso wahr aber ist, daß er sich selber erst zu erschaffen hat, indem er sein Urbild verwirklicht. Im Grunde ist auch um den Menschen eine Zeitlosigkeit. Und immer da, wo er seinen Namen erreicht, da strahlt er wie eine Blume sein Sein aus. Das empfand er immer als Zustand der Gnade. Doch kein Begnadetsein schließt aus, daß sich der Mensch im Element der Zeit schaffend bemühen muß. Der Mensch ist immer schon am Ziel und ist doch immer erst unterwegs.

Noch vor kurzer Zeit aber wußten wir nicht, wie lange wir schon unterwegs sind.

Die Forschung, die den Gedanken der bloßen Fortbildung überschreitet, zögert nicht, gezwungen von immer mehr sich häufenden Tatsachen, mit Hunderttausenden von Jahren zu rechnen, um den Zeitpunkt der äußeren Geburt des Menschen zu bestimmen.

Wenn wir aber diese äußere Geburt des Menschen in Zeiträume versetzen, die noch vor einigen Menschenaltern undenkbar waren und stürmischen Anstoß erregt hätten &endash; so ist es wohl nur billig, die jüngere Genesis des Menschen mit einem ungleich offeneren Blick zu würdigen wie bisher.

Die sogenannte »historische Zeit« genügt dem offeneren Blicke nicht. Sie fällt fast ausnahmslos zusammen mit der sich selber schon aufzeichnenden Geschichte, das heißt mit dem Zeitalter des männlich-selbstbewußten Geistes. Es ist männliche Selbstbefangenheit, nur dem Manne Geschichte zuzuschreiben, die Vorzeit im Unbestimmten zu lassen, weil sie der männlichen Geschichtsart nicht entspricht. Es sind aber schon größere Taten der Menschwerdung geschehen, bevor es zu der bewußten Zeichensetzung des Menschen in Satz und Satzung kam, aus der die Geschichtsschreiber ihre Geschichte zu lesen pflegen. Es ist gut, daß auch hier die Wissenschaft selbst ihre allzu eng gezogenen Grenzen sprengt.

Damit aber möchten wir mit der Naturwissenschaft nicht in einen Wettstreit treten, den Menschen mit Zahlen zu erstaunen. Die wesentlichen Ereignisse des Menschen sind innerer Natur. Die inneren Wenden aber liegen näher. Die innere Geburt des Menschen geschieht erst durch den seelischen Schoß der Mütter und das geistige Haupt der Väter.

Wenn die politisch-ökonomischen Mächte heute versuchen, dem Menschen mit der massiven Masse quantitativer Größen zu imponieren &endash; so können uns doch ihre uralten Schrecken zuletzt nur darin befestigen, die inneren Wenden als die eigentlich menschlichen zu bezeugen.

*

Wenn die quantitative Länge der menschlichen Zeitalter einen Sinn hat, dann nur im strengen Bezug zu ihrer qualitativen Art.

Die heutige Forschung läßt übereinstimmend die Einpflanzung des auf tierische Wese schweifenden Menschen in die Erde in der jüngeren Steinzeit geschehen, also vor etwa 15 &endash; 20 000 Jahren. Das ist eine kleine Zeit gegenüber den riesigen Zeiträumen des »unbehausten« Menschen, in denen noch die Zeitlosigkeit des Tieres überwiegt. Es ist aber eine sich lang erstreckende Zeit gegenüber den später sich überstürzenden Zeitaltern des Menschen. In dieser ersten dauerreichen Zeit bestimmt die der helfenden Erde nahe Mutter die göttlichen und die menschlichen Zeichen. Die Mutter allein vermag den Menschen zu bewegen, den Schritt zurück vom Tier zur Pflanze zu machen. Das aber ist ein so mächtiger Schritt, daß es für ihn den bisher längsten Zeitraum brauchte. Es entspricht jedoch auch dem innersten Wesen der mütterlichen Urzeit, daß sie über unvergleichlich lange Zeiten sich hielt. Die Mütter haben ihrer Natur gemäß den stationären Charakter, wie Goethe sagen würde. Sie sind dem Unsteten feind, das sich im jagenden Tiermenschen lange genug auslebte. Sie sind der nie endenden, nie unterbrochenen Dauer des kreisenden Lebens verpflichtet. Die Mütter kämpfen nicht für sich, sie kämpfen für das hilflose Kind. Sie bauen an einer Welt als dem weiteren bewahrenden Schoß für das Kind Mensch.

Die Väter versuchen ein Mehr an Dauer. Das Leben, das die Mütter gebären, ist ihnen zu unbeständig. Auch wenn es im Kreisen immerfort dauert, so hat es nach dem Anfang in der Geburt immer sein Ende im Grab. Die Väter versuchen der tödlichen Zeit zu entrinnen in die todlose Ewigkeit. Die zweite der großen Wenden geschieht: die Einpflanzung des Menschen in die Himmel. Die Väter springen aus dem Kreis in die Linie. Die gerichtete Geschichte beginnt. Es ist aber die Tragödie der Väter: sie wollen die Zeit stille stellen mit dem unbedingten, den Dingen überlegenen Geist &endash; in Wirklichkeit aber bringen sie mit ihrem sprengenden, sich immer wieder lösenden Geist die Zeit erst recht in Fluß.

Die Söhne folgen frenetisch dem Fluß der Zeit. Sie stellen die Himmelsleiter der Väter weg. Doch auch ihre Geschichte ist ein gerichtetes Geschehen. Wenn die Väter in die Ewigkeit auswanderten, so wandern die Söhne der Zukunft entgegen. Die Ewigkeit duldete noch keine Hast &endash; die Zukunft aber fordert den hastigen Atem der Ungeduld. Schon die Sehnsucht der Väter beschleunigte die Geschichte, &endash; die Beschleunigung aber wird in den Söhnen atemberaubend. Sie können nicht mehr stehen, nur noch gehen. Sie können nicht mehr gehen, nur noch eilen. Sie können nicht mehr eilen, nur noch rasen. Es ist den Söhnen gemäß, die Welt im Fluge zu nehmen. Sie haben ihrem Wesen nach einen anderen Rhythmus als die Väter oder gar die Mütter. Und es ist alt, sie, die Urspringenden an den ruhenden Ursprüngen zu messen. Man mißt auch gefällereiche Ströme nicht an ihren Quellseen. Das Bestürzende der vorwärtsstürzenden Söhne aber ist, daß sie &endash; zuerst unbemerkt, dann aber selbst für Blinde bemerkbar &endash; ohne inneren Halt in primitive Zeiten vor den großen Wenden der Menschwerdung zurückfallen. Die technische Beschleunigung, die mit keinem Menschenmaß mehr rechnet, ist nur ein Symbol der an den Rand des notwendigen Sturzes rasenden Zeit der Söhne.

*

Die beglückende Übereinstimmung mit der neuen biologischen Forschung geht nicht auf den Zahlenrausch &endash; sie geht wesentlich auf die erstaunliche Wendung, die sonst so robust quantitative Forschung am Werke zu sehen, in der Geburt des Menschen einen qualitativ neuen, unvergleichlichen Archetypus zu erkennen.

Goethe würde lächeln, wenn er dies Schauspiel sähe. Er las bei Kant in der »Urteilskraft« von zwei grundverschiedenen Erkenntnisweisen, der ektypisch diskursiven und der archetypisch aus dem Ganzen des Geistes ein Ganzes der Natur erkennenden Denkweise. Kant nahm für sich den intellectus ectypus in Anspruch. Der Verständige aber sah beide Erkenntnisweisen. Goethe nun erkannte im intellectus archetypus seine Geistesweise. Freudig ergriff er die kantische Hilfe, die endlich seiner Geistesart Ausdruck gab.

Wie weit aber schien Goethe mit seiner archetypischer Betrachtungsweise entfernt von der zünftigen Naturwissenschaft, der selbstverständlich diskursiven. Und wieviel Leid legte sich auf ihn, als er sich wie ausgeschlossen vorkam mit seiner immer auf das Archetypische der Pflanze und des Tieres ausgehenden Sehweise.

Es ist nun wohl kein Zufall, sondern eine innere Notwendigkeit, wenn die Naturwissenschaft selbst nun in einer der am heißesten umstrittenen Fragen, der nach der Geburt des Menschen ohne die Annahme eines archetypischen Neuansatzes nicht mehr auskommt. Beim Menschen mußte die diskursive Betrachtungsweise versagen. Denn er unterscheidet sich vom Tiere nicht durch einzelne Züge. Alle die sich unterscheidenden Züge gehen auf ein ganz anderes Urbild zurück, nämlich das des Ganzheitlich-Schöpferischen. Der Mensch erzwang &endash; wie insgeheim bei Goethe &endash; die Erkenntnis, durch die allein er begriffen werden kann.

Goethe schrieb aus Italien:

Hier in dieser neu mir entgegentretenden Mannigfaltigkeit wird jener Gedanke immer lebendiger, daß man alle Pflanzengestalten aus Einer entwickeln könne.

In seiner wunderbaren Naivität, mit der Goethe taufrisch an die Dinge heranging, glaubte er, diese archetypische Pflanze, die er die Urpflanze nannte, irgendwo einmal zu finden. Er mußte sich von Schiller, dem Freund, sagen lassen, daß es sich um die Idee der Pflanze handle. Goethe aber, dem jeder Platonismus fern lag, beharrte auf der Sichtbarkeit der Urpflanze in allen Pflanzen. Er hatte nichts weniger als den Archetypus der Pflanze entdeckt. Und er hielt an Beidem mit seiner eigentümlichen Zähigkeit fest: am ursprünglichen Wesen und an der Erscheinung. Es war Goethes dauernde Art, ein offenes Auge zu haben für die Fülle der Gestalten, den großen Garten der Welt &endash; darüber aber nie die Pflanze selbst, die urbildliche Gestalt aus den Augen zu verlieren. Und ohne ausgebildete Lehre lebte er dieses doppelte Schauen in der Welt des Menschen. Dem Tiere gegenüber gelang ihm dies nicht in demselben Maße. Früh schon verband er das archetypisch Menschliche mit dem archetypisch Pflanzlichen. Gegen die wachsende Unrast und Willkür der Zeit, die er selber nur zu gut kannte und in seinem » Faust« aus sich herausstellte, schloß er den geheimen Bund seines Lebens und Schaffens mit der urmütterlichen Welt.

Goethe hat den Archetypus der Pflanze in der »Metamorphose der Pflanzen« entdeckt. Er hat also das Wesen der Pflanze an ihrem Werden erschlossen. Und in derselben Weise kommen wir auf den Archetypus des Menschen allein aus seiner ihm eigentümlichen Metamorphose.

Umgekehrt aber ist das Werden allein von Archetypen aus verständlich, die in seinshafter Haltung die werdende Bewegung aufschließen. Ohne das Maß des menschlichen Urbildes sind die Typen der Menschwerdung nicht zu beurteilen. So hat auch Goethe das Werden der Pflanzen in seinem Zusammenhang erschauen können, da ihm das Urbild der Pflanze beinahe körperlich gegenwärtig war.

Das ist ein Kreis, der nicht vermieden werden kann. Wesen ist ohne Werden &endash; Werden ist ohne Wesen unverständlich. Mit dem Goethe des »West-östlichen Diwan« zu sagen:

Niemand kann ich glücklich preisen,

Der des Doppelblicks ermangelt.

Mütter und Väter &endash; die Archetypen der ersten Weltwenden

Alle Menschwerdung ist eine innere. Schon die äußere Genesis des Menschen ist keine bloß äußere Entwicklung einer tierischen Vorform. Schon die äußere Gestalt treibt in der Gewalt eines neuen unverwechselbaren inneren Gehaltes.

Die Durchbildung aller Wesen geschieht nie von außen, setzt sie sich auch den äußeren Bedingungen zufolge oder zum Trotze durch. Das Urbild schafft die Wesen, die Bedingungen der Welt nach Zeit und Raum gestatten oder beschränken nur die Schöpfung. Anpassung ist durch tausend Welten geschieden von Schöpfung. Nur ein allem Schöpferischen feindlicher Geist vermochte die Anpassung zum treibenden Element der Genesis, der Weltwerdung zu machen.

So beginnt die innere Menschwerdung schon im frühesten Geschehen, in dem sich der Mensch körperlich dem Tierreich entringt. Und es wäre darum verkehrt, eine bloß äußerliche und eine bloß innerliche Menschwerdung anzunehmen. Was für alle Archetypen der Welterscheinung gilt, etwa die Pflanze oder das Tier, das gilt in einem gesteigerten Maße für das Urbild Mensch.

Wenn wir trotzdem von einer inneren Menschwerdung sprechen, dann in dem bestimmten Sinne des geistigen Geschehens, in dem der Mensch sich seiner selbst bewußt wird, damit aber der Gefangenschaft in seiner Tierförmigkeit endlich entgeht. Das Eigentümliche des menschlichen Zusichselberkommens aber beruht in der transzendenten Kraft, durch die der Mensch sich selber zu überschreiten vermag, sei es nach der Muttergottheit der Erde zu, sei es nach den väterlichen Himmeln, sei es nach seiner eigenen Gründung als Sohn, das heißt als ursprüngliches Wesen, geschickt nach Herkunft, geschickt zur Zukunft, bestimmt als Kreatur, bestimmt zur Kreation.

Der Geist der inneren Weltwenden aber ist nicht erst der logische Geist. Dieser erscheint erst spät. Längst bevor er zu herrschen beginnt, geschehen Geistestaten. Die größte aller menschlichen Geistestaten aber ist wohl die Sprache. Sie hebt mit dem magischen Namen und mit dem mythischen Bild an, nicht mit dem logischen Begriff. Doch die außerordentliche menschliche Kraft, die der Einbildung, lebt auf neue Weise auch noch in den logischen Weltbildern, in denen die Väter des Menschen sich vollenden, die Menschensöhne beginnen.

Wir wissen, daß längst vor den Zeiten, die wir hier ins Auge fassen, alle menschlichen Geisteskräfte am Werke waren. Die Urgeschichte des Menschen müßte mit der Übermacht der magischen Einbildungskraft beginnen. Sie eignet dem jagenden Mann, dem Wildbeuter Mensch, der das Tier übertraf, der sich zum König der Tiere machte. Der magische Wille zur Macht hat jedoch das Tier noch nicht zu überwinden vermocht.

Wir aber stehen in der existentiellen Nötigung durch die jetzige Zeit, die auf dem Wege ist, in die Ausschweifung des Machtwillens des in sich selbst verschlossenen Tieres zurückzufallen. In dieser konkreten Situation geht es uns darum, die Wenden in Erinnerung zu rufen, durch die sich der Mensch der Tiernatur, auch der magisch-zwingenden, bewußt entrang. Die geistige Gründung der magisch-schöpferischen Natur, der göttlichen und der menschlichen wird das Thema eines besonderen Werkes sein.

*

Es gibt ein besonderes Recht, von einer inneren Menschwerdung des Menschen zu sprechen. Denn es gibt Archetypen, die wir als die eigentlich menschlichen, weil göttlichen empfinden. Sie fehlen den anderen Wesen nicht, sie kommen jedoch erst im Menschen zu sich selber, indem sie in ihm ihren göttlichen Namen und ihr göttliches Bild erreichen.

Es sind dies die Archetypen der Mutter und des Vaters, des Sohnes und der Tochter. In ihnen lebt der Mensch seinen innigsten Bezug. Denn in ihnen sind noch die Mächte des Ursprungs versammelt.

Es geht auch auf göttlichem Plan nichts über diese Urgestalten, es sei denn das in ihnen allen wirkende Göttliche, die in ihnen allen anwesende ganz andere Gottheit, die namen- und bildlose.

Nach Name und Bild aber sind Mutter und Vater im besonderen die Urgestalten. In ihnen erscheinen die Ursprünge des Menschen: die Erde und der Himmel. Und in ihnen erscheinen die zwei Urkräfte des Menschen: der Geist des Lebens und das Leben des Geistes. Beide sind schon Geist: in den Müttern ist der Geist des Elements &endash; in den Vätern das Element des Geistes.

Wir haben keine Wahl vor diesen Urnamen und Urbildern des Menschen. Es ist dies die Erfahrung, die diesem Buche zugrunde liegt. Es spricht sich darin das Sohnliche des Menschen aus, das von beiden Weltseiten herkommt und darum keine ausschließt. Der Mensch als Sohn ist immer Sohn der Mutter und des Vaters. Und so nach den Welten: der Sohn der Erde und des Himmels. Und so nach den Kräften: der Sohn des Lebens und des Geistes.

Wahl ist hier nur möglich durch Gewalttat. Und solche Gewalttat ist nur möglich dem männlichen Geiste. Dies Buch ist bestimmt, die Willkür des männlichen Geistes, der sich Gott und Mensch anmaßte, zu überwinden.

Der männliche Geist muß sich demütigen. Er ist nicht der Geist selbst. Die mütterliche Weltseite ist kein bloßer Abfall von der väterlichen. Das mütterliche Weltelement ist nicht auf das väterliche zurückzuführen.

Die Zeit der gewalttätigen Reduktionen ist um. Sie lebt sich heute zu Tode. Denn die Söhne reduzieren heute nach dem Vorbild der Väter die menschliche Welt nihilistisch auf ihren Typus. Wenn der Nihilismus überschritten werden soll, muß er zuerst dort überschritten werden, wo er begann. Er begann mit dem Muttermord durch die Väter. Dem folgte der Vatermord der Söhne. Und dem folgt heute der Brudermord unter den Söhnen. Denn es gibt keine Väter, gibt es keine Mütter. Und es gibt keine Brüder, gibt es keine Mütter und Väter. Der Nihilismus ist kein leeres Schreckgespenst. Er ist streng bestimmt durch die Zerreißung des göttlichen und menschlichen Urzusammenhangs. Und er kann darum nur überschritten werden durch die jetzt nach dem Aion bestimmte sohnliche Wiederzusammenfügung der aus den Fugen geratenen Welt.

Wenn hier dem mütterlichen Archetypus sein Recht gegeben wird, dann nicht aus einem antipaternalen Affekt, sondern gegen die immer mörderische Hand des männlichen Geistes in Vätern und Vatersöhnen.

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Wohl können die Archetypen der Mutter und des Vaters füreinander stehen. Es gibt ein Muttertum, das in seiner Härte auch das Vatertum, und es gibt ein Vatertum, das in seiner Erbarmung auch das Muttertum in sich einschließt. Es sind nicht immer beide an der Zeit, sind auch beide alle Zeiten überdauernd. Das hat Hölderlin ausgesprochen in seinem Götterwissen:

Und gönntest uns, den Söhnen der liebenden Erde,

Daß wir, so viel herangewachsen

Der Feste sind, sie alle feiern und nicht

Die Götter zählen. Einer ist immer für alle.

(Am Abend der Zeit: Versöhnender, der ...)

Ein Fest der Menschwerdung ist das der Entdeckung des mütterlichen Herzens der Welt. Ein Fest der Menschwerdung ist das der Entdeckung des väterlichen Geisteslichtes. Daß wir sie beide feiern!

Keine göttliche Gestalt ist nur sie selbst: jede ist Gestalt des Namen- und Bildlosen. Das Sein selbst ist tiefer und höher und weiter als alle Namen und Bilder. In ihm ist das Offene, das keine geschlossene Gestalt abzuschließen vermag.

Wenn wir von Gott sprechen, dann dürfte nur dieses letzte weiselose Sein, das in demselben Maße Nichtsein ist, gemeint werden. Geschichtlich aber bedeutet Gott das Zentrum der Weltseite des Vaters. Und wir müssen den Namen Gottes nach seiner geschichtlichen Kraft nehmen. Der geschichtswirksame Gottesname steht für die namen- und bildlose Gottheit, darf aber mit ihr nicht gleichgesetzt werden. Immer hat eine esoterische jüdische und christliche und mohammedanische Tradition gewußt, daß Gott aller Namen Namenlosigkeit ist und daß Glaube erst dann ein absoluter Glaube ist, wenn er dem namen- und bildlosen Zentrum des Seins selbst verbunden ist.

Ein solcher absoluter Glaube aber hebt die Geschichte nicht auf, auch wenn er ihre Schranken sprengt, indem er dialektisch vom Ganzandern aus immer auch vom Andern weiß und vom letzten Maß alle relativen Mächte aneinander mißt. Letztes Maß aber ist nie ein dialektisches Anderssein, auch wenn es den Gottesnamen trägt, sondern das ursprüngliche Ineinander-Sein und Ineinander-mächtig-Sein.

So geht das letzte Anliegen dieses Buches nicht darauf, das Untrennbare auseinanderzureißen, wohl aber das geschichtlich Unterschiedliche in seinem harten existentialen Kampf zu verstehen, ja darüber hinaus in seiner ursprünglichen Zusammengehörigkeit, seinem innigsten Bezug, ja in seinem letzten Wunder, in seinem Integral.

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Es gibt keinen Namen und kein Bild, das nicht als Wort- und Bild-Prägung einen bestimmten Typus verkörpert und damit von relativer Art ist.

Auch Gott ist, sobald er als Name und als Bild erscheint, keineswegs das Absolute selbst, sondern immer nur eine Gestalt des Absoluten. Das Absolute kann sich in ihm manifestieren, niemals aber ist Gott der Vater die Gottheit selber.

Die göttlichen Namen und Bilder sind Durchbrüche durch das Geschlossene alles begrenzten Seins. Sie sind groß als die offenen Stellen in einer immer wieder sich abschließenden und im Endlichen verendenden Welt. Sie sind Wege zum Absoluten &endash; als Wege des Absoluten zu uns &endash; und was sie sind, das sollen sie bleiben.

Die völlige Verkehrung der Frommen ist, aus dem Gottesnamen und dem Bilde Gottes des Vaters eine absolutistische Popanz zu machen, an der sie Gläubige und Ungläubige scheiden. Sie verkehren den Sinn der religio, den selbstbefangenen Menschen mit transzendenten Räumen zu verbinden, in denen der Gefangene in die offene göttliche Welt ausbrechen kann, in eine neue Gefangenschaft in den Verließen eines engen, abgeriegelten Glaubens. Das ist die Fatalität aller geschichtlichen Religionen. Das Wort Jesu Christi vom Verschließen des Himmelreiches durch seine bestellten Hüter liegt in dieser Richtung. Es gilt heute gegen die Christen wie gestern gegen die Juden.

Die Kraft der Transzendenz ist die eigentümlich menschliche Kraft. Es ist die Kraft des Geistes. Geist ist nur da, wo Transzendierung geschieht. Doch es gibt nicht nur eine Transzendierung der Erde durch den Himmel, wie die Väter unter dem Schleier ihrer Maya vermeinten. Es gibt euch eine Transzendierung der erdlichen Existenz nach ihrer Tiefe. Das Geschlecht kann transzendiert werden wie das Haupt. Und erst dies ist das eigentümlich Menschliche, daß alles Gegebene überschritten wird. Auch der menschliche Geist ist eine Transzendierung der tierischen List. Oder tiefer gesagt: der Mensch erreicht wiederum die ursprüngliche transzendentale Dimension. Der Mensch ist das Wesen, das alles zu transzendieren vermag: alle Namen und Bilder und alle zu ihnen gehörigen Welten &endash; den Namen und das Bild der Mutter wie den Namen und das Bild des Vaters und wie diese den Namen und das Bild des Sohnes.

Eine robuste theologische Tradition aber kennt allein die Transzendierung der Erde durch den Himmel, des Menschen durch Gott. Das scheint ihr so selbstverständlich zu sein, daß sie für die frühen wie die heutigen Möglichkeiten des Menschen, das göttlich Offene zu erreichen, nur den Namen des Götzentums übrig hat. Es gibt aber keinen ausschließlicheren molochischen Götzen als den Gottesnamen im Munde der Frommen. Es kam niemals soviel Gewalttätigkeit aus einem Namen und einem Bild wie aus dem des jüdischen und christlichen und mohammedanischen Gottes. Die erstaunliche Gewaltsamkeit, die heute von diesem vermeintlich christlichen Europa über Amerika und Rußland auf die ganze Erde ausgeht, rührt von dem absolutistischen Fanatismus für Einen Namen und Ein Bild der Gottheit.

Der Schleier der Maya, unter dem der Gottesname und das Gottesbild vergötzt wurden, ist heute zerrissen und keine jüdische oder mohammedanische und keine christliche Reaktion des Herr-Herr-Sagens bringt uns mehr unter die alte väterliche Botmäßigkeit.

Die Antwort auf diesen ausschließlichen Theismus ist ein nicht minder ausschließlicher Atheismus, ja Antitheismus. Auf die christliche Weltreligion folgt die antichristliche Weltrevolution. Wo die Theologen aber nur Abfall sehen, da steht in Wahrheit Bild und Spiegelbild gegeneinander.

Es ist dabei nicht zufällig, daß die Weltrevolution des Westens und des Ostens vom Raum der Christenheit ausgeht. Dies jedoch nicht nur darum, weil im Christentum die Patrokratie auf ihren Höhepunkt geführt wurde. Es ist vielmehr ungleich wesentlicher, daß im ursprünglichen Christentum im Gegensatz zum Judentum und zum Mohammedanismus der einseitige Theismus durch die Christologie und die trinitarische Gottesweisheit gebrochen wurde. Im Mittelpunkt der christlichen Urgeschichte steht der Sohn. Er sprengt den sich immer wieder verfestigenden patrokratischen Theismus. Er ist der Grund zu Christ und Antichrist. Doch auch dies ist das Thema eines besonderen Werkes.

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Es ist notwendig zu wissen, daß kein Name und kein Bild &endash; auch nicht der Gottesname und das Bild Gottes des Vaters &endash; den Rang des Absoluten besitzt, das heißt alles Göttliche konsumiert, das göttliche Sein selber ist.

Heute lebt in Heidegger die Urunterscheidung des Seins und des Seienden wieder auf. In ihr begann Parmenides seinen Kampf der Metaphysik gegen alle versondernde Physik. In ihr lebte die Mystik, vor allem die deutsche, im besonderen die Eckeharts. Es ist gut, daß heute wieder eine Besinnung auf das echte Absolute, das wirklich von allen Namen und Bildern Abgelöste da ist. Der Atheismus eines so ehrfürchtigen Denkers wie Heidegger ist unverständlich, wird er nicht aus unserem Zusammenhang heraus als unbedingter Wille zum Unbedingten verstanden. Heidegger lehnt mit Recht die heteronome Theonomie eines absolutistischen Theismus ab &endash; wie heute auch dessen Gegenbild: die heteronome Autonomie des absolutistischen Humanismus. Das Recht Heideggers beruht im Unrecht des vermessenen Theismus und des anmaßenden Antitheismus, der sich Existentialismus nennt.

Doch auch der Drang zur absoluten Metaphysik und Mystik schlägt leicht in einen nicht weniger gefangensetzenden Absolutismus um, der nur das Sein selbst anerkennt, alle geprägten Namen und Bilder aber als Schein verkennt, Heidegger aber grenzt heute unmittelbar an den Irrtum der parmenideischen Metaphysik und den Irrtum der eckehartschen Mystik des namen- und bilderlosen, des weiselosen Seins.

Im Kult des namen- und bildlosen Seins wird das schöpferische Nicht-Sein gefeiert, das Nichts, das allem Seienden vorausgeht. Denn kein Seiendes kann Schöpfergrund der Welt sein. Jedes Seiende ist schon Geschöpf, natura naturata. Das Sein des Nicht-Seins allein ist schöpferisch, natura naturans. Das hat Lao-Tse im elften Spruch des Tao-Te-King ausgesprochen als seiner Weisheit Mitte:

Dreißig Speichen treffen sich in der Nabe.

Auf dem Nichts beruht des Wagens Wirksamkeit ...

Das Seiende trägt das Nichts.

Das Nichts aber ist das Wirksame.

Der Kult des schöpferischen Nicht-Seins hat dauernde Gültigkeit.

Doch ebenso wahr ist: Der schöpferische Grund will schaffen. Er hat kein Genüge im bloßen Nicht-Sein. Er will sein, so will er sich in Seiendem erfahren. Die Gottheit will nicht in sich selbst verbleiben, sie will Dasein. Das Sein an sich ist nicht unbedürftig &endash; wie Parmenides vermeint. Das Sein an sich will nicht für sich sein. Es geht aller Welt voran im goetheschen »Stirb und werde!« Das Namenlose will Name, das Bildlose Bild werden. Die Gottheit will zur Geburt kommen. Sie will Welt, sie will zuletzt Mensch werden. Sie will sein, so will sie werden.

Der Ausweg aus dem Widerstreit zwischen absolutistischer Verherrlichung von Namen und Bildern und absolutistischer Namen- und Bildlosigkeit liegt im ehrfürchtigen Vorbehalt eines ungenannt und unbenannt anwesenden, ja sich in uns einwesenden Absoluten, in dessen Zeichen wir die Welt des Ewig-Anderen in ihrer Tendenz zur Verabsolutierung zu durchschauen vermögen, ohne aber die aller Offenbarungswelt relative Absolutheit auszuschließen.

Davon wußte die Weisheit der Chinesen, die das Tao verehrten, den namen- und bilderlosen Urgrund der Welt, nicht aber, ohne ihn konkret in seinen sich wandelnden Dominanten, im weiblichen Yin und männlichen Yang ehrfürchtig zu erfahren.

Keine Welterscheinung der Gottheit, sei sie Bild, sei sie Name, ist bloßer Schein, weil sie nicht das Absolute selber ist. Denn das Absolute erscheint nie anders denn als Name und Gestalt. Name und Bild tragen das Absolute, wie sie selber von ihm getragen werden. Sie werden aber vom Absoluten solange getragen, als sie es tragen.

Und so wird auch das Bild Gottes des Vaters nicht erniedrigt, wenn es als relative Prägung der namen- und bildlosen Gottheit erkannt wird. Es wird durch solche Erkenntnis offen zum größeren Ganzen göttlicher Archetypen, in dem auch die Mutter wieder ihren ewigen Platz einnehmen kann, zusammen mit den Urbildern der Söhne und der Töchter.

Die Söhne &endash; der Archetypus der heutigen Wende

Die Mütter sind denn auch wieder da. Da die trennende Mauer, die das Mutterland verbarg, einstürzt, treten sie wieder in Erscheinung. Es strahlt wieder, das leuchtende Bild der Mutter, das langverkannte, langverhüllte, strahlt durch den zerrissenen Schleier der väterlichen Maya.

Die Söhne aber sind es, in denen die Mütter wiedererscheinen. In der Verehrung der Söhne können die Mütter in ihrer urbildlichen Macht wiederkommen. In den Söhnen wächst gegenüber den Verstiegenheiten der Väter in den Himmeln die ausfluchtlose Zugehörigkeit zur erdlich-mütterlichen Existenz. In den Söhnen aber wächst auch wieder gegenüber der sich vollendenden Verwüstung der erdlichen Landschaft der Seele ein neuer Sinn für die Mütter als die dauernden Träger der Kultur des Herzens.

Die Mütter halten das Gegengewicht, wo in neuentstehenden Welten wie etwa der amerikanischen des Nordens, die Herrschaft der Väter wirklich gebrochen ist. Es geschieht Erstaunliches: vielleicht die härteste Patrokratie, die der puritanischen Gründer der Staaten wird von einer neuen, geistig-seelischen Führung durch die Mütter abgelöst. Alle Berechnungen des männlichen Geistes werden durchbrochen. Er sah sich schon ganz nah am Ziele: der vollkommenen Herrschaft. Wer jedoch die Geschichte als eine offene Partie sieht, in der nichts ausgemacht ist, wer ihr alle schöpferischen Möglichkeiten einräumt, dem fällt es nicht schwer, diese erstaunliche Wendung zu verstehen. Im Neuland der amerikanischen Welt der Pioniere konnte sich der alte Typus des gesetzten Väterlichen nicht halten, war ein jugendlich draufgängerischer Typus allein am Platze. Das Kind Mensch der Anfänge war wieder da &endash; und mit ihm als Gegengewicht die mächtige, aber andersartige Mutter. Der kämpferische Typus verlangte nach dem friedlichen, der harte nach dem weichen, der ausgesetzte nach dem bergenden, der unbehauste nach dem häuslichen, der bedrohte nach dem schützenden, der unstete nach dem dauernden. Und es kann auch nicht verwundern, daß die Mütter wie allezeit und wie in ihrer besonderen Weltzeit auch heute daran sind, das wiederentfesselte, noch nicht zum Sohn gereifte Kind Mensch dauernd zu bemuttern.

Wir dürfen uns aber durch die seltsame Macht der mütterlichen Frau in der entschiedensten Welt der Neuen Zeit nicht täuschen lassen. Was in den Staaten selbst als neuer Matriarchalismus verstanden wird &endash; wie auch von europäischen Betrachtern wie Madariaga und Keyserling &endash;, das ist eine noch ungesehene Wiederkehrt des uralten Spieles von Müttern und Söhnen &endash; nur daß heute der ausschlaggebende Impuls von der jugendlichen Macht der Söhne ausgeht.

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Jugend dominiert. Wie früher die Vorherrschaft des Alters auch schon die Kinder in Altersformen und Alterskleider versteifte &endash; so beherrscht heute der Zug nach Jungsein und Verjüngung auch Bejahrte, die noch im letzten Jahrhundert unentrinnlich dem Alter verfallen schienen. Lächerlichkeit fehlt heute dem Krampf, um jeden Preis jung zu wirken, so wenig, wie gestern dem Bemühen, schon früh in der steifen Würde des Alters zu erscheinen. Das Närrische verrät immer den fatalen Trieb der Zeitalter.

Jugend dominiert. Jugend ist nicht das Sohnliche selbst, doch sie gehört zu ihm wie das Alter zum Vatertum. Meist bleibt die Welt der Söhne noch in der äußeren Leidenschaft des Jungseins stecken &endash; wie auch die Welten der Väter allzusehr nur eine Welt des Alters war. Wenn die Söhne ihren Namen noch nicht erreichten, so deuten doch alle Zeichen auf das eigentlich Gemeinte.

Jugend dominiert, denn es dominiert das Sohnliche. Der Jugend Werdelust, ihre Gabe der Wandlung. Ihre Unruhe, Neubegier. Ihre Abenteuerlust, Entdeckungsfreude. Ihre Leidenschaft der Fahrt. Ihre Vertrautheit mit dem Element. Ihr Kult der Sonne, ihr Zug zum Meer. Ihr fliegerisches Leben zwischen Himmel und Erde. Ihr Wiederentdeckung des Leibes. Ihre spielerische Leidenschaft. Ihre Freude am Kampf. Ihr Agon. Ihr Sichmessen, Sichüberbieten, Überholen. Ihr Tempo. Ihre Dynamis. Ihr Leben mit allen Zeiten. Ihr Sinn für die Anfänge, ihr Drängen nach dem Künftigen. Ihre romantische Gabe und ihre revolutionäre Kraft. Ihr Auszug aus allen Engen. Ihr Aufsprengen aller Schranken. Ihr Zug in die Weite, in das Offene ...

Und noch näher am Sohnlichen, sein Innerstes berührend: der Kult des Selbstes. Der Kult der Selbständigkeit, Selbstherrlichkeit. Der Kult der Selbstbestimmung, Selbstgesetzgebung, Selbstverantwortung. Der Kult der Selbsttätigkeit, des Sich-selber-Schaffens, des Selber-eine-Welt-Erschaffens.

Und die technische Gleichung zu den Söhnen: dem Kult des selbstschaffenden Menschen entsprechend der Kult der selbsttätigen, selbstbeweglichen Maschine.

Das ist nur eine Andeutung. Es mögen dies die auffälligsten Züge im Gesichte der neuentstehenden Welt sein. Das ist noch alles durcheinandergewirbelt. Noch jenseits aller Beurteilung. Zuerst müssen wir wissen, was ist, was wird, was für Zeichen den Ausschlag geben. Dann erst kann aus tieferem Wissen um die ursprünglichen Archetypen Wesen und Unwesen, Sinn und Wahn, Gestalt und Ungestalt der Zeit unterschieden werden.

Doch auch die Archetypen wandeln sich. Alles wandelt sich, steht im Werden, überschreitet sich, um zu sich selber zu kommen. Auch die dauerndsten Bilder. Die heutige Welt der Söhne ist nicht mit dem Ideal des Sohnes von Alt-China zu erschließen. Die unbedingte Botmäßigkeit der Söhne, die von der gesamten väterlichen Zeit, auch der väterlichen Zeit des Christentums, gefordert wird, kann heute nicht der Maßstab sein. Eine neue Sohnlichkeit erschließt sich uns. Vielleicht zum erstenmal die ganze. Sie war schon lange im Kommen. Seit der Geburt des »Sohnes«. Doch ihr Kommen war bis heute verhindert von den Vätern und der wilden Rebellion der Söhne gegen die Herrschaft der Väter. Doch nun will sie sich endlich im existentiellen Dasein enthüllen, die neue Konstellation im überzeitlichen Gesicht der Söhne. Und die beurteilende Entscheidung über Wesen und Unwesen des Zeitalters muß aus neuer, der jetzt herausgeforderten Bildkraft des sohnlichen Urbildes heraus geschehen. Die Zeit und das Überzeitliche stehen in korrelativem Wachstum. Beide sind bedürftig. Die Zeit braucht das Überzeitliche zum Maß, das Überzeitliche braucht die Zeit zur Herausforderung seines gültigen Gesichtes. Das mag heute das Schwierige sein, worüber die Zeit vielfach zum Sturze kommt: mitten im Werden aller Maße gültig zu messen. Anders aber kommen wir nicht auf die von uns geforderte Weise durch.

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Jeder neue Archetypus hat sich durchzusetzen durch eine feindliche alte Welt. Doch verwirrender vielleicht ist noch der Durchbruch des eigentlichen Bildes durch eine Welt von noch unverständlichen Versuchen. Denn der Möglichkeiten sind immer viele, die Notwendigkeit aber ist Eine. Die Möglichkeiten scheinen sich auszuschließen &endash; das wirklich Gemeinte aber schließt alles in sich ein.

Der Durchbruch eines jeden neuen Archetypus ist schwer. Und weit entfernt von aller Vollkommenheit. Auch geistige Geburt geschieht wie die leibliche voller Wehen. Die Welt ist immer eng für das Kommen von Gestalten göttlicher Dimension. Vielleicht ist der Menschwerdung kein Gedanke so fremd wie der der Vollkommenheit. Es gibt selbst keine Gottwerdung ohne die Wehen des Werdens. Der Haß gegen die Vollkommenheit der idealen Bilder der Theologie und der idealen Begriffe der Metaphysik wurzelt in der heutigen Erfahrung des Menschen von der existentiellen Not aller Genesis. Die Söhne sind Fanatiker der Geschichte &endash; doch sie erfahren zugleich deren fatale Tragödie.

Wer die heutige Zeit einer offenbaren Weltwende von sogenannten guten alten Zeiten oder vom höheren Plan aus mit den Engelsaugen der geistigen Väter betrachtet, der kann nur Wahnsinn sehen. Der kann, selbst von Maya verblendet, nie die dichte Maya durchbrechen, die die Augen der Heutigen so dicht verschleiert, daß sie die Zeiten, von denen wir herkommen, nur als endlich überwundene Finsternisse sehen und blindlings alles Neue bejahen, nur weil es neu ist und anders und nicht der verfluchten Vergangenheit, der Zeitenhölle angehört.

So wächst Maya an Maya. Im Tumult der falschen Affekte aber kann weder das Neue unverzwängt durchbrechen, noch das Alte im selben Gotteszug der Menschwerdung gesehen werden.

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Die Zeichen der Zeit sind nicht mehr von den Vätern, doch auch nicht wieder von den Müttern bestimmt.

Ein neuer Archetypus ist da und will durch die alte Welt, deren Formkraft ausgegeben und ermattet ist, durchbrechen. Was immer wieder Generationen erfuhren, das erfahren wir als aionische Wendung.

Der neue Archetypus des sohnlichen Menschen läßt sich nicht auf die beiden elterlichen Archetypen zurückführen.

Das aber ist die uralte selbstverständliche Annahme der Mütter und der Väter. Sie denken, daß das, was von ihnen stamme, so sein müsse wie sie selbst. Und was sie von urher gedacht haben, das ist heute der selbstbetrügerische Gedanke aller mütterlichen und väterlichen Typen, mit dem sie sich über die unbequeme Realität des neuen Typus Mensch hinwegsetzen. Haben denn die Söhne und Töchter etwas anderes zu sein als beider Eltern abbildliche Kreaturen? Und haben sie etwas anderes zu sein als die kommenden Mütter und Väter?

Solange aber die Mütter und die Väter nur sich selber wollen, nicht die Söhne als Söhne, solange werden sie die Zeichen der Zeit nie verstehen, der schaffenden Geschichte im Wege stehen und nur um so rücksichtsloser aus dem Wege geräumt werden. Denn dann wachsen die Söhne und Töchter nicht zum Ganzen des Urzusammenhangs aller Glieder der göttlichen Familie, dann wachsen wilde Abtrünnlinge, die sich nicht genugtun können in immer schrofferem Anderssein. Hier versammelt sich heute die Tragödie, die einmal unheilvoll genug den Urbund der Mütter und Väter zerriß, als schon diese Beiden für sich alles allein sein wollten.

Die Mütter und Väter aber, unter sich zur Feindschaft verführt, können gegenüber ihren Kindern dies Einsehen haben, war doch das Opfer ihrer selbst ihre Stärke:

Daß Himmel und Erde lange zu leben und zu dauern vermögen,

Ist, weil sie nicht sich selbst leben.

So sagt Lao-Tse im siebenten Spruch des Tao-Te-King.

Wir haben heute keine Wahl, zu bekennen, daß wir Söhne von Beiden herkommen, von den Müttern wie von den Vätern. Es gehört zum Archetypus der Söhne und Töchter, daß in ihnen ein doppeltes Erbe mächtig ist.

Dies Erbe aber würde eine bloße Last sein, wenn wir es nicht mit einem schöpferischen Ansatz in eine neue eigene Bestimmung verwandeln könnten. Ebenso wie zum ganzen Erbe sind wir zur Wandlung bestimmt, in der wir nicht nur die Summe der beiden Eltern bleiben. Denn niemals addiert die Geschichte. Sie will Steigerung.

Wenn wir ein Buch des Gedenkens und Dankes schreiben, so geschieht dies nicht aus dem sentimentalen Grund einer romantischen Verklärung früherer Welten, zu der wir durch das Unbehagen an der Moderne verführt werden könnten. Im Gedenken und Dank liegt ein Doppeltes: die Verbindung mit den unvergeßlichen, weil unsterblichen Taten der Mütter und der Väter für das Kind Mensch &endash; und zugleich die Besinnung auf die der großen Tradition würdige eigene archetypische Bestimmung.

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Es ist das Paradoxon aller Urbilder, daß sie zu äußerst besondere Gestalten, zu innerst aber ganzheitlicher Natur sind. Vielleicht sind die Verwirrungen der Welt auf diese Konstellation zurückzuführen.

Das Sondersüchtige aller Träger von Namen und Bildern gründet darin, daß sie in aller ihrer Besonderheit Träger des Ganzen sind. Das verführt sie zu einer Selbstgenugsamkeit, die zugleich ein Ausdruck ihrer Göttlichkeit und Widergöttlichkeit ist. Die Sünde des Weltseins liegt nicht in der Besonderung &endash; sie beginnt immer erst mit dem dämonischen oder dem satanischen Willen, alles allein zu sein.

Dies alles ist schon in den Müttern und den Vätern. Sie sind besondere Gestalten im göttlichen und im menschlichen Bereich und sie sind doch beide in sich wie miteinander ein Ganzes. Mütter und Väter sind so gewaltige Welten, daß sie weithin in sich selber auskommen. Die Geschichte verzeichnet dies auf ihre tragische Weise. Die Mütter konnten wähnen, daß der Himmel nur ein Zelt um ihre Erde sei. Die Väter aber konnten die Erde als Abfallsort von ihren Himmeln betrachten. Die beiden Weltseiten sind so voll eigenen Sinnes, daß sie versuchten, sich selber zu genügen. Das Geistesleben erschien den Vätern als Eines und Alles wie der Lebensgeist den Müttern. Das war die fortwährende Verführung der Mütter und der Väter zum Eigensein und damit zur Trennung voneinander und zu ihrem kosmischen Ehebruch, aus dem die Tragödie geboren wurde.

Es kann darnach nur Selbstgerechte verwundern, daß in der jungen Welt der Söhne die Tragödie der Mütter und Väter sich fortsetzt. Die Söhne haben ein eigenes Wesen, dem ein eigenes Unwesen entspricht. Und sie teilen mit den Müttern und den Vätern die große Verführung, aus eigener Ganzheit heraus alles allein sein zu wollen.

Die Söhne folgen dem gesamten Weltgeschehen darin, daß sie ihren eigenen Aion haben zu eigener Bestimmung. Dies aber ist nicht möglich ohne Ablösung von den Müttern und den Vätern. Die Söhne sind zur Mündigkeit berufen. Daran ändert heute kein Mißbrauch. Die selbstverantwortliche Mündigkeit gehört zum Archetypus der Söhne. Die Zeit unmündiger Kreaturseligkeit ist vorbei, so sehr sie von den Vätern und von den Müttern gehalten und zurückgerufen wird. Hier gibt es kein Zurück. Die zeitliche Unmündigkeit ist ein Beweggrund zur endlichen Mündigkeit des Sohnes Mensch. Wer Sohn sagt, sagt Mündigkeit.

Es gibt keine Mündigkeit ohne kreativen Sinn. Es gibt heute für den Menschen keine Geborgenheit mehr im Sinne des Kindes Mensch im Zeitalter der Mütter und keine Gezogenheit mehr im Sinne der Zöglinge der Väter. Wir selber müssen durchkommen. Damit aber tritt notwendig der kreatürliche Sinn zurück vor dem kreativen. Das Selbsttätige tritt an die Stelle des Für-uns-Tuns der Mütter und Väter. Es ist nicht zu verwundern, daß damit eine härtere und angespanntere und zugleich chaotischere Zeit da ist. Es kann dies gar nicht anders sein, wenn alle auf ihre Weise sich bemühen müssen, schaffend an einer neuen Welt tätig zu sein. Wir zahlen einen höchsten Preis für das heute allein zauberhaft Anziehende: die kreative Freiheit des Sohnes Mensch.

Hier jedoch ist das Zentrum, in dem es nur ein Schritt ist von unserem schöpferischen Wesen zu unserem demiurgischen Wahn. Hier ist das strahlende Licht unserer Zeit und der Große Schatten.

Mündigkeit heißt Lösung von den gefangensetzenden Banden der Mütter und der Väter &endash; sie bedeutet jedoch nicht Scheidung von den Müttern und den Vätern. Mündigkeit heißt Selbstverantwortung &endash; sie bedeutet jedoch nicht willkürliche Eigenmacht. Mündigkeit heißt kreativer Sinn &endash; sie bedeutet jedoch kein Vergessen, daß wir uns nicht selber gemacht haben.

Im Namen und im Bilde des Sohnes ist das Eine &endash; das Andere ist in ihm nicht. Sohn bedeutet nicht Nihilismus &endash; Sohn bedeutet die jetzige Kraft, den Nihilismus zu überwinden. Wenn der Nihilismus so tödlich einzureißen vermochte, dann im Unbestimmten von abstrakten Worten wie Freiheit, Autonomie .... In diesen Abstrakta ist alles grenzenlos. Erst ein göttlich-menschliches Gesicht wie das des Sohnes bringt in die wüste Grenzenlosigkeit, in der alles möglich ist, feste Bestimmung. Der Name und das Bild des Sohnes sind weiter und bestimmter als die maßlosen und damit fanatisierenden Abstrakta.

So brachte einmal der Name und das Bild des Vaters göttliche Bestimmung in die furchtbare Unbestimmtheit der Macht und Gewalt der Herrschaft. Und so geschieht Weltenwende, wie einmal durch den Namen und das Bild des Vaters, heute durch den Namen und das Bild des Sohnes.

Hier erweist sich die Heilsnotwendigkeit magischer Namen und mythischer Bilder. Es versammeln sich in ihnen ganze Welten, doch nicht zu unverpflichteter Allgemeinheit wie in den abstrakten Begriffen, sondern zu verpflichtender Fügung.

Sohn ist ein offenes Wort. Es hat nichts von dem fanatischen Ansich und Fürsich der Begriffe. Es ist offen zu den Müttern und Vätern. Es ist zu den Brüdern offen. Es ist heute das universalste Wort, das allein würdig ist, das aionische Wort »Mutter« und das aionische Wort »Vater« abzulösen.

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Die selbstverantwortliche Mündigkeit ist das zu erreichende Maß des Neuen Zeitalters der Söhne. An diesem Maß scheidet sich, was heute wirkliche Bestimmung und was bloße Reaktion altgewohnter väterlicher Ordnung der »Herrschaft« ist.

Es muß aber gesagt werden: es ist die noch chaotisch-unreife, sich selber noch nicht erfassende Welt der Söhne, die immer noch und immer wieder die routinierte Herrschaft von Epigonen des Vatertums notwendig macht.

Es gelang dem jungen Volk der Söhne noch nirgends, seine neue bewegliche Ordnung einer Gemeinschaft von Freien zu errichten, in dem sich das freischöpferische und gemeinschaftsbildende Element gegenseitig befruchten. Die falsche Grenzenlosigkeit der Freiheit führt zum Chaos, das Chaos führt auf fatalem Wege zurück in die überwundene Herrschaft der großen Raubtiere. Die falsche Grenzenlosigkeit des kollektiven Willens aber führt auf ihrem Wege wieder zurück in eine neue kreatürliche Unmündigkeit des Volkes: selbst der revolutionärste Geist wird heute riesigen Apparaten molochischer Soziokratie aufgeopfert.

Ordnung ist immer sekundären Ranges. Wo aber der primäre schöpferische Impuls in wilder Blindheit wie ein Element ausbricht, da ruft das entstehende Chaos der Ordnung. Der Geist der Schöpfung ist immer dem Chaos benachbart. Ohne den Raum des schöpferischen Nichts ist kein Neuansatz. Das neue Geschlecht der Söhne aber hat noch kein echtes Verhältnis zur doppelten Wirklichkeit von schöpferischem Chaos und schöpferischer Ordnung. Es weilt gerne im chaotischen Vorbehalt &endash; um dann um so hilfloser einer fremden Ordnung wieder zu verfallen. Der väterliche Geist aber ist mächtig an Ordnungsmacht. So gewinnt er leicht seine »Herrschaft« zurück. Wir aber sind zurückgeworfen auf uralte versklavende Ordnungen, die nicht mehr unsere Sache sind.

In jeder der äußeren Revolutionen der Neuen Zeit kamen darum die Väter wieder wie Gespenster zurück, die keine Ruhe finden können, da wir ihnen etwas schuldig sind. Denn je haltloser sich die Revolution gebärdet, um so mehr drängt sich die Reaktion des immer von außen stabilisierenden Elementes der väterlichen Herrschaft auf. Das erklärt das Unerklärliche, warum wir im Rasen der neuzeitlichen Revolutionen keinen Schritt weiter kommen.

Es ist aber mehr Dynamit in der inneren Revolution der Söhne als in der rotesten Revolution. Ohne diesen inneren wie zugleich gesichtshaften Neuansatz des Menschen als des Sohnes ist aller äußere Umsturz, auch der blutigste, illusorisch. Es genügt nicht, mit einem alten Geist das Alte zu stürzen. Wo kein neues Urbild uns wandelt, kehren wir immer wieder zum alten, überlebten Bild zurück.

Das Vatertum kann allein durch eine ebenbürtige Macht innerlich überwunden werden. Die Söhne sind die den Vätern ebenbürtige Macht, denn sie stammen aus derselben göttlichen Schicht. Die Zeit der Väter ist um &endash; die Söhne aber sind dazu bestimmt, das ewige Vatertum von innen her weiter zu tragen.

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Es liegt der Anschein nah, daß es mit den sohnlich entfesselten Energien der Neuen Zeit ein Ende habe. Und die Mittelalterlichen reden denn auch mit Genugtuung vom »Ende der Neuzeit«. Und ihre geschäftigen Lemuren können nicht erwarten, bis sie den Faust der Neuen Zeit in das von ihnen geschaufelte Grab legen können. Der Wunschtraum vom »Neuen Mittelalter« ist leicht durchschaubar.

Der Anschein trügt. Es handelt sich um reaktionäre Pseudomorphosen, die durch die unmündige Mündigkeit des Sohnes Mensch hervorgerufen werden. Es ist kein echtes Vatertum, das da wiederkehrt. Was sich als routinierte Beherrschung kreatürlicher Massen auswächst, das hat mit dem großen Vatertum nichts zu schaffen, das die Welt in gewaltigen Schranken überlegenen Geistes hielt. Die »Herrschaft« im echten väterlichen Sinne des Wortes ist zu groß, als daß sie verwechselt werden dürfte mit der doch nach der Masse schielenden Herrschaft derer, die keine Herren mehr sind.

Es ist eine absteigende Macht, die sich heute mit dem Gewicht des Gewohnten durchzusetzen vermag. Und es sind nur scheinbare Triumphe, die die Restauration in den Schwächeanfällen einer revolutionären jungen Welt zu erringen weiß.

Die Welt bleibt Chaos. Und das Unbehagen an der heutigen Zeit rührt von dem verwirrenden Durcheinander der ältesten und jüngsten Elemente. Alle Weltstile sind heute an der Tagesordnung. Das deutet auf das Chaos der Wende. Und das deutet auf das eigentlich Gemeinte: Keine der Welten ist ausgeschlossen, jede ist auf ihre Weise wirksam, kommt es zur echten reifen Welt der Söhne. Denn in dieser liegt ein konservatives Element wie ein revolutionäres.

Das aber muß entschieden sein, wer der Träger heute ist. Wir bleiben solange im Unverantwortlichen, solange wir zwischen bloßer Revolution und bloßer Reaktion im Unentschiedenen schwanken. Erst wenn wir zu unserer eigentlichen Bestimmung stehen, zur sohnlichen, ist alle bloße Revolution und alle bloße Reaktion zugleich überwunden. In echter Sohnschaft ist das Vatertum im doppelten Sinne Hegels »aufgehoben«: als zeitliche Macht überwunden, als allzeitige Macht aber in seiner Wirksamkeit bewahrt.

Es ist eine elementar neue Welt zu ordnen. Das aber vermögen nur die, die dieser neuen Welt zugehören. Es ist nur eine Scheinordnung, bemächtigt sich alte Routine der neuen Dinge. Es ist das stabilierte Chaos. Der Geist der Ordnung muß dem Geist der Schöpfung entsprechen. Väterliche Typen fassen die kommende Welt nicht mehr. Und nicht die revenants der alten Herrschaftsordnungen geben heute die neuen Zeichen &endash; diese entstammen dem neuen jugendlicheren, weil sohnlichen Typus Mensch.

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Es ist nicht jung, der Art der Söhne entsprechend, sich von Niederlagen abschrecken zu lassen. Wo müde Töne vom Ende des Menschen uns zu lähmen versuchen, da sind noch die alten Mächte am Werke, die auf das Ende der Welt drängen. Der Haß der Väter gegen das unbegreifliche Leben wirkt fort als Gift im Blute der Söhne. Der Haß galt den Müttern und sie, die Ohnmächtigen, waren zu schlagen, wenn auch nicht zu vernichten. Wenn heute der Daseinshaß der Väter sich gegen die Söhne richtet, so bleibt er ohnmächtig: die Söhne sind nicht mehr zu schlagen &endash; es sei denn, sie schlagen sich selber. Für eine sohnlich-junge Welt sind die heutigen Katastrophen, auch wenn sie eine unvergleichliche Bedrohung des Menschen bedeutet, kein Zeichen des Endes: es sind turbulente Akte in unserer dramatischen Reifung zum Ganzen des Menschen und zum Ganzen der Welt.

Es fehlt aber den Söhnen der Schlüssel zu sich selber. So vermögen sie nicht, aus ihrem eigensten Herzen ihr eigenes Gesicht zu sehen, in dem alle ihre scheinbar auseinanderfallenden Züge zu einem untrennbaren Ganzen verschmolzen sind. Die Söhne, überbestimmt von alten Bildern und in bloßer Abwehr gegen sie, kennen ihr eigenes Urbild noch nicht. Sie wissen nicht, daß sie der Mensch selbst sind, der Sohn der mütterlichen Erde und des väterlichen Himmels. Ohne den Schlüssel ihres eigenen Urbildes aber haben die Söhne auch nicht die Kunst, sie selber zu sein und gerade dadurch und nur dadurch die Erben der Mütter und der Väter.

Erst wenn der Neuen Zeit zum Bewußtsein kommt, daß sie die Zeit der Söhne ist, ist sie der Wende gegenüber der vieltausendjährigen Väterwelt gewachsen. Denn das Urbild der Söhne allein entspricht der urbildlichen Sphäre der ersten Träger der Welt, der Mütter und der Väter.

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Die Söhne brauchen die eigene Wurzel wie die Mütter und die Väter sie brauchten. Der Mensch kann auf die Dauer nicht ohne Wurzel leben. Er ist das Wesen mit der göttlichen Wurzel. Verliert er die Wurzel, wird er wieder zum Tier. Das geschieht heute welthin. Und solange sich der Mensch nicht wieder verwurzelt, solange bleibt er im Tier. Die Mütter schufen den ersten Menschen, daß sie ihn wieder in die Erde einwurzelten. Doch dies brachte dem Menschen noch kein Genügen: er kann nicht wieder zur Pflanze werden. Die Väter haben den Menschen wieder der Erde entrissen, um ihn in die Himmel zu verwurzeln. Doch sie wiesen ihn damit erneut in einen fremden Bereich. Denn der Mensch kann auch nicht Engel sein. Er hat eine Engelnatur wie eine Tiernatur in sich &endash; beide Naturen aber sind nicht seine eigenste Natur. Die eigene Wurzel des Menschen, des Sohnes, liegt weder in der Erde, noch im Himmel.

Dem oberflächlichsten Volk des Menschen, dem der Söhne, ist die tiefste Wurzel gegeben. Dem Vordergründigen der Söhne entspricht in genauem Gesetz deren Hintergründigkeit. Sie tragen die Wurzellosigkeit des Stiers nicht ohne tiefen Grund in sich. Und sie sind nicht von ungefähr wieder der Erde entrissen worden und sie haben sich nicht von ungefähr wieder dem Himmel entrissen. Die nun doppelt Wurzellosen sind geschickt, die Wurzel zu finden, in der die Erde und der Himmel gründen.

Das ist in der uralten Ahnung, daß der Sohn vor der Mutter und dem Vater sei. Diese Ahnung ist der paradoxe Ausdruck der Erkenntnis, daß im Sohn der Ursprung selber vor der Trennung der beiden Ursprünge mächtig ist.

Alle Archetypen stehen auf ihre Weise dem Absoluten nah und sind in ihrer Willigkeit Organe der göttlichen Geschichte. Durch sie geschieht alle Gottwerdung, Weltwerdung, Menschwerdung. Die Mutter ist Organ des Absoluten durch die tiefe Leere des empfänglichen Nicht-Seins. Der Vater entspricht dem Absoluten durch den Überschuß an zeugendem Geist. Der Sohn scheint dem Absoluten ferner zu sein als die beiden Ursprünge: er ist ihm aber näher als die nicht mehr geschiedene, die wieder ent-schiedene All-Einheit.

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Das Leben aus der ganzheitlichen Wurzel ist die neue, wenn auch schon immer im Geheimen mächtige religio des Menschen, des Sohnes. Es ist die religio der Ursprünglichkeit.

Um Ursprünglichkeit geht es in allen drei Religionen: in der der Mütter, der Väter und der Söhne.

Es gehört zum Geheimnis des integralen Seins, daß die Freiheit auch eine Treue, die Treue auch eine Freiheit ist. Die Treue ist die Freiheit zu den Ursprüngen. Wir haben das Offene nicht nur vor uns wie die Besessenen vom Fortschrittswahne glauben. Das Offene vor uns lebt vom hintergründig Offenen. Der Mensch aber ist das Wesen, das zu den Ursprüngen offen steht. Er ist der Aufgerissene der Schöpfung. Das innere Offensein des Menschen ist seine Heilige Wunde. Die Ursprünge sind die Quellen der Schöpfung. Sie liegen weit hinter uns und sind uns doch immer zuvor. Die Ursprünge sind der göttliche Vorsprung des Menschen. Wer zu den Ursprüngen offen ist, der ist zum Sprung in das Kommende frei.

Unsere sohnliche Freiheit aber wehrt sich mit Recht, in die Ursprünge zurückzukehren, wiederverschlungen zu werden von der Großen Mutter, aufzugehen im Himmel des Heiligen Vaters. Denn das bedeutet religio im Raume der Mütter und der Väter: den Rückzug des Menschen in das Leben der Erde oder in den Himmel des Geistes. Erst in den Söhnen erreicht Ursprünglichkeit ihren eigentlichen Sinn: sie sind die wirklich Urspringenden.

Die Söhne entspringen dem doppelten Quell, dem des unbewußten Lebens und dem des bewußten Geistes. Auch dies ist für sie unabdingbar eigentümlich. Doch damit ist erst das große »Und« ausgesprochen, mit dem die Söhne die beiden elterlichen Ursprünge verbinden. Die Söhne vermögen aus beiden Wurzeln zu leben, da in ihnen die ganzandere Wurzel lebt: der Ursprung der Ursprünge. In der Kraft des eigenen Ursprungs sind die Söhne ein eigener Typus. Und in der Kraft des eigenen Ursprungs beruht ihre Unabhängigkeit.

Als die Ursprünglichen erfahren die Söhne, daß die elterlichen Ursprünge aufeinander hingeordnet sind und daß die Scheidung der Welten nur vorübergehend ist und überwunden werden muß. Doch das Bewußtsein der Söhne muß noch tiefer gehen, muß erfahren, daß die elterlichen Ursprünge zueinander gehören, weil sie auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen, den kein Name und kein Bild erreicht. Der innere Polarismus, der heute in uns in Erscheinung tritt, ist noch nicht das letzte Wort der Söhne. Er ist zu sehr nur die Wiederaufnahme der polaren Welt der Mütter. Im inneren Polarismus der Söhne kündigt sich ein Sein an, das ungetrennt und namenlos ist. Wir ahnen dieselbe Wurzel des Lebens und des Geistes.

Die Chinesen meinten dieses Sein, als sie die polaren Welten von Yin und Yang, des Dunklen und des Lichten, zurückgehen ließen auf das namenlose Tao. Sie kannten aber das Tao, das Ursein, weil sie wie kein anderes Geistvolk den beiden Weltseiten, der weiblich-mütterlichen wie der männlich-väterlichen ehrfürchtig die Treue hielten.

Wir aber vermögen wiederum den ganzanderen Ursprung, die vierte Dimension, das Sein selbst zu erfahren, weil wir als Söhne auf Tod und Leben angewiesen sind auf die ganze, die ungespaltene Wurzel der Welt.

Die beiden elterlichen Ursprünge sind nicht mehr alles. Schicksal und Vorbestimmung sind in der Ursprünglichkeit der Söhne als Tyrannen entthront. Das angsterregende große »Es« der mütterlichen Ananke und der väterlichen Prädestination vermag die Freiheit der Ursprünglichen nicht mehr zu vergewaltigen. Die Söhne selber sind es. Sie sprechen: Wir sind. Sie hängen nicht mehr wie Anhängsel an der Erde oder am Himmel. Das Wort »religio« im alten Sinne ist überschritten. Das Areligiöse der Söhne hat seinen guten Sinn. Keine Macht vermag die Söhne mehr zurückzureißen in die elterlichen Religionen. Doch das Areligiöse ist noch ein Mißverstand. Die Söhne wissen noch nicht um ihre Ursprünglichkeit als um ihr eigenstes Wesen.

Als doppelte Freiheit gelangt Ursprünglichkeit in den Söhnen erst in ihr eigentliches Element. Ursprünglichkeit ist schöpferische Freiheit zur Herkunft und zur Zukunft. Ursprünglichkeit ist der Quellsprung aus dem Offenen in das Offene.

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Es ist innerste Fügung, daß in der bedeutungsvollsten der Weltreligionen der »Sohn« im Mittelpunkt steht.

Denn der Name und das Bild des Sohnes bedeuten die Versöhnung der Welt. Der Mensch als Sohn trägt beide Weltseiten in sich. Er lebt das Leben der beiden Pole. In den Müttern sind auch die Väter, in den Vätern sind auch die Mütter. Doch allein in den Söhnen sind die beiden Weltseiten zugleich und ebenbürtig mächtig. Im Sohne ist die innerste, die integrale Beschaffenheit der Welt ein »Offenbar Geheimnis« im Sinne Goethes. Aus dem Schmelzpunkt vermag der Sohn das Getrennte wieder zu vereinigen.

Ist der Sohn jedoch nicht Sohn, verweigert er sich seinem eigenen Namen und Bild, dann wird aus der Figur der reintegratio magna die der maximalen Desintegration.

Das kann nicht anders sein. Wer alles zu vereinigen hat, muß von allem gelöst sein. Der vereinigenden Kraft muß die lösende vorausgehen. Lösung ist die Vorbedingung der sohnlichen Bindung.

Bis jetzt aber blieb der sohnliche Mensch, der zum Zuge gekommen ist, in der Vorbedingung seiner Sendung stecken. Über der Notwendigkeit, Freiheit gegenüber allem zu gewinnen, was ihn einseitig bestimmte, hat der Mensch als Sohn den positiven Sinn seiner Freiheit vergessen, den zerrissenen Gott wieder zu vereinigen. Die negative Freiheit aber ist noch nicht der dem Sohne Mensch vorbestimmte Raum &endash; nur der Raum, der dem Ursprung entspricht, kann das sein: das Offene.

Um die beiden äußersten Möglichkeiten des Sohnes Mensch, die maximale Reintegration und die maximale Desintegration, kreist jetzt die menschliche Welt.

Heute ist das Wort »Integration« ein Schlagwort der Zeit geworden. Als wir es vor dreißig Jahren zum ersten Male &endash; nach dem Vorgange Franz von Baaders &endash; aussprachen, da war es ein noch sehr einsames Wort. Daß die Zeit auf diesem Wort insistiert, ist bedeutungsvoll &endash; auch wenn das Schlagwortartige dazu bestimmen könnte, es zu vermeiden. Warum spricht die Zeit nicht von Vereinigung, Union? Es liegt wohl daran, daß sie etwas Neues in dem neuen Worte spürt. Und das Wort bedeutet denn auch mehr als einen durch seine Ungewohntheit lebendigeren Ersatz für alte abgenützte Worte. Integration hat nichts zu tun mit allen äußeren Unionen unvereinbarer, weil schon ausgeborener Mächte. Und es hat nichts zu schaffen mit intellektuellen Synthesen, die im luftigen Raume Begriffe miteinander verheiraten und Worte miteinander paaren. Integration bedeutet in seinem eigentlichen Verstande gegenseitige Durchdringung und Verschmelzung von Kernwirklichkeiten. Reintegration als aionische Aufgabe der Söhne aber bedeutet die Wiederineinanderbildung des zerrissenen Ganzen des Seins.

Als gegenseitige Durchdringung, ja als Ineinandermächtigsein der Wirklichkeiten ist Integration keine idealistische Forderung, wie sie im Zeitalter des Logos von oben und von außen an uns zu ergehen pflegte. Es ist das Geschehen, in dem der Mensch wie die Welt existiert. Es ist das Geschehen, das den Menschen und die Welt allen unseren Scheidungen zum Trotz zusammenhält und immer wieder zusammenschafft.

Wenn dies Grundgeschehen in uns erst zum entschiedenen Bewußtsein kommt, so hängt dies zusammen mit der jetzt erst zum Bewußtsein ihrer selbst kommenden Zeit der Söhne. Das Pathos der Mütter ist die Allheit, durch die sie alles ausschlußlos umschoßen. Das Pathos der Väter ist die Einheit, auf die sie alles als auf den ausschließlichen Grund zurückführen. Wir sind noch krank an diesem Einheitswahn. Die Einheit im Sinne der Väter aber kann nicht Sache der Söhne, der immer Vielen sein. Doch es gibt auch keine Rückkehr in das wahllose »Pan« der Mütter.

Wir sind, sind wir in unserem neuen Element. In ihm lebt das Pathos der Mütter und das der Väter weiter, das einmal die Welt trug. Unser Element ist dynamischer. Die Söhne sind die Früchte der mütterlichen Transparenz und der väterlichen Penetrierung. Die Söhne sind Kinder der elterlichen Integration. Und wie sie geschaffen werden, so sind sie. Sie sind der Schöpfungsakt selbst &endash; so ist das Schöpferische ihr Teil: das Ineinander der zeugenden und der empfangenden Kraft. Sie sind die Auseinandergeschaffenen &endash; darin beruht ihre desintegrierende Kraft. Doch letztlicher noch sind sie die Zusammengeschaffenen &endash; und darauf beruht ihre letztlichere reintegrierende Kraft.

Es ist die neue Gelassenheit in der von Unruhe zerfetzten Welt der Söhne, daß sie wissen, daß im Grunde geschieht, was sie zu tun haben. Aufgabe ist immer identisch mit der Gabe. Sollen ist immer identisch mit dem Sein. Gott &endash; Welt &endash; Mensch: im Grunde sind sie Integration. Das ist in aller Unruhe der Söhne die Ruhe, sich eins zu wissen mit dem Grund der Welt.

Ebenbürtige Bestimmung der Töchter

Die heutige Weltzeit ist nach den Söhnen zu nennen, denn diese bestimmen die Zeichen.

Das aber heißt nicht, daß das töchterliche Weib auszuschließen sei als Träger der heutigen Weltwende.

Es war allzeit dabei, war in der Wende der Mütter, war in der Wende der Väter &endash; in der Wende der Söhne aber ist es mit diesen zusammen auf dem gemeinsamen Weg.

Es gehört wie der Sohn in die Reihe der göttlichen Urbilder. Es ist im Mythos eine dem Sohn ebenbürtige göttliche Figur. Man denke etwa an Apollon und Artemis, vielleicht aber noch eher an das drastischere Beispiel der beiden Lieblingskinder des Zeus, Apollon und Athene.

Das Wort »Tochter« hat nicht dieselbe sprechende Art wie das Wort »Sohn«. Im Wort »Sohn« drängt alles zur Sprache: der uralte Bund mit den Müttern oder den Vätern, die Transzendenz zur Tiefe der Erdmutter und zur Höhe des Weltvaters &endash; wie das Eigene der Bestimmung zum Vorwärtsschreiten in das Neuland der Zukunft.

Das alles ist auch im Wort »Tochter«, doch es klingt darin nicht auf. Es ist ein unausgesprocheneres Wort. Man spürt, daß mit ihm nicht dasselbe geschah wie mit dem Worte »Sohn«: man erfährt in ihm nicht die Gewalt der christlichen Urgeschichte. Es blieb in dieser Geschichte zurück. In ihr kam die »Jungfrau« in ihre Bedeutung. Und es könnte sich die Frage erheben, ob »Jungfrau« zu sagen wäre. Doch dies kann nicht sein, denn die »Jungfrau« gehört in eine zu enge dogmatische Bestimmung: die »unbefleckte Empfängnis« dient dem Perfektionismus der Väter, der das Geschlecht ausschloß, ohne die Mutter ausschließen zu können. Das aber ist hier nicht gemeint, wenn von den Töchtern als den Mitträgern der heutigen Weltwende die Rede ist.

Der Name der »Jungfrau von Orleans« könnte uns eher bestimmen, mit dem Wort »Jungfrau« das Wort »Tochter« zu vermeiden. Sie stammt aus natürlicher Geburt und ist doch verbunden mit transzendenten Mächten. Sie ist eine Heilige in ihrem Gehorsam gegenüber ihrer Schickung und sie ist eine Heldin, die in die Geschichte der Welt greift und ihr die göttliche Wendung gibt. Da sind wir im Herzen der heutigen Weltwende &endash; die »Jungfrau von Orleans« ist eine ihrer ersten und schönsten Figuren. Sie soll immer mitgedacht werden, reden wir den »Söhnen« entsprechend vom töchterlichen Weibe.

In unserem »Reich der Söhne« aus dem Jahre 1939 haben wir von der »Söhnin« gesprochen. Nicht, um die töchterliche Frau zu vermännlichen. Um das Wort »Tochter« zu vermeiden. Um der weiblichen Partnerschaft zu den Söhnen willen. Um des echten eigenen Sinnes, des stolzen Bewußtseins willen, jetzt mit den Söhnen zusammen Träger der Weltwende zu sein.

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Das Verkennen des Archetypus »Tochter« muß heute wieder gutgemacht werden wie die Verkennung des Archetypus »Mutter«.

Beide schloß eine extreme Patrokratie theistischer Gründung aus. Auf dem Weibe lag nach dem kanonisierten alttestamentarischen Mythos der Fluch der Ursünde. Die Genesis des Alten Testaments beginnt &endash; anders als die Genesis der griechischen Theogonie &endash; mit dem Urfrevel des Weibes. Das Weib ist für den alttestamentarischen Theismus das Inkarnat der Welt, das die Inkarnation Gottes, den Mann, in Adam zu Sünde verführt. Trotz der Hierogamie des Heiligen Geistes mit der Jungfrau, dem ketzerischen Eintreten Jesu Christi für das »sündige Weib«, dem androgynen Charakter des Menschensohnes &endash; gelang es judenchristlicher Patrokratie, das Weib in den minderen Wert zurückzustoßen. Paulus bringt darin die scharfe Entscheidung. Das Weib ist aus dem Mann &endash; das Weib hat darum in der Gemeinde zu schweigen &endash;: so spricht der älteste Geist mitten in der jüngsten, grenzenaufbrechenden Neuen Offenbarung des reicheren Gottes.

Dieser Ausschluß ließ sich jedoch weder in der westlichen noch in der östlichen Kirche der Christenheit aufrecht erhalten. Das christliche Volk setzte die Verehrung der jungfräulichen Mutter Maria durch. Das gestörte, mühsam genug wieder errungene Gleichgewicht wurde, wenn auch mit gesuchten dogmatischen Mitteln, von der mütterlichen Kirche wiederhergestellt. Die Reformation zerstörte jedoch wieder dies Gleichgewicht. Mit der Bibelgläubigkeit wuchs nicht nur die Frohbotschaft des Neuen Testaments, mit ihr wuchs auch der fanatische Theismus des Alten Testaments. Der »Heilige Vater« wurde verworfen, an seine Stelle aber trat der alles mit seiner Allmacht erdrückende Vatergott des Alten Testamentes, in dessen Namen die Theologen ihre neue Macht begründeten. Gegenüber dem allmächtigen Gottvater aber hatte die jungfräuliche Mutter zurückzutreten wie der Mond vor der Sonne. Und mit ihr trat auch der Sohn aus der Mitte der christlichen Urgeschichte an den Rand. Er war nur das Wort der Verkündigung des allmächtigen Vaters. Was aber in der Deutschen Reformation noch reicher angelegt war, das prägte sich mit harten scharfen Zügen im Calvinismus der westlichen Welt aus und erreichte im Puritanismus seine vorchristliche pharisäische Enge.

Die radikale Vermännlichung der westlichen Welt ist nicht ohne dies Doppelgeschehen: die Verdrängung der Mutter und des Sohnes durch die letzte Diktatur des Vatergottes. Das Harte der westlichen Welt, das nun die ganze Welt verwüstet, ist nicht ohne den großen Verlust der weiblichen Weltseite durch die führende Philosophie (man denke an Descartes und Kant) wie die führende Theologie (man denke an Calvin und seinen heutigen Schatten Karl Barth).

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Das allein gottähnliche Vatertum vermochte nicht zu verhindern, daß mit der Befreiung der Söhne von der väterlichen Heteronomie auch die Frau nach ihrer emancipatio, das heißt der Abschüttelung ihrer Bevormundung verlangt.

Der unwiderstehliche Zug nach Mündigkeit reißt heute die gesamte jüngere Welt mit, die sohnliche und die töchterliche. Wenn die Neue Zeit die der Mündigwerdung des Menschen ist, so ist es die Zeit des töchterlichen Weibes wie des sohnlichen Mannes. Und wenn dies auch noch nicht nach dem rechten Namen und dem rechten Bild erkannt ist, so ist der Zug dennoch da und kann durch keine Reaktion mehr gebrochen werden &endash; ob diese nun unter dem Namen Gottes oder der Kommune der Gottlosen wieder Kreaturen will.

Der Sinn des sogenannten »Frauenrechtes« kann jedoch allein in der Ebenbürtigkeit der Frau mit dem Manne liegen, die alle Minderwertigkeit der Frau aufhebt, nicht aber in einer immer totaleren Angleichung der Frau an die Art des Mannes und dessen Welt.

Es ist aber die eigentümliche Tragödie der Frau heute, zu sehr danach zu trachten, wie der Mann zu werden und alle seine Vorrechte sich anzueignen. Denn damit verstärkt die Frau nur die zu äußerst männliche Welt der Gegenwart und bezeugt die Minderwertigkeit der Frau als Frau.

So glaubt heute China zu sich selber zu kommen, wenn es den Westen nachahmt. Im Grunde aber verrät es sich selber und zerstört die Ökonomie der Wesenskräfte der Welt. Es ist heute für den westlichen Wahnsinn einer unbegrenzten demiurgischen Weltmache nichts so notwendig wie der ursprüngliche Osten. Der Osten aber hat in tragischer Situation, da er über die bisherige Lethargie hinaus muß, kein anderes Ziel, als die furchtbare Zivilisation des Westens auf seinen Boden zu verpflanzen. Statt daß es zu Söhnen kommt, die das altchinesische Gleichgewicht der elterlichen Potenzen auf ihre weitere und offenere Weise neu begründen, schaffen junge Nihilisten nach westlichen Vorbild Raum für die beiden niedrigsten Gebilde der Weltgeschichte, den westlichen Kapitalismus und den östlichen Kommunismus.

In der selben Weise aber verliert die Frau heute ihr eigentümliches Recht, wenn sie versucht, sich die extremen Männerrechte anzueignen. Wenn sich auch im sohnlichen Zeitalter die Unterschiede im gemeinsamen Recht, die Welt zu bestimmen, ausgleichen &endash; so heißt dies nicht, daß sich auch die Art dieser Bestimmung auszugleichen hat. Die Zeit hat nichts so notwendig wie die eigentümliche Bestimmung der Frau.

Das ist die Wohltat ausgesprochen weiblicher Völker wie des französischen inmitten der männlichen Raserei des heutigen technischen Willens zur Macht. Es zeichnet sich die noch ungesehene, doch schon reich gelebte Bestimmung dieses Volkes ab, weiblich-herrschaftslos und ohne Anschluß den Völkern ein Lebens- wie Geistzentrum zu sein.

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Schon einmal hat die töchterliche Frau ihre Grenzen überschritten, um sich dem Manne anzugleichen. Das war, als sie als Amazonin gegen die Herrschaft des aufsteigenden Mannes anrannte. Die amazonische Frau schuf Reiche zwischen dem sterbenden Reich der Mütter und dem kommenden Reich der Väter.

Diese Reiche dauerten nicht. Sie scheiterten an der Geschichte, die ein neues Wort aussprechen wollte. Die Amazonen konnten den Siegeszug der männlich-väterlichen Gründung der Welt nicht aufhalten. Auf ihre Weise verneinten auch die Amazonen das versinkende Zeitalter der Mütter, das in der Macht der heiligen Ohnmacht lebte und dessen Zauberwort Friede war. Die Reiche der Amazonen waren Mischreiche zwischen den Zeiten: weiblich-selbstgenugsam wie die Mütterreiche &endash; männlich bewehrt wie die aufsteigenden Reiche der Väter.

Das ist heute an der Erscheinung des amazonischen Weibes zu bedenken: es besiegelt die mannmännliche Welt, die das Weibliche ausrottet. Es dient der Wüste des alleinherrschenden Willens. Das amazonische Weib verrät den Urtypus des Weiblichen an den Mann. Denn, wenn die Waffe siegt, mag es auch eine ideologische sein, siegt der Mann.

Die Dinge aber liegen tiefer. Die amazonischen Reiche erscheinen als Ankündigung des sohnlichen und töchterlichen Integrals, das heißt in ihrer Doppelwesenheit aus mütterlichem und väterlichem Ursprung. Während in den Müttern und in den Vätern das göttliche Integral in zwei Ursprüngen erscheint, ist es wieder gesammelt in den Ursprünglichen, den Söhnen und Töchtern. Die amazonischen Reiche entbehren darum nicht des hohen Reizes. Das amazonische Weib bedeutet eine Transzendierung des mondisch-milden Weibes: in ihm geschehen Steigerungen, ohne die die Menschennatur sich nie erreicht. Es ist keine Urnatur, wenn das Weib als Walküre erscheint. Penthesilea ist ganz Weib, auch noch in der fanatischen Hingerissenheit im Kampfe. Die Doppelnatur des Amazonischen ist keine Verirrung, heute so wenig wie gestern. Auch Athene, die Schutzgöttin Athens, die im Namen ihres Vaters Zeus den Krieg des Geistes beginnt, in dem ihre Stadt mehr glänzt als in all ihrem sonstigen Waffenruhm &endash; auch Athene stellt groß den doppelseitigen Typus des töchterlichen Weibes dar. Im Homerischen Hymnos, der ihren Namen trägt, wird sie angesprochen:

Männlich bist du und weiblich ...

Es ist nie zu vergessen: alles Amazonische versucht, den eigentümlichen Archetypus des töchterlichen Weibes zu erreichen. Auch die heiligen Jungfrauen in väterlicher Zeit stehen unter diesem Zeichen. In ihnen ist die Milde des Lammes, das sich opfert, vereint mit dem Mut der Löwen. Sie sind offener Schoß der Seele gegenüber Gott und sie sind Gepanzerte gegenüber der »Welt«. Sie sprechen mit Maria: Mir geschehe nach Deinem Willen &endash; und sie sind niemandem zu Willen.

In all dem ist der Versuch, das menschliche Integral zu erreichen. Dieser Versuch muß geehrt werden, auch wenn er sich viel verirrte.

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Die heutige Welt muß nach den Söhnen genannt werden, denn in ihr hat sich das männlich-kreative Element entfesselt.

Wir stehen jedoch jetzt in einem Übermaß des Männlichen, einem Übermaß an willentlicher Weltenmache. Durch diese aber wird die gewachsene Schöpfung gefährdet. Der Riß zwischen der gewachsenen und der gemachten Welt wird von Tag zu Tag größer. Es ist unter den Söhnen eine künstliche Welt im Entstehen, vor der die Väter, die Auswanderer aus der gewachsenen Schöpfung, sich bekreuzigen würden. Der finstere Engel des Lichtes wirkt heute in einer neuen, vielleicht letzten Allmacht, in der er mit Gott wetteifert.

Die gewachsene Welt aber ist die weibliche Weltseite. Über den alleinzählenden Werken der männlichen Weltseite ist das Werk der Mütter, das Kind gefährdet. Das Kind ist unter den Söhnen mehr bedroht als unter den Vätern. Die Söhne sind selber zu sehr Kinder, als daß sie den Sinn aufbrächten für das Kind. So aber wächst im Maße der Gefahr die Bedeutung der Mutterrolle des töchterlichen Weibes.

Es wächst jedoch auch im Maße wie die ödeste, die künstliche Welt, die Bedeutung der farbigsten: die der Partnerschaft des Weibes und des Mannes im Spiel der Liebe.

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Es muß, wer Träger ist, in Einer Gestalt alles sein.

Wer als Mutter und Vater Träger der Weltwende war, war mehr als Mutter und Vater, war als Mutter auch Vater und als Vater auch Mutter.

Und das gilt auch für die Söhne und die Töchter des Menschen. Daß sie zu Trägern der heutigen Weltwende werden, dazu genügt nie die bloße Manns- oder Weibsnatur.

Damit aber ist kein abschätziges Urteil über das Männliche und das Weibliche als solches ausgesprochen. Es gibt eine Bestimmung des Weiblichen und des Männlichen an und für sich. Weib und Mann sind Archetypen. Ihre mächtige Wirklichkeit ist nicht anzuzweifeln. Sie sind jedoch niemals Prototypen des zu sich selber kommenden Menschen. Sie sind dies immer nur als Mütter und Väter, als Söhne und Töchter.

Weib und Mann neigen für sich selber immer wieder zur Tiergeschichte. Das Weibchen steht wie das Männchen dem Menschen im Weg. Und ohne Zweifel ist das Allzuweibliche der Mütter und Töchter und das Allzumännliche der Väter und Söhne die Grenze der Reiche des Menschen.

Die Mütter hatten sich hart durchzusetzen gegen das schweifende Manntier, das unholde, friedlose, machtgierige, eroberungslustige. Doch sie hatten auch das Weib in sich zu unterwerfen, das die Willkür des Mannes anzog, weil es sie liebte. Das Unwillkürliche, dessen das Kind bedurfte, im Schoße des Weibes und im Schoße der Welt, mußte das Tierspiel des Mannes und Weibes in Schranken setzen.

Wiederum aber hatten die Väter das Allzuweibliche der Mütter zu überwinden: das ohnmächtige Geschehenlassen der elementaren Natur, die Abhängigkeit von Segen und Unsegen, das der Erde Verhaftete und erdlich Schwere. Doch sie hatten auch mit dem Mann in sich zu ringen, der in der Schwäche der Mutterreiche seine Stunde erneut kommen sah: den wieder in das Gesetzlose ausbrechenden herrischen Mann ohne Grenze und Maß.

Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Ebenso gültig ist: Das Beste der Mütter und der Töchter ist ihre weibliche Natur &endash; das Beste der Väter und der Söhne liegt in ihrer Männlichkeit. Weib und Mann waren niemals Träger der menschlichen Welt &endash; diese aber ist ohne die weibliche Kraft der Verfeinerung und ohne die männliche Kraft der Steigerung nicht denkbar. Wer das Weib als Weib gering schätzt, der muß auch die Mutter verachten. Und wer den Mann als Mann haßt, der muß ihn auch in den Vätern und Söhnen verfluchen. Die heutige, in aller ihre Nüchternheit krankhaft affektive Welt hat kein Recht, jedes Urteil sofort zu einem Todesurteil zu verschärfen. Wie aber kann die heutige Welt, die nur noch Schwarz und Weiß kennt, verstehen, daß Weib und Mann als solche überwunden werden mußten, auf daß der Mensch werde &endash; und daß sie zugleich der Trieb und die Blüte der menschlichen Welt sind?

Weib und Mann aber haben nicht nur ihren Sinn als elementares Potential für Mütter und Väter, Söhne und Töchter. Sie haben ihre eigene archetypische Bedeutung. Der tödliche Ernst der Zeit achtet nichts, was nicht zur Macht bestimmt ist. Wunderbar aber ist, daß es jenseits des Kampfes um die Trägerschaft der Welt noch das Große Weltspiel gibt und die ewigen Spielkameraden. Furchtbar aber ist überall die Welt, wo das Spiel der Liebe die Waage der Welt nicht mehr in schwebendes Gleichgewicht von Schwere und Leichtigkeit bringt. Ein Glück, daß das Leichtbeschwingte immer wieder schwerer wiegt als der bleierne Ernst.

Söhne und Töchter sind ohne Mütter und Väter nicht zu verstehen

Wir müssen endlich wissen, wer wir sind.

Das ist das uns Erregende. Geschichtsschreibung an sich kümmert uns hier nicht. Wenn wir uns der Mütter und der Väter erinnern, so geschieht dies als ein Gedenken der dauernden Mächte, die uns geformt haben und aus denen wir nun zu uns selber wachsen.

Wir können die heutige Weltwende nicht verstehen, ohne daß wir die ihr vorausgehenden Wenden sehen, die wir nach ihren innersten Trägern als die der Mütter und die der Väter bezeichnen. Denn erst die Kenntnis der beiden elterlichen Welten und ihrer Dialektik setzt uns in den Stand, die Wendung zu uns zu verstehen, das heißt, uns als die Söhne zu begreifen.

Soweit wir auch das intellektuelle Bewußtsein vorangetrieben haben, wir sind doch in den Grundantrieben chaotisch. Es überrascht uns immer wieder, in denselben Menschen bei einer äußeren Höchstausbildung einer inneren Unbildung zu begegnen.

Die seltsame Ungebildetheit auch der Gebildetsten von heute geht zurück auf den Verlust der letztlich bildenden Urbilder. In der Leere des verlassenen Allerheiligsten wachsen ungeformte Triebe in ihrer Grenzenlosigkeit. Und so überbewußt die Heutigen sind, so infantil unbewußt sind sie ihrer eigenen bewegenden Gründe.

Es ist der Kurzschluß der Intellektuellen, weil ihnen über ihre Klugheit nichts geht, Urbilder entbehrlich zu finden. Da sie auch im Wahn sind, das Volk sich selber gleich intellektuell machen zu können, bemerken sie nicht, daß dieses Massen von Bildern verschlingt, weil es der letzten bestimmenden Bilder durch sie beraubt worden ist.

Dazu kommt der Aberglaube an den Fortschritt, den das staunende Volk mit den Intellektuellen teilt. Wozu brauchen wir denn Leitbilder, wenn doch die Entwicklung in sprunghaftem Fortschritt sich vorwärts bewegt?

Die andere Seite aber fehlt ihnen. Beginnt einmal das Erschrecken über die gähnende Bahn, das rasende Gefälle, das uns alle, Freund und Feind, das den Menschen selber in das Menschlose reißt &endash; so flüchten wir entsetzt in das Schicksalslose verlassener Mutterlandschaft und längst verwehter väterlicher Gottesstädte: denn es hält uns kein eigenes Zentrum.

Wenn wir hier der Mutter- und Vaterwelten gedenken, so sind wir nicht auf der Flucht in sie. Wir wollen um die Ursprünge wissen, um unsere eigene Bestimmung als Ursprüngliche nicht zu vergessen. Denn sind wir Ursprüngliche, so ist dies der einzige zureichende Dank für die Ursprungswelten. Werden wir jedoch nicht mit den Müttern und den Vätern des Menschen vertraut, so werden wir nie den Menschen als Sohn verstehen. Geht die Zeit aber an der innersten Bestimmung vorbei, an der des Menschen zum Sohne, so geht sie notwendig dem Abgrund zu. Denn wie der einzelne Mensch, so kann auch der Mensch selbst, angezogen und verführt von Scheinzielen und Scheinerfolgen, seiner eigenen Bestimmung verlustig gehen. Darnach aber sieht es heute aus.

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Wir stehen aber einer seltsamen Verschwörung gegenüber. Die revolutionären Mächte gehen mit den reaktionären Hand in Hand, wenn es gilt, dem Menschen die sohnliche Bestimmung, die Frucht der beiden elterlichen Zeitalter zu rauben. Die Väter gehen auch darin den Revolutionären von heute voraus. Und was immer noch von Väterart ist, das versucht krampfhaft, die den Vätern vorausgehende Zeit der Mütter und die auf die Väter folgende Zeit der Söhne als Abfall vom Absoluten, Ewigen &endash; und das ist für die Väter die Väterwelt &endash; der Geringschätzung, wenn nicht der Verdammnis zu überantworten. Die epigonischen Vätergeister schwelgen denn auch in jeder der vielen Schwierigkeiten der Söhne.

Doch auch die Fanatiker des Fortschritts haben kein Interesse an der Enthüllung des sohnlichen Urbildes. Denn Sohn bedeutet eine Herkunft, wo nur die Zukunft, eine Bindung, wo nur das Ungebundene gilt. Der Name der Söhne muß sich gegen den Widerstand des gesamten westlichen und östlichen Wahnes einer unsohnlichen Menschheit durchsetzen. Nicht anders als in der christlichen Urgeschichte der Name des »Sohnes« gegen die sohnlose Gottheit. Wie einmal das theistische System geschlossen gegen den »Sohn« stand, so steht heute das atheistisch-westliche und antitheistisch-östliche System der Moderne gegen den Menschen, den Sohn, der allein in der Macht wäre, den ideologischen Krampf zu lösen.

Doch die Reaktion des Fortschritts und der Fortschritt der Reaktion vermögen nur aufzuhalten, zu verzögern, nicht zu verhindern: der sohnliche Mensch ist dennoch da und wird im Versagen des leeren Menschenbildes von Tag zu Tag notwendiger werden. Wir haben nur die Wahl zwischen seiner von den beiden Seiten, der revolutionären wie reaktionären, erdrückten Mißform und seiner offen bejahten Gestalt.

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Der rationalistische Geist will tabula rasa machen mit allem, was dem Fortschritt im Wege zu stehen scheint: dazu aber gehören die für ihn gespenstischen Urbilder des Menschen. Darum liegt nicht nur auf den Namen von Mutter und Vater, darum liegt auch auf dem Namen des Sohnes ein Sperrfeuer. Denn alle diese Namen gehören zusammen. Sie können nur miteinander verworfen werden.

Der Name des Sohnes darf nicht durchdringen: er würde mit einem Schlage mit allem matriciden und patriciden Nihilismus ein Ende machen &endash; denn im Namen des Sohnes ist auch der Name der Mutter und der Name des Vaters ausgesprochen. Das Nihilistische der Zeit liegt nicht im Übergang von den Müttern und den Vätern zu den Söhnen: es liegt im Versuch, eine neue Welt zu begründen, die von allen Urbindungen abstrahiert. Die Schwindsucht, durch die die heutige Welt in unaufhaltsamer Beschleunigung an Substanz verliert, was sie durch den Scheingewinn an äußeren Gütern einer entfesselten Produktion zu verhüllen sucht, ist fatale Folge der Abschnürung des Menschen von allen nährenden, substanzreichen Wurzeln und Gründen.

Wird aber der Sohn verworfen, wird jede unbedingte Beziehung zum Anderen aufgelöst. Der mutter- und der vatermörderische Nihilismus geht in den brudermörderischen über. In dieser Bahn ist dem totalen Nihilismus nicht zu entgehen.

Im Grunde aber wird der Sohn verworfen, weil der von allem fortschreitende Geist sich nicht mehr aufhalten lassen will von den für ihn der Vergangenheit angehörenden Mächten des Muttertums und des Vatertums.

In der ironischen Utopie von Aldous Huxley »Brave new world« darf das Wort Mutter und das Wort Vater nicht mehr ausgesprochen werden. Muß es sein, daß diese vorzeitlich-dunklen Mächte genannt werden, so darf dies nur in bloßen Lauten, in denen der ehrliche Name verweigert wird, geschehen. So muß »Hm« gesagt werden, wenn vom Vater und noch spöttischer »Hihi«, wenn von der Mutter die Rede ist. Die »Herrliche neue Welt« hat ihre Ursprünge abgeschafft, diese Hemmung der allesbesserwissenden und bessermachenden Ratio.

Der Name »Sohn« bedeutet für den revolutionären Menschen eine Scham. Dies Wort nimmt ihm das Hochgefühl, alles allein zu sein, alles allein zu machen. Denn darin folgt der moderne Mensch, wenn auch uneingestanden, dem Bild des Schöpfergottes, daß er eine neue Welt aus dem Nichts schaffen will. Der demiurgische Mensch erträgt kein Bewußtsein davon, daß er sich nicht selber geschaffen. Er übersieht über seiner kreativen seine kreatürliche Natur. Wozu ihn die Väter gemacht haben, zur untertänigen Kreatur, das haßt er und was ihm die Väter verweigert haben, die kreative Bestimmung als Ebenbild Gottes des Schöpfers, das nimmt er sich unebenbildlich heraus. So scheut der Moderne vor dem Wort Sohn, dem Wort der eigentlichen Bestimmung des Menschen der Neuen Zeit.

Sohn zu sein aber ist für den gesunden Sinn das echt menschliche Sein in seinem fruchtbaren Widerspruch. Sohn bedeutet die Demut, aus den Müttern und den Vätern zu kommen, damit aber aus Welten transzendenter Tiefe und Höhe. Sohn bedeutet jedoch auch den Hohen Mut, mehr als nur Erbe, eine neue Schöpfung zu sein, der wieder ganze und darum in sich selber schöpferische Mensch und also ein selbstverantwortlicher Neuer Träger der Welt.

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Die ausgeschlossenste Welt aber bleibt für die demiurgische Moderne die der Mütter. In der Mutter ist die alte gewachsene Schöpfung verkörpert, die der Moderne als Hemmschuh für seine geplante neue Schöpfung betrachtet &endash; wie einmal der väterliche Geist in ihr den Hemmschuh für seine erträumten Himmel des Reinen Geistes sah.

Den planenden Söhnen aber gelingt so wenig wie den auf einen anderen Plan auswandernden Vätern, sich der gewachsenen Mutterwelt zu entledigen. Dazu hilft heute wie gestern kein Übersehen, kein Vergessen, kein Mord. Die Mutterwelt ist da und sie ist da, auch wenn sie nicht an der Zeit ist.

Es ist vielleicht der fatalste Aberglaube der christlichen wie der antichristlichen Androkratie, Wirklichkeiten auslöschen zu können wie man mit dem Schwamm Wandtafeln abwischt. Der Terror der Väter und der Söhne, der Religionen und Revolutionen, weiß nicht um die Dauer der menschlichen Urbilder. Die Mütter sind nicht zu begraben &endash; so wenig wie die Väter einfach an die Wand zu stellen sind. Was einmal in der Geistesverfassung des Menschen eingegangen ist, das ist mit keiner bloß umgeschriebenen Geschichte wieder auszulöschen. Damit begannen die Väter, damit enden die Söhne. Die Väter ernten heute die Saat ihres eigenen Wahns. Mit ihnen begann die mörderische Wahl. Der Wahnglaube, ganze Volksteile, ja ganze Völker »liquidieren« zu können, ein Wahnglaube, der die Linke und die Rechte verhext, kommt von weither.

Der männliche Geist ist krank. Er hat die Gewaltsucht. Die gesamte männliche Welt, die reaktionäre wie die revolutionäre, ist dieser Krankheit verfallen. Wird diese Krankheit nicht geheilt, wird sie bei den Söhnen wie schon bei den Vätern die »Krankheit zu Tode«.

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In der höchsten gegenwärtigen Väterwelt, der des Heiligen Vaters, ist noch ein Sinn dafür, daß mit dem Verlust der heiligen Familie die Welt völlig den temporären Mächten der politisch-wirtschaftlichen Gesellschaft überantwortet würde. Die Väter wissen heute, daß mit der Mutter auch der Vater fällt.

In unserer Zeit ereignete sich etwas Seltsames, über das die profane Welt nur lächeln kann: Die Verkündigung der leiblichen Aufnahme der Maria, der Mutter Jesu Christi, in den Himmel des Vaters.

Scheinbar ist die Verkündigung dieses Dogmas im verkehrtesten Augenblick ausgesprochen worden. Was soll dies mittelalterliche Dogma inmitten der tollsten Errungenschaften der technischen Welt?

In Wirklichkeit aber handelt es sich um eine Verkündigung in extremis. Wenn die Kirche Bestand haben soll, darf sie der reißenden Flut der heutigen Weltmache nicht nachgeben, muß ihr unentwegt trotzen. Das Äußerste allein vermag gegenüber den demiurgischen Mächten, die Allmacht beanspruchen, den kreatürlichen Sinn, auf den die Kirche der Väter angewiesen ist, zu retten. Die Frau, die das Kind Gottes, den Sohn geboren hat, ist aber das Äußerste gegenüber dem demiurgischen Geist der Moderne.

Und doch zeigt selbst dieser erstaunliche Akt den unbelehrbaren Geist des abendländischen Vatertums. Die Verkündung trägt die typische Form der väterlichen Logokratie: die Form des Dogmas. Es wird nicht eine ewige Welt aufgeschlossen. Türen und Fenster werden im Sturm der Zeit noch fester verriegelt. Die Kirche steht nur noch geschlossener da. Sie hat keinen schaffenden Grund mehr, aus dem sie zu neuen Formen, weiteren, offeneren überginge.

Zwei Dinge geschehen nicht, die jetzt geschehen müssen. Die Mutter wird nicht im gleichen Rang mit dem Vater zum Ursprung. Und demgemäß fällt auch kein Licht auf die mütterliche Zeit der Geschichte, das diese der väterlichen Geschichte ebenbürtig erscheinen ließe. Die Absolutheit des Vaters und damit des Vatertums wird nicht angetastet. Die Einpflanzung des Menschen in die Erde durch die Mütter bleibt ein fataler Widerspruch gegenüber der väterlichen Einpflanzung des Menschen in die Himmel. Der Mutter wird derart die ebenbürtige Bedeutung neben dem Vater verweigert.

Der extreme Akt der Kirche vermag in dieser Form die radikalen Revolutionäre nur um so mehr und mit guten Gründen abzuschrecken. Die Kirche nimmt das relative Recht der revolutionären Söhne in keiner Weise auf durch ein höheres, überlegenes Recht. Die üblichen sterilen Fronten verhärten sich nur um so mehr.

Muttergeist geht dem Vatergeist in der Menschwerdung voraus

Nicht die Männer, die der Kriegsgeist hinriß, die hernach im alletreffenden Gericht in erster Regung nach dem Gericht über die Besiegten schrieen, nicht die Männer haben den armen Menschen, das Opfer der Weltkriege gerettet &endash; das taten die Mütter. Die Mütter zogen wieder an den erloschenen Herd, sie machten wieder Feuer, sie dachten an das Nächste, an die Speise der Hungrigen und das Kind der Frierenden. Die Mütter entrissen das Kind Mensch, das kleine und das große, den Wolfszähnen der Zeit. Die Mütter haben den Menschen wieder erfahren lassen, daß es ein schlagendes Herz gibt, daß es Hände gibt, die nicht töten, die heilen, daß es eine andere menschlichere Ordnung gibt als die männliche.

Was heute unerkannt und ungepriesen geschah, das ereignete sich immer wieder in der Geschichte des Menschen, das ereignete sich jedoch einmal als Weltwende. Diese Weltwende aber geschah einst ebenso unerkannt und ungepriesen wie die Taten der Mütter in unserer Zeit. Die Mütter vollbringen ihre Taten in der Stille, sie verkünden sie nicht ruhmgierig laut wie die Männer. Es ist ihnen genug, daß sie geschehen sind und daß sie mit ihnen helfen durften. Das Selbstvergessen ist die göttliche Unbefangenheit der Mutter auf göttlichem und auf menschlichem Plan.

Die patriarchale Geschichte aber beginnt mit dem Selbstbewußtsein. Der Schöpfergott spricht: Ich bin, der ich bin. Und es ist der Kurzschluß des zum Selbstbewußtsein gelangenden Mannes, daß es vor seinem bewußten Beginn keine Geschichte gegeben habe. Das Selbstbewußtsein des Mannes löscht alles andere Bewußtsein aus, nicht nur das Unbewußte. Und es macht wie selbstverständlich den Vater zum ersten Gott und ersten Menschen. Gottvater erscheint als Ursprung der Welt, der menschliche Vater als der Anfang des Menschengeschlechtes. Die Geschichte beginnt mit der befehlenden Schöpfung Gottes und sie beginnt mit Adam. Mensch und Mann ist dasselbe. Das Weib ist aus der Rippe des Mannes genommen. Und das Weib brachte Verderben über den Mann. Anderes hörten die Väter nicht und wollten es auch nicht hören. Der väterliche Mythos band die Väter als eine von Gott dem Vater selbst geoffenbarte Wahrheit. Die Maya der Väter ist dicht gewoben um die große Wahrheit vom schaffenden Beginn der Welt.

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Der Glaube an die einmalige persönliche Schöpfung der Welt durch Gott den Vater war so selbstverständlich, daß diese bis auf das Jahr genau bestimmt war. Bis ins 18. Jahrhundert schrieb man so Geschichte. Immer begann sie mit Adam. Unter diesem Gesetz stand noch der »Discours sur l'Histoire universelle« von Bossuet. Da wagte Voltaire in seinem »Abrégé de l'Histoire universelle« im Jahre 1753/1754 die menschliche Geschichte mit den Chinesen beginnen zu lassen, also um viele Jahrtausende vor der angenommenen Jahreszahl der Schöpfung. Wir sehen das Lächeln Voltaires, als er die kühne Tat wagte. Der Absolutismus des Geschichte wie Dogma gewordenen Mythos der Schöpfungsgeschichte war gebrochen. Schon dies war ein Sturm auf die Bastille. Mit diesem Absolutismus brach alles Gottesgnadentum der regierenden Väter in seiner geistigen Gründung zusammen. Diesem inneren Beben mußte das äußere nachfolgen.

Wir haben nicht die Schadenfreude der Aufklärer an der Zertrümmerung des selbstverständlich gewordenen Baues der Väter, die sich im Himmel als Ursprung, auf Erden als Anfang wußten.

Wenn wir aber nicht in dem heute üblichen infantilen Regreß in die alte väterliche Schöpfungsgeschichte zurückgehen, dann aus Freude, daß mit ihrer Durchbrechung einer weiteren, offeneren Geschichte Raum geschaffen wird.

Der andere weltbestimmende Geist der revolutionären Nation, Rousseau, schuf die erregenden Bilder eines anderen Anfanges des Menschengeschlechtes. Auch in ihm war noch der Mythos des Paradieses. Doch das Paradies wurde nicht durch die Sünde verloren, wohl aber ausgerechnet durch die Zivilisation, auf die der männliche Geist so stolz ist. Die Rousseausche Formel der »Rückkehr zur Natur« war unbestimmt genug, das stolze Selbstbewußtsein des autoritären väterlichen Geistes, alles allein vollbracht zu haben, noch tödlicher zu treffen als der voltairesche Spott. Voltaire war immerhin noch der geistreiche Sohn der geistgroßen Väter. Rousseau aber wagte als Erster, in einem natürlichem Element zu atmen: im Gefühl. Mit der Wiederentdeckung des Gefühls jedoch war die Entdeckung der Mutterwelt nicht mehr fern.

Der selbstbewußte männliche Geist will bis heute nicht anerkennen, daß ihm der weibliche in der inneren Menschwerdung vorausgegangen ist. Daran aber hindert ihn kein objektiver Sachverhalt. Den wußte er immer, selbst in der objektivsten seiner Erkenntnisweisen, der Wissenschaft, so zu zwingen, wie er wollte. Denn hinter dem männlichen Geist steht immer der männliche Wille.

Die Großtaten des männlichen Geistes aber geschehen heute als solche, in denen er seine Mayawelt als Wille und Vorstellung durchbricht.

Der Geist der Söhne weiß wieder um die Mütter

Der Sohn im Menschen, als seine Zeit gekommen, hat den Schleier der väterlichen Maya zerrissen &endash; wie die Väter einmal den Schleier der mütterlichen Maya.

Auch die Söhne haben ihr neues Wahngebiet: das der Zukunft. Wo sie aber den Blick von ihm frei machen können, da eröffnet sich ihnen in der Tiefe des Geschichtsraumes Aspekte jenseits des gewaltsamen Risses, durch den sich das Selbstbewußtsein der herrischen Väter von aller frühen archaischen Zeit getrennt hat. Langsam erdämmern für ein sohnliches Geschlecht dunklere Welten des Menschen, für die kein scharfes Bewußtseinslicht Zeuge geworden. Anfänge des Menschengeschlechtes deuten sich an, die den Anfängen des Kindes in den Händen der Mütter entsprechen.

Es ist kein Zufall, daß die Mütter von den Söhnen wiederentdeckt werden. Das ist geschichtliche Bestimmung. Das kann erst nach der Erschütterung der väterlichen Berge geschehen, die lange genug allein als Ursprünge galten. Die Ströme der Söhne zeugen nun in eigenem Wachstum von dunkeltiefen Tälern der Mütter wie von den hellen hohen Bergen der Väter.

Die Söhne kennen trotz des übermächtigen Erbes der geschichtlich näheren Väter deren Einseitigkeit nicht. Denn in ihnen ist dauernder als die Zeiten der Geschichte das bleibende Wesen der Mütter. Die Söhne, die von beiden kommen, vermögen die Mütter des Menschen zu verstehen wie dessen Väter.

In der Entdeckung der Mütter durch die Söhne liegt eine existentielle Notwendigkeit. Die Söhne tragen in sich die tödliche Gefahr der Spaltung durch jedes einseitige Erbe. Denn so übermächtig das Vätererbe im sich steigernden Bewußtsein der Söhne fortlebt &endash; so ist dennoch die unbelichtete Seite da und setzt sich im Maße, wie sie verbannt ist, elementar ungestaltig durch. Die Söhne aber, deren Raum das Offene ist, dulden keine noch überherrschten Unterwelten mehr: sie sind leidenschaftlich dafür, daß sich alles Ursprüngliche frei entfalte. Wollen die Söhne die ihnen eigentümliche ganze Natur, so müssen sie das Erbe der Mütter wollen wie das der Väter.

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Dadurch aber geschieht etwas, was die väterliche Maya über alles fürchtet. Die Absolutheit der Väter wird erschüttert. Sie sind nicht mehr die einzigen. Und alle Vätertypen, auch wenn sie noch so epigonisch sind, wehren sich gegen den Verlust der Absolutheit wie gegen den Tod.

Der Relativismus der Söhne aber ist die Antwort auf den Absolutismus der Väter. Er darf nicht für sich betrachtet und beurteilt werden. Die einzige Möglichkeit der Söhne, die ausschließliche Allmacht der Väter zu brechen, ist deren Relativierung. Ohne diese Relativierung der Väter hätten die Mütter nie wieder kommen können. Die Mütter kennen keine Revolution. Die Söhne haben ihnen Raum geschaffen.

Der Relativismus der Söhne ist nihilistisch, wenn er die Geltung der Väter mit deren Zeit dahinfallen läßt. Er ist jedoch überwunden, wenn wir die Väter als einen zeitüberdauernden Archetypus begreifen. Die Söhne stellen sich dann nicht über die Väter wie diese sich über die Mütter stellten. Die sohnlichen Söhne stellen sich mit den Vätern wie mit den Müttern in den Urzusammenhang, der über allen Wandel der Zeit erhaben ist. Es kann dann letztlich nicht mehr von einem Relativismus die Rede sein, der mit dem Absolutismus auch das Absolute selber verneint. Es muß dann von einer korrelativen Denkweise gesprochen werden, deren fester Grund die integrale Beschaffenheit der Welt ist.

Es bleibt das epochale Recht der Söhne, nicht zu ruhen, bis der Absolutismus der Väter gebrochen ist. Wo immer eine Macht absolute Geltung beansprucht, da muß unter den Söhnen ein Aufsehen sein und ein Aufstand geschehen. Denn da ist ihr eigenes Wesen und ihre eigene Welt gefährdet. Das aber ist die tödliche Drohung heute. Die Söhne haben die schlechteste Erbschaft der Väter noch nicht überwunden. Der Absolutismus der Väter aber war der Schatten eines großen Lichtes: sie waren mächtig im unbedingten Willen zum Absoluten. Darin haben wir zu bleiben. Doch das Absolute stellt sich uns anders dar als den Vätern. Wir können darin wohl weiter sehen als die Väter daß wir keinen besonderen Typus, auch den gewaltigsten göttlichen Archetypus nicht, als den Unbedingten erkennen und anerkennen. Das Absolute steht für uns im Raum des Offenen. Jeder Absolutismus aber schließt diesen Raum und verriegelt ihn. Jeder Absolutismus führt uns wieder in Gefangenschaft. Es wirkt sich der Absolutismus unter den Söhnen jedoch anders aus als unter den Vätern. War der Absolutismus in der Welt der Väter ein Mißbrauch &endash; so ist er in der Welt der Söhne eine Katastrophe. Das aber erleiden wir heute in vielrückfälliger Zeit. Denn die Söhne sind immer die Vielen, Vielgesichtigen.

Wird aber der Absolutismus der Väter gebrochen, so sind diese nicht weniger groß in ihrer machtvollen geschichtlichen Antithese. Wir haben keinen Anlaß, die Väter kleiner zu machen. Es stehen und fallen alle mit allen. In Wirklichkeit wird die väterliche Zeit erst bedeutungsvoll inmitten der größeren Geschichte, die auch die den Vätern vorausgehenden Mütter und die auf sie folgenden Söhne umfaßt. Die Väter haben die Dialektik der Geschichte begonnen &endash; so müssen sie sich jetzt auch in ihr begreifen.

Doch nicht Zeiten sollen Recht geschehen &endash; ewige Gestalten des Menschen wollen ihr Recht. Dies Buch ist nicht gegen die Väter geschrieben. In ihm ist kein patricider Affekt. Wenn ein Affekt dies Buch bewegt, so ist es der für den offenen Raum aller menschlichen Archetypen, durch die die Menschwerdung des Menschen geschah und geschieht.

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Wenn die Geschichte der Wiederentdeckung der Mütter einmal geschrieben wird, wird sich Johann Jakob Bachofen als eine ihrer zentralen Figuren erweisen.

Die Wiederentdeckung der Mütter fällt jedoch nicht mit dem Namen Bachofens zusammen. Die Mutterwelt ist wie Amerika ein ganzer Kontinent, und demgemäß groß ist auch die Zahl ihrer Entdecker und Erforscher. Es wäre da nicht allein der leidenschaftliche Anteil der deutschen Romantik darzustellen. Es geschehen in ihr viele Entdeckungen: die der Nacht, des Schlafes, des Traumes, des Unbewußten, die des Bildes, Sinnbildes, Symbols und Mythos, die der Sprache und des Volkes &endash; in allen diesen Entdeckungen aber handelt es sich um die Eine: die Wiederentdeckung der Mütter. Doch nicht allein die Romantik ist auf dem Wege zu den Müttern, auch das revolutionäre Volk lebt in all seiner aufklärerischen Leidenschaft im Elementaren der natürlichen Anfänge: wer sich wie Rousseau auf die Natur beruft, beruft sich auf die Mütter. Und diese beiden entdeckerischen Wege fehlen auch der Moderne nicht: so wenig der rationalistische Weg Freuds als der archaistische Weg Jungs. Daß es sich nicht nur um eine romantische Sache handelt, bezeugt die Welt Goethes. Längst ist Goethe von dem um ihn errichteten olympischen Thron herabgestiegen. Er wohnt wie sein Prometheus »am Fuße des Olympus«. Und er war ein Leben lang im Gang zu den Müttern. Er hat zum ersten Male, noch in der Scheu des Unbekannten, den Namen der Mütter im »Faust« genannt:

Mephistopheles:

Ungern entdeck ich höheres Geheimnis. &endash;

Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit,

Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit;

Von ihr sprechen ist Verlegenheit.

Die Mütter sind es!

Faust (aufgeschreckt): Mütter!

Mephistopheles: Schauderts dich?

Faust: Die Mütter! Mütter! &endash; 's klingt so wunderlich!

Goethe aber hat gewaltige Vorgänger: Paracelsus und Jakob Böhme &endash; diese wissen als die Ersten nach patrokratischer Zeit wieder um die matrix der Welt.

Was aber alle die vielen Entdecker des mütterlichen Kontinentes verbindet, das ist die sohnliche Natur, die den Bann der Väter gebrochen hat, für die die Welt der Mütter wieder offen steht.

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Auch in Bachofen erblickt das verehrende Auge der Söhne das leuchtende Bild ((aglaon eidos)) der Mutter wieder. Seinem großen Auge erschließt sich hinter der eifersüchtig geschlossenen Ikonostasis der Väter eine ganze Welt mütterlicher Symbole. Mitten im 19. Jahrhundert, dem positivistischen, erscheint einem vorzeitlichen und ganz neuen Sinn ein geschlossener Mythos, der farbig und streng alle Dinge auf seine Weise prägt.

Meist begnügt man sich, die Frage zu stellen, ob denn das »Mutterrecht« so wie es Bachofen sah, immer und überall dem Vaterrecht, von dem wir herkommen, vorausgegangen sei. Diese Frage aber hat nicht die Bedeutung, die man ihr beizumessen pflegt. In ihr ist immer noch die Eifersucht der Väter am Werke, die nach dem Primären und dem Primat fragen. Die Schemata auch des großen Bachofen sind zu durchbrechen. In aller Dankbarkeit für seine Geistestat erkennen wir heute die Enge seiner zeitgebundenen, vom Geist des Jahrhunderts bestimmten Denkweise. Bachofen darf nicht seiner eigenen großen Sache im Wege stehen. Man hat sich gerne über seinen Irrtümern beruhigt. Das Erregende aber, das die Seele des stillen Gelehrten geboren, lebt.

Bachofen hat nach dem soziologischen 19. Jahrhundert zwei Herrschaftsformen in den Vordergrund gestellt: das frühe Matriarchat und das späte Patriarchat. Er wußte nicht, daß er damit seiner Zeit, deren Schwäche aller Dinge auf soziologische Kategorien reduzierte, Namen wie den der Mutter und den des Vaters auslieferte, deren Bedeutung alles Soziologische weit hinter sich läßt. Er wußte noch nicht, daß eine Wirtschaftsgesellschaft im Begriff war, sich usurpatorisch an die Stelle der zugleich menschlicheren und göttlicheren Träger der Welt, der Mütter und der Väter, zu setzen.

Damit soll nicht gesagt werden, daß die gesellschaftliche Bedeutung gering zu schätzen sei. Sie ist allezeit ein bedeutsamer Ausdruck der archetypischen Wenden und Welten. Doch sie ist nur Ein Ausdruck. Niemals entscheidet das gesellschaftliche Wesen und Werden: es wird durch die archetypische Dominante bestimmt.

Doch wir dürfen nicht ungerecht werden gegen einen der größten Geister des letzten Jahrhunderts. Wohl entspricht Bachofen darin seiner Zeit zu sehr, daß er die Frage nach den Herrschaftsformen in den Mittelpunkt stellt. Doch darüber ist nicht zu vergessen: Bachofen wagt als Erster wieder, die Träger der Gesellschaft nach menschlichen Urbildern zu bestimmen. Und wirklich: Mutter, Vater, Sohn und Tochter sind die ursprünglichsten soziologischen Mächte &endash; sie sind die Gestalten des innersten göttlichen und menschlichen Bezuges. Die Soziologie der heutigen Wirtschaftsgesellschaft aber, ob sie nun den Bürger oder den Proletarier zum Träger macht, vermißt sich, über die menschlichen Archetypen hinwegzugehen. Die katastrophalen Folgen des Verlustes der innersten Mächte bleiben denn auch nicht aus. Wir haben heute kein Zentrum, das das gesamte gesellschaftliche Leben tragen könnte.

Einst, in der mittelalterlichen Zeit, bestimmte das Vatertum Gottes Priestertum und Adel. Beide, in ihrer Art mächtigen soziologischen Formen, sind durch den Archetypus des Vaters fundiert. Dieser war ihr Grund und ihr Maß. Und wenn auch die Träger der Macht in Papst und Kaiser miteinander stritten, so kämpften sie um die fragliche Vormacht im selben fraglosen Dienst an Gott dem Vater. Und solange dauerten die Träger der Macht, Priester und Adel, als sie auf diesem festen Grunde standen.

Es gehört zu den männlichen Zeitaltern, daß in ihnen die Träger der Macht bis zur Unkenntlichkeit des tragenden Grundes heraustreten. So fehlt schon in väterlicher Zeit auf dem Gesicht der Priester wie des Adels nur allzu oft der Widerschein der mit dem Amte belehnenden Gnade des himmlischen Vaters. Die Macht tritt trotz der gewaltigen Gründung der Väter in nackter Brutalität heraus. Wie aber muß dies erst bei einem Geschlecht sein, das die Gründung in Gott ablehnte wie bei diesem Menschen der Neuen Zeit? Kein Wunder, daß das gesellschaftliche Sein, das väterliche Urverhältnis umkehrend, sich selber zu dem Sein hypostasiert, das den Geist und seine Welten bestimmt. Und diese Umkehrung scheint immer mehr zu Recht zu bestehen &endash; in Wirklichkeit aber wächst die Wahrheit des marxistischen Satzes im Maße wie die wirtschaftliche Gesellschaft zu ausschlaggebender Bedeutung gelangt.

Auch die ursprüngliche Mutterwelt ist eine Welt von existentialer Wucht. Es geht um Sein und Nichtsein des Kindes und mit ihm der Familie. Doch es ist keine herrschaftliche Welt. Die Welt der Mütter ist Mutterschaft. Ja, oft überließen die Mütter, auch wenn ihr Geist vorherrschte, die staatliche Macht dem Manne.

Da aber die Namen der Mütter und der Väter über ihre Formen der Gesellschaft hinausreichen, ist es durchaus nicht gesagt, daß sich Macht und Lebensstil immer decken. Es gibt Patriarchat mitten in maternaler und Matriarchat mitten in paternaler Welt. Die jüdische Welt ist das ausgesprochene Patriarchat &endash; das schließt jedoch nicht aus, daß die jüdische Frau nach dem Gesetz der Kompensation gewöhnlich viel mächtiger ist als der gottgeschwächte Mann. Auf sehr menschlichem Boden zeigt sich dasselbe Bild im wichtigtuerischen Patriarchat des französischen Mannes und in der wirklichen Überlegenheit, ja geradezu spielerischen Präpotenz der das Leben des Volkes bestimmenden französischen Frau. Und ein Ähnliches ereignet sich in der übermännlichen nordamerikanischen Welt: die Frau hat eine öffentliche wie private Macht, die die des Mannes aufwiegt.

Herrschaftsformen also zeigen nicht immer den eigentlichen Stil des Lebens an &endash; um diesen aber geht es. Im Mythos gelangt Zeus unwiderstehlich zu seiner patria potestas über Götter und Menschen &endash; die griechisch-mythische Welt aber gehört als Bilderwelt dem Weltstil des weiblich-mütterlichen Zeitalters an, der erst dann überholt wird, als der Mann bewußte, logisch gebaute Weltbilder an dessen Stelle setzt.

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Um den innerlich bestimmten Weltstiel geht es im Grunde auch Bachofen. Darum gelingt es ihm, eine soziologisch nie verständliche, nur archetypischem Denken zugängliche Symbolwelt aus archeologisch tiefer Schicht an den Tag des Bewußtseins zu bringen.

Es hindert ihn aber ein überkommenes allzu väterliches Denken, die Dialektik des maternalen und des paternalen Zeitalters in ihrem wirklichen Ausmaß zu erkennen. Immer bedient sich Bachofen dabei des Gegensatzes von Form und Stoff. Die Schablone Form und Stoff aber stammt aus der Werkstatt des Aristoteles, des dem mythischen Schauen fremdesten griechischen Denkers. Es liegt in der aristotelischen Formel schon die ganze Entwürdigung der mütterlichen Welt durch den auch geistig mörderischen Mann. Die Mater ist zum Begriff der Materie herabgesunken, ebenso entseelt wie entgottet. Unzweifelhaft bedeutet das Leibhaftige für die mütterliche Welt viel &endash; doch es bedeutet jedesmal ein Leibhaftigwerden der Seele. Und im Unterschied zu den abstrakten Welten der logischen Geister spielt gerade die Form als Gestalt eine zentrale Rolle bei aller weiblich-bestimmten Weltschau &endash; heute wie einst. Aristoteles aber hat &endash; mit einem jener vermeintlich selbstverständigen Kunstgriffe des logischen Geistes &endash; den Begriff der Form gleichgesetzt. Damit aber gelang es ihm, die Form für den männlichen Geist zu beanspruchen. Der Begriff allerdings fehlt den Mutterwelten. Sie leben im ursprünglicheren Form-Element des Bildes.

So aber ist die Entscheidung Bachofens keine echte Entscheidung. Er entscheidet sich für den Sieg des Geistes über die Materie &endash; wer wollte sich nicht mit ihm so entscheiden?

Bachofen ist mehr als er sich bewußt sein konnte von der fortschrittlichen Entwicklungslehre bestimmt, der auch Nietzsche nicht entging. Wie in der das 19. Jahrhundert dominierenden Entwicklungslehre ging es auch Bachofen um die »niedere oder höhere Stufe«. So konnte es selbst ihm, dem Tiefverwurzelten im maternalen Bereich nicht gelingen, die zwei vorgängigen Weltzeiten gemäß ihren zwei archetypischen Trägern in ihrer Ebenbürtigkeit und damit überzeitlichen Bedeutung einander gegenüber zu stellen. Ist über Geschichte entschieden, so nicht über die übergeschichtlichen Maße.

Die Fragestellung ist für uns ungleich erregender. Dort der Geist des Lebens &endash; hier das Leben des Geistes. Dort der Leib als konkreter Ausdruck der Seele &endash; hier der Begriff als abstrakter Ausdruck des Geistes. Dort eine polar-komplementäre &endash; hier eine dualistisch-ausschließliche Welt. Dort das All und sein Kreislauf &endash; hier die Linie, die Richtung auf das Eine. Dort das Gleichgewicht der Waage &endash; hier das erdrückende Übergewicht. Dort eine Bilderwelt &endash; hier Weltbilder. Dort das symbolische Sehen &endash; hier das asymbolische Denken. Dort der Mythos &endash; hier der Logos...

Vor solcher Unterscheidung ist Entscheidung keine Selbstverständlichkeit mehr. Ja, Entscheidung im üblichen Sinne einer freien Wahl wird überhaupt unmöglich. Uns kümmert etwas ganz anderes: wirkliche Ent-scheidung, das heißt Aufhebung der Weltscheidung.

Bei dauernden Archetypen und den von ihnen ausgehenden Weltstilen ist Entscheidung rein willkürlich. Wer kann sich ohne Willkür für den Mann gegen das Weib, für die Väter gegen die Mütter entscheiden? Das allein Entscheidende liegt darin, daß beide da sind und da bleiben und keines im anderen je aufgehen wird. Die Welt auszulesen ist bereits eine Angelegenheit des männlichen Geistes &endash; noch vor aller Entscheidung. Die Katastrophen der männlichen Willkür sind da &endash; wir haben sie nicht noch weiter zu treiben.

Bachofen rechnete nur mit zwei Möglichkeiten &endash; seine Frage war: Mütter oder Väter? Von seinen Voraussetzungen aus, die schon eine Vorentscheidung enthielten, mußte er sich zur väterlichen Welt entscheiden. Denn wo er urteilte, da sah er die Welt der Mütter mit den Augen der Väter.

Darin unterscheiden wir uns auf das Bestimmteste von Bachofen. Wir beurteilen die Mütter nicht mehr vom Standort der Väter aus. Die Väter waren Richter in eigener Sache. Wir sehen die Dinge von einer Welt aus, die Bachofen nicht kannte. Wir vermögen die notwendige Wende der Väter zu erkennen, da wir die Söhne sind, die noch weiter gehen. Als die Söhne aber sind wir nicht mehr die Befangenen von der Maya der Väter. Als die Söhne sehen wir die beiden elterlichen Archetypen. Wir tragen beide Typen in uns &endash; unabdingbar und unabtrennbar. Und wir haben etwas ganz anderes zu tun, als das Unentscheidbare archetypischer Weltstile entscheiden zu wollen. Wir haben zu uns selber als den Söhnen zu stehen, zu unserem Archetypus und zu der ihm entsprechenden Weltformation.

Der neue sohnliche Archetypus aber bringt es mit sich, daß er zuletzt nicht trennt, sondern vereinigt. Wie einmal die Mütter und wie einmal die Väter haben wir die zu sein, die wir sind, denn nur so erfüllen wir die uns bestimmte Aufgabe. Es liegt aber in allem Schweren unserer leicht spaltbaren Natur, daß die letzte Entscheidung zum Sohnlich-Ganzen uns befähigt, die Scheidung der Mütter und der Väter innerlich zu überwinden.

Davon spürte Bachofen den Herzschlag. Er hatte eine ihm selber unbekannte sohnliche Seite, von der aus er die Mütter zu verehren wußte. In seinem Gehaben aber gehörte er zur traditionellen väterlichen Welt. Ein Bild der bis zur Spaltung gehenden Spannung der Söhne.

 

ZWEITES KAPITEL
DER GRIECHISCHE ANTEIL

Der Stern der Geburt

So glänzend der sohnliche Fund der Mütter-Väter-Dialektik die innere Geschichte des Menschen aufschließt &endash; so töricht wäre es, nun alle Dinge damit erklären zu wollen.

Keine anderen Träger erreichen wie die Mütter und die Väter den Rang von geschichtlich-übergeschichtlichen Ursprüngen. Doch es braucht neben diesen archetypischen Formkräften von Weltstilen geschichtsnahere Mächte, die nach ihrer besonderen Eignung in konkreten Zeiten und Räumen die großen Wenden verwirklichen.

Es ist höchste Zeit, das Verhältnis der geschichtlichen Träger zueinander der Eifersucht zu entreißen und der offenen Einsicht in die willkürlosen Hände zu geben.

Die Träger tragen einander. Das ist das menschliche Verhältnis, das die sonst mörderische Geschichte zeigt. Die archetypischen Gestalten des Menschen tragen die Völker &endash; prototypische Völker aber tragen wiederum die archetypischen Gestalten.

Nicht alle Völker sind nun aber gleicherweise dem Matriarchalen und dem Patriarchalen zugeneigt. Alle Völker tragen in sich beide Möglichkeiten, doch sie bilden nach dem Stern der Geburt oder nach der Forderung des ihnen zugewiesenen Raumes meist nicht beide gleichermaßen aus.

Der Stern der Geburt aber ist wohl übermächtig. Denn er bestimmt zuletzt, wohin es uns zieht.

Er führt die Einen in die Tiefe der Erde, wo sie als menschliche Pflanzen wurzeln können. Sie suchen ihren Standort, suchen nach der festen Wurzelung, die kein Sturm von Elementen oder Menschen zu erschüttern vermag. In der Erde wurzelnd suchen sie wie die Pflanze begierig nach dem Himmel. Wo sie sind, da sind sie glücklich.

Andere führt der Stern der Geburt in die Weite der Wüste. Da sind sie an nichts gefesselt als an den ungeheuren Himmel. Da sind sie mit sich allein, denn da sind sie allein mit ihrem Gott. Und ihr Gott ist Ein einziger Gott wie die Wüste Eine einzige und wie Ein einziges Zelt des Himmels ist. In diesen Anderen ist die große Unruhe. Doch wenn sie wandern, zieht es sie mehr als ein anderer Ort, zieht sie die andere Zeit. Sie erwarten Offenbarung. Sie erhoffen das Wunder.

Und wieder Andere zieht der Stern der Geburt über die ganze Erde. Sehnsucht treibt sie. Das Unbekannte lockt sie. Sie haben Lust am Wandern, am Abenteuer, an Eroberung. Doch sie schweifen in die Ferne, um endlich eine Heimat zu finden. Und verlieren sich in der Welt, um endlich zu sich selber zu kommen.

Diesen alleführenden Stern der Geburt meint Hölderlin in seiner Rhein-Hymne:

Soviel auch wirket die Not

Und die Zucht; das meiste nämlich

Vermag die Geburt ...

Chinesisches Gleichgewicht

Der fernöstliche Mensch hat sich wohl wie kein anderer in die Erde eingewurzelt. Die gesamte Kultur des Fernen Ostens ist darum von pflanzenhafter Art. Die der Chinesen, doch nicht weniger die der Japaner und Koreaner, der Indochinesen und Indonesen. Wenn wir von den Chinesen sprechen, sprechen wir von ihnen allen.

China ist auch in einem inneren Sinne das Reich der Mitte. Die Chinesen hielten sich bis heute, da sie der Wucht der westlichen Einseitigkeit erliegen, im Gleichgewicht der Pflanze zwischen Himmel und Erde. Und dieses Gleichgewicht hat der chinesischen Kultur eine Dauer verliehen wie keiner anderen. Unsere extremen Ausschläge und Umschläge sind den Chinesen unbekannt. Mit der Zähigkeit eines Muttervolkes hielt das chinesische Volk an der Doppelseitigkeit der Welt fest.

Auch die Chinesen haben die Weltwende der Väter erfahren. Denn nicht erst die Zeit der Söhne, schon die der Väter ging über alle Räume der Welt. Das Patriarchale aber ist in China nie mit der brutalen Ausschließlichkeit aufgetreten wie bei uns. Die chinesische Weisheit hat das Gewicht des Himmels verstärkt. Das Maternale der chinesischen Kultur, leicht in das Materialistische abgleitend, hat das Maß der Höhe gewonnen. Die konkrete weibliche Klugheit des chinesischen Volkes verband sich mit dem abstrakteren männlichen Verstand.

Das Gleichgewicht der Urpotenzen des Kosmos aber wurde durch den Einbruch des Patriarchalen nicht gestört. Es war unverlierbar in die chinesische Geistesverfassung eingegangen, daß zwei Mächte die Seele des Alles und das All der Seele spannen und durchdringen: eine männlich zeugende und eine weiblich empfängliche. Das kosmische Leben war für die alten Chinesen das Zusammenspiel des Himmels und der Erde, des männlichen Yang und des weiblichen Yin, des lichten und des dunklen Elementes. Die Chinesen standen fest auf der Erde, doch sie versagten sich nicht der hohen Bestimmung der Himmel. Das symbolische Zeichen der chinesischen Weisheit ist das Tai Ki Tu, das Urbild der ineinander verschlungenen Weltseiten. Ja, die chinesische Weisheit ging noch tiefer: jede Seite des Tai Ki Tu enthält die andere Seite im Kern in sich. Die letzte Verehrung galt ahnungsvoll dem Integral der Welt.

Was nicht und nie galt, das war allein das Ausschließliche. Die chinesische Weisheit ist die Wahl des Wahllosen. Das ist eine urmütterliche Wahl. Die Mutter liest nie aus, so wenig in der Welt wie unter ihren Kindern. Das ist die Weite des Reiches der Mitte: China war allen kosmischen Mächten offen.

Unsere Fortschrittfanatiker erblicken in der übermächtigen Bestimmung der chinesischen Kultur vom kosmischen Denken, dem polar-komplementären, das Zeichen einer überwundenen Stufe. Sie betrachten dafür ihre Entscheidung zum einseitig-logischen Denken als das letzte Wort der menschlichen Geschichte.

Die chinesisch-kosmische Art ist jedoch so wenig »überwunden« wie die der Pflanze. Sie entspricht einem dauernden menschlichen Archetypus, dem maternalen. Auf diesem Urgrund wuchsen die Jahrtausende der chinesischen Kultur. Ihr Geist ist ein durchaus weiblicher Geist, der es verstanden hat, Leib und Leben der Erde mit zarten Fingern zu durchbilden. Keine andere Kultur des Menschen kam an das Blütenhafte der fernöstlichen Welt heran. Auch die Chinesen kannten die eigentümliche Macht des Himmels und der Erde &endash; aber sie kannten nie unseren herrschsüchtigen Himmel und sie kannten nie unsere grobschlächtige Erde. Wir waren allezeit gewaltiger im Geiste, doch auch allezeit gewalttätiger. Von unserer sich jetzt vollkommen enthüllenden Gewalttätigkeit der äußeren Beherrschung aus haben wir kein Recht, hochmütig anderen Weltstil zu verachten. Die altchinesische Art ist jetzt so wenig an der Zeit wie die Pflanze. Doch es ist zu bedenken, daß ein Goethe das willkürliche Denken, das jetzt an der Zeit ist, vor dem nichts mehr Bestand hat, in der Vorahnung der kommenden Katastrophen mit dem pflanzenhaft-mütterlichen, dem unwillkürlichen Denken »balancierte«. Und wenn uns heute der Ferne Osten anzieht, so kann es nicht ein Verwandtes sein, das uns beglückt, sondern nur das Fernste, das uns wie eine verlorene Heimat erscheint.

So rührt uns in Lao Tse eine der Seele nahe, dem abendländischen Geist aber ferne Gottheit an. Es liegt unserer gewalttätigen Männlichkeit hinter allen Bergen, daß das Weiche das Harte besiege und das Leise das Laute. Und wenn wir im Löwengebrüll unserer vornehmen Herren und im stampfenden Hufschlag der Massenherden ein Wort wie das im Tao Te King hören, ein großes Reich sei zu regieren wie man kleine Fischlein brate &endash; dann ermessen wir, daß wir gegenüber dem Fernen Osten der Wilde Westen sind. Doch schon Lao Tse schrieb die Sprüche des Tao Te King als Elegie auf die Geburt der chinesischen Welt aus dem Unwillkürlichen des Schoßes der Mütter. Der Zarteste unter allen Weisen spürte, daß die Welt der Willkür wieder im Kommen war. Es ist, als ob Lao Tse schon unseren Vormarsch über die Erde gespürt hätte.

Die Chinesen haben mit der Zähigkeit von Zarten, doch Tiefverwurzelten, alle Einbrüche der männlich-kriegerischen Mongolen der Steppe aufzufangen und innerlich zu überwinden vermocht. Die augenblickliche rohe Gewalt unterliegt immer dem ausgebildeteren Geist.

Als aber der Ferne Osten von uns gewaltsam aufgeschlossen wurde, da brachen wir in ihn ein mit einem Geist, der zugleich zuhöchst ausgebildet und zuhöchst kriegerisch war. Unserem stahlharten technischen Geist gegenüber waren die Chinesen wie alle anderen Völker des Fernen Osten, ja der gesamten Erde wehrlos.

Die chinesische Waage schwang zu allen Zeiten nur leise, den sie schwang im Gleichgewicht. Wir haben sie umgestoßen.

Semitische Entscheidung

Im schärfsten Gegensatz zu den Chinesen, die aus maternaler Tiefenwurzelung die Wahl nicht kennen, stehen die semitischen Völker, die Juden und die Araber im Pathos der ethischen Entscheidung.

Die Propheten stellen die beiden Völker immer wieder vor die schroffe Frage, ob sie dem strengführenden Gott oder der vielverführerischen Welt nachfolgen wollen. Den Chinesen ist Fanatismus Barbarei &endash; den Juden und den Arabern aber das alltägliche Brot. Wenn die Chinesen ein Absolutes kennen, so ist es die absolute Wahllosigkeit gegenüber den Urmächten des Kosmos. Die Juden und die Araber aber bekennen ein Absolutes, das von ausschließlicher Gewalt ist: den Einen einzigen Gott.

Die Heiligen Schriften der Juden sind die gewaltigsten Urkunden der Wendung zum Einen Gott, dem Herrn und Vater, weil Urheber der Welt.

Die Genesis im Alten Testament aber tritt auf in vollkommender Voraussetzungslosigkeit, als ob nichts vorausgegangen. Keine Wendung ist sichtbar, sichtbar ist allein die mit einer Selbstverständlichkeit ohnegleichen hingesetzte Kunde von der Schöpfung der Welt durch den Einen, einzigen Schöpfergott. Und wenn sich nicht bei näherem Zusehen die Zeichen häufen würden, daß die Vorgeschichte einfach abrupt abgebrochen wurde &endash; wir müßten annehmen, daß in diesem Raum der Erde die Geschichte mit dem Vatertum begonnen hätte.

Eine mächtige Sprache aber redet das Gebot, keine anderen Götter neben Jahweh zu haben. Und beredt sind auch die Verfluchungen der Rückfälle des Gottesvolkes zu den Baalim, den Erdgöttern der seßhaften semitischen Gastvölker. Wissenschaftliche Forschung aber hat die im Dunkel liegende jüdische Vorgeschichte überraschend geklärt. Vom Mondgott der Nomaden, der noch im Halbmond des Islam zentrales Symbol ist, über väterliche Sippengötter und den Herr-Gott des ganzen Volkes, geht der Weg zu den Elohim, den kosmischen Schöpfungskräften und zuletzt zu Jahweh, dem neuen Gott, dem persönlichen Schöpfer. Auch Jahweh ist ein geschichtlich gewachsener Gott. Das Alte Testament aber ist das Vermächtnis Eines einzigen Kampfes um die ausschließliche Herrschaft des Einen.

Das aber bleibt: Die eigentliche Geschichte der Juden beginnt mit Gott und Moses. Es geschieht eine Wendung, die für ein orientalisches Volk alles andere als selbstverständlich ist. Eine harte Gotteshand formiert dieses Volk, das von seiner Natur aus wie jedes andere Volk des Orientes zur Üppigkeit neigt. Alle innere Geschichte der Juden geschieht &endash; im schroffen Gegensatz zu den Chinesen, aber auch zu den Griechen &endash; gegen die Natur. Das auserwählte Volk zahlt schwer für seine Auserwählung. Dieses Volk gehört dem Himmel: es darf keine Wurzeln in die Erde treiben, es würde sonst in fremden Göttern wurzeln.

Juden und Araber sind Wüstenvölker. Die Wüste aber führt in ihrer grenzenlosen Monotonie immer zum Monotheismus. Wo keine Erde ist, ist auch keine Mutter mächtig. Wo aber der Himmel allmächtig ist, da ist immer auch der Eine Gott allmächtig.

Alle Wüstenvölker wandern. Sie wandern, weil sie keine Erdwurzeln haben. Sie wandern auch in der Wüste der Städte. Sie sind angezogen von der wurzellosen Weite der Städte wie von der wurzellosen Weite der Wüste. Das gilt vor allem von den Juden, denn es treibt sie der Geist.

Die Juden wurzeln im Himmel &endash; doch sie wollen das Erdreich erobern. Die Himmel sind mächtig. Sie wollen herrschen. Die Juden wurzeln auch noch in ihren revolutionären Himmeln. Und leidenschaftlich reden sie den anderen Völkern, unter denen sie wohnen, die erdlichen Wurzeln aus. Die erdlichen Wurzeln der Völker sind für die revolutionären Juden verboten wie für die gläubigen Juden die Baalim. Und so hoch der Gott der Himmel über den Baalim steht, so hoch steht der revolutionäre Himmel des Geistes über der Erde der Völker. Die jüdische Leidenschaft der Entwurzelung der Völker aus ihrer Erde aber macht die Juden den heimatlichen Völkern fremd und verhaßt.

Die Juden scheinen die Treue nicht zu kennen. Die jüdische Treue aber gehört ausschließlich dem Einen Gott und durch ihn dem Einen Volk. Einmal muß ihr Gott, der Gott der Frommen oder der der Revolutionäre über die ganze Erde gebieten, so, daß die Menschen nur noch Ein einziges Volk sind. Das ist die große Erwartung der Juden. In ihr glänzen ihre Augen fiebrig auf. Diese Erwartung hielt dieses einzige Volk durch die Jahrtausende aufrecht, ließ es Meere von Verfolgungen durchschreiten wie das Rote Meer.

Indogermanische Spannung

Die indogermanischen Völkerschaften sind von einer dritten Art, die unverwechselbar verschieden ist von den fernöstlichen und den semitischen Völkern.

Mit den fernöstlichen Völkern haben die indogermanischen gemeinsam, daß sie beide Archetypen des Menschen, den maternalen und den paternalen zugleich mächtig in sich tragen, wobei jedoch dem männlich-kämpferischen Typus eine ausschlaggebende Rolle zukommt. Wenn auch bei ihnen wie bei den Chinesen eine geheime Waage erkennbar ist, so schwingt diese nicht leise um ein Gleichgewicht, sondern heftig im wechselnden Gewicht der Seiten. Die indogermanischen Völker haben nie das ruhende chinesische Gleichgewicht gekannt, sie haben aber um beide Seiten als um die Seiten ihres ganzen Wesens bis heute gekämpft. Ihre maternale Seite ist mächtig in ihrem ausgesprochenen Sinn für Heimat. Anders als die semitischen Völker sind die indogermanischen immer wieder bereit, Erdwurzeln zu treiben und der Erde, in die sie sich verwurzeln, die Treue zu halten. Ihr vormächtiger männlicher Zug aber läßt sie nicht wie die Chinesen in die Erde eingehen. Ihr Drang in die Weite sprengt immer wieder das Grab der Erde. Vor allem die germanischen Völker sind in einem fortwährenden Aufbruch. Es ist nicht von ungefähr, daß ihnen das Pferd zum Schicksalsgenossen wird. Der deutsche und nordische Mythos kennt wie der griechische das wunderbare Pferd, das die Götter allhin trägt. Die indogermanischen Völker lieben die bunte Welt und das Abenteuer, das weithin verschlagende. Es sind darum Völker des Mythos, Völker der reichsten Bilderwelten. Ihr Mythos spiegelt ihren vielgestaltigen Traum von Göttern und Helden.

Darin besteht zugleich die Ähnlichkeit und Unähnlichkeit mit den semitischen Völkern. Gegenüber den seßhaften Chinesen sind die indogermanischen Völker von einer Unruhe, die an die semitische gemahnen könnte, wenn sie nicht vollkommen andere Wurzeln hätte. Sie sind Wandervölker, denen es im Blute liegt, die Welt zu entdecken, die Welt zu erobern. Auch die Mongolen der Steppe und die Araber haben ganze Erdkreise überflutet. Und doch ist es bei aller Verwandtschaft im Kriegerischen ein anderer Trieb, der sie führte. In den Arabern kommt dazu noch der missionarische Wille, die Erde Allah zu unterwerfen. Das aber war allezeit auch der Trieb der Juden, in dem sie die anderen Völker unkriegerisch, doch revolutionär unterwanderten: ihr Geist muß der Geist der ganzen Welt werden. Das ist nicht der Zug der indogermanischen Entdeckungen und Eroberungen: sie wollen Welt. Sie wollen Weite, Glanz und Ruhe der Macht. So sind sie auch nicht fanatisch-eng. Weltliebe und ihr Schatten Weltsucht ist in ihnen.

Im Zuge ihrer Eroberungen geschah es, daß die drei indogermanischen Völker von metaphysischem Rang, die Inder, Perser und die Griechen in Länder gekommen sind, die von dunklen autochthonen Völkern besiedelt waren. Die Eroberer haben mit der hochgezüchteten Kraft von Kriegervölkern die unkriegerischen Muttervölker unterworfen und haben sich als Herren über sie gesetzt. Daraus aber erwuchs eine fatale Übertreibung der männlich-herrischen Seite. Das Weiblich-Mütterliche im eigenen Volkstum mußte vor der Notwendigkeit herrischer Macht in den Schatten treten. Denn in den unterworfenen Völkern trat den Eroberern die dunkle Mutter des Volkes selber entgegen, unendlich gefügig und zugleich unüberwindlich. Dasselbe geschah später den germanischen Völkern, den Franken gegenüber den Kelten, den Deutschen gegenüber den Slaven. Denn selbst innerhalb der im Übergewicht paternalen indogermanischen Völkergruppe gibt es ausgesprochen maternale Völker wie die Kelten und Slaven.

Unter diesem äußeren Druck geschah die Weltwende der Väter in den indogermanischen Völkern über alle innere Notwendigkeit hinaus. Die Schroffheit entspricht nicht dem inneren Wesen dieser Völker, wohl aber dem gezwungenen Zwang der Geschichte. Die geschichtliche Fatalität ließ das mächtig kontrapunktische Maß nicht zu, auf das die alten und die neuen Völker der indogermanischen Völkerfamilie angelegt sind. Vielleicht ist heute, da uns Geschichte bestürzt, ein neuer Sinn dafür, wieviel sie wieder das innere Wesen der Völker vermag.

Das Übertriebene des indischen Geistes, das seinen Mythos und seinen Logos zugleich gewaltig und ungestaltig erscheinen läßt, verrät wie das Starre der Kasten mehr Schwäche als wirkliche Kraft. Heute, da die Dinge so erscheinen wie sie immer waren, da das magische Tabu der Weißen gebrochen, können wir die tragische Stärke-Schwäche der indogermanischen Eroberer verstehen. Der endliche Sieg der dunklen Mutter war immer nur eine Frage der Zeit. Indien gehört jetzt in der Macht seiner Ohnmacht, in der gandhischen Gewalt der Gewaltlosigkeit zur Mutter wie in der Zeit vor dem indogermanischen Einbruch. Der Kult der heiligen Kuh ist Mutterkult. Der Inder selbst ist trotz der verschlossenen Kasten heute dunkel. Dunkel war Krischna, der Heiland der Inder. Er hatte die Welt von der hybriden Macht der kriegerischen Kraft zu erlösen. Der Mythos ist nicht Ideologie: er spiegelt rein die Regung der Seele.

Auch der äonenlange Streit der beiden mythischen Mächte, des Lichtes und der Finsternis, zu dem der persische Geist ausholt, ist kein Zeichen siegreichen Übermutes, sondern der wissenden Sorge um die verzweifelte Lage des reinen Lichtes. Der persische Geist rechnet mit einer so ungeheuren Gegenkraft, daß erst das Ende der Zeiten den Sieg bringen wird. Daß aber das Licht zum Guten an sich, das Dunkel zur Finsternis und damit zum Bösen an sich wird &endash; das ist nicht Ausdruck indogermanischen Wesens, sondern Ausdruck tragischer Geschichte.

Die Griechen waren glücklicher als die Inder und die Perser. Auch sie kamen vom Norden her lichthungrig nach dem Süden. Auch sie kamen über dunkles Volk. Doch dies Volk war nicht übermächtig an Masse im kleineren Raum der griechischen Halbinsel und der griechischen Inseln und darum nicht unüberwindlich wie das zahllose Gewimmel der asiatischen Völker. Und dazu war das pelasgische Urvolk den einwandernden Griechen nicht so fremd wie das in dunkle Riten gebannte Untervolk den Indern und Persern. Etwas von mediterraneischer Formung durch das harte, plastisch schaffende Licht lebte schon, alles Massige durchbrechend, in den vorgriechischen Muttervölkern, die im eleganten Kreta ihr Zentrum hatten. Und lange stand das griechische Festland unter dem verführerischen Einfluß wie unter der milden Macht dieser Insel der Mütter. Wie nur im fernsten Osten fiel diese Mutterwelt nicht in die Schwere der Erde, sondern stellte sich zu weiblicher Verfeinerung dem in diesem Raume noch liebenden, noch nicht afrikanisch verzehrenden Licht.

So aber waren die Griechen nicht gezwungen, um ihrer Herrschaft willen ihre maternale Seite zu verleugnen. Es konnten in ihnen Muttergottheiten aus der eigenen Seele wachsen. Dies geschah nicht ohne den mächtigen Einfluß der vorgriechischen Welt. Die Prägung der mütterlichen Gottheiten aber ist im griechischen wie im nordischen und deutschen Mythos von eigener Art. Es gibt eine griechische Genealogie der göttlichen Mütter. Sie ist unablösbar von der unverwechselbar griechischen Theogonie. Und so bleiben denn die Großen Mütter auch in olympischer Zeit. Gaia und Rhea bleiben. Sie sind vor allem gegenwärtig in der gebildeteren Gestalt, die das Wildwüchsige abgestreift: sie bleiben in Demeter. Ein scheinbar geringfügiger Zug erschließt dies unmittelbar: Demeter wäre das Pferd nicht heilig, wäre sie fremden Ursprungs. Denn im Gegensatz zu den Muttervölkern des Südens ist das Pferd das Symbol der wandernden und erobernden, der männlichen Völker.

Es ist ein beliebtes Spiel der Gelehrten und derer, die wie diese sich gebärden, archetypische Bestimmungen wie Handelswaren anzusehen, die man bezieht. So müssen alle Muttergottheiten asiatischen Ursprungs sein, weil die Gelehrten des Westens ihnen in der Regel fremd gegenüberstehen. Nun kann kein Zweifel sein: Asien bleibt die große Mutter. Doch selbst diese Grundwahrheit hat ihr Gegengewicht: Asien ist auch das Ursprungsland der härtesten, in ihrer Entscheidung bis zum Bruch gehenden patrokratischen Gegenwelten &endash; man denke an das Judentum und die Araber.

Vor allen diesen Herkunftsspielen muß die Erkenntnis stehen: alles Ursprüngliche ist in uns allen heute wie gestern. Darum lebt der Mythos, auch wenn er schon lange gestorben ist. Gaia, Rhea und Demeter sind in uns wie Eva in uns ist. Und immer noch erschlägt Kain den Abel. Und Prometheus muß immer noch sein Haupt erheben gegen die bevormundenden Herren des Himmels wie der Erde. So sind auch die Mütter in uns. Sie kommen nicht aus Kleinasien. Sie wohnen im Schoß der Frauen. Sie wohnen im Herzen des Menschen. Das ist ihre Herkunft, ihr »Ursprungsland«. Und sie suchen als Ursprungsmächte ihr göttliches Gesicht. Sie müssen es heute wieder suchen. Und sie sind da in der Wende der Söhne als die, die sich darauf verstehen, den Menschen vom wilden, schweifenden Tier abzuwenden.

Im griechischen Mythos ist eine maternale Seite eigenwüchsig wie eine paternale. Und dies gibt ihm für uns eine neue Bedeutung: Griechenland ist symbolisch das Heimatland nicht nur des lichten Geistes &endash; es ist für uns die noch unzerrissene Doppelheimat des Menschen. Der griechische Mythos spiegelt die beiden Wenden, die Weltwende der Mütter und die der Väter. Und um dieser unvergleichlichen Spiegelung der beiden Wenden willen ist in diesem Buche der griechische Weg eingeschlagen.

Die tragische Entzweiung der beiden Weltwenden ist das Urthema der mythischen Tragödie. Sie bleibt den Griechen nicht erspart. Doch da sie die Tragödie des gespaltenen Kosmos in sich selber erfuhren, ist sie für sie zugleich schmerzlicher und freier. Die Überwältigung fremden Volkstums ist nicht tragisch, ist traurig. Das Tragische im Sinne der Griechen ist die Zerreißung des Gottes. Die Griechen erfuhren das Sichmessen zweier eigener Kräfte und so blieben sie im Maß gegenüber den maßlosen Indern, deren Geist auf der Flucht sein mußte vor dem unausrottbaren Dschungel der dunklen Massen. Und so konnten die Griechen mehr sehen als den bis an das Ende der Welt gehenden Kampf zwischen den mythischen Mächten des Lichtes und der Finsternis, dem alle apokalyptischen Geister verfielen und verfallen und in dem die Schwäche der persischen Stärke sich verrät.

In vorläufiger Andeutung: In der »Orestie« des Aischylos haben die »Neuen Götter«, die »Himmlischen« &endash; nach den Benennungen des Aischylos in seinem »Prometheus« &endash; gesiegt und sind die alten Erdgottheiten geschlagen. Doch dies Geschehen erfährt Aischylos als Tragödie. Und das ist auch noch in der »Antigone« des Sophokles: Antigone bewahrt das mutterheilige Recht der Pietät gegenüber dem toten Bruder gegen das neue paternale Recht des Staates, das sich in seiner Härte in Kreon verkörpert.

Alle Geschichte ist tragisch. Auch die Griechen entgingen der tragischen Spaltung zwischen den Muttergottheiten und den »Neuen Göttern«, den »Himmlischen« nicht. Es ist aber eine Tragödie, die sich innerhalb ihres eigenen Wesens abspielt. Darum ist allein von allen geistgroßen Völkern bei den Griechen von einer tragischen Erkenntnis zu sprechen.

In den Griechen war innerlich und äußerlich soviel Licht, daß sie in ihrem letzten Mythos, dem apollonischen, der Verführung nicht entgingen, das Licht in wachsender Ausschließlichkeit als das Absolute selbst zu verehren. Dem letzten Mythos folgt der Logos. Er vollendet die Ablösung des Lichten vom Dunklen, des Himmels von der Erde. Die gewaltige Mutter lebt nur noch fort als minderwertige oder gar nur noch negative Materie, in jedem Fall als zu überwindender Gegenpol gegenüber dem alleingöttlichen Licht.

Hierin geht das griechische Schicksal in das gesamt-indogermanische über. Die Griechen aber scheitern nicht an dunklem Volk wie die Inder und an der mythischen Finsternis wie die Perser: ihnen gelingt die Unterwerfung der Mutterwelt, weil ihnen deren Entgottung und Entseelung gelingt. Diesem Beginnen der Griechen folgt die abendländische Welt. Sie gehen kalten Sinnes an die nicht mehr beseelte Leiche der Großen Mutter. Die technische Wissenschaft hat hierin ihre Herkunft und die jetzt die Welt erobernde wissenschaftliche Technik. Grund genug, um hier an den Wurzeln Geschick und Ungeschick der menschlichen Entscheidungen zu ermessen, die ebenso zu unvergleichlichen Siegen des Menschen wie zu unvergleichlichen Katastrophen führt.

Nie waren die indogermanischen Völker nach dem Stern ihrer Geburt ausschließlichen Geistes. Sie waren nicht nur mythenreich, ihr Mythos war weltenreich. Und dies weist auf ihr konstitutives weiblich-mütterliches Wesen. Wenn ihr herrischer Geist siegte, so widerspricht dies nicht der dauernden Spannung ihrer Seele. Es sagt uns, daß das Herrische dieser kämpferischen Völker so weit geht, auch die eigene Seele zu unterwerfen. Langsam aber reifen wir in das Bewußtsein, daß wir mit der Vergewaltigung der Seele uns selber vergewaltigen und daß wir daran sind, das Zentrum des Menschen an die Erfolge eines Geistes zu verraten, der nacheinander die göttliche und die menschliche Welt verließ.

Die Ausschließlichkeit, die der letzte Gott, der Logos-Theos, selbst bei den nie ausschließlichen Griechen annimmt, ist eine der vielen Verführungen unserer in ihren Wenden zu scharfen Geschichte.

Der letzte Gott der Griechen, der Logos, ist es denn auch, der die Brücke zum Einen Gott der Juden bildet, dem eifersüchtig ausschließlichen &endash; und damit zu dem seltsamen Bund der beiden so extrem verschiedenen Väterwelten der Juden und Griechen im Christentum.

Die zwei abendländischen Herkünfte

Es wäre nie zum Zusammenfluß der beiden so ganz anders gerichteten Geschichtsströme gekommen, wenn nicht die indogermanischen Völker ihrer schwankende Doppelnatur in den semitischen Stromschnellen des väterlichen Geistes hätten endgültig in die gewollte Richtung bringen wollen.

Auf der anderen Seite, der jüdischen, zog der helle Tag des aufklärenden Geistes die geplagten Seelen des übermächtigen Gottes an. Die Juden durften nie jung sein und sie dürfen es heute noch nicht. Vor dem allmächtigen Vater ist alle jüdische Jugend schwindsüchtig. Sie ist vom ersten Lichtschein an gerichtet auf die Weiterführung der väterlichen Linie. Die Juden wachsen schon auf im Dickicht der Gebote und stoßen sich schon früh an der Härte des Gesetzes. Die Welt ist gehalten von den Händen Gottes, diese Hände aber sind ungeheuer. Und dieser Gott sagt, was zu denken ist. Er befiehlt: »Israel höre!« Und das Hören und der Gehorsam und das Hörige sind nah beisammen.

Die Griechen aber waren jung. Nicht nur einmal in einem Völkerfrühling. Sie waren jung von Natur. Jener ägyptische Priester hatte recht, als er &endash; nach dem platonischen »Timaios« &endash; die Griechen ein Volk von Kindern nannte. Der ägyptische Priester kam sich uralt vor, denn ihm galt Überlieferung alles. Die Griechen jedoch dachten, als ob sie die Ersten wären, die sich Gedanken machten. Und sie frugen genau so wie Kinder fragen. Wie Knaben, die es wissen wollen. Sie mußten wissen, was zuerst, im Anfang war. Nichts stand fest. Alles mußte erforscht werden. Auch dies, glücklicherweise auch dies wurde uns zur Erbschaft. Nicht bloß das Ausgemachte des Gesetzes und der Offenbarung. Wir mußten nicht nur hören, was schon ein früheres Volk längst vor uns hatte hören müssen.

Zu den Müttern und der Bilderflut der weiblich-mütterlichen Seele kam also noch die Jugend der Griechen. War da nicht ein Zusammenhang mächtig? Wer wagt ihn zu bezweifeln? Der Vater macht alt, die Mutter jung. Die Mutter will immer das Kind, selbst im Manne sucht sie es. Die Mutter versteift nicht, denn sie ist nie auf Perfektion verschworen. Zu den Müttern kommen als Verschworene noch die Söhne.

Die Griechen sind in wunderbarer Vorausnahme ein Volk von Söhnen. Das Volk Apollons. Das Volk der Pallas. Das Volk des Prometheus. (Der wallende Bar des Zeus ist diesem Volk weniger eigentümlich als dem jupiterhaften römischen.) Das Volk des Achilleus. Ein enthusiastisches Volk. Noch nicht erkältet von der väterlichen Erfahrung. Ein Frühlingsvolk, noch fern dem väterlichen Herbst und Winter. Es lebt noch mitten in der Aufrichtung der platonischen Logokratie. Die ersten Begeisterten des Neuen Gottes, des Logos-Theos waren nicht ägyptische Priester, waren Kinder des Volkes von Kindern. Der »Phaidros«, in dem die erste Wallfahrt in den Himmel, ja den überhimmlischen Ort der körperlosen Idee beschrieben wird, ist die Schrift der Rühmung des heiligen Wahnsinns, der göttlichen Mania &endash; ist die Schrift des platonischen Eros. Platon blieb immer jung in diesem anderen Gott, dem Bruder des Logos.

Erst in Aristoteles, dem Ewig-Alten, der schon ein Vater im Mutterleibe war, beginnt das Vatertum des Geistes. Geist wird Begriff. Was mußten die Griechen tun, um alt zu werden! Sie mußten zuletzt alles orientalische Vatertum zu Hilfe rufen, bis auch sie in weißen Bärten von fanatischen Mönchen Gott dem Vater glichen.

Die Weltwende der Väter entscheidet sich in ihrer abendländischen Form durch die Verbündung der jüdischen Theokratie, Gottesherrschaft, mit der griechischen Logokratie, Geistherrschaft.

Die geschichtliche Paradoxie aber will es, daß ausgerechnet im Zeitpunkt des triumphalen Sieges der Väter der »Sohn« geboren wird, mit dem eine neue Geschichte anhebt.

*

Juden und Griechen haben Eine gemeinsame Leidenschaft: den Geist. Den Juden ist Gott Geist, den Griechen ist der Geist Gott. Das ist ein mächtiger Unterschied. Die Geschichte aber feiert fürs Erste die große Übereinstimmung der sich verbündenden Welten der Juden und der Griechen.

Das spätantike und das mittelalterliche Christentum bauen unbekümmert an der großen intellektuellen Synthese. Die beiden größten katholischen Denker des Westens, Augustin und Thomas von Aquin sehen in diesem Zusammenbau ihre Lebensarbeit. Sie sehen im späten Griechentum wie im Judentum nur Eine einzige antiheidnische Welt. Die Denker Griechenlands schienen an derselben Sache zu sein, den Geist über die Welt triumphieren zu lassen wie die Gläubigen Israels.

Die Väter hatten keinen Blick für das Eigentümliche der geschichtlichen Mächte. Es entspricht ihrem abstrakten, von allen individuellen Unterschieden absehenden Denken, daß sie den Widerspruch zwischen dem frei forschenden Geist der Griechen und dem von Offenbarung lebenden Geist der Juden zu übersehen vermochten. Mündeten nicht beide Völker in die Eine Geschichte des Logos? Das Wort Logos verführte in wortfanatischer Zeit: ging es nicht um dieselbe Sache?

Die intellektuelle Synthese der christlichen Väter ist brüchig. Doch sie erfüllte die geschichtliche Aufgabe, dem abendländischen Vatertum doppelt begründet zum bedingungslosen Sieg zu verhelfen. In Wirklichkeit aber hat sie beide Welten im Rückgrat gebrochen, die jüdische durch die griechische und die griechische durch die jüdische. Doch was wohl noch schwerer wiegt: sie hat die Geburt des »Sohnes« rasch vergessen über den späten Erscheinungen des Juden- und des Griechentums.

Am Ende der Antike ist das Griechentum in Aufruhr gegen die Übernahme des Alten Testamentes und des jüdischen Stammesgottes in die neue Geschichte des universalen Erlösers. Markion wird mit Mühe besiegt. Der Sieg der Kirche ist richtig. Doch er blieb nur Resultat, er wurde nie fruchtbar an Einsicht. Die Väter hatten nur Eine Leidenschaft, ihr Reich zu gründen. Und dafür blieb das Alte Testament der festeste Grund.

Am Ende des Mittelalters begegneten sich die beiden Einflüsse, mächtig genug noch, als intellectus und voluntas, Intellekt und Wille. Thomas von Aquin stand auf der einen, Duns Scotus auf der anderen Seite. Duns Scotus zerriß das fadenscheinige Band des seltsamen Bundes. Gott wurde wieder Gott. Er wurde wieder Wille. Für alles Griechentum des Geistes war ausgemacht: Gott will, was gut ist. Duns Scotus aber erklärt: »Alles ist gut, weil es von Gott gewollt ist und nicht umgekehrt.« &endash; »Omne est bonum quia a deo volitum est et non ex converso.« Und ebenso sagt Okham: »Gott kann zu nichts verpflichtet werden, und was daher Gott will, das geschieht zurecht.« &endash; »Deus ad nullum potest obligari, et ideo quod Deus vult, hoc est justum fieri.« Damit brachen Duns Scotus und Okham mit dem griechischen Geiste. Der jüdische Gott triumphiert in seiner absoluten Willensmacht &endash; ja Willkürmacht. Wie hatte Thomas sich bemüht, das Maßlose, das den jungen Völkern noch im Blute lag, mit griechischem Maß zu bändigen. Kein Wunder, daß die germanischen Völker des Nordens sich Duns Scotus anschlossen. Die deutsche Reformation ist undenkbar ohne ihn und Okham. Der unberechenbare Gott siegt. Er fegt das feine Spinngewebe der Synthese zwischen Griechentum und Judentum fort, das der niemals ausschließliche griechische Geist gesponnen.

Die Neue Zeit erbt von den Vätern die beiden Geschichte machenden Kräfte: das logische Denken und den unberechenbaren Willen. Es ist eine hochexplosive Mischung. Und es sollte an Explosionen in der Neuen Welt, der Söhnewelt, auch nicht fehlen.

Denn die väterliche Theokratie und die väterliche Logokratie finden nun zugleich ihr Ende. Über den Söhnen steht kein bindender Willensgott mehr und kein bindender Denkgott. Ein entfesselter Wille verbindet sich mit einem entfesselten Denken. Die Söhne brauchen sich nicht mehr um kunstvolle Synthesen nie zusammengehöriger Ursprungswelten zu bekümmern. Die logische Kraft und die willentliche schließen wie zwei Elemente ineinander. Die beiden Elemente treiben, das eine rechnend und das andere unberechenbar, die unvergleichlichen Kraftwerke der Neuen, der sohnlichen Zeit.

Die fortschrittlichen Söhne fragen nicht nach der Herkunft ihrer beiden mächtigsten Kräfte. Ihr Blick ist so gebannt von der Zukunft, daß sie nicht wissen, was in ihnen wirkt, was sie treibt. Und sie verweigern sich der Frage, die sie nur schwächen kann. Sie werfen alle Kraft, rückhaltlos wie rücksichtslos, in die demiurgische Weltmache, in der sie mitten drin sind, ohne es zu wissen.

Niemals war soviel Wissen und niemals so wenig Weisheit wie heute. Das logische Wissen ist verblendet von seinen Erfolgen und blind im Willen, der es treibt. Die Maya der Söhne ist gewaltig am Werke. Durch die Blendung schafft sie Macht, durch Macht schafft sie Blendung. Sie treibt im ältesten bösen Kreise. Die Welten der Mütter und der Väter hielten sich durch ihre Weisheit. Der Schleier der Maya war auch um sie dicht gewoben, doch sie hatten den guten Willen, hellsichtig oder aus überlegener Sicht Geschehen zu durchschauen. In den Söhnen aber ist der Wille zur wirkenden Wirklichkeit so groß, daß die Willigkeit zur Wahrheit leidet. Sie fürchten aufgehalten zu werden und sie wollen nicht, daß die Wahrheit sie aufhält in ihrem blinden Zug in den Abgrund. Sie wissen noch nicht, daß die Wahrheit und das Offene, das sie lieben und suchen, ein und dasselbe sind.

Es wirken, auch in der Verwandlung durch die Neue Zeit, in den Söhnen ungekannte und darum meist fatale Erbschaften. Auch wenn wir sie nicht kennen, geschweige denn anerkennen, geschieht in uns die jüdische Voluntarisierung und die griechische Logisierung der Welt. Einmal gebundene Kräfte aber sind in uns zu grenzenlosen Elementen geworden, die das Maß des Menschen sprengen und in das Unmenschliche treiben. Wenn wir sie nicht in ihren Grenzen zu erkennen vermögen, werden wir ihrer nie mehr Herr werden.

Dauernde Macht der Juden und die griechische Unsterblichkeit

Von den beiden Väterwelten ist die jüdisch-theokratische die mächtigere, die griechisch-logokratische die zartere.

Heute tritt das Rein-Denkerische gegenüber dem nutzdienlichen, meist Macht-Zwecken unterworfenen Denken weit zurück. Der jüdische und der römische Pragmatismus siegen im angelsächsischen und im russischen Fanatismus der Nützlichkeit. Die griechische Art ist kaum mehr denkbar in den heutigen Staatsbetreiben der Wissenschaft. Und wenn wir mit dem pragmatischen Denken auf den Erfolg abstellen, so könnten wir das griechische Denken so hoch nicht schätzen. Es ist aber ein Ursprung des Menschen, den wir nicht verlassen können, ohne uns selbst zu verraten.

Die Griechen sind als Volk untergegangen, während die Juden noch da sind und nicht nur vorhanden, sondern in einer für ein kleines Volk unvergleichlichen Mächtigkeit. Die Klage über das Schicksal des außerordentlichen Volkes darf uns nie vergessen lassen, daß es das Einzige ist, das noch lebendig unter uns lebt. Und die Frage stellt sich selbst, welche Kraft dieses Volk dazu befähigte, Jahrtausende, wenn nicht unversehrt, so doch ohne Verlöschen der eigensten Kraft zu durchschreiten. Die Juden haben eine Kraft, die den Griechen wenig eignet: sie sind in einem magischen Willen eingewurzelt. Dieser magische Wille hieß Gott. Doch selbst, wo der Name verwelkte wie unter den revolutionären Juden, da blieb die Wurzel. Die Griechen hielt der allmächtige Wille nicht, der jeden einzelnen Juden, auch den schwächsten, treibt. Die Frommen würden sagen: Gott hat gesiegt. Es ist aber über allen Triumph hinaus bedeutsam zu wissen: der magische Wille siegte über den logischen Geist.

Die Geschichte verhüllt meist, als ob sie darin schamvoll wäre, ihre geheime Gerechtigkeit. Die Griechen bleiben auf ihre Weise unsterblich. Es entspricht ihrer hohen Geistigkeit, daß ihr Blut oder, wie die Juden sagen, daß ihr Same erloschen ist, daß aber der so reich und mächtig ausgeschüttete Geistessame heute noch treibt. Die Stoa sprach nicht ohne Grund vom Logos spermatikos, vom ausgesäten Logos: ihre Rede gilt von den Griechen selbst.

Die Unsterblichkeit der Griechen ist von achilleischer Art. Sie hat die Leichtigkeit von Frühvollendeten. Sie bedrückt nicht. Es verfolgen nicht Gespenster. Ahnen klagen nicht und klagen nicht an. Sie wollen nichts von uns, die unsterblichen Genien &endash; auch darin sind sie kein Wille, der uns des eigenen Daseins beraubte. Darum floh Hölderlin zu ihnen, den ewig Gegenwärtigen.

Das jüdische Vatertum wirkt härter und zwängerischer. Wo eine Seele ihm offensteht wie die Kafkas, da dringen die alten Mächte mit furchtbarer Gewalt ein. Der Nichtrevolutionäre erleidet die uns wieder überfallenden Väter, die Ewigen vom »Schloß« droben im Himmel, die Ewigen, die und den »Prozeß« machen. Und eine Wolke sind alle griechischen Götter an Leichtigkeit gegenüber dem Albdruck des jähzornigen, eifersüchtigen und rachgierigen Gottes der Juden. Daß die Juden Revolutionäre geworden sind, ist von fataler Notwendigkeit.

Auch die Revolutionäre folgen jedoch dem Perfektionismus, der die jüdischen Völker treibt &endash; dieser aber duldet keine Liebe zu dieser armen unvollkommenen Welt, die von der Vollkommenheit des Vaters nichts hat. Alle Liebe, die nicht vorwärtstreibt, ist Sünde. Wenn die Zeit vorbei ist, in der wir rückfallend noch einmal in die Presse der Väter gerieten, werden wir wieder wissen, was es bedeutet, daß einmal Griechen waren, leichte paradiesische Luft der Liebe zum Sein selbst und der Fülle des Seienden.

Die Griechen stammen aus der Bilderwelt des Mythos. Und wir sehen sie vergeblich bemüht, ihre Urwelt abzustreifen. Es gelingt erst Aristoteles. Im Bilde ist die Magie der Griechen mächtig, und so leben sie in unvergleichlichen Urbildern fort. Und auch noch die griechischen Weltbilder verraten die einstige Heimat der Griechen in Bilderwelten. So hat auch die platonische Idee letztlich urbildlichen Charakter. Heute sind uns aber auch die Bilderwelten wieder vertraut. Wie verachten sie nicht mehr, selbst nicht die des Traumes. Wir erfahren das Wesen der Dinge nie anders als in der Erscheinung. Offenbarung ist immer auch Verhüllung. Es ist das Zeichen der leibhaftigen Welt selbst, den Sinn im Sinnbild zu verbergen.

Ohne die Weltbilder der Griechen aber wäre die freie Forschung nie geboren worden. Und die Sprache des Geistes wäre nie gesprochen worden. Das Judentum hat wenig Sinn für reine Erkenntnis. Von den Römern ist zu schweigen. Und die Lateinischen haben so schlecht übersetzt, wie sie den griechischen Mund verstanden haben. Wenn Geist ist &endash; nicht der wehende, aber in unvergleichlichen Wundern den jüdisch-christlichen Raum durchbraust &endash;, wenn Geist ist, Form und Formel des Seins und der seienden Dinge, so hat er seine Heimat bei den Griechen.

Der jüdische Geist der Schöpfung oder das magische Wort

Das weltschaffend Schöpferische stammt aus magischer Wurzel. Die Juden leben aus dieser Wurzel. Sie ist die Kraft in ihrer Schwäche. Sie ist die Macht in ihrer Ohnmacht. Gott selber trägt vor allen seinen anderen Namen den des Schöpfers. Er ist der magische Urheber. Er spricht: Es werde Licht! Da ward Licht. Das ist der große Zauber. Das Sprechen selber ist Magie. Was gesprochen ist &endash; das ist. Auch die Griechen sagen: Im Anfang war der Logos. Doch das Wort im Sinne der Juden und der Logos im Sinne der Griechen hätten nie miteinander verwechselt werden dürfen. Das jüdische Wort ist ein magisches Wort. Noch die wurzellosen Juden, das heißt die, die ihre Wurzel nicht mehr Gott nennen, glauben an das weltschaffende, weltverwandelnde Wort. Sie sind immer an der Weltschöpfung, Weltverwandlung. Allen anderen Völkern wird es einmal zuviel, daß keine Welt vor ihnen Gnade findet. Selbst den wollüstigen zerstörerischen Russen ist es einmal zuviel geworden. Das ist im Haß Stalins gegen Trotzky, den Ewigen Revolutionär.

Nach allen Fortschritts-Ideologien sollte heute die Macht selbst und ihr Kult gebrochen sein. Und es verwundert die Gläubigen der Revolution endlos, daß dies nicht der Fall ist, daß der Geist der Macht triumphaler über die arme Erde und den armen Menschen hinwegschreitet als je. Sie regen sich auf über die kleine Macht und die kleinen Herren, über all das, was sie reaktionär empfinden. Die Bilder der großen Revolutionäre aber tragen sie wie Heiligenbilder vor sich her. Sind sie nicht Zeichen und Zeugen der endlichen Eigenmacht des Menschen? Doch der Traum geht noch viel weiter. Und noch kleiner wird der konservative Rückstand alter Macht. Der revolutionäre Mensch begehrt die Macht über die Erde, ja, über das All. Seine Phantasien schweifen höchst wissenschaftlich aus in die Beherrschung des Weltraums. Der Herr der Erde will Weltherr werden. Der Mensch ist ja längst schon auf den Spuren Gottes. Der Theokratie folgt auf dem Fuß die Anthropokratie. Und so ängstlich sich der Wurm Mensch immer noch krümmt &endash; so grenzenlos sind seine Träume von Allmacht.

Wir sind in einer demiurgischen Weltmache des Menschen größten Stils. Vor ihr sollen endlich die Welten der Mütter verblassen, über die der Mann immer noch nicht zu triumphieren vermochte. Die großen Weltmächte des Westens und Ostens sind schier ununterschiedlich drin in der demiurgischen Raserei des Menschen.

Die aber, die in diesen neuen Fanatismus geraten, für die sind die Griechen in unwirklicher Ferne. Die Griechen haben nie eine andere Welt schaffen wollen. Sie wollten diese Welt erhellen. Sie stellten sie in das rechte Licht &endash; sie ließen deren eigenes Licht leuchten. Sie suchten deren Sinnbilder, sie suchten deren Wahrheit, deren Idee &endash; denn, ja denn sie liebten diese Welt.

Es ist Gesetz des Wesens, daß den Juden (wie später den Arabern) geboten wurde, kein Bildnis, noch irgend ein Gleichnis von Gott zu machen.

Dies bezeugt den ungeheuren Abgrund zwischen der magischen Religion des Alten Testaments und der mythischen der Griechen.

Jedes Bild begrenzt. Jedes Bild ist notwendig menschlich, ja allzumenschlich. Im Bilde triumphiert der Leib und damit das Weib. Das Bild entspricht der Erde, es entspricht aber nicht der endlosen Welt, der Wüste. In der Wüste gibt es nur ein »Israel höre!«. Das Ohr und das Gehör gehen in das Grenzenlose. Das Wort ist universaler als das Bild. Was den Griechen schön war, muß nicht schön sein für die Chinesen. Aber das Wort von der Schönheit ist dasselbe. Es gilt überall. Das Wort Liebe ist grenzenloser als das Bild einer Geliebten. Wer die Liebe leibhaftig haben will, der gehört zum Bild. Wer sie in ihrer Unendlichkeit bewahren will, gehört zum Wort. Es gehört zum Menschen beides: das Unendliche im Endlichen, das heißt das Weibliche und das Unendliche an sich und für sich, das heißt das Männliche.

Die Juden aber verboten sich das Bild. Und sie haben alles Recht auf ihrer Seite, daß sie verboten, sich von ihrem Gott, einem besonderen Gott, nicht einem der Götter, dem Schöpfergott, dem magischen Urheber, ein Bildnis zu machen. Einer der lebendigsten Denker der Juden, eine seltene Erscheinung der Unvoreingenommenheit bei mächtig jüdischen Zügen, Rosenstock, führt eine Linie der Gottlosigkeit mit Recht zurück auf die lächerlichen Bilder von Gott dem Vater, in denen er wie ein Großvater, Urgroßvater erscheint. Es liegt ein Frevel darin, der den mangelnden Sinn verrät: von Jesus Christus, dem geborenen Sohn sind Bilder zu machen, nie aber von dem nach seinem Wesen immer unsichtbaren Vater.

Die Juden sind die großen Wortmacher wie die Griechen die großen Bildermacher. In der Wortgewalt erreicht kein anderes Volk das jüdische. Ein Greuel muß für die jüdischen Revolutionäre der Bilderkult des neuen Kommunismus sein. Ein Verrat am einzig Revolutionären: dem Wort.

Seltsam: die Abkömmlinge des Schöpfergottes kennen das Bild nicht, das Symbol der Schöpfung. Der Grund liegt darin, daß Schöpfung im jüdischen Sinn immer nur das ausgesprochene Wort Gottes ist, so wie sie in deutschen Landen der Magus des Nordens, Hamann, wieder verstand.

Der griechische Logos, auch der väterlichste, stammt aus dem Bild, das heißt aus dem Mythos &endash; der jüdische Logos aber blieb bis zu diesem Tage, was er von jeher war: Wort. Das scheidet die beiden Welten in der Wurzel.

Die Juden verschworen sich, wie später ihre feindlichen Brüder, die Araber, auf das Buch. Beider Religion ist eine Buchreligion. Die Thora und der Koran sind Gott selbst. Er ist in sie eingegangen. Sie sind seine Offenbarung. Darum sind sie Tabu.

Und das gilt selbst in revolutionärer Zeit von den Schriften des Karl Marx. In ihnen ist der Heilige Geist der Revolution. Auch an sie ist nicht zu rühren. Auch sie sind nur noch auszulegen.

Die Juden und die Araber wehrten sich fanatisch gegen die Menschwerdung Gottes. Der Prophet, der im Wort blieb, war möglich &endash; der Mensch aber, der als Gott erschien, war eine Blasphemie. Die Formel des Johannes: »Das Wort ward Fleisch« durchbrach die Religion des Buches, die Religion des unsichtbaren Gottes und seines magischen Wortes.

Die Griechen aber griffen zu. Hier geschah mythische Geschichte. Der unsichtbare Vater hatte einen sichtbaren Sohn. Der Sohn erschien als der Logos des Vaters, doch der Logos war nicht mehr nur das Wort, war das Bild des Vaters. Der bildlose Gott war ein menschliches Bild. Und dies Bild forderte nicht nur wie das Wort &endash; es war Gott selbst.

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Die Grundverschiedenheit der jüdischen und der griechischen Welt kann hier nicht übersehen werden. Wir ermessen sie jedoch nicht um der Feindschaft willen, wir ermessen sie, um das beständige geistige Verbrechen abzuwehren, die Griechen am Maß der Juden, die Juden am Maß der Griechen zu messen. Wir erfahren die Griechen nicht von der jüdischen Herkunft her &endash; so wenig wie die Juden von der griechischen.

Der Krampf der christlichen Väter, um der Einheit ihrer Welt willen die Grundunterschiede der beiden Herkünfte zu übersehen, ist nicht mehr unsere Sache. Wir wollen wissen, woher wir geistig stammen, und die Maße ermessen, die uns als selbstverständlich hingestellt wurden. Wenn wir dadurch auch in harte Gegensätzlichkeit geraten, so fürchten wir sie nicht. Es gehört zu uns, Gegensätze auszutragen.

Das weibliche Genie Griechenland oder der Kult des Seins

Die Griechen liebten die Welt. Selbst der Gott Logos, der letzte Gott der Griechen, der Vätergott, ist nicht zu denken ohne den Bruder, den ältesten und immer jüngsten Gott, den Eros. Denn der Logos hätte sich nicht so leidenschaftlich um die Erkenntnis der Welt bemüht, wenn nicht auch er bewegt gewesen wäre vom allbewegenden Eros.

Wenn die Griechen neben dem Volk des gewaltigsten Gottes bestehen, ja, wenn sie nicht wegzudenken sind als das Gesicht auf der anderen Waagschale, so ist es ihr »Großer Dämon«, der Eros, der sie auf göttliche Weise die Welt lieben ließ.

Einmal galt nicht nur der Nutzen und nicht nur die Macht, sondern allesüberstrahlend die bildgewordene Göttlichkeit des Kosmos, der Götter; der Helden, des Menschen. Wenn die Griechen zur Welt standen, im Logos wie im Mythos, so standen sie zu deren leuchtenden Urbildern.

Man macht sich die Dinge zu leicht, wenn man das Griechentum auf einen unernsten Ästhetizismus reduziert. Das ist so leichtfertig, wie wenn man die Juden zu erledigen versucht mit dem Vorwurf des Moralismus.

Wie der jüdische Moralismus tief im Schöpfergrund Gottes wurzelt &endash; so wurzelt der griechische Ästhetizismus tief in der Göttlichkeit des Welt-Seins. Der künstlerische Kult der Griechen ist identisch mit dem griechischen Kult des Seins, der in allen seinen Formen diese Welt will und sich nur im Maße der Tiefe oder Höhe und der göttlichen Mania seiner Liebe unterscheidet.

Gewöhnlich aber kommt sich der theologische Geist hoch erhaben vor gegenüber dem ästhetischen Geist der Griechen &endash; ein Zeichen, daß er die »Schöpfung« nicht ernst nimmt, soviel er von ihr redet. Denn auch die »Schöpfung« kennzeichnet das ungeheure Da-Sein der Welt, zu dessen Verfinsterung viel, zu dessen Erhellung wenig Geistesmühe aufgewandt wurde.

Der ästhetische Geist aber ist immer &endash; auch in Männern &endash; dem weiblichen Genie zugeordnet. Der Kult des Seins ist ein ebenso weiblicher Kult wie der Kult des Schöpferischen ein männlicher. Das Weibliche hängt an der Liebe und damit an der Welt &endash; wie das Männliche am Glauben und damit an Gott.

Doch ist zu sagen, daß dies nur Weisen des Vorzugs sind &endash; so ausgeprägt diese sein mögen: wo wirkliche Größe erreicht wird, da ist immer der ganze, der integrale Mensch am Werke.

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Das Ringen um das Sein der Welt gehört zu den Urphänomena Europas. Wenn wir uns immer wieder in den Griechen suchen, so wissen wir, daß wir uns in ihnen als in unserer ursprünglichen Geistesverfassung finden. Und das läßt uns zäh an diesem Ursprungsvolke hängen.

Wir sind uns aber längst selbst untreu geworden. Und was wir in unserem Ungeist selber schufen, das zermalmt uns nun zwischen zwei Mühlsteinen. Wir haben kein Recht, über den nutzgierigen Neuen Westen oder über den nutzgierigen Neuen Osten zu klagen. Ihr Geist ist unser Ungeist.

In unserem Absinken in die nackte Klugheit aber können uns die Juden nicht helfen. Ihre Ungläubigen übertreffen uns darin, keine andere Welt mehr als die des klugen Nutzens zu kennen. Wenn dies Volk einmal vom Glauben abfällt, dann muß es sich in das Berechnete stürzen wie vielleicht kein anderes Volk, da es die Welt nie als göttliche Erscheinung geliebt hat. So wenig wie dem heiligen Volk blieb keinem anderen Volk, wenn Gott nicht mehr spricht, Israel nicht mehr hört.

Auch die Griechen sind ein sehr kluges, ja eines der listigsten Völker. Schon früh maßen sich seine Götter an Listigkeit. Und das Griechenvolk freute sich über die Verschlagenheit des Odysseus. Auch die Chinesen sind Favoriten im Rennen der Schlauen. Der kluge Geist ist ein allgemeinmenschliches Maß &endash; man soll es nicht den Juden allein zuschreiben.

Wo immer dies gemeine Maß des Klugen Geistes überschritten wurde, da geschah es nicht aus Idealismus. Die Juden sagen es uns wie die Griechen, daß es eines größeren Gottes bedarf, um den Klugen Sinn in die Schranken zu weisen. Wir müssen in das Gefälle eines Stromes geraten, in dem wir nicht mehr bloß das uns Nützlichste erwägen, in dem uns das Letzte treibt. Die Juden brauchten einen gewaltigen Gott, um ihren klugen Geist zugleich zu demütigen und zu erheben. Ohne ihren Gott wären sie eines jener kleinen levantinischen Völker geworden, dem der Gewinn der einzige Gott ist. Moses riß sie hingerissen von seinem Gott, in die Bahn der Schöpfung.

Und einmal kam alle Klugheit der Griechen nicht auf gegen den gewaltigen Gott Eros. Einmal liebten die Griechen und in dieser Liebe blühten sie. Diese Blüte nennen wir noch heute Griechenland. Die Griechen liebten &endash; so frugen sie nach den schönsten Bildern. Wer will die Geliebte nicht schön? Den Griechen aber war die Welt die Geliebte &endash; so wollten sie die Welt göttlich groß, göttlich licht, göttlich schön. Die Griechen wußten, warum sie die Welt nicht groß genug schauen und denken konnten: so allein ertrugen sie die Welt und wurden von der Welt getragen.

Die Griechen kannten vielleicht leidenschaftlicher als jedes andere Volk den ursprünglichen Sinn der Welt: zu sein. Die Liebe zum Sein und die Liebe zur Welt aber sind eins.

Das gilt den vorherrschenden kleinen Leuten von heute als »phantastisch«. Und auch die Intellektuellen lächeln luziferisch. Luzifer ist gesunken. Er verführt nicht mehr durch seine lichte Erscheinung, er, der schönste der Engel. Die Welt wird banausisch.

Doch da die Griechen nur noch klug waren &endash; da waren sie keine Griechen mehr. Das aber gilt auch von den Juden. Und das gilt heute von Europa. Soweit Europa nur noch klug ist, gibt es kein Europa mehr.

Die Klugen sind nicht so klug, zu sehen, daß eine bloß nützliche Welt keinen Rang und darum keinen Bestand hat. Sie wundern sich über den Nihilismus, der unsere Welt befallen hat. Der Mensch aber erträgt auf die Dauer nicht, nur das vorteilsüchtige Tier zu sein. Verachtet er sich selber im Grunde wird er begierig nach Untergang.

Das Ethos der Leistung verdeckt für einen Augenblick, daß auch es nichts anderes als ein Maß des höchstmöglichen Nutzens ist, das Maß der vollkommenen Ausnützung der schaffenden Kraft. Es ist das Maß, das wir heute zugleich an den Menschen und die Maschine legen. Das sagt dem viel, der sich noch etwas sagen läßt. Das Maß der Leistung im heutigen Sine ist das äußerste Gegenteil zum Maß des Seins. In ihm haben wir die größte Ferne zum griechischen Maß erreicht.

Auch eines der letzten Geistvölker des Westens, die Deutschen, sind ein Volk der Leistung geworden &endash; auf ihre gründliche Weise fanatischer als die anderen Völker. Und sie haben denn auch innerhalb dieses Maßes eine der höchsten Stufen erreicht. Man kann von Wundern sprechen, was die wiederholt vernichtend Niedergeschlagenen an Selbstaufbau vermochten. Und es liegt uns fern, diese Wunder des Aufstiegs gering zu schätzen. Ein anders aber ist es, zu sagen, daß es höhere Maße gibt und daß die Leistung zuletzt ein dienendes Maß ist.

Es gehört zur Primitivität der heutigen Zeit, nach der Leistung zu fragen, gleichgültig wer immer sie vollbringt. Auch die höchste Leistung bezeugt noch keine menschliche Größe. Es ist vielleicht noch unreifes Bubenpathos der neuentstehenden Welt der Söhne, nur das Können zu bewundern. Auch für die immer unreifen Massen ist das ein Kerl, der viel zustandebringt. Es ist in der ganzen westlichen Welt und im gezwungenen Zwang bald auch im ganzen Osten eine Frenesie der Leistung, die mit der Veräußerlichung des Menschen im Wettlauf ist.

Das Maß des Seins aber kommt an Gewalt niemals auf gegen das Maß der Leistung. Und so fallen heute alle Völker, die noch vom zarten Zauber des Seins berührt sind, vor dem Ansturm des Westens, dem brutalen Gegenzauber der Leistung. So aber fiel auch schon Griechenland durch Rom. Doch vielleicht war das Unsterbliche der Griechen niemals so bedroht wie heute, da der Leistungswahn in totalitärer Wucht tabula rasa machen will.

Es gibt noch im Osten, ja, schon im nahen Paris und in Italien, am ganzen Mittelmeer Menschen, die uns darum wohltätig berühren, weil sie noch nicht in die Raserei der Leistung geraten sind und sich noch die göttliche Freude erlauben, glücklich zu sein, weil sie sind. Goethe suchte sie in seinem »West-östlichen Divan«. Und zu ihnen brachen immer wieder künstlerische Geister auf, die es in der allgemeinen Barbarei der Leistung nicht aushielten.

Ihnen gegenüber aber können die Heutigen das Primitive geltend machen, das sie in ihrem Fortschritt längst überholt hätten. Der geringschätzige Blick aber verbietet sich ihnen bei den Griechen. Da ist auf allerhöchster Stufe der »Kultur« das Gegenmaß, das unsere Zeitgenossen als Primitive erscheinen läßt. Den Griechen gegenüber fällt das Kartenhaus des Fortschritts zusammen.

Der Leistungswahn ist eine Perversion des Glaubens an die schaffende Kraft. Er entstammt der Verbindung des jüdischen Schöpferglaubens und des schaffenden Sinnes der nördlichen Völker. Seine Wucht ist die des demiurgischen Zeitalters, das mit der Eigenmacht der Menschen sich entfesselte. Sein göttlicher Fundus ist das »Schöpferische«. Der Leistungswahn von heute aber ist seinem eigenen Grund entlaufen. Er hat sich nicht nur von Gott, er hat sich auch vom Menschen weit entfernt. Er ist heute beinah rein technischer Art und damit seelisch nicht mehr bedingt. Darum kann er sich auch allgemein über die ganze Erde verbreiten.

Wer aus dem west-östlichen Tumult des Leistungsfanatismus aus die Dinge beurteilt, der kann zum Griechentum keinen Zugang mehr finden. Eine kleine Berührung &endash; und er würde vom Blitz getroffen.

*

Der griechische Mythos ist die Kunde, daß der chaotische Mensch, der ungründige, an unvergänglichem Sein seinen Wurzelgrund finden könnte.

Zuerst retteten die Mütter den Menschen mit der beständigen Erde. Sie bauten ihm eine Festung des Seins in unsteter Welt. Es ist kein Schöpfer da, der sie aus dem Nichts hervorgerufen &endash; doch die Festung Erde ist, als ob sie immer dagewesen wäre: sie tritt aus ewigem Sein ins Dasein und aus ewigem Sein trotzt sie aller Vergänglichkeit. In ihr ist viel Entstehen und viel Vergehen &endash; doch der Schoß der Erde ist beides, der Kreis, der alles Kreisen in sich trägt.

Als aber der männliche Geist sich nicht abfinden konnte mit dem unsteten Leben der Erde, da hielt er sich an die Festung des Himmels. Auch der Himmel ist nicht geschaffen &endash; auch er ist nur ins Dasein getreten und auch er ist dauernd kraft seines Seins. Seine Bewohner, die Götter, sind keine Schöpfer. Es ist in ihnen keine magische Kraft zu schaffen. Ihre Götterlust ist nicht Schöpferlust, ist Daseinslust. Sie lieben die Welt, denn sie lieben, zu sein. Der Mensch aber liebt die Götter als die göttlichen Gestalten des Seins. Auch die Götter des Himmels greifen in die Dinge der Erde ein. Sie sind Helfer oder Widersacher des Menschen. Nie aber sind sie Schöpfer. Nur flüchtig erscheint einmal in der Stirn des Zeus der Gedanke, das Menschengeschlecht zu vertilgen und neu zu schaffen. Zeus aber ist Herr und weit weg von solcher Mühe. Er schafft Ordnung, nachdem er sich selber geordnet hat. Götter sind mit ihrem Sein identisch wie die Blumen &endash; das unterscheidet sie vom Menschen, dem Vielgespannten, Vielgespaltenen. Darum geht die Sehnsucht des Menschen zu den Göttern: diese sind unsterblich als reine Urbilder. Kein Grieche hat Sehnsucht nach der Gotteskraft, die Himmel und Erde neu zu schaffen vermag. Als die griechische Welt wie eine Blüte verwelkt &endash; sehnt sie sich in pathetischer Willigkeit nach Erlösung.

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Einer allein unter den Göttlichen ist einsam und ohne Folge dem Schöpfertum verfallen: Prometheus. Er erträgt das Kreatürliche nicht, in das der Mensch sich duckt, da die Götter es lieben. Er will den größeren, den göttlicheren Menschen. So treibt es ihn, dem Menschen die Kraft zu geben, über sich hinauszuschaffen. Darum raubt er das Licht den Göttern, um es dem Menschen zu bringen. Und er raubt es nicht um der Erkenntnis, sondern um der schöpferischen Tat willen. Das ist eine Fülle von Frevel &endash; ein Ungeheuerliches im griechischen Raum. Einer will anders als die Götter. Die Strafe der Götter, die Strafe des Herrn der Götter trifft Prometheus denn auch im selben ungeheuerlichen Maß. Das Menschengeschlecht, dem die Liebe des Prometheus gilt, wird davon mitbetroffen. Prometheus aber hält trotzig durch. Er wetteifert mit Zeus nicht an Herrschaft &endash; er folgt aufrecht der verlassenen Linie der weltschaffenden Liebe, dem Eros kosmogonos.

So aber kann Prometheus nicht verwechselt werden mit dem Schöpfertum im Sinne der jüdischen Religion, noch mit dem Schöpfertum im Sinne der jüdischen Revolution. Im religiösen Bereich ist Prometheus der Gegentypus zu Hiob. In Hiob versucht Jehovah seine absolute Herrschaft und die absolute Kreaturgesinnung des Menschen. Es ist die ganz andere Größe Hiobs, auch den furchtbarsten Gott zu ertragen. Den ähnlichen Versuch des Zeus, mit dem Menschenvolke umzuspringen, beantwortet der göttliche Fürsprecher Prometheus mit dem offenen Aufstand. Doch so wenig wie Jehovah gleicht Prometheus dem jüdischen Revolutionär, der die Gottesknechtschaft verläßt und damit aller göttlichen Wurzelung entläuft.

Prometheus steht mit dem gesamten Griechentum im Pathos der Allgöttlichkeit der Welt. Innerhalb dieser Allgöttlichkeit liebt er den Menschen und will ihn groß. Er haßt die Götter nicht an sich, sondern nur, weil sie das Göttliche für sich allein in Anspruch nehmen. Der goethesche Prometheus des »Fragmentes« gibt dem Ausdruck:

Haben sie das all,

Doch nicht allein!

Prometheus ist ein konservativer Revolutionär. Die mütterliche Allfrömmigkeit gebietet ihm, gegen die »Neuen Götter«, die »Himmlischen« aufzustehen. Prometheus liebt und darum duldet er die Herabsetzung der Erde und des Menschen durch die Götter nicht. Prometheus liebt und darum will er das unsterbliche Sein für den Menschen wie für die Götter. Nicht anders lebt Prometheus im jungen Goethe:

Ich daure so wie sie,

Wir alle sind ewig! ...

So bin ich ewig, denn ich bin! &endash;

So griechisch vermochte ein Mensch im 18. Jahrhundert zu fühlen. Aber griechisch ist keine Zeit, ist eine Art. So hätte kein aufklärerischer Revolutionär zu sprechen vermocht. Das Sein, die große Position, überwiegt die Negation. Das Sein verbindet als das Göttliche Götter und Menschen. Man soll wissen, von wem man redet, wenn man sich auf Prometheus beruft.

Nicht zu vergessen ist, daß Prometheus nach dem Mythos Bildhauer ist. Er gehört zum großen griechischen Geschlecht der Bildermacher. Er wollte auch am Menschen ein Bildhauer sein, wollte ihm göttlichere Züge erbilden, wollte ihn in der Strahlung des himmlischen Lichtes sehen. Ursprünglich ist es nicht das intellektuelle Wissen, das den Sinn der griechischen »Bildung« ausmacht. Das Wort »Bildung« sagt es selber, worin seine Magie bestand. Prometheus steht mit dem ganzen Griechentum in der Magie des Bildes, Vorbildes, Urbildes. Die Liebe erweckt das Bild &endash; das Bild erweckt die Liebe.

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Die Welt ist mehr als von den Griechen durch die Juden bewegt worden. Sie hat ihre Ruhelosigkeit aus dieser Quelle. Es gibt keine griechischen Propheten &endash; doch es gibt auch keinen griechischen Ahasver.

So schöpferisch die Griechen waren, so fern war ihnen aller Geist, der auf eine andere Welt ausgeht. Was sie sich in ihrer Weltfrömmigkeit erlaubten, das war auf menschliche Weise zu schaffen wie die Natur auf ihre Weise schafft. Und diese menschliche Weise des Schaffens erblickten sie in der Formulierung der einfallenden Gedanken. Sie waren darin schöpferischer als die Juden &endash; doch sie waren fern dem jüdischen Glauben an die weltverwandelnde Schöpferkraft.

Die griechische Welt ist Ausdruckswelt. Das Innerliche scheint den Griechen zu fehlen. Und es ist so: sie haben kein Innerliches für sich. Sie haben dafür aber auch kein abgetrenntes Äußeres.

Selbst die Idee Platons darf nicht als schöpferischer Gedanke aufgefaßt werden, der der Geschichte dieser Welt vorauseilt. Die Idee ist das Urbild der Welt und als das urbildliche Sein das Maß alles Seienden.

Die Idee ist von allem übrigen Sein unterschieden als das seiendere, als das seiende Sein. Die Leidenschaft der Griechen geht auch in ihren Denkern darauf, daß die Welt ist.

Die Urerfahrung des Seins verbindet eng und untrennbar Mythos und Logos der Griechen. Im Pathos des Seins aber bekundet sich die dauernde Mächtigkeit des weiblichen Genies. Der griechische Geist wird im olympischen Mythos und im Logos ausgesprochen paternal &endash; niemals aber verleugnete er die weibliche Seinsseligkeit.

Auch der lichteste Gott schafft keine »andere Welt«. Wenn Apollon kämpferisch das lichte Sein ist, so kämpft er um den Sieg des reinen Seins über die im Seienden zu sehr gefangenen Mütter. Der gesamte griechische Geist ist ein Agon, ein Wettlauf zum Sein.

Und wenn die Griechen Apollon den Vorzug geben vor Prometheus, so liegt er in dieser Richtung. Während Prometheus sich gewaltig um sein hohes Ziel bemüht &endash; ist Apollon. Und es liegt alles Genüge darin, daß er ist. Zeus und Prometheus sind aneinander zu messen. In beiden Titanensöhnen ist noch der titanische Wille. Zeus will die unbedingte Weltherrschaft und Prometheus will ein schöpferisch aufrechtes Volk von Menschen. Beider Wille stößt hart aufeinander. Nie hätte Aischylos Apollon und Prometheus sich aneinander messen lassen. Apollon hat für den Griechen gegenüber Zeus und Prometheus ein höheres Maß des Seins erreicht: er will nichts, er ist. Im Feuer des Vaters ist noch aller Drang und alle Düsternis des Willens. Im apollinischen Sein erst ist kein Wille mehr. Nach solcher Vollendung, was sollten die Griechen noch?

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Wenn es doch noch zu einer anderen griechischen Welt kam, zu der des Logos, so lag diese letzte Welt in der Richtung, die Apollon eingeschlagen.

Wenn der Mensch des Logos, der nun am Licht gereifte männliche Mensch den Mythos zu übertreffen versuchte, so war es, um dem Sein noch unmittelbarer zu huldigen. Für den Mann im Menschen war das Sein im Mythos noch zu sehr verborgen in der Gestalt. Denn die Natur, der der Mythos folgt, verbirgt sich, wenn sie sich offenbart. Die Mutter ist in ihren Kindern ebenso verhüllt wie enthüllt.

Der Logos-Mensch geht nun daran, das in den mythischen wie den natürlichen Gestalten verborgene Sein herauszuholen. Das nennen die Griechen Wahrheit: A-Letheia, das dem Vergessen entrissene Sein.

Wahrheit im griechischen Sinne von A-Letheia sagt uns immer ein Doppeltes. Wahrheit als das Unverborgene sagt uns, daß in dieser Welt eine verborgene Welt sei, eine unsichtbare, weil verhüllte. Wahrheit als das Unverborgene sagt uns aber auch, daß in dieser Welt sei, worauf es ankomme, das Sein selbst. Wenn es aber auf das Sein ankommt, dann ist Wahrheit notwendig Weltwahrheit. Denn es ist der Charakter der Welt, daß sie ist.

Den griechischen Denkern aber, die auf das Unverborgene gehen, stehen die Dinge im Wege, alles das Seiende, das für die unsichtigen Augen das Sein selbst verhüllt. Es ist die Tat dieser Denker, durch den Schein der Dinge, die eine getrennte Welt vortäuschen, zum Sein selber, dem Einen allestragenden Licht vorzustoßen.

Die Griechen wußten um die Bedeutung der Erkenntnis des unbedingten Seins, ob sie dieses als Wahrheit oder als Idee oder als Begriff bestimmten. Sie erkannten eine Weltwende darin.

Und wirklich: damit, daß die Griechen das abstrakte Denken begründeten, begann die Weltrevolution des selbstbewußten Geistes, von der die heutigen Revolutionen nur äußere Auswirkungen sind.

Es ist das Paradoxon der Griechen, daß sie mit ihrem ruhendsten Gedanken, dem des unbedingten Seins, das Meer der Geschichte in Aufruhr versetzten.

Das unbedingte Sein der Griechen konnte sich verbinden mit der unbedingten Schöpfung der Juden: das ist die hochexplosive Mischung, die immer wieder die abendländische Welt aufriß und die nun daran ist, den Bestand der alten Kulturen der ganzen Erde zu sprengen.

Dynamis der Juden &endash; griechische Stasis

Juden und Griechen sind höchste Geistvölker. Es gibt deren wenige. Daß sie unvergleichlich mehr Bestand hatten als ungleich mächtigere Völker, ist tröstlich.

Doch Geist und Geist ist nicht dasselbe. Auch im Geiste sind wie in der Natur Urtypen zu unterscheiden. Es widerspricht dies dem Glauben der Väter, dem heute die aufklärerische Welt der Söhne noch folgt, im Geist sei endlich das Prinzip gefunden, auf das eine uniforme Welt zu gründen sei. Wir aber möchten die Buntheit auch der Geisteswelten nicht missen: sie gehört zum Reichtum des Reiches der Söhne. Der eigentliche sohnliche Gedanke einer pluralistischen Welt auch des Geistes hat schwer zu kämpfen mit der noch übermächtigen Väter-Erbschaft der Bewegung zum Einen.

Der Geist der Juden ist Willensgeist. Innerhalb der christlichen Trinität ist er der dritten Person zuzuordnen. Der Heilige Geist ist verwandt mit dem Ruach, dem wehenden Geistatem der jüdischen Tradition. Der jüdische Geist ist die Gewalt des Vaters. Er ist dessen Sturmgeist. Er weht, wo er wehen will. Er ist die Dynamis Gottes. Wenn die Juden von der christlichen Trinität hätten wissen wollen, so hätten sie den heiligen Geist nicht auch vom Sohne ausgehen lassen, sondern sie hätten mit dem gesamten orientalischen Christentum das vielesankündigende »filioque« des Westens fanatisch bestritten. Es gibt für sie nur den Vater und dessen Geist.

Die Griechen haben diesen Geist nie gekannt. Und sie haben selbst in der christlichen Zeit mit dem Heiligen Geist wenig anzufangen gewußt. Ihre Leidenschaft kreiste nach wie vor um den Logos. Nun erfaßten sie den Logos als die zweite Person der Trinität, als den Sohn. Der Sohn war für sie die Erscheinung des Vaters. Seine Gestalt. Sein Bild, sein Ikon. Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren. Der unverborgene Vater: die offenbare Wahrheit. Das Licht des Vaters und das Licht der Welt. Als der Gezeugte des Vaters das Prinzip der geschaffenen Welt. Immer hatten die Griechen wenig Sinn für den Vater, wenig für den Heiligen Geist. Wenn der Logos als Sohn in den Mittelpunkt des Christentums trat, so ist dies die Geistestat der Griechen.

Soweit reicht die archetypische Andersartigkeit der Griechen und der Juden &endash; sie reicht tief in den christlichen Zeitraum hinein. Die trinitarische Formel ist ihr Aufschluß, denn sie ist ihr Zusammenschluß. Die so heiß umstrittene christliche Trinität ist der Ausdruck dafür, daß in der Gottheit urbildlich Vater und Sohn vereint sind. Sie ist aber auch Ausdruck dafür, daß in ihr urbildlich der Geist als Gestalt und der Geist als Gewalt mächtig sind. Es ist verständlich, daß die Juden von ihrer Tradition aus die Trinität ob der beiden Personen, dem Vater und dem Sohn und ob des doppelten Geistes, des Logos und des Heiligen Geistes willen nie anerkennen konnten. Ebenso ist leicht einzusehen, daß die Christen wie für die Gottmenschheit Jesu Christi, so für die Dreieinigkeit der Gottheit auf das Letzte kämpfen mußten, wollten sie über die extremen Veranlagungen der Juden und Griechen hinaus in einen universaleren Bereich vorstoßen.

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Die griechische Leidenschaft der Welterkenntnis ist den Juden fremd. Das jüdische Denken ist scharf, logisch, vom Willen her moralisch, immer aber akosmisch. Es ist das geschlossene Denken. Gott hat gesagt, was zu denken ist. Das jüdische Denken ist in der Offenbarung beschlossen. Der Glaube als Festung Gottes und der Drahtverhau des Gesetzes schützen den Juden vor dem Abenteuer der Erkenntnis der Welt.

Es ist aber die griechische Leidenschaft, im Denken das Offene zu erreichen. Das Offene bleibt für den Griechen das Ganze des Kosmos. Der griechische Logos versucht, nach dem Offenen begierig, selbst dem Kosmos zu entrinnen. Der griechische Logos hat wie der griechische Mythos im Kosmos seine Wurzeln. Wie keiner der jüdischen Propheten die Gottesoffenbarung überschreitet, so keiner der griechischen Denker die Offenbarung der Welt.

Die griechische Leidenschaft der Erkenntnis hat ihren Grund, ihr Maß und ihr Ziel in der griechischen Leidenschaft des Seins. Denn das Sein ist für den Griechen des Logos wie des Mythos Welt-Sein. Dem griechischen Geist auch Platons ist die spätere Scheidung von Göttlichem und Weltlichem fremd. Es gibt Stufen der Wahrheit &endash; das heißt der Unverborgenheit des Seins &endash;, immer aber ist für den Griechen das Sein selbst das Göttliche.

Darum will der Grieche sehen. Im Mythos sieht er das göttliche Sein der Welt in dessen Urgestalten. Im Logos will er es nur unmittelbarer, unverhüllter erkennen. Immer aber will der Grieche sehen. Wenn der Jude ganz Gehör ist, ist der Grieche ganz Auge. Und wenn der Jude auf den Namen verschworen ist, so der Grieche auf das Bild.

Schon der Mythos ist eine Leidenschaft der Erkenntnis, schon er will das Dunkel der Welt sehend durchdringen. In den nordischen Mythen der Edda ist das »Ich weiß etwas« oder »Ich weiß noch mehr« so zahlreich, daß es wie eine Formel wirkt. Dasselbe gilt von den Indern. In den Griechen aber ist im Mythos die Leidenschaft der Erkenntnis so groß, daß sie in ihrem Logos zur Frenesie wird.

Weil aber der Grieche sehen will, will er Licht. Er lebt in einer hellen Welt, doch er will immer noch mehr Licht. War er im Grunde so dunkel oder war er so hell, derart nach Welterhellung zu verlangen? Der Grieche will zum leuchtenden Kern der Welt &endash; trug er ihn in sich selbst?

So sah der mythische Grieche Apollon: er sah in ihm zugleich das göttliche Sein und das göttliche Licht und das göttliche Sehen. Diese Dreieinigkeit Apollons wird im letzten griechischen Gott, dem Logos, zur Lehre. Es kommt zu der uns jetzt noch bestimmenden Wende der Welt, in der Sein, Licht und Erkenntnis eines und dasselbe ist.

Der griechische Anteil an der Weltwende der Väter ist die Begründung der Logokratie, der Herrschaft der reinen Erkenntnis. Der griechische Kern aber, das leuchtende Sein und das lichtende Sehen, dessen Frucht der unvergleichliche Logos ist, treibt schon in der Schicht des Mythos wunderbare Blüten. Und so wird der Mythos der Griechen zur Pythia, die das Kommen des Logos vorausverkündet.

Wenn dann, nach der immer sich wiederholenden, noch nie überholten Tragödie der Geschichte, im besonderen aber nach seiner scharfrichterlichen Art der Logos daran geht, den Mythos zu ermorden, so dürfen wir heute zu später Gerechtigkeit erkennen, daß dies mit Waffen geschieht, die der Mythos selber in seinen letzten Offenbarungen, in Apollon und Pallas Athene geschmiedet hat: mit der sieghaften Strahlung des griechischen Lichtes.

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Die Griechen wollen so wenig im Logos wie im Mythos wissen, was sein könnte. Sie wollen wissen, was ist. Was im Grunde ist, das entscheidet über die Welt. Ist der Grund der Welt unsterbliches Sein, unauslöschliches Licht, so ist alles gut, mag der Grund auch verhüllt, verborgen oder vergessen sein.

Die Griechen sind kein Volk des Glaubens &endash; so wenig, wie die Juden ein Volk des Sehens. Aber die Juden sehen viel, weil sie glauben, die Griechen glauben viel, weil sie sehen. Den Juden eignet ein sehender Glauben, den Griechen ein gläubiges Sehen. Wir müssen immer zugleich wissen, daß die Welten unüberbrückbar fern auseinander liegen und doch nicht anders können, als ineinander mächtig zu sein. Alles Versöhnliche wird von diesem tiefsten Grund der Welt getragen.

 

ZWEITES BUCH
DIE MUTTERGOTTHEIT ODER DIE EINPFLANZUNG DES MENSCHEN IN DIE ERDE

ERSTES KAPITEL
POLARE WELT DER MÜTTER

Die Einpflanzung des Menschen in die Erde

Wenn der Mensch der Ausweg der Natur ist, so ist es der Weg der inneren Wandlung, der aus dem in sich verschlossenen Tier in das Offene führt.

Der Mensch hat den inneren Weg in das Offene spät entdeckt. Über riesige Zeiten hin, die nur nach Hunderttausenden von Jahren zu zählen sind, bleibt der Mensch im Schicksal des Tieres, das nach innen verschlossen nach außen schweift.

Wir haben für dies Tierschicksal heute einen geschärften Blick. Der Mensch ist heute in seltsamer Vergeßlichkeit auf dem Sprung, in die längst überwundene Zeit wie in die Freiheit selbst mit frenetischen Fahnen zurückzukehren. Er ist auf dem Sprung, sich nach innen wieder zu verschließen, um hemmungslos nach außen leben zu können.

Der erste Schritt der Menschwerdung des Menschen aber war, als es dem Menschen gelang, sich nach innen zu öffnen und damit die Wut des wilden Schweifens nach außen zu brechen.

Die Wissenschaft hat recht, von einer Revolution zu reden. Der französische Forscher Vayson de Pradennes spricht in seiner »Préhistoire«, die 1938 erschien, von der »révolution néolithienne«. Dies kühne Wort von der »jungsteinzeitlichen Revolution« hat in der wissenschaftlichen Literatur Schule gemacht.

Wir müssen uns aber sofort damit vertraut machen, daß diese Revolution mit dem Bilde, das ein sohnliches Geschlecht sich vom Revolutionären macht, nichts zu tun hat. Die neuzeitlichen Revolutionen brechen durch Bindungen, die den Menschen seit Jahrtausenden innen hielten. Ihr Weg führt in die äußere Bewegungsfreiheit. Die chinesische Mauer um die inneren Reiche wird abgerissen. Die Welt steht offen. Und es beginnt denn auch in der neuen Freizügigkeit ein neues, nun rasendes Rennen nach außen.

Demgegenüber führt die »jungsteinzeitliche Revolution« ganz offenbar in eine mächtige Bindung an die Erde, die dem Menschen die Tierfreiheit des Schweifens nimmt, ihm dafür aber die erste Freiheit sich selber gegenüber gibt. Eine seltsame Revolution für Fortschrittsleute, die im Fortschreiten von allen Bindungen alles Heil erblicken. Eine seltsame Revolution, in der nichts gestürzt wird, es sei denn die erste, die noch unechte, die tierische Freiheit des Menschen! Eine seltsame Revolution für alle, die worttrunken sich mit Freiheitsparolen betrinken, ohne zu achten, was das für ein Wein ist.

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Die Fanatiker des Fortschrittes machen sich die Sache leicht wie alle Fanatiker. Wenn es eine Revolution ist, so muß es eine fortschrittliche sein. Es kann sich nur um einen Wechsel von einer überlebten zu einer fortschrittlicheren Produktionsmethode handeln. Der Mensch sieht ein, daß er als Wildbeuter nicht viel gewinnt, sondern von der Hand in den Mund lebt. Er sieht die Nützlichkeit der Bebauung der Erde ein. Statt nur des flüchtigen Wildes bemächtigt er sich der Erde selber. Er unterwirft sich ein größeres Stück Natur. Damit schafft er sich eine größere Sicherheit in den wechselnden Zeiten.

Der rationalistische Mensch denkt immer ungeschichtlich. Er geht einfach von sich aus, um alle Dinge zu erklären. Der Vorfahr vor vielen tausend Jahren dachte genau wie der heutige geschäftstüchtige und organisierte Mensch. Das ungeheure Ringen des Menschen seit Jahrtausenden, geistigen Stand und Bestand zu gewinnen, kümmert ihn wenig. Die Fanatiker des Fortschritts wissen am wenigsten um die großen Schritte, die der Mensch tun mußte, um weiter zu kommen. Sie sind so an ihr kleines Maß der Klugheit gewohnt, daß wir heute keinen Schritt weiter kommen. Die berechnende Klugheit hebt sich immer wieder selber auf. Es gelingt dem Menschen nicht mehr, was ihm in allen großen Wenden gelang, über sich selbst hinauszuschreiten. Und dies gelingt nicht mehr, weil der Mensch nichts Größeres mehr als sich selbst hat. Das allein hat ihn allezeit über sich hinausgetragen, ob er die Erde, die Große Mutter oder den Himmel, das Reich des Vaters anbetete. Was soll er nun, wenn er nur noch sein eigenes Ich und seine eigene Klugheit und seinen eigenen Nutzen kennt? Doch nichts Höheres ist das eifersüchtige Kollektiv des gemeinsamen klugen Nutzens. Von diesem dürftigen Menschen von heute ist wenig, ist kein Dank zu erwarten für die Kämpfe der Ahnen, Mensch zu werden. Man ist ja heute viel weiter und nur aufgehalten von dem seltsamen Spuk, der sich mit allen realen Fortschritten verband. Es ist von diesem Denken die Rede, weil eine tödliche Gefahr in ihm liegt. Der Mensch wird durch dieses Denken arm gemacht. Sein größter Reichtum, sein Geist, der die mütterliche Tiefe und die väterliche Höhe der Welt ermaß, wird auf ein armseliges Kalkül reduziert.

Wenn wir aber das große Erbe nicht antreten, werden wir auch nicht imstande sein, den großen neuen Schritt zu tun, der jetzt unsere Sache ist.

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Wenn es dazu kam, daß der schweifende Mensch wie die Pflanze als Pflanzer sich in die Erde einwurzelte, so konnte dies nur durch die Macht eines neuen Archetypus geschehen. Nach dem König der Tiere, dem Mannmenschen, der seinen eigentlichen Grund, den geistigen, noch nicht gefunden, das magisch-geladene Tier nur magisch-mächtiger überragte &endash; konnte es allein der erste geschichtliche Archetypus der mütterlichen Frau sein, der mit der pflanzenhaften Einwurzelung in die Erde den Menschen begütigte. Nur die Mütter hatten einen Grund, der für sie auf Leben und Tod ging, die Geschicke des Menschen anders zu wenden.

Die Mütter mußten um der Kinder willen, die schweren Schaden litten in der »unbehausten« Zeit, den Mann in die Erde einwurzeln, daß er ruhiger wurde, seine furchtbare Kraft in eine fruchtbare verwandelte und seine Angriffslust in die Lust zu schützen. Das Menschenkind ist ungleich länger hilflos als das Tierkind, so daß man bei ihm von einem über die Geburt hinausreichenden Embryonalzustande spricht. Schon das Tierjunge ist darauf angewiesen, an einem geschützten Ort seine erste Hilflosigkeit zu überstehen &endash; unvergleichlich mehr aber gilt dies vom Menschenkinde.

Über dem Menschenkind ist das Kind Mensch nicht zu vergessen. Der »Wilde Mann« verbirgt mit seiner gewalttätigen Gebärde, daß er noch ein Kind ist. Seine Züge sind kindlich: sie laufen wie bei Kindern wirr durcheinander. Die Welt beginnt mit dem Chaos. Das Kind im frühen Menschen braucht wie das Menschenkind zu seiner geistigen Geburt der Geborgenheit und der führenden Hand. Seine Züge können sich im Chaos der Welt, im Kreis der sich bestürzenden Elementargewalten, nicht zu einer inneren Ordnung fügen.

Die Mütter aber wissen um das Kind im Manne. Sie verstehen es, den Mann in seiner Kindlichkeit zu fassen, und seine kämpferische Magie zu entwaffnen mit der Magie ihrer umschoßenden Liebe. Die Mütter sind die ersten Erzieher des Menschen. Wie jetzt noch das Leben der Kinder in den Müttern beginnt, wie jetzt noch die Mütter die erste Quelle der Nahrung sind und die erste hilfreiche Hand &endash; so waren die Mütter einst die Ersten auf dem Wege der inneren Menschwerdung des Menschen.

Die Mütter mußten in dieser Wende auch die Väter sein. Ihre Verantwortung war so groß, daß sie gegen ihre Natur streng, ja hart sein mußten. Das Weiblich-Weiche der Mütter hätte für sich allein nie gesiegt, wenn es auch der Mütter letztes Wort ist. So ist auch die spätere »Herrschaft«, die Welt der Väter doppelseitig: nach der Natur des Mannes hart und streng, in der Stellvertretung der Mütter aber nicht ohne den Schlag des mütterlichen Herzens. Die Welten des Menschen sind nach seiner Anlage immer ganze Welten.

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Das Weib als Weib zog mit dem schweifenden Mann. Es ist etwas Unstetes auch in ihm. Die Tiernatur ist mächtig. Das ist ohne alle Geringschätzung gesagt. Das Weib als Weib ist dem Abenteuer nicht feind. Die weibliche Neugier übertrifft die des Mannes. Die Frau kann fahrend sein wie der Mann. Wie sie auf Kriegszügen mitzog als Marketenderin und zum derben Liebesspiel, so ist sie zu sehen mit dem jagend schweifenden Mann. Der jagende Mann mußte auch ihr Jäger sein. Sie liebte es, erbeutet zu werden. Auch sie war Wildbeute. Noch immer ist etwas im Weibe, das den »Wilden Mann« liebt. Und es ist gut, wenn die Verbürgerlichung der Welt die Domestizierung des Weibes wie des Mannes nicht zu weit treibt. Das brave Haustier Mensch ist nicht das Ziel. Einmal war es das Unmögliche, das Wilde zu brechen. Jetzt sind wir in Gefahr, in die puppenhafte Glätte von »Sie« und »Er« umzuschlagen. Das aber ist nicht der Mütter Werk. Darin sind Verwöhnungen später Zeiten der sogenannten Zivilisationen, die nichts Unberechenbares dulden. Die Mütter haben weder das Weib noch den Mann jemals als Geschlechter in deren Magie gebrochen. Sie begannen die Domestizierung. Sie wußten aber aus ihrer Quelle, der Natur selbst, daß diese um der Zeugung und Empfängnis willen, die große Lust mit dem Geschlecht verknüpft hat. Und sie wußten, daß nur, wer stark gezeugt und stark empfangen, den Überschuß in sich hat, das Leben zu bestehen. Sie rührten nicht an die Magie des Weibes, den Mann an sich zu fesseln. Doch es bedurfte ihrer von Grund aus anderen Magie, den Mann an das Kind und um des Kindes willen an die dem Schoß gleiche Solle der Mutter Erde zu fesseln.

Das Unmögliche der großen Wende lag nicht in der Wandlung des Weibes. Weib und Mutter sind sich näher als Mann und Vater. In jedem, auch dem ungebrochensten Weibe ist die Mutter nah. Und das Wilde kann sich mit dem Mütterlichen des Weibes leicht wie bei den Tiermüttern verbinden. Und es mußte dies während unübersehbar langen Zeiten. Auch die Tiermutter wehrt sich für ihre Jungen und gewinnt dabei alle Magie der Macht. Auch die Tiermutter bereitet ihren Jungen ein warmes Nest im Schutz des Geborgenen. Das wilde Weib findet eine Verbindung mit dem Mütterlichen, die der Wilde Mann mit dem Väterlichen nicht fand. Und so ist es auch dem Weibe leichter gefallen als dem Manne, in die Erde zu gehen. Es liegt dem Weibe von Natur aus, sich mit der Erde zu verbinden, zu verbünden. Denn es liegt in der Natur des Weibes, statt auf die eigene Kraft abzustellen, sich umzustellen auf den Segen der Großen Mutter, der Erde.

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In allen Weltwenden geschieht ein Unmögliches. Das Unmögliche der ersten Weltwende des Menschen liegt in der Zumutung an den bisher schrankenlos schweifenden Mann, die tierische Weise seiner Existenz für eine pflanzliche aufzugeben, das Wurzellose des Tieres in das Festgewurzelte der Pflanze zurückzubilden. Ein Unmögliches geschieht jedoch auch wieder in der Wende der menschlichen Welt durch die Väter, als diese daran gehen, den Menschen, den Erdensohn in den Himmel des Geistes zu verwurzeln.

Wenn sie auch der Natur der Mütter entspricht, schon die erste Wende geschieht gegen die Natur. Biologisch ist der Mensch tierförmig. Die Pflanze aber ist früher als das Tier. Und man kann sagen, daß die Tierstufe mit der Einpflanzung des Menschen rückgängig gemacht worden ist. Es ist, als ob die Mütter nach dem biologischen Grundgesetz den Menschen die Stufe der Pflanze nocheinmal durchlaufen ließen. Statt den Menschen noch weiter zu treiben auf dem Tierweg, also in der berühmten geraden Linie des Fortschritts, sind sie so seherisch, den Menschen für eine Zeit zurückzunehmen in die unwillkürlichere Welt der Pflanze.

Wir vermögen dies heute vielleicht zum ersten Male recht zu verstehen, da der Mensch drauf und dran ist, sich der Erde der Mütter und dem Himmel der Väter zu entwurzeln und auf neue, nur technische Weise in die Zeit vor der jungsteinzeitlichen Revolution zurückzugehen.

Diese jungsteinzeitliche Revolution ist eine Konservation. Der Mensch geht aus dem Haltlosen in das Gehaltene, aus dem Wilden in das Milde, aus dem Willkürlichen in das Unwillkürliche, aus dem Ungebundenen in das Gebundene, aus dem Ungeschöpflichen in das Geschöpfliche zurück.

Auch eine Konservation kann eine Revolution sein. Und vielleicht ist bald der Zeitpunkt erreicht, an dem der Revolutionär wie der Wilde Mann einen überholten Typus darstellt. Dieser Zeitpunkt wäre schon da, wenn nicht noch wirkliche Befreiungen geschehen müßten, Durchbrüche durch eine sterile Reaktion des Bestehenden.

Wenn von einer solchen neuen konservativen Revolution die Rede ist, so muß der Name Goethes genannt werden. Er war im »Sturm und Drang« im besten Zuge, den Weg seines Faust zu gehen, des »Unbehausten«, wenn er nicht der Pflanze begegnet wäre und die Unrast des Menschentieres an ihrem Gegenmaß ermessen und viel vorausnehmend auch der stilleren, unwillkürlichen Mütter Erbe erfüllt hätte und so erst im vollen Sinne Sohn geworden wäre und damit Mensch.

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Es fällt dem geschichtseitlen Manne schwer, dem Weibe die Tat zuzugestehen, die es still getan hat ohne alles Revolutionsgeschrei. Und anzuerkennen, daß es die erste innere Wende des Menschen vollbracht hat, das übersteigt die berühmte männliche Objektivität.

Doch mag sich der wissende Mann drehen und wenden wie er will, er muß sich an den Gedanken gewöhnen, daß nicht jede geschichtliche Tat ohne weiteres seine Tat sei.

Es hängt aber das ganze weitere Geschick des Menschen davon ab, ob der Mann sich weiterhin mit dem Menschen identifiziert oder ob er sich als Sohn zweier übergeschichtlicher Ursprünge und zweier geschichtlicher Anfänge weiß, das heißt, ob er sich als ganzer Mensch erkennt.

Es ist für die Befangenheit des menschlichen Geistes beschämend, daß erst in so später Zeit von den Taten der Mütter am Menschen Kunde wird.

Immer sangen die Sänger den Mann. Sie sangen den Helden. Sie sangen Schlachten. Und sie besangen wunderbegabte Pferde und Schwerter des Mannes. Wenn sie vom Weibe sangen, sangen sie die Geliebte des unsterblichen Mannes.

Nur das Volk bewahre die Urerinnerung an die Mütter. Jakob Grimm sagt in seiner »Deutschen Mythologie«, daß der Ruhm der heldischen Götter und göttlichen Helden mächtiger strahlte, die Verehrung der »Weisen Frau« aber nachhaltiger im Volke geblieben sei. Der Name der »Weisen Frau« ist ein geflügeltes Wort. Jakob Grimm widmet der »Weisen Frau« ein ganzes Kapitel seiner nordischen Mythologie.

Es ist bedeutsam, daß die Geschichte der Weisheit nicht mit den Männern beginnt. Die physische und die geistige Kraft der Frau ist meist geringer als die des Mannes. Die Frau aber besitzt eine Kraft, die ihr mehr eignet als dem Manne. Es ist ihre hellseherische Kraft. Es ist eine Kraft der Empfängnis. Es ist eine Kraft der erleidenden Nacht. Die Dinge kommen über die Seele. Die Unwillkürliche sieht, was geschehen ist, was geschehen wird. Vor den Geistigen flüchtet diese Kraft. Sie denken zu viel, sie nehmen zu viel an, sie erleiden zu wenig. Nur die Geisterleidenden unter den Männern kommen den seherischen Frauen gleich.

Die griechische Mythologie kennt diese seherische Kunst so gut wie die nordische. Aischylos nennt Gaia, die Urmutter, die Erde, die erste Seherin. Die Pythia aber ist auf griechischem Boden, was der Prophet auf dem Boden Israels. Die nordische und die griechische Geschichte beginnen mit der Weisheit der Frau.

Das ist ein mächtiges Stück Erinnerung an die weise Tat der Mütter am Kinde Mensch. Die Mütter jammerte das Ausweglose des schweifenden Mannes. Und sie fanden den ersten Ausweg. In der Nacht der Geschichte war er ohne Hellsicht nicht zu finden.

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Wenn wir von der Magie der mütterlichen Frau reden, so meinen wir diese hellsichtige Kraft in der Nacht der Geschichte und jene wundertätige Kraft steter unbeirrbarer Einwirkung auf den »Wilden Mann«.

Ein Zauberkunststück aber setzen jene Erklärer voraus, die immer noch besessen sind, nur äußere Beweggründe zu sehen: sie lassen aus dem jagenden Mann plötzlich einen Bauern hervorgehen.

Sie können dafür sicherlich einen Klimawechsel zu Hilfe rufen. Das Ende der Eiszeit ermöglichte unzweifelhaft den Übergang zum Landbau. Und doch blieben Jäger- und Nomadentypen ausgeprägt in Wärme- wie in Kältezeiten.

Man spürt wieder das Denken von heute. Heutigen Vorstellungen entspricht der Wechsel von Beruf zu Beruf &endash; er wird gerade in den tonangebenden Weltmächten, den Vereinigten Staaten und Rußland, zu einer Manie. Es kommt gerade nicht mehr zu Typen. Es gehört dies zur Auflösung schicksalshafter Charaktere überhaupt. Alle beanspruchen, alles sein zu können. Je weiter wir aber in die Geschichte zurückgehen, um so charaktervoller sind die Typen geprägt. Ein Jäger ist kein Bauer und ein Bauer kein Jäger. In archaischer Zeit sind sie sich meist todfeind. Die Bauernvölker ernten von den schweifenden Jägern nur Mord, Raub oder Schändung der Frauen, Wegnahme des Viehs, Einäscherung der Höfe. Den echten Jäger aber erregt zur Verachtung der an sein Stückchen Erde gebundene und sich daran festklammernde Bauer. Und kein äußerer Grund könnte ihn jemals bewegen, sich in dieselbe Gefangenschaft zu begeben. Was er mit erregenden Abenteuern und der Tierlust am gefährlichen Kampfe erreicht, seine Existenz, das gibt er nicht auf, um es mit dem Schweiß der Stirne zu verdienen. Noch heute sitzt selbst beim Bauern die Lust im Jagen, die Pflicht in der Arbeit. Noch heute bemächtigt sich der Männer auf dem Lande die große Erregung, wenn die Jagdzeit kommt. Jagd ist immer nur der andere, der kleine Krieg. Jetzt ist dieser Krieg befristet. Wie der Karneval das Ventil ist für die verdrängte Lust der Geschlechter, so die Jagd für die verdrängte Lust des Mannes am jagenden Krieg.

Und darum ist es verkehrt zu sagen: Der jagend schweifende Mann wurde Bauer und wurzelte sich in die Erde ein. Die Dinge liegen umgekehrt: Der Mensch verwurzelte sich in die Erde und daraus erwuchs der soziologische Typus des Bauern. Zu der pflanzenhaften Verwurzelung aber wäre der Mann von sich aus nie gekommen. Das konnte nur von der Gegenseite her geschehen, von der mit der Erde und ihrer Tochter, der Pflanze, wesensverwandten mütterlichen Frau. Der magischen Macht des willkürlosen Hellsehens und des ungeheuren Wunschwillens der Mütter gelang es, den widerstrebenden Mann dazu zu bewegen. Ein anderes ist die physische Kraft, ein anderes die magische Macht. Und es geschieht noch heute, daß die magische Macht bei aller physischen Ohnmacht zu triumphieren vermag. Und was der kleinen Katze gegenüber dem großen Hund möglich ist, das sollte nicht ausgeschlossen sein im Verhältnis des katzenhaften Weibes gegenüber dem mächtigen, aber unsicheren Hunde Mann.

Es kann gar nicht anders sein, als daß eine gewisse Unterwerfung des Mannes geschieht. Doch sie ist nicht der Sinn dieser Geschichte. Der Mann als Mann ist mitaufgerufen zum neuen Weltstil. Und so kommt es vom frühen weiblichen Pflanzertum zum ebenso aktiv-schaffenden wie passiv-empfangenden Bauerntum. Nach dem abenteuerlichen Kampf um das Wild beginnt das Ringen um die gute Erde. Und es geschehen Großtaten der erfinderischen Kunst, die unzweifelhaft vom Manne ausgehen. Der baumeisterliche Mann beginnt die großen Verbauungen gegen das wilde unholde Element des Wassers. Und es wird gesagt, daß die heutigen Bauten der Chinesen nur noch Trümmer seien gegenüber den Wunderwerken der kunstvollen Verbauungen der Erde vor vielen Tausenden von Jahren. Der waltende Geist ist gewichen. Der neue technische Geist aber hat wenig Sinn für die Bedürfnisse der Erde. In dem Land, in dem &endash; wie nur noch in Rußland &endash; der technische Geist der Gott selber ist, in den Vereinigten Staaten, die die unvorstellbar kunstreichen Atomwerke bauten, haben die großen Ströme, die Riesen es leicht, Jahr für Jahr das Land zu überschwemmen. Der Geist, der die Erde beschützt, der mütterliche Geist, ist nicht mehr in seiner Macht.

Daß aber die Einwurzelung des Menschen in die Erde nicht als Versklavung des Mannes gewollt war, das bezeugt die unbestreitbare Tatsache, daß die Frau selber daran ging, die Erde zu bebauen. Das ist kein archeologischer Fund, das überdauerte die Zeiten, ist jetzt noch vielerorts die Sitte. Der Mann jagt weiter, führt weiterhin Kriege, erntet Heldentum aus Schlachten und Abenteuern &endash; die Frau pflügt und sät und erntet das Land und hält den Herd warm im Hause, in dem sie die Kinder gebiert und behütet, in dem sie spinnt und webt.

Der Mythos aber verrät durch das Leben der Götter und Göttinnen das Leben der Männer und Frauen. Jakob Grimm schreibt in seiner »Deutschen Mythologie«:

Sie (die götter) lieben gesang und spiel, erfreuen sich an jagd, krieg und mahlzeiten, die göttinnen pflügen, weben, spinnen.

Es bezeugt die existentielle Wucht der Wendung, daß die Frauen es selber sind, die in die Erde gehen. Sie sind wie Eine einzige Mutter, die sich mit der Großen Mutter auf Leben und Tod verbündet. Und während die Männer, immer schon mehr nach Menschenart, ihren Namen herauszustellen versuchen und ihre Einzigkeit, ist in den Frauen das Namenlose der Erde, das nie laute, das still sich Bewährende. Das Kapitel über die Göttinnen in der »Deutschen Mythologie« Jakob Grimms zeigt dies im Spiegel des Mythos:

Bei den göttern konnte die vorschreitende untersuchung darauf ausgehn, einzelne wesen zu sondern; alle göttinnen scheint es ratsam vereint und ungetrennt zu betrachten ... Sie sind hauptsächlich gedacht als umziehende, einkehrende göttermütter, von denen das menschliche geschlecht die geschäfte und künste des haushalts wie des ackerbaus erlernt: spinnen, weben, säen und ernten. Diese arbeiten führen ruhe und frieden im lande mit sich, und das andenken daran haftet in lieblichen überlieferungen noch fester als an kriegen und schlachten, deren die meisten göttinnen gleich den frauen sich entschlagen.

Da ist der weibliche Weltanteil zum festen Bestand geworden &endash; aber die Männerwelt in ihren uralten Leidenschaften ist nicht gebrochen. Die Männer sind immer noch die alten Wildlinge, wenn sie es auch nicht mehr in der Hemmungslosigkeit der gesetzlosen Vorzeit zu sein vermögen. Es ist ein Gegenmaß da. So müssen sie noch heute Friede sagen, auch wenn sie innerlich immer im Krieg sind. Die Konstanten der Geschichte erweisen sich zum Glück und zum Unglück mächtiger als unsere zeitbesessene, an totale Verwandlung gläubige sohnliche Welt weiß. Und doch geschehen Wenden. Und ihnen gehört unsere Liebe. Wenn es dem Menschen gelingt, einen Schritt in das Offene zu tun, wenn es ihm gelingt, einen Schritt über sich selbst hinaus zu machen: dann geschieht, was in allem lächerlichen Wahn der Fortschrittsfanatiker als Sinn bestehen bleibt.

Einmal gelang das Unmögliche. Wider die Natur des Mannes gelang es der mütterlichen Frau, den Menschen in das Menschliche zu bringen, indem es ihn über ihn selbst hinausführte, der Großen Mutter, der Erde verwurzelte.

Undenkbar ist ohne dies still-gewaltige Gelingen die zweite Weltwende, die der Väter, die Gegenverwurzelung des Menschen in den Himmel des Geistes.

Und wiederum ist die Weltwende der Söhne, die in uns jetzt geschehen will, undenkbar ohne die beiden elterlichen Wenden. Es geschieht heute keine echte Wendung, versuchen wir, alle Verwurzelung durch die Mütter und die Väter rebellisch ungeschehen zu machen.

In dieser Richtung der Wiederentwurzelung geht der neue technische Wildbeuter und Freibeuter Mensch. Man hat ihn den neuen Neandertaler genannt. Eine echte Wendung aber geschieht, wenn es uns gelingt, das, was Tyrannei war in unserer Bindung an die Erde und an die Himmel, abzuschütteln, um aus den göttlichen Wurzeln in uns zu uns selber zu kommen, zum Menschen, dem freien und treuen Sohn.

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Die Weltwende der Mütter gelang über die ganze Erde hin. Bis auf Wüsten und Steppen sagte die ganze Erde Mutter. Einer der frühesten, der in die Erde geht, ist der Chinese. Und er ist niemals mehr von ihr gewichen bis zum Einbruch des westlichen Nihilismus. Die großen Kulturen beginnen. Sie sind ursprünglich Kulturen der Erde. Das Herz aller Kulturen aber ist der Kult. Es gibt keine Kultur der Erde ohne den Kult der Mutter.

Schon die Weltwende der Mütter ergreift die ganze Welt. Das ist nicht erst der unsrigen vorbehalten. Heute scheint dies leicht erklärbar durch die rasende Verbindung aller Teile der Erde. Und doch haben auch die Geschehnisse heute unvergleichlich mehr Hintergrund. Die rasende Verbindung ist ja selbst wiederum nur ein Zeichen einer inneren Wandlung des Menschen. Sie erklärt nichts, da sie selber des klärenden Strahles bedarf. Für die noch in ungeheuren Tiefen des Raumes liegenden Erdkreise zu den Zeiten der ersten Wende aber müssen alle die beliebten, den heutigen Zeitgeist spiegelnden Annahmen von Übertragungen kläglich versagen.

Weltwenden gehen vom schaffenden Grund der Welt aus. Sie ergreifen uns. Wir erleiden sie. Und sind doch ihre Täter. Die Luft der Welt wechselt. Und wenn heute der gesamte Verkehr, alle Eisenbahnen, Automobile und Flugzeuge eingesetzt würden, um die Welt der Väter wieder missionarisch zu verkünden &endash; das Brausen verkündet einzig und allein, daß wir in einem anderen Zeitalter sind, das jetzt Mensch sagt und Sohn, wie ein erstes Zeitalter Erde und Mutter und ein zweites Himmel und Vater sagte.

Die Weltwende der Mütter gelang über eine unverbundene Erde hin. Sie kam eben nicht von ihrer Oberfläche, sondern kam aus der Tiefe. Sie kam aus der Tiefe der Gottheit, in der die Ewige Mutter sich regte, um dem Menschen zu helfen, Mensch zu werden. Wie der Mond kam sie als Regentin der Nacht.

Gleichnis der Erde und der töchterlichen Pflanze: Gründung im Dunkel &endash; Drang in das Licht

Die Mütter des Menschen sind urverwandt mit der Erde. Sie gleichen der größeren Mutter wie sie empfangen und gebären, das Geborene nähren und schützen, indem sie es auf vielerlei Weise umschoßen.

In dieser Übereinstimmung der Mütter mit der Großen Mutter, der Erde, stehen die Jahrzehntausende der Einwurzelung des Menschen in die Erde. Die Große Mutter ist in jeder, auch der kleinsten Menschenmutter mächtig. Und auch die armseligste Menschenmutter ist die Große Mutter selber, ist ein Schoß und eine Brust von ihr. Die Autorität der Mütter gründet in der großen Autorin, der Mutter Erde. Und vor dieser Autorität verbeugt sich zuletzt der anarchische, geistig noch ungegründete Mann.

Das Tier hat keine Erdwurzeln. Wohl ist es noch an die Erde gebunden, doch es ist nicht mit ihr eins wie die erdtreue Pflanze. Das Tier ist kein Gleichnis der Erde. Und wenn auch die Tiermütter der Großen Mutter gleichen, das Tier selbst, das Sichentwurzelnde, hat keine Ähnlichkeit mit der mütterlichen Erde. Im Tiere überwiegt der männliche Typus, der eigensinnig-unternehmerische. Das Tier gipfelt nicht von ungefähr im Raubtier.

Dem Zug des Tiers aber folgt zuerst der tierförmige, der schweifende Wildbeuter Mensch, der jagende und schlagende Mann. Und wenn im Menschen nichts anderes wäre als das nur weiterentwickelte, nur klügere, verschlagenere, erfindungsreichere Tier &endash; der Mensch wäre auch innerlich in seiner Tierförmigkeit geblieben.

Doch nun erweist sich die eigentliche Menschennatur: sie kann pflanzenförmig werden wie sie tierförmig war. Denn der Mensch hat alle Natur in sich. Und aus seiner Gesamtnatur heraus ist der Mensch nach Jahrhunderttausenden tierförmiger Existenz für Zehntausende von Jahren pflanzenförmig geworden. Und da der Mensch wieder zur Pflanze wurde, sich in die Erde einwurzelte &endash; da hat er auch das Tier, das der Großen Mutter noch nicht völlig Entfremdete, seinem neuen Weltstil gemäß eingehegt und eingehaust. Der sich verwandelnde Mensch hat selbst das Tier zu verwandeln vermocht. Die Domestizierung des Tieres geht auf die Mütter zurück: sie gehört zur ersten inneren Revolution des Menschen.

Vom Tiere geht die Freiheitsbewegung aus. Und die erste Menschenzeit ist nur ein letztes Ausmessen des Tiermaßes. Und wann immer der Mensch in die schrankenlose äußere Freiheit zurückkehrt, kehrt er auch in fatalem Gang zur Tierexistenz zurück.

Wenn das Tier auf seine Weise frei ist, so ist die Pflanze auf ihre Weise treu. Sie bliebt der Erde unlösbar verbunden. Auch in der Pflanze ist schon viel Wanderlust. Es gibt Samen, die schon Flieger mit Fallschirmen sind. Und doch ist alle Wanderung der Pflanze, und wenn sie über die ganze Erde hingeht, immer zur Verwurzelung in einer neuen Heimat bestimmt.

Dem folgt der pflanzenförmige Mensch. Nach der Zeit der tierischen Freiheit des Wildbeuters Mensch erlöst den Menschen das Fernste und Fremdeste: die pflanzliche Treue der festen Verwurzelung.

Das zu sagen, mag heilsam sein, da der Tumult der unmenschlichen Willkür, der immer wieder ausbrach, zum heutigen Weltstil wird. Es fordert die Fanatiker der Freiheit, die meist auch die des Fortschritts sind, heraus, wenn wir sagen: Die erste innere Unterscheidung des Menschen vom schweifenden Tier lag in seiner Wendung zur Treue.

Ohne Treue ist kein Bestand: diese Mütterlehre hielten die Väter auf ihre Weise fest. Beide Welten, die mütterliche und die väterliche, dauerten durch Treue. Wenn unsere neue, die sohnliche Welt keinen Bestand hat, so liegt dies daran, daß wir des Wahnes sind, wir müßten um der Freiheit willen die Treue verwerfen. Die Treue aber gehört wie die Freiheit zum Archetypus des Sohnes. Es gibt in sohnlicher Zeit so lange keine Söhne, solange es nicht wieder Treue gibt. Es muß uns gelingen, auf unsere eigene, die freiwillige Weise den Müttern und den Vätern, damit aber den in ihnen mächtigen Ursprüngen treu zu sein. Es muß uns gelingen, in den in uns selber liegenden Gründen zu wurzeln.

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Doch wir würden nur Eine Seite der Wahrheit erkennen, sähen wir die Mütter nur im Gesetz der Treue zur Erde.

Das Leben der Erde schenkt uns auch andere Bilder. Überall da, wo Erde ist, hat der Mensch empfunden: die Erde ist nach dem Himmel begierig. Sie lebt überall nur da, wo immer die feurige Kraft von oben sie bezeugt. Die Erde lebt nie aus sich selber allein. Sie gehört bedingungslos einer doppelseitigen Welt an. Sie lebt im Spiel zweier Weltpole: des zeugenden und des empfangenden. Der Himmel ist der große Sender &endash; die Erde die große Empfängerin. Der Mensch hat die Erde in allen Erdkreisen als Mutter gesehen, als den empfangenden Schoß.

Die Erde ist eine dunkle Masse. Doch sie ist nicht undurchdringbar. Sie ist transparent. Die Transparenz ist die Göttlichkeit der Erde. Sie kann alle anderen Elemente in sich aufnehmen: das Licht und die Luft wie das Wasser. Solches vermag die Erde allein: das Wasser, das verwandte, ist schon ausschließlicher, es nimmt Licht und Luft auf, doch es schließt Feuer und Erde aus. Und noch ausschließlicher ist die Luft und das Licht. Das Nichtausschließliche, das Allesaufnehmende liegt im Charakter der Erde. Und so liegt es im Charakter der Mutter.

Das göttliche Wesen der Transparenz, der Durchdringbarkeit, ist dem Weibe zugeordnet wie die göttliche Kraft der Penetranz dem Manne. Die Muttergottheit ist keine selbstgenügsame göttliche Macht: selbstvergessene Hingabe bekundet ihre Art des Göttlichen.

Dem Wesen der Erde gemäß ist die Welt der Mütter gebildet. Ihre Größe ist nie die der Einseitigkeit, wie später die des geistigen Mannes. Die Größe der Mütter ist, das Gesetz des Alls, das der polaren Ergänzung fraglos zu erfüllen.

Der Schoß ist das Symbol der Mutterwelt. Es ist eines der wenigen großen Symbole, die eine ganze Welt aussprechen. Es ist ein ureinfaches Symbol, das allem Volke verständlich war. Es versammelte aber in sich einen Reichtum an Erfahrung. Der Tiefsinn der mütterlichen Welt ist der des Schoßes &endash; wie der Hohe Sinn der väterlichen Welt der des Hauptes ist.

Die Empfänglichkeit des Schoßes haben die Mütter des Menschen in das erste große Offene der Menschenwelt gegenüber den kosmischen Einflüssen zu verwandeln gewußt. Der Ruf der Mutter Jesu Christi: Es geschehe mir also! ist der Urruf der willigen menschlichen Mutter &endash; Eva und Maria sind darin eins.

Denn im Menschen erreicht der Schoß seelische Bedeutung. Der Schoß wird Seele und die Seele wird Schoß. Im Schoß der Seele lockert sich zum erstenmal die harte Abgeschlossenheit des Tieres. Der Weg zu den Ursprüngen, der Weg von den Ursprüngen zu uns, wird offen. Die Geschehnisse des leiblichen Schoßes enthüllen die Geschehnisse des Schoßes der Seele.

Der jungfräuliche Schoß ist noch harte widerständige Erde, die des Pfluges bedarf. Das steile und harte Geschlecht des Mannes ist dazu bestimmt. Der Schoß ist jedoch an sich weich und verrät letzte Natur des Weibes. Die Empfänglichkeit des Schoßes aber ist keine tote Leere. Es ist eine Magie in ihr wirksam: die ziehende, anziehende Magie. Auch die grenzenlose Passivität ist eine Aktivität im höchsten Sinne. Alle Dinge sind ganz.

Geschieht die Bezeugung, seufzt und klagt das Weib. Kommt dieses seltsame Seufzen und Klagen des Weibes aus dem Leiden der Jungfrau oder aus der Leidenschaft der Frau? Wir können nur sagen: es ist die Passion des Weibes.

Und dann wird der Schoß die erste Heimat des Kindes. Es ist eine dunkle Heimat. Es ist aber ein gutes Dunkel, in dem geschieht, was nicht an das Licht gehört. Der Weg geht in das Licht, doch fürs Erste ist das Dunkel des Schoßes die große Wohltat. Der Schoß ist nicht die finstere Unterwelt, zu dem ihn der Fanatismus lichtloser, düsterer Geister später gemacht hat. Der Schoß ist eine Welt des Grundes. Keine vorwitzige Tageshand darf in sein stilles Werden greifen.

Und dann beginnt die andere Unruhe des Schoßes: es beginnen die ziehenden, herausziehenden Wehen. Das Erleiden der Zeugung wird zum Leiden der Geburt. Mutter und Leiden ist dasselbe. Doch es ist die Freude niemals so süß, als wenn sie auf Leiden wächst. Das Reich der Mütter ist zugleich das größte Leiden- und Freudenreich.

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Die Mütter sind wie die Pflanzen Töchter der Erde. Siegten die Mütter, siegte die töchterliche Linie der Pflanze. Die Pflanze ist neben der Erde selbst das sprechendste Gleichnis der Welt der Mütter.

Das Eigentümliche der Pflanze ist ihrer Doppelnatur. Sie gründet im Dunkel der Erde, sie streckt sich jedoch nach dem Licht. Und der Lichthunger der Pflanze ist so mächtig wie ihre Verwurzelung im Dunkel. Man könnte sagen: die Pflanze wurzelt im Dunkel der Erde und im Licht des Himmels. Sie offenbart die doppelte Wurzel aller Wesen. In der Pflanze ist die entschiedenste Doppelseitigkeit mächtig. Es gibt auch eine Entschiedenheit, die wirklich auf Ent-scheidung geht. Alles Pflanzenhafte, von den zartesten Blumen bis zu den gewaltigsten Bäumen ist leuchtendes Symbol der ursprünglichen Verbundenheit der beiden Weltseiten, der kosmischen Ganzheit.

Es ist keine Zufall, wenn der Mensch, als er zum erstenmal zu sich selber kam, sich die Pflanze zum Symbol nahm. In der Doppelnatur der Pflanze brach die eigene menschliche Doppelnatur durch. Und die menschliche Pflanze, der Pflanzer Mensch blieb wie die Pflanze der dunklen Tiefe und der lichten Höhe zugleich verschworen.

Es ist, als ob die Pflanze sich nicht daran genug tun könnte, sich in die Erde zu vergraben. Und wo sie im Wasser wurzelt, da geht sie nur in das tiefe Dunkel der noch älteren Mutter. Es gibt Pflanzen, die in der Luft wurzeln: das aber geschieht nur dort, wo die Luft mit Feuchtigkeit geschwängert ist und die Pflanze dennoch eingetaucht ist in das tiefe Dunkel. Das heißt nur in tropischen Dschungeln. Die Pflanze stirbt ab, legt man ihre Wurzeln frei. Die Wurzeln sind nicht für das Licht bestimmt. Die Wurzeln im eigentlichen Sinne, die Erdwurzeln, scheuen das Licht: sie empfangen es nie unmittelbar, immer durch die erscheinenden Teile.

Kein Wunder, wenn die Erdwurzel des Menschen in jeder Aufklärung abzusterben beginnt. Es begann in der Aufklärung der Väter, die nur den Lichtursprung anerkannte. Das sprang über in die Aufklärung der Söhne, die als unsere Wurzel nur den Verstand oder höher gesinnt die Vernunft gelten ließ. Davon kommt der heutige Lichtwahnsinn, der das Innerste in das Äußerste kehrt. Wir haben in unserem aufklärerischen Fanatismus keinen Sinn mehr dafür, daß auch der Mensch Wurzeln hat, die nicht bloßgelegt werden dürfen.

Als der Mensch Pflanze wurde, da hat er seine Erdwurzeln in das Dunkel der eigenen Tiefe getrieben. In das Grundwasser seiner Seele hat er sie versenkt. Der Mensch begrub sich nicht selbst, als er in die Wassertiefe der eigenen Erde ging. Begraben hat er die tierische Willkür, die Gefangenschaft des Tiers in sich selbst. Er hat neue Wurzeln getrieben, Wurzeln der pflanzlichen Seele, Wurzeln der Erdseele: Empfängnisbereitschaft, Hingabegewalt, Opferkraft, Selbstvergessenheit und das Willkürlose. Das sind tiefe Wurzeln. Und sind zähe Wurzeln. Aus diesen Wurzeln ist der erste offene Mensch gewachsen. Der Mensch ist in den zehntausend Jahren der Einwurzelung in das Dunkel der Erde mehr gewachsen als vordem in Hunderttausenden von Jahren. Und noch heute lebt alles Sicheinfügende &endash; Willige des Menschen aus dieser Dunkeltiefe des Schoßes seiner Seele.

Die Pflanze aber ist nicht minder dem Licht verschworen. Sie gehört mit ihrer Wurzel zum Dunkel der Erde. Mit ihrem Trieb und Blatt und ihrer Blüte drängt sie zum Licht. Alles Erscheinende gehört in das Licht. Und so mächtig der Drang ist, sich in der Mutter, der Erde zu halten, zu bergen, zu schützen, so mächtig ist der Drang der Pflanze in das Licht. Ein Wald könnte einem revolutionären Auge als ein Aufstand gegen die Erde erscheinen, als ein Aufbruch aus der Nacht zum Licht, als ein Marsch, o ihr Brüder, in den anbrechenden Morgen. Und die Väter könnten in ihm das gewaltigste Excelsior neben ihren Domen erblicken. Haben sie nicht vom Dome des Waldes gesprochen? Und beide, die revolutionären Söhne und die auffahrtswilligen Väter sehen nicht ohne Recht: es ist eine mächtige Aufwärtsbewegung im Halm wie im Baum. Das Wunderbare aber liegt darin, daß der Drang gleichmächtig nach der Wassertiefe der Erde und nach der Lichthöhe des Himmels geht. Pflanzen befallen sich nicht wie das Tier sich befällt. Jede Pflanze bleibt an ihrem Ort. Und doch kämpfen auch die Töchter der Erde miteinander einen großen Kampf. Schon in der Erde ist ein Kampf der Wurzeln um ihren Raum. Doch viel schärfer ist der Kampf um den Himmel. Die Pflanze kämpft wie ein Held um das Licht. Sie wächst in Bäumen zu gewaltigen Kronen, um das Licht mit ausgebreiteten Armen zu empfangen. Und dafür überragen sich die Stämme wie Helden in der Schlacht. Und die Heere von Blättern, die Millionenheere, drängen vorwärts, drängen aufwärts zum Licht. Und jedes Blättlein spannt seine Arme, ein kleiner Baum, eine kleine Krone, um gesegnet zu werden vom lichten Strahl.

Waage der Welten

Alle ursprünglichen Mächte haben in sich das Verlangen, alles allein zu sein. In diesem Verlangen aber stören und zerstören sie die Ordnung der Welt, das schwebende Gleichgewicht.

Die ursprünglichen Mächte haben in sich den Zug zu ihrer Absolutheit nicht, weil sie böse von Natur sind &endash; wie ein väterlicher Moralismus will. Die Dinge sind viel paradoxer als die geradlinig denkenden Väter sie haben wollen. Es ist die Große Paradoxie: die ursprünglichen Mächte sind absolutistisch, wie sie göttlicher Herkunft sind. Ja, sie sind im Maße ihrer Göttlichkeit von dämonischer oder satanischer Selbstgenugsamkeit.

Die ursprünglichen Mächte sind aus göttlicher Natur ohne Grenzen ganz. Was aber in dieser Welt erscheint, selbst Götter, selbst Gott, ist immer zu besonderer Erscheinung begrenzt. Das Göttlich-Grenzenlose und das immer Begrenzte auch der göttlichsten Gestalt kommen schwer in das rechte Verhältnis zueinander. In aller Gestalt ist das Ganze und doch ist keine Gestalt das Ganze. Dem folgt die Tragödie auf dem Fuße.

Das Gleichgewicht der Welt lebt von der Weisheit &endash; der unbewußten oder bewußten &endash; der Grenze alles Unbegrenzten. Gerade die ursprüngliche Mächte haben diese Grenze überschritten. Sie wollten das Göttliche, sie wollten Gott selber sein. Und das ist eine nicht minder große Paradoxie: im Maße, wie die ursprünglichen Mächte ihre Grenze überschritten, in dem Maße enthüllte sich ihre Begrenzung. Im Maße, wie sie das Göttliche oder Gott selber sein wollten, in dem Maße haben sie das Göttliche, haben sie Gott verfehlt.

Es ist die Maya der Verblendung der Mütter und der Väter, in dem Maße beschränkt zu sein, in dem sie unbegrenzt sein möchten. Das Maß ihrer Selbstgenugsamkeit ist zugleich das Maß ihres Ungenügens. Denn im Maß ihrer Selbstgenugsamkeit haben sie das Gleichgewicht der göttlichen Welt gestört.

Die Archetypen der Weltwerdung, Gottwerdung, Menschwerdung haben in sich die doppelte Möglichkeit, das Gleichgewicht der Welt zu schaffen oder zu zerstören. Doch erst, wenn sie sich als Typen erkennen, als begrenzte Gestalten des Unbegrenzten, vermögen sie die Maya aus einer Kraft der Verblendung zu einer Kraft der Schöpfung zu wenden. Denn in der Mayakraft ist beides, der schöpferische Urtrieb, der führende und die aus ihm herkünftige blinde Maßlosigkeit, die verführende.

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Auch die Mütter sind nicht ausgenommen von der großen Verführung zur Selbstgenugsamkeit.

Als die Mütter wuchsen, wuchsen sie am Bild der Erde. Es ist den Heutigen nicht mehr gegeben, zu ermessen, welche Gewalt die Erde einmal über die Menschen hatte. Der Intellekt wächst, die Kraft der Imagination stirbt.

Die Erde aber war für die Mütter nicht nur das führende Bild zur gleichgewichtlichen Ordnung von Erde und Himmel &endash; sie war auch das verführerische Bild der mütterlichen Selbstgenugsamkeit. Je näher der Mensch der Erde stand, um so mehr war die Mutter für ihn alles. Diente nicht der Himmel der Erde? War er nicht nur der Befruchter &endash; sie aber die Gebärende und die Ernährende? Vor dem Bilde der Erde verkleinerte sich das Große Tier Mann zum Männlichen, gut genug, den Müttern zur Mutterschaft zu verhelfen. Ja, in noch früherer Denkweise war der Mann nicht mehr als der Pflüger in der Scholle des Leibes, im weiblichen Schoß. Die Urzeit wußte nicht &endash; zum größten Erstaunen einer in kausalem Denken fanatischen Wissenschaft &endash; um den Mann als zeugenden Urheber des Kindes.

Im Anfang war die Mutter. Und die Mutter stellte sich in monumentaler Selbstgenugsamkeit gegen den für das Kind bedeutungslosen Mann. Die Anfänge sind nicht zu beschönigen. In den Anfängen ist der Schleier der Maya dicht gewoben, denn die Anfänge sind mit der schöpferischen Mayakraft am dichtesten geladen. Der romantische Geist neigt darum dazu, die Anfänge mit den Ursprüngen zu verwechseln. Die Ganzheit der Anfänge ist von ausschließlicher Gewalttätigkeit. In allen Anfängen sind wir blind vom Überdruck der Ursprünge. Die Wildwasser der Anfänge müssen sich zuerst in Bergseen klären, daß sie bis auf den Grund durchsichtig werden. Die Anfänge sind eng &endash; die Ursprünge weit. Erst mit dem Übergewicht der Ursprünge, dem Übergewicht des Göttlichen, des Urbildes der Muttergottheit siegen die Mütter über die Maya der Selbstgenugsamkeit, erahnen sie die größeren, kosmisch-polaren, sich ergänzenden Ordnungen.

In den Müttern geschieht eine große Schlacht. Sie gehören ihrem Schoß gemäß zum Dunkel. Doch das Kind will an das Licht. Das Sonnengeflecht und das warme Blut der Mütter genügen ihm nicht. Erst in der Sphäre der Sonne findet das Kind Mensch, das lichthungrige, sein Element. Die Mütter aber folgen dem Zuge des Kindes. Um des Kindes willen überwinden sie sich selber. Das Kind ist der Mütter Führer in das Licht.

Schwerringend in der Nacht des Tiers finden die Mütter wie die anderen Töchter der Erde, die Pflanzen, das Gleichgewicht von Erddunkel und Himmelslicht.

Das verlorene Gleichgewicht

Im Bereiche der Pflanze schwingt die Waage der Welten in einem uns unbegreiflichen Doppelgewicht. Und da begann das Reich der Mütter, als es die töchterliche Linie der Pflanze wieder aufnahm und mit ihr das Wunder des Großen Gleichgewichtes.

Auch noch in den Töchtern des Menschen ist das leichte leise Schwingen der Waage wie in den Töchtern der Erde. Sie setzen die Linie der Mütter fort, sind in der Bestimmung des Schoßes. Doch meist schlagen sie dem Vater nach und verlangen seelisch und geistig mehr nach ihm als nach der Mutter. Man denke an Pallas Athene, die Vater-Tochter. Und man denke an die heiligen Jungfrauen in der christlichen Väterzeit. Es ist eine der großen Entdeckungen C. G. Jungs: der Animus im Leben der Frau ist von derselben außerordentlichen Bedeutung wie die Anima im Leben des Mannes.

Die Söhne setzen in ähnlicher Weise die Linie der Väter fort, gehören aber nach Art und Neigung, im besonderen bei genialer Veranlagung, auf die Seite der Mutter.

Immer ist die Natur begierig nach ihrer Doppelnatur &endash; weil sie erst in ihr ihre göttliche Gesamtnatur erreicht.

Und doch sind wir bei den Söhnen in einer anderen Welt. Und da es uns um unsere jetzige Bestimmung geht, nehmen wir einiges voraus, da es aus diesen Zusammenhängen Licht in besonderer Strahlung erhält.

Die Söhne kennen bisher wenig das wunderbare Gleichgewicht von Dunkel und Licht der Töchter der Erde, der pflanzlichen Vorbilder der Mütter. Die Söhne sind wie die Väter nach männlicher Art auf Übergewicht bedacht. Was die Söhne von den Väter erbten, das ist die Große Wiederentwurzelung des Menschen aus der Erde. Dem aber ließen die Söhne die Große Wiederentwurzelung des Menschen aus den Himmeln folgen. Die Söhne sind die revolutionäre Richtung der Väter zu Ende gegangen. Und wir müssen bekennen: die Gleichgewichtsstörung des Menschen vollendet sich in den Söhnen. Die Welten wirbeln in ihnen durcheinander wie im Chaos.

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Die frühen Patriarchen standen wie die Matriarchin, die Erde im doppelseitigen Gesetz des Alls. Sie kannten keinen fanatischen Ausschluß. Sie liebten die Erde, die gesegnete, und sie liebten den segnenden Himmel. Wenn Goethe zu Beginn des »West-östlichen Divans« aus der sich verengenden Gegenwart der beginnenden ideologischen Kämpfe auszieht, um »Patriarchenluft« zu atmen, so denkt er an das frühe Patriarchentum, das sich hier und dort im »Reinen Osten« noch erhielt, so sucht er das Wunder »Glaube weit«, das Himmel und Erde umfaßt. Und dasselbe »Glaube weit« atmet mitten in der christlichen Welt Jeremias Gotthelf. Um ihn ist noch, um ihn ist wieder »Patriarchenluft«. Jeremias Gotthelf selber ist ein Patriarch der Frühe. Ihm gelingt es, was in großem Stile nur noch Dichtern gegeben ist, Himmel und Erde in Einer Geschichte ineinandermächtig zu sehen.

Doch es geht letztlich nicht um ein »Früher oder Später«. Es geht auch bei Goethe nicht um einen Rückschritt in eine »überwundene Stufe der Entwicklung«. Es handelt sich um eine Urentscheidung, ob wir den unbedingten Triumph einer Weltseite oder, was dasselbe ist, die unbedingte Niederlage der anderen als den Sinn der Geschichte erzielen &endash; oder ob wir die beiden Weltseiten, die wir getrennt, in ihrer dauernden Zusammengehörigkeit und ihrem wachsenden Ineinanderfruchtbarsein erkennen und bekennen.

Das ist die Urfrage, die an die Söhne wie an die Väter gerichtet ist. Beantworten wir sie im Sinne einer Scheidung, dann zerbricht mit der menschlichen Geschichte auch der Mensch selbst. Beantworten wir sie im Sinne einer Ent-scheidung der geschiedenen Welt, dann fügen sich die Taten der Mütter zusammen mit den Taten der Väter und es kommt zu einer wahren Sohnschaft und damit zu einem ganzen Menschentum.

Daran aber hangen die Dichter. Die christlichen wie die nichtchristlichen. Goethe und Hölderlin, in denen die ungetrennte Vorzeit wieder ersteht. Jeremias Gotthelf, in dem der »Vater« über die sohnliche Schöpfung Mensch wacht. Und das ist in Dostojewskij, der den gottmenschlichen Menschen verkündet, das Inkarnat des Himmels und der Erde. Und das ist auf französische Weise das revolutionäre Christentum Charles Péguys, der in unaufhörlich neuer und doch immer derselben Wendung im Menschen den himmlischsten Himmel und die erdlichste Erde bezeugt. Darin sind die frühesten und jüngsten Regungen des divinierenden Geistes.

Denn das geistige und geistliche Patriarchat entging nicht der Maya seiner Selbstverblendung. Es ist seine »déformation professionelle«, an Stelle der beiden Weltseiten, die einander bedürfen, die Selbstgenugsamkeit der geistlichen und geistigen Zeugung begründet zu haben.

Das Licht trennte sich vom Dunkel, verwies dieses als Finsternis aus der geistigen und geistlichen Welt. Die Welt der Mütter trat in den Schatten. Licht hatte mit ihr nichts mehr zu tun. Es galt nur noch Eine Welt, die des Lichts.

Die Väter sind die prinzipiellen Absolutisten. Der Geist der Väter suchte über dem wahllosen Pan der Mütter die absolute, das heißt abgelöste, die unbedingte, das heißt den Dingen überlegene Welt. Den Vätern ist Gott Geist und der Geist Gott. Wie aber kann Gott oder der Geist ein anderes sein als das Absolute?

Und doch hatte auch noch das geistige und geistliche Patriarchat ein geheimes Gegengewicht und damit ein geheimes Gleichgewicht. Es verfluchte das Gegengewicht der Erde gegenüber den Himmeln. Es verfluchte das Gegengewicht der Mütter des Lebens gegenüber den Vätern des Geistes. Es verfluchte das Gegengewicht der Materie gegenüber dem reinen Geiste. Es verfluchte ... Es verfluchte im maßlosen Maße seiner Verzweiflung, daß die Gegenseite nicht auszulöschen war. Ja, es lebte von der verfluchten anderen Seite, von der es nicht loskam. Es war immer nur groß im Aufschwung über die Niederung der Erde.

Die Väter zerbrachen das Gleichgewicht der Welten &endash; doch es blieb im Geheimen die Waage: sie blieb da für die Leidenschaft der Väter, zu überwiegen.

Und was die Mütter in ihrem Pan in die Arme schlossen &endash; das schlossen die Väter nun in die Einheit ihrer denkerischen Systeme. Sie suchten in diesen eine Welt im Gleichgewicht. Und es gelang der Überlegenheit der Väter, was der Selbstvergessenheit der Mütter gelungen war: eine Welt im Gleichgewicht zu schaffen. Das leidenschaftliche Suchen der Väter nach dem Absoluten war nicht ohne Frucht. Wohl vermochten sie in der Macht der Maya der Verblendung nur eine absolutistische Welt zu schaffen, &endash; doch der unvergleichliche Geist der Erkenntnis war offen für einen Glanz des Absoluten selbst.

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Mütter und Väter neigten, der göttlichen Quelle näher, zum Absoluten ihrer Existenz und Essenz. Das ist ihre Größe. Wir haben sie nicht zu moralisieren. Wir haben jedoch zu erkennen, daß ihr Absolutismus überlebt ist.

Die Söhne hingegen, der Welt als werdender Schöpfung zugehörig, neigen im Gegensatz zu den Müttern und Vätern zum Relativen. Die Geschichte wird in ihnen zu absoluten Gewalt, doch sie kennen &endash; gerade aus diesem Grunde &endash; keine absolute geschichtliche Gestalt. Auch die Söhne sind nicht zu moralisieren, ist auch der Relativismus eine nicht geringere Verirrung als der Absolutismus der Mütter und der Väter.

Unter den Söhnen wiederum neigen die Westlichen nach ihrem dauernden Charakter zur geschworenen Feindschaft gegen allen Absolutismus. Darum konnte es nur im Westen zu sohnlichen Wendung, das heißt zum Sturz des väterlichen Absolutismus kommen.

Die Söhnewelt siegt heute auch im Osten. Dort jedoch hat sie bis heute der Ewigen Mutter Asia und dem allmächtigen Vater Osten nicht zu entgehen vermocht. Kaum geboren, verpanzerte sie sich wieder in den Absolutismus eines materialistischen Patriarchates.

Doch in allem Unterschied des Neuen Westens und des Neuen Ostens ist ein gemeinsamer Nenner: Die Söhne haben bisher die sogenannte Neue Zeit nicht weniger verabsolutiert als die Mütter und die Väter ihre Welten. Die Söhne sind nicht weniger gefangen in ihrem Typus. Und sie haben dadurch das Gleichgewicht der ursprünglichen Mächte nicht weniger gestört &endash; sie haben es letztlich zerstört.

Im Relativismus der Söhne ist eine neue Möglichkeit des Gleichgewichtes verborgen. Ja, man muß sagen: erst, wenn alles relativ ist, kann die Welt endlich in ihr Gleichgewicht kommen. Erst dann, wenn alles relativ ist, was zur Erscheinung kommt, kann das echte Absolute mächtig werden, das niemals als solches in die Erscheinung tritt. Die Söhne sind in ihrem echten Relativismus auf ihre Weise dem Absoluten nah. Und so unbedingt ihr Kampf gegen allen Absolutismus zu führen ist, so zeitbedingt ist ihre nihilistische Abwehr gegen alles Absolute.

Der tragische Charakter der Geschichte aber verhinderte bisher, daß die Söhne ihre besondere Schickung zum Gleichgewicht erkannten und erfüllten. Die geschichtliche Situation ließ sie jahrhundertelang anrennen gegen die absolutistischen Positionen der Väter. In diesem existentiellen Kampf verloren die Söhne &endash; nicht ohne selber, wider ihre eigene Natur absolutistisch zu werden &endash; Sinn und Geschmack für das Absolute. Ohne diesen Ursinn aber war auch kein Sinn der Söhne für ihre eigentümliche Aufgabe, die durch den väterlichen Absolutismus gestörte Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

Wenn aber die Väter in den Müttern noch ein Gegengewicht besaßen, wenn auch nur ein geheimes, doch in aller seiner Uneingestandenheit mächtiges &endash; so fehlt den revolutionären Söhnen selbst dies geheime Gegengewicht. Für sie ist die andere Seite überhaupt nicht mehr da. Die revolutionären Söhne gehen vom Mord der Väter an den Müttern als von einem Selbstverständlichen aus, sind sie doch gleichermaßen auf Mord gerichtet &endash; auf Vätermord, ja jetzt auf Brudermord. Die revolutionären Söhne überrennen alles, was ihnen im Wege steht: die »Alten« und alle ihresgleichen, die ihnen als Reaktionäre erscheinen. Die Revolution ist das geheime Absolutum.

Ein Gegenmaß wird nicht mehr geduldet: so bleibt als einziges Maß der eigene Wille. Das aber ist eine späte Wiederaufnahme des uralten Tiermaßes. Der Mensch ist heute ein aufgeklärtes Tier: er ist dem Himmel wie der Erde als einem doppelten Aberglauben entlaufen. Aber auch das aufgeklärte Tier bleibt ein Tier. Der Mensch ist wie der Tiermensch der Anfänge wieder in sich selbst gefangen. Er redet vom Fortschritt, da er von allen Bindungen fort-schreitet. Der Fortschritt der technischen Mittel des Menschen steht hier nicht in Frage. Der Mensch selber aber, der sich nicht mehr zu überschreiten weiß, geht in fatalem Gange zurück in das überwundene Tier Mensch.

Genau an dieser Stelle bricht der Nihilismus ein. Er verkündigt sich selbst in törichter Wollust. Das Tier Mensch frißt den menschgewordenen Menschen wieder auf. In der heutigen Bahn hat der Mensch das Nichts im Rücken und vor sich das Nichts. Das ist seine neue Situation. Es ist die uralte Situation des Tieres.

Der nackte Existentialismus ist die Verkündigung des Tiers. Er bedeutet die Wiederverrufung der durch die Mütter und die Väter gewonnenen Essenz. Er preist den wiederentwurzelten Menschen als den freien Menschen an. Er preist damit jedoch nur die wiedergewonnene Willkür des vormenschlichen Menschen.

Doch das östliche Widerspiel des Kollektivismus ist nicht weniger vormenschlich als der westliche anarchische Existentialismus. Die Herde und Horde Unmensch erscheint in ihm. Sie redet von der Masse Mensch. Es gibt keine Masse Mensch. Die »Masse Mensch« ist das »Große Tier«. Das Große Tier aber verfehlt noch mehr als der relativistische Mensch die Möglichkeit neuer Welt im Gleichgewicht. Das bleierne Gewicht der Masse will alles überwiegen. Der Mensch, der über alle Kräfte verfügt und darin bestimmt ist, das schwebende Gleichgewicht der Welt zu schaffen, ist im östlichen Kollektivismus letztlich verraten.

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Die Wenden der Mütter und der Väter sind nicht mehr wiederholbar &endash; doch sie sind geschehen und nicht mehr ungeschehen zu machen.

Mit den Vätern begann der Frevel danklosen Vergessens, als sie die Weltwende der Mütter ungeschehen zu machen sich vermaßen. Es ist aber der doppelte Frevel der revolutionären Söhne, sich anzumaßen, über die Weltwende der Väter wie die der Mütter als über ein Nichts hinwegzugehen. Die Söhne müssen sich sagen lassen, daß vor ihnen unermeßlich viel an Menschwerdung des Menschen geschehen ist, von ihnen jedoch unermeßlich viel Zerstörung und wenig neuer Bau.

Das Erbe der Väter ist immer noch übermächtig. Die Väter waren die ersten Nihilisten. Sie begannen mit der »Geschichte als Schlachtbank«, zu der sich Hegel in treuer Nachfolge bekennt. Sie begannen jene Raserei des »Liquidierens«, in der die kleinen Zeitgenossen so groß sind. Die Bahn der Väter ist genügend begangen. Sie ist heute breitgetreten von brüllenden Herden, die sich revolutionär vorkommen, wenn sie die göttlichen Kulturen des Menschen, die immer zarten, leicht zerstörbaren, unter ihren Hufen zerstampfen. Das mörderische Erbe der Väter ist von den Söhnen bis zur Sterilität ausgelebt worden.

Wenn wir heute etwas Revolutionäres notwendig haben, so ist es der Bruch mit der von den Söhnen vollendeten Wiederentwurzelung des Menschen durch die Väter. Wo immer eine Menschwerdung geschah, geschah sie durch Einwurzelung des Menschen, sei es in die Erde, sei es in die Himmel, sei es in die ihm eigenen inneren Gründe. Der Unterschied zwischen Tier und Mensch ist mächtig als Unterschied zwischen dem entwurzelten und dem wiederverwurzelten Wesen. Alle Tierwerdung ist Entwurzelung &endash; alle Menschwerdung Wiederverwurzelung.

An diesem Maß wird der rasende Rückfall des Menschen in das Bestialische verständlich, der die Rechte wie die Linke, die Linke wie die Rechte der Weltparteiung heute besessen macht.

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Doch dies hebt die Väter in das Unvergleichliche gegenüber den Söhnen, den sich revolutionär total Entwurzelnden: Die Väter standen wie die Mütter im selben Pathos der Wiederverwurzelung des Menschen &endash; sie suchten nur die höheren, die himmlischen Gründe. Sie überboten die Mütter, indem sie nur die Geistwurzel des Menschen, die engelhafte, anerkannten. Über die mütterliche Menschwerdung des Tiers stellten die Väter die Engelwerdung des Menschen.

Die Vater waren guten Glaubens, im lichtenden Geist die eigentliche Wurzel des Menschen entdeckt zu haben. Es ist an die Tat der Väter nicht zu rühren, die Höhe des Menschen gewonnen zu haben. Keine Kritik an den Vätern darf ihren weltwendenden Schritt verkleinern. Nur das Fatale, das sich mit der Erhebung der Väter verband, die luziferische Überhebung der Himmel steht in Frage. Das scheidet echte Überwindung von Mord, wenn wir über dem Fatalen das eigentlich Gemeinte nicht vergessen, sondern als Dauergewinn bewahren.

Die Fatalität liegt nun nicht, wie der patricide Affekt der Söhne vermeint, in der Gewalttätigkeit der Väter &endash; dieser ist nur die notwendige Folge der einseitigen Richtung des väterlichen Geistes. Auch im Versuch der Mütter, den Menschen zur Pflanze zu machen, lag viel Gewaltsamkeit. Doch ungleich fataler an Gewalttätigkeit, weil ungleich fataler an Einseitigkeit, war der Wille der Väter, den Menschen zum Engel zu machen, das heißt zum Geist an sich. Damit zerstörten die Väter das Gleichgewicht der Menschen, das die Mütter suchten. Es konnte nicht anders sein, als daß der Engelmensch, der erzwungene, weil dem Menschen nicht entsprechende, ins Stürzen kam, in dem er jetzt noch haltlos fällt.

Pascal hat das Fatale des väterlichen Versuches enthüllt, den Menschen zum Engel zu machen. Während Descartes, sein Feind, diese Linie auf dem Boden der Neuen Zeit fortsetzt, bricht Pascal mit dem Fatum der geistigen und geistlichen Väterwelt. Dahin geht die berühmte Formulierung seiner »Pensées«:

»Le malheur est, que qui veut faire l'ange, fait la bête. Das Unheil will es, daß, wer den Menschen zum Engel machen will, ihn zum Tiere macht.«

Dies ist in einem Ausmaße geschehen, daß die väterliche Heilsgeschichte zur Tragödie werden läßt. Darüber wäre viel zu sagen, wenn wir uns hier, wo wir in einem Durchblick Späteres vorausnehmen, nicht beschränken müßten auf Andeutung. So wenig aber wie der descartische Geist, so wenig sah die Christenheit die Wahrheit, die ihr großer Prophet enthüllte: den fatalen Zusammenhang zwischen der versuchten Engelwerdung und der geschehenen Tierwerdung des Menschen. Es bleibt für die gewohnt selbstgerechten Mächte ein bloßer Abfall, das heißt ein Grund mehr, den Menschen zu mobilisieren. Es bleibt ungesehen, daß die Engelwerdung des Menschen die Urgeschichte der Christenheit, die Menschwerdung Gottes aufhob. Und es bleibt ungefragt, warum ausgerechnet aus dem christlichen Abendland, dem Raum des höchsten Geistaufschwunges, der tierischste Materialismus über die ganze Erde des Menschen sich verbreitet. Der Sturz des Engelmenschen und das Bestürzen der Erde durch den neuen Tiermenschen sind Eine Geschichte.

Die revolutionären Söhne haben mit Recht den Engelswahn der Väter durchbrochen, mit dem diese den Menschen in die Himmel einzwängen wollten. Doch sie sind im Umschlag von den Engeln tief in das Tier gestürzt. Denn die Erde, auf die sie zurückkehrten, war eine entseelte, entgottete Erde.

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Der intellektualisierte Mensch von heute &endash; nicht nur der Intellektuelle im eigentlichen Sinne &endash; ist dem Engelswahn noch nicht entgangen, darum aber ist er, wie niemals noch seit der inneren Menschwerdung, rückfällig in das Tier.

Die intellektuelle Kraft wächst derart hypertrophisch, daß sie im Rausch ihrer Siege von keiner anderen Wurzel des Menschen, ja nicht einmal mehr um ihre eigene Wurzel weiß. Das aber bedeutet Tod des Menschen &endash;Triumph des Engels und des Tiers.

Engel und Tier ziehen einander an. Der abstrakte Geist ist so leiblos, stofflos dünn, daß er zu Saft und Kraft das Tier benötigt. Luzifer-Satan herrscht durch Trennung: er muß den Intellektuellen nur in der blauen Luft haben &endash; dann hat er ihn schon im Tier. So geht dann der Terror &endash; wie einmal aus dem wilden Blut &endash; heute aus dem abstrakten Geist hervor.

Bei allem scheinwerferhaft scharfen Bewußtsein lebt der herrschende Typus des Mannes heute auf einer Unterwelt unbewußter, lichtscheuer, undurchdringbarer Triebe. Er ist erstaunt über die Gewalttätigkeit, Tiergier nach Beute, Grausamkeit und Unbelehrbarkeit des heutigen Menschen. Wenn aber der Blinde das Tier im Menschen sieht, sieht er es immer nur im Anderen.

Selbst das eigensinnigste Tier, das intellektuelle, kommt nicht aus ohne Gegenwelt. Es bezeugt noch in seiner satanischen Selbstgenugsamkeit das göttliche Gesetz der Doppelnatur. Es ist die Doppelnatur, in der Luzifer, der oberste der Engel, der Herr der himmlischen Oberwelt, zu Satan, dem Chef der Unterwelt, werden konnte.

Die Unterwelt der finstern Triebe hat nichts zu tun mit der dunklen Grundwelt der Mütter. Die Allesscheidenden müssen einmal zu dieser Unterscheidung sich bequemen. Das Tier ist nie gemeint, nennen wir den Namen der Mütter. Die Mütter kennen keinen der satanischen Bereiche &endash; nicht das überhebliche Obere, nicht das niederträchtige Untere. Im Reich der Mütter ist Luzifer machtlos &endash; das ist heute in grenzenlosen Triumphen des Satan-Engels die verheißende Kraft der Wiederentdeckung des ersten Reiches des Menschen.

Der satanische Bund von Engel und Tier deutet auf den göttlichen Bund, der in Wahrheit gemeint ist. Alle satanischen wie dämonischen Mächte können ja nie anders, als das ursprüngliche Geschehen in Zerrbildern verfratzen.

Der satanische Bund von Engel und Tier aber steht dem göttlichen Bund im Wege, aus dem jetzt der Mensch hervorgehen will, der Sohn der beiden Ursprünge, des mütterlich-dunklen wie des väterlich-hellen. Wir haben nicht mehr den Ausweg, den Menschen zur Pflanze oder zum Engel zu machen. Wir stehen jedoch mit den Müttern und Vätern zusammen im selben Kampfe gegen das unechte Tier Mensch, das nicht einmal des Tiernamens würdig ist. Der Vorkampf der Mütter und Väter kommt nun in die Entscheidung, da die echte Doppelnatur des Menschen als des Sohnes sich enthüllen will.

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Die Söhne haben eine Gleichzeitigkeit mit den Müttern.

Die Revolution gegen die Väter ist über die ganze Erde hin siegreich. Die patriarchalen Welten zerfallen. Die Freiheit aber, die die Weltrevolution der Söhne bisher erkämpfte, ist erst von negativer Gewalt. Die Söhne sind heute frei, um die Erde und einander zu befallen. Die Freiheit der Söhne ist noch verwandt mit jenem Nichts, in das das Tier ausschweifte als in seine kleine Grenzenlosigkeit. Soll aber das unglückliche Tier Mensch wieder heimatlichen Boden gewinnen, muß es in ein menschliches, nicht mehr bloß raubtieriges Verhältnis zur Erde treten.

Wenn die Erde der Raum unseres Schicksals ist, so haben wir die Wahl, sie wieder zur Wildbeute oder endlich zur Heimat zu machen. Ein Land, das nur kalt ausgebeutet wird, ist keine Heimat. Erst, wenn wir uns wieder, wie wir dies schon einmal getan haben, mit der Erde verbünden, wird sie uns zu einer Heimat. Das Tier hat eine Umwelt, der Mensch aber schafft Heimat.

Im Unterschied zu den Müttern aber liegt unsere eigentliche Heimat nicht mehr in der Erde. Es geht um mehr als eine bloße Rückkehr. Das Reich der Söhne ist nicht mehr das Erdreich, wie es nicht mehr das Himmelreich ist: wie der Mensch der Sohn ist, ist das menschliche Reich das Erbe beider Welten. Kein Rückgang in die Erde, sowenig wie ein Rückgang in die Himmel überwindet nun das Tier, das sich heute dem Menschen wieder in den Weg stellt. Jetzt ist es der Mensch selbst, der das Tier zu überwinden hat. Der Mensch in der Kraft seiner Gesamtnatur. Der ganzheitliche, der offene Mensch. Der Mensch, der sich nicht mehr in die Gefangenschaft der Erde und nicht mehr in die Gefangenschaft der Himmel begibt. Der Mensch, der im eigenen göttlichen Grunde wurzelt und so in allen Erden und in allen Himmeln. Der sohnliche und töchterliche Mensch.

Wir haben die beiden göttlichen Wurzeln, aus denen die Mütter ihre Erde und die Väter ihre Himmel schufen, in uns selber. Es ist eine dunkle und es ist eine helle Wurzel: die unbewußte des Lebens und die bewußte des Geistes. Wir wurzeln nicht mehr in den Räumen außer uns, nicht mehr in der Erde der Mütter, nicht mehr in den Himmeln der Väter. Aber wir wurzeln mit der dunklen Wurzel der Mütter und der lichten Wurzel der Väter im eigenen göttlichen Grund. Und es ist Zeit, sich zu beiden freiwillig zu bekennen.

Ist aber wieder Maß und Gegenmaß, kommt die Welt wieder ins Gleichgewicht. Mag dies neue Gleichgewicht auch unvergleichlich sein an Spannung der äußersten Gegengewichte &endash; mag das Wägen mehr ein Wagen des Äußersten werden: vielleicht ist erst heute die Stunde des echten Gleichgewichtes.

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Es gibt keine Rückkehr mehr in den väterlichen Raum &endash; auch wenn er in der Bodenlosigkeit und Haltlosigkeit der Söhne ein Rückzug in die noch vorhandenen autoritären Ordnungen viel Schein für sich hat. Denn von der Revolution der Väter kommen wir her. Die Väter waren es, die die erste Verwurzelung des Menschen, die Tiefenwurzelung in der Erde rückgängig machten &endash; so können sie sich nicht wundern, wenn auch ihre Gegenverwurzelung in die Himmel rückgängig gemacht wird. Die Väter gaben den Söhnen das Zeichen: sie lehrten die erste große Wiederentwurzelung. Als sie mit den Müttern kämpften, übersahen die Väter die Kommenden, die Söhne. Da sie aber nicht um diese dritte Macht wußten, wußten sie auch nicht, daß sie mit den Müttern stehen und fallen. Da sie die Autorität der Mütter brachen, brachen sie die eigene. Da die Väter die Mütter ermordeten, hält die Söhne nichts zurück vor dem Vatermord.

Doch es wäre eine nicht geringere Illusion, die Revolution der Mütter, die Einwurzelung des Menschen in die Erde, wiederholen zu können. Wie die Rückkehr zu den Vätern schlechte Reaktion, so wäre die Rückkehr zu den Müttern schlechte Romantik. Die Wiederentdeckung der Mütter geht von den Söhnen aus &endash; dies aber heißt nicht, wozu die romantische Seele neigt, daß die Söhne wieder in die Mütter zurückgehen sollen. Die Spirale der Söhne neigt sich zu den Müttern, zum ersten Gleichgewicht der Waage der Welten &endash; doch in ihr bleibt der unwiderstehliche Aufwärtsdrang der Väter. Die Söhne haben eine eigene Aufgabe: sie haben ein neues Gleichgewicht zu schaffen.

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Goethe, der das sohnliche Doppelwesen des Menschen &endash; wenn auch nicht bewußt &endash; in klassischer Weise vorgelebt hat, war nicht mehr im mütterlichen Kreis befangen, noch auf die väterliche Gerade verschworen: er bekannte sich zur Spirale als dem eigentlichen Formgesetz der Geschichte. Dem entspricht seine Formulierung des Doppelgesetzes der Söhne: er nennt Polarität und Steigerung die beiden großen Triebräder der Natur. In der Spirale sind beide am Werke zu sehen. Die Polarität aber ist der weiblichen Weltseite, die Steigerung der männlichen zugeordnet. Die Mütter suchen dauernd den Ausgleich. In diesem elementarischen Zug gründeten sie die erste gleichgewichtliche Welt. Die Polarität bleibt die Voraussetzung alles Gleichgewichtes. Die Väter zerstörten im Überdrang des anderen, des steigernden Elementes das erste Gleichgewicht. Sie mußten die Spannung bis auf das Höchste treiben &endash; sie trieben sie aber bis zur Spaltung. Die Söhne sind von den beiden Herkünften her polar gebaut. Doch es gibt für sie kein statisches Gleichgewicht mehr, wie es die Mütter in den zwei feststehenden Räumen der Erde und des Himmels ausgebildet haben. Der steigernde Zug der Väter geht in den Söhnen nur noch gesteigert weiter. Die Söhne sind nach ihrer Natur noch polarer als die Mütter und gesteigerter als die Väter. Es ist die in aller ihrer Einfachheit schwere Aufgabe der Söhne, den zu äußerst polarisierenden und zu äußerst steigernden Zug ihres Wesens zu integrieren, das heißt ineinander mächtig werden zu lassen. Die Söhne aber versagten bisher &endash; wenige vollmenschliche Geister wie Goethe ausgenommen &endash; in der Aufgabe, ein neues dynamisches Gleichgewicht zu schaffen.

Doch vielleicht noch erstaunlicher, weil völlig unerwartet, ist das Ereignis, daß selbst der abstrakteste Geist von heute, der der Neuen Physik, in seiner Rechnung wie in seinem Experiment zu demselben doppelseitigen Resultat kommt. Die Neue Physik ermangelt des »Doppelblickes« nicht, den Goethe pries. So mächtig sich der Geist der Wissenschaft bemühte, auf das von der Metaphysik geträumte Eine an sich zu kommen &endash; so übermächtig stellt sich ihm die Welt unabdingbar als polare, zugleich korpuskular-statische und wellendynamische dar. Innerhalb dieser polaren Grundwelt aber fällt aller Akzent der Neuen Physik auf die dynamische Wellennatur, denn dieser ist sie im Zug der sohnlichen Zeit verwandt. Auf dieselbe Weise spricht die Neue Physik von Licht und Materie, von Energie und Masse als von Erscheinungen, die aufeinander nicht zurückführbar sind, die jedoch derart miteinander verwandt sind, daß sie sich ineinander zu verwandeln vermögen. Die Betonung aber liegt auch hier gegenüber der immer ausgleichenden Materie-Masse dem Zeitalter der Söhne gemäß auf der Steigerung der Licht-Energie. Doch auch der leidenschaftlichen Betonung der energetischen Lichtnatur ist nicht gestattet, an die Doppelnatur der Welt zu rühren.

 

ZWEITES KAPITEL
POLARE WELT DES MYTHOS

Der mythische Doppelblick
oder die
Unechtheit der heutigen Zweckmythen

Der Mythos ist ein Weltspiegel. Er sagt, was im Grunde ist. Er sagt, was im Grunde geschieht. Er ist wahllos gegenüber dem Schicksal. Seine einzige Wahl ist die Symbol-Tiefe des Seins &endash; die Symboltiefe des Geschehens. Der Mythos hat keine Absicht, die über ein Spiegelbild hinausgeht. In ihm beginnen wir zu sehen. In ihm beginnen wir uns klar zu werden über die Welt.

Die Dichter allein folgen heute noch dem Gesetz des Mythos. Und sie waren denn auch in uralter Zeit seine Schöpfer. Sie verzeichneten seismographisch die Kurven der Seele in den Erschütterungen der Welt. Sie mochten ihre Striche verwesentlichen. Doch sie sagten nicht, was sie selber dachten oder was ihnen zu sagen aufgetragen war von den Mächten der Welt. Ihre geheiligte Natur bestand darin, das Gewordene, das Gegenwärtige und das Kommende zu sehen und zu sagen, was sie sahen. Was die drei Nornen an Schicksal spannen, das hätte nur eine frevelnde Hand in den oder jenen Anschein verkehren wollen.

Die mythische Zeit ist die mütterliche Zeit des Menschen. Auch wenn der Mann immer mehr in den Vordergrund tritt, der Mythos selbst zu einer Apotheose von Licht in Zeus, Apollon und Athene aufsteigt &endash; seine Art, die Welt im Bilde zu klären, ist weibliche Art. Darum hangen die Frauen noch heute an der Dichtung: es ist ihre Art, die Welt wie in einem Spiegel zu sehen und sich darin zu klären. Auch schon die mütterliche Welt will Aufklärung, doch sie will sie im Bilde, Vorbilde, Urbilde, nicht im Begriff. Der Roman, der späte Nachfahr des Mythos, der oft verkommene, gehört heute noch zur eigentlichen Bildung der Frau, der Bildung durch das Bild. Und der Roman kann heute noch, man denke etwa an die »Brüder Karamasow« Dostojewskijs, die seherische Gewalt des Mythos erreichen. Das ist kein erbauliches Buch. Es ist ein Buch voller Schrecken. Es ist der Mythos des Vatermordes. Doch es moralisiert nicht die einen zu Gerechten, die anderen zu Verbrechern. Es haben letztlich alle Brüder den Vater ermordet. Es ist das Vatermörderische in allen, wenn auch einer von ihnen zum Werkzeug des Schicksals wird.

Das hat den Moralismus der Vater herausgefordert, daß der Mythos keine Entscheidung kennt, kein absolutes Licht und absolutes Dunkel, daß er nicht sagt, was sein soll. Platon sogar, in dem die letzte griechische Kraft des Mythos treibt, verstand den Mythos nicht mehr. Er sah das mythische Ringen um Erkenntnis nicht. Er sah viel Schreckliches, aber nicht das, was sein soll. Er sah das Gute selbst nicht ausgesprochen. Darum verbot er die Dichter in seinem Staate. Darum versuchte er, Homer auszulöschen und die tragischen Dichter. Darum wurde er &endash; in seinem Eifer für das Gute und Gerechte an sich &endash; böse und ungerecht.

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Wer heute in der babylonischen Sprachverwirrung der Zeit von Mythos spricht, der denkt an eine von Wunschbildern benommene, wenn nicht betrunkene, ja besessene Menschheit. Es ist aber nicht gestattet, den Mißbrauch der ewig mythisierenden Seele des Volkes durch eine Zeit des rationalen Willens mit dem Mythos in seiner ursprünglichen Erscheinung in Verbindung zu bringen. Die sogenannten Mythen von heute können ihre Verkommenheit nicht verleugnen. Sie sind reine Zweckgebilde im Dienst der herrschenden Weltmächte. Sie sind der rationale Mißbrauch mit den irrationalen Affekten der Masse. Sie gehören samt und sonders zur schwarzen Magie, das heißt zur Willensbrechung und Vernunftberaubung des Menschen. Es ist die Ironie des Zeitalters der Vernunft, daß die rationalistischen Mächte, die heute die Welt beherrschen, nicht etwa nur zu terroristischen Zwecken, sondern in ihrer Aufklärung dem armen Einzelnen wie der Masse Mensch das Licht der Vernunft auslöschen.

Wenn die Massen die überlebensgroßen Bilder von Stalin oder Mao Tse Tung triumphierend vor sich hertragen, so erscheint dies wie ein nur modernisierter Kult der Verehrung von Götterbildern oder von christlichen Heiligenbildern. Auch der Namenskult, etwa die fortwährende Beschwörung des Hitler-Namens, scheint derselbe wie die magische Beschwörung der Namen Gottes oder seiner Heiligen.

Was vom Volk selber dabei ausgeht, mag irgendeine Verwandtschaft haben mit dem allem Volke eingeborenen magischen Namen- und mythischen Bilderkult. Das Volk bleibt immer dasselbe. Selbst, wenn es zur Masse wird, ist noch die Mutter in ihm. Das Volk sieht in den Bildern seiner Führer, hört in ihren Namen dieselbe gegenwärtige Mächtigkeit wie das frühe Volk und auch noch das christliche in seinen verehrten Bildern und gelobten Namen.

Und es ist auch mit den mythischen Bildern von je wie mit den magischen Namen eine uralten Wirkkraft verbunden. Wie in den mythischen Bildern so geschieht auch noch in den christlichen Heiligenbildern ein Aktus der realen Präsenz. Es braucht nur an die Lehre des Johannes von Damaskus erinnert zu werden, auf die sich die Ikonophilie gegen das Ikonoklastentum berief, daß Christus selber anwesend sei in jedem Christusbild, daß sein Ikon in das äußere Bild eingegangen sei. Die Bilder wirken. Es ist in ihnen wie in den Namen ein magisches Element. Bilder haben wie Namen ihr Maß an der Mächtigkeit ihrer Ausstrahlung. Wie die magischen Namen das Gehör, so bezaubern die mythischen Bilder das Auge. Nur Ästheten und Gelehrte später Zeiten wissen nicht mehr um das magische Element.

Und doch ist ein Unterschied des Grundes zwischen dem ursprünglichen Mythos und den sogenannten Mythen von heute. Was man heute in schlechter Sprache »Mythus« nennt, kann nicht verleugnen, daß es durchaus magischer Herkunft und mit magischen Absichten geladen ist.

Magie und Mythos aber sind schon im archaischen Raum zwei grundverschiedene Welten. Wohl ist noch in jedem mythischen Bild ein magisches Element, denn alle Welten sind letztlich ineinander mächtig. Mythos und Magie aber sind nicht zu verwechseln.

Die magische Welt ist die frühere. Sie entspricht der Zeit vor der Einpflanzung des Menschen in die Erde, der Zeit des jagenden Mannes. Magie ist immer Wille zur Macht. Es gibt eine weibliche und eine männliche Magie. Doch wie im Tier das Männliche vorherrscht in seiner Eigenmacht, so auch in der Magie. Der magische Wille ist Machtwille des Tieres Mensch. Nietzsche konzipierte seinen »Willen zur Macht« zugleich mit seine Tierbild des Menschen, der »blonden schweifenden Bestie«. Auch der magische Mensch hat Bilder geschaffen. Es ist nur an einen großen Namen zu erinnern: Altamira. In seinen Höhlenbildern erscheint das Tier, das zu jagende und der Jäger, der König der Tiere, der Mensch. Das Tier der Tiere ist hoch und schmal und schnellfüßig. Die Erde hat es noch nicht wieder. Die Bilder der Tiere sind von Pfeilen zerschossen: der magische Machtwille des Manntieres hat sie schon im Bilde erreicht. Es sind diese Bilder hohe Kunstwerke, ihr Sinn aber ist eindeutig ein magischer.

Ein Sprung über die Abgründe hinweg führt von der magischen Zeit des Mannes zur mythischen Zeit, die unter dem weiblichen Zeichen steht. Dem Menschen, der in die Erde eingepflanzt ist, geht es nicht mehr wie dem magischen Menschen um Gewalt, seine Welt ist die der Gestalt. Der Riesenschritt des Menschen von der Gewalt zur Gestalt ist der Schritt von der Magie zum Mythos. Der männliche Wille, die Welt zu zwingen, weicht langsam der weiblichen Willigkeit, sie hinzunehmen, wie sie im Grunde ist. Und demgemäß sind Unterschiede des Wesens zwischen dem magischen und dem mythischen Bild. Das magische Bild wird angegangen, das mythische Bild empfangen. Der magische Tiermensch will noch Macht über das Bild, der mythische Mensch erfährt die Macht des Bildes. Welten wechseln.

An diesen Kennzeichen sind die heutigen sogenannten Mythen unfehlbar als Ausgeburten der neuen Magie des machtwilligen Mannes zu erkennen. Die Fanatiker des Fortschritts im Westen wie im Osten sind ja daran, mit wehenden Fahnen zurückzugehen in die Zeit vor der jungsteinzeitlichen Revolution, das heißt in die primitivsten magischen Kulte. Die vermeintlich mythischen Bilder sind Embleme der Macht. Die zu Übermenschen &endash; heute in uneigentlicher Zeit verächtlich kitschig &endash; aufstilisierten Bilder von Zeitgenossen sollen Mut machen im gegenwärtigen Wettstreit. Sie sollen Freunde bestärken, Feinde beängstigen. Dazu dienten vor nicht sehr langer Zeit noch heraldische Tierbilder: Drachenköpfe, Bärenhäupter, Löwenmähnen, Adlerschnäbel, Flügel und Klauen. Das magische Element ist dem Mann im Menschen immer nah. Es folgt ihm auf allen Wegen der Macht. Es soll den Mann, den immer kriegerischen, kriegswild machen.

Doch auch das erkannte magische Element soll uns nicht täuschen über den eigentlichen Charakter der Zeit. Das magische Element dient als Waffe im ideologischen Großkrieg &endash; darin aber liegt heute das Zentrum. Die heutigen Mythen sind die durch Bilder verstärkten Ideologien der herrschenden Mächte. Die rationale Welt der Ideologie bedient sich der irrationalen Kraft der Magie. Zwei männliche Welten verbinden sich: die moderne ideologische und die uralt magische. Es sind beide Welten Kampfwelten. Und beide auf Macht gerichtet.

Es ist höchste Zeit, der Schindluderei mit der Sprache ein Ende zu machen, die das mythischer Welt Feindlichste mit dem Namen des Mythos zu nennen sich nicht scheut. Es haben alle Dinge ein Urrecht auf ihren ehrlichen Namen.

Die ursprünglichen Mythen sind empfangende Spiegelbilder der erscheinenden Archetypen des Kosmos, der Götter, der Heroen. Die vermeintlichen Mythen von heute aber sind Machenschaften des seine Willensziele verfolgenden Mannes. Es sind beschönigende Bilder der eigenen, verhäßlichende Bilder der Absichten der Feinde. Es sind nach Väterart Paradiesbilder der eigenen Welt, Höllenbilder der Welt der Anderen. Ein untrügliches Zeichen! Der echte Mythos hatte im Gegensatz zu diesen mörderischen »Mythen« von heute die Willigkeit der Seele, dem Wesen der Welt gemäß polar zu sein. Es denkt aber niemand polar, der eine andere Wirklichkeit »erledigen« will. Der ursprüngliche Mythos hat die Größe der mütterlichen Frau, die unter den Kindern nicht ausliest, die alle will. Wahllosigkeit ist die Grenze des echten Mythos, aber auch seine Grenzenlosigkeit. Der echte Mythos ist panisch.

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Wir müssen alle späteren Betrachtungsweisen, die der väterlichen und die der sohnlichen Aufklärung verlassen, wollen wir den ursprünglichen Mythos verstehen.

Auch der Mythos hat seine Zeiten, ist er doch ganz und gar Geschichte, wenn auch Geschichte des Übergeschichtlichen.

Er ist zuerst an die Mutter gebunden und damit an die Erde und an die Nacht und das Dunkel. Doch der frühe Mythos streitet nicht für die Mutter gegen den Vater, für die Erde gegen den Himmel, für die Nacht gegen den Tag und das Dunkel gegen das Licht. Sie sind noch nicht im Bewußtsein da, die lichteren Mächte. Es ist noch dichtes Dunkel um den frühesten mythischen Menschen.

Doch hellt sich die Seele auf, bekennt sich die mythische Seele willig zur Helle. Sie folgt dem Werden auf dem Fuße. Sie ist in der dauernden Genesis. So kommt eine zweite Zeit, eine Zwischenzeit zwischen dem Dunkel und dem Licht, eine Zeit des claire-obscure. Es ist die Zeit des Bundes von Erde und Himmel, von Gaia und Uranos. Das aus dieser Verbindung stammende Geschlecht der Titanen um Kronos und Rhea ist eine Welt von Paaren. Über den gewaltigen Müttern erscheinen gewaltige Männer, deren Kraft wild ist wie die der Elemente.

Die dritte Zeit bringt die große Läuterung der elementarischen Mächte, sie bringt den Sieg der »Neuen Götter«, der »Himmlischen«, die sich von den bisher übermächtigen Erdgottheiten ablösen. Zeus, Apollon und Athene bestimmen sie. Doch noch geschieht kein Ausschluß der Erde durch den Himmel. Es geht um ein reineres Sein, doch es geht ungebrochen um das Sein dieser Welt. In allen drei Reichen des griechischen Mythos geht es um Gestalten von Welten und Welten von Gestalten.

Einmal, in der kosmogonischen Zeit existierten sie friedlich miteinander, die Großen Mächte Himmel und Erde, Licht und Dunkel, Tag und Nacht. Mit dem Erscheinen der männlichen Götter aber beginnen wieder die großen Zusammenstöße, beginnt wieder der Krieg. Man hat dem Mythos nachgesagt, er sei furchtbar und unerträglich für gebildete Menschen. Doch es ist zu unterscheiden: Nicht der Mythos ist furchtbar, sondern der Kampf um die Herrschaft, der mit dem Übermächtigwerden der männlichen Götter wächst &endash; der Mythos verzeichnet nur das schreckenvolle Geschehen. Kronos entmannt seinen Vater Uranos. Zeus verbannt seinen Vater Kronos in den Tartaros, die Unterwelt, die noch tiefer liegt als der Hades, der Bereich der Toten.

Der Mythos erzählt diese grauenhaften, doch hintergründigen Geschichte. Er weiß um die Welt. Er macht sich nichts vor. Was wäre heute, da dieselbe männliche Welt in ihre Endphase tritt, anderes zu erzählen? Aber da er wissend ist, entgeht der Mythos, wenn auch mit knapper Not dem Schicksal, zur bloßen Claque der Erfolgreichen erniedrigt zu werden. Er ist nie nur die Geschichte der Siegenden, er bleibt immer die Geschichte der dauernden Mächte.

Es rettet den mythischen Menschen und vor allem den griechischen der Sinn für das Sein, das kein Werden zu zerstören vermag. Es geschieht noch genug an mörderischer Tat, doch sie hat eine Grenze am heiligen Sein der Welt. Der mythische Mensch ist beglückt über die Fülle, die ihm der Strom des Geschehens zuträgt, doch noch tiefer ist sein Glück, in allem Werden dem Sein zu begegnen, die Geschichte zuletzt erfahren zu dürfen als Mehrung an göttlicher Gestalt. Der Mensch ist allgemein das neugierigste aller Wesen, nach seiner Doppelnatur ist er jedoch zugleich verschworen wie kein anderes Wesen auf die Dauer. Er hält es im Stillstehenden nicht aus, doch er erträgt zuletzt auch nicht »der Erscheinungen Flucht«. Da wir heute nur noch das Flüchtige erfahren, erfahren wir wie kein anderes menschliches Geschlecht das Nichts.

Der tragische Mythos enthüllt den goetheschen Doppelblick des mythischen Menschen. Wer willig ist, der weiß in das Herz aller zu schauen. Aischylos bekennt sich zu Zeus. An seiner Frömmigkeit ist nicht zu zweifeln. Da er den »Prometheus« schreibt, könnte er den Frevler nach unserer Zeit Sitte »entlarven«, ihm den Prozeß machen, ihn richten. Doch Aischylos vollbringt ein Ganzanderes. Er sieht die Tragödie, in die sich der unreife Zeus verstrickt wie der unreife Prometheus. Er kämpft den heute unverständlichen Kampf für beide, für Zeus und für Prometheus. Weil er für beider ewige Bestimmung kämpft, kämpft er gegen beide, gegen die Willkür und Überheblichkeit des neuen Weltherrn und Weltvaters wie gegen die Unbotmäßigkeit und den Trotz des Prometheus. Der Mythos glaubt an das Werden zum Sein. Und so läßt er selbst einen Gott, den höchsten Gott in seine eigentliche Bestimmung wachsen: das ist ihm der Sinn des Widerstandes des edelsten der Titanen. Um Beide wissend und um Beide ringend, bringt Aischylos Beide weiter in der Seele des Menschen.

Ebenso gewaltig wie der Streit zwischen den göttlichen Männern, doch wohl noch bedeutsamer ist der Götterkrieg, den Aischylos in der »Orestie« aufrollt. Er darf es, er vielleicht als Letzter. Er weiß noch um beide Seiten: er steht nach seiner Schickung auf der Seite der »Neuen Götter«, der »Himmlischen« &endash; das aber hindert ihn nicht, um das uralte Recht der Erdgottheiten zu wissen. Nach aller fanatisch-männlichen Zeit Sitte könnte er die Überholten zu bösen Mächten an sich stempeln. Doch der Wissendere, weil Willigere, Offenere, weiß auch um die Ewigkeit der Gottheiten der Erde. Die Zeit hat sie überholt, in ihrem göttlichen Sein aber werden sie immer dauern. Ihrer fanatischen Rache als Erinyen, als »die Zürnenden« ist ein Ende gesetzt. Sie werden, was sie sind: Eumeniden, »die Freundlichen«, Segnende an Stelle der Fluchenden.

Die Mythe vom Chaos der ungründigen Welt

Der älteste Mythos der Griechen ist uns von Hesiod überliefert. Er zeichnete ihn in seiner »Theogonie« auf, als das olympische Reich schon längst feststand. So finden wir nur noch Fragmente vor &endash; diese aber lassen uns wie Stücke alter Teppiche den frühen Stil erahnen.

Wie später Aischylos als Tragiker der ältesten Zeit ihr Recht zu wahren verstand &endash; so bewahrte Hesiod die Treue im zähen Konservativismus des erdgebundenen Bauerntums. Erde und Himmel sind für den Bodenständigen immer da und mit ihnen die Nacht und der Tag. Und der Gedanke wäre unsinnig, unter den erschienenen Welten wählen zu wollen, die alten Zeiten aber wegzuwerfen wie alte Kleider.

In Homer lebt die dunkelfrühe Zeit nur noch in Andeutungen. Das Licht ist zu stark, das die olympischen Götter ausstrahlen: vor ihm treten die Erdgottheiten in den Hintergrund zurück und mit ihnen die Titanen. Man kann sie nicht mehr erkennen bei Homer &endash; für sie ist gegenüber dem größeren Dichter der treue Überlieferer Hesiod da. Doch auch Homer atmet weit in der mythischen Großherzigkeit. Seine Götter leben in den Sphären, die längst vor ihnen erschienen, von denen Hesiod uns Kunde gibt.

Denn Hesiod stellt die mythische Frage nach den anfänglichen Welten. Auf philosophische Weise nehmen die Vorsokratiker diese Frage später wieder auf: sie fragen nach der archç, dem Urelement, aus dem alles entstanden. Dies Fragen ist für die Griechen eigentümlich. Sie kennen keinen Schöpfer, auf den alles zurückzuführen werden könnte. Die griechisch-mythische Welt ist nicht erschaffen worden &endash; sie wird. Der Kosmos wird. Die Götter werden. Und selbst die Geschlechter der Sterblichen sind nicht erschaffen, auch sie sind geworden und werden. Die griechisch-mythische Genesis ist keine Schöpfung, ist Genealogie. Und wie in der magischen Genesis des Schöpfergottes sich die Frage erhebt, wie dies alles geschaffen &endash; so erhebt sich in der mythischen Genesis der Griechen die Frage, wie dies alles geworden. Diese Frage aber ist die des Hesiod nach der Weltwerdung, der Kosmogonie und der Gottwerdung, der Theogonie.

Was aber wird, sind Welten des Seins. Die Frage nach der ersten, der anfänglichen Welt ist keine Zeitfrage, ist eine Ursprungsfrage. Wo die Zeit regiert, kümmert sich niemand mehr um das, was vorher, was zuerst war, es sei denn, er hätte ein »historisches Interesse«. Darum geht es dem Mythos nicht. Wenn aber die Welten dauern, die erschienen sind, dann hat es einen Sinn, nach der Genealogie, der Geschlechterfolge der Welten zu fragen. Denn anders als für die zeit- und zukunftsbesessenen Söhne ist den Müttern und den Vätern das Frühere immer das den Ursprüngen nähere.

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Und so geht die Frage Hesiods an die Musen:

was als Erstes entstanden.

((o ti prôton genet' aytôn))

Der vielbedeutenden Frage gemäß ist die Antwort von archaischer Feierlichkeit:

Wahrlich, zuerst entstand das Chaos...

((Ç toi men prôtista Chaos genet'))

Diese Antwort erstaunt bei einem Griechen. Es ist im ganzen Griechentum, dem mythischen und dem logischen, ein leidenschaftlicher Zug zur wohlgeordneten, ja schöngefügten Welt. Das Wort Kosmos hatte ja noch den anderen Sinn eines Schmuckstückes, eines schönen Geschmeides.

Der Mythos aber ist bedeutsam, weil er auf der Erfahrung der Seele beruht. Er wagt nicht, wie später der Logos, die Welt nach seinem Gutdünken zu »setzen«, um einen Ausdruck Fichtes zu gebrauchen, in dem die logozentrische Willkür wohl ihren Zenith erreichte.

Die Antwort der Musen geht auf die nie alternde Erfahrung zurück, daß früher als alle Gestalt, alle morphç, das Ungestaltete, das Amorphe ist. Jeder an einer Welt Schaffende weiß dies, daß sich die Form immer aus aufblitzenden, doch noch bleibelosen Gesichten, aus kämpfenden Kräften, sich verdrängenden Elementen herausringen muß. Und er weiß, daß die gähnende Leere des Nichts überstanden werden muß, soll Raum für ein Kommendes sein.

Chaos ist für den mythischen Griechen ebenso das immer zu Überwindende &endash; und das immer Seiende. Da es aber immer ist, ist das Chaos ein göttliches Sein. Soweit geht die griechische Weite der Weisheit, daß diese, bei aller überwältigenden Leidenschaft für das Kosmische, das Chaos als göttlich erfährt.

Und wir wissen heute wieder darum: die Welt wäre dem Tod verfallen, wenn irgendeinmal das Chaos des Urgrundes überwunden wäre, wenn nicht plötzlich doch wieder alles in Frage stände, die Weltelemente in Aufruhr kämen, der empfängliche Schoß einer neuen Bezeugung bedürftig würde, der zeugerische Strahl die matrix suchte, das Gewordene wieder ins Werden zurückkehrte und das Seiende in das Nichtsein.

Die Mütter wußten noch darum. Sie erfuhren das Werdende. Das Werdende war ihr Sein. Sie kannten die Richtung nicht, wohl aber den ewigen Kreis. Die Väter sprangen aus dem Kreis in die Eine Richtung. Sie gingen daran, die ewige Ordnung der Welt zu schaffen. Sie waren immer am Endgültigen. Das Endgültige war ein werdeloses Sein. Die Söhne gleichen auch darin den Müttern, daß ihnen das Chaos immer nahe ist. Ja man muß sagen, daß das chaotisch Werdende bei ihnen mächtiger ist als das kosmische Sein. Die Väter hatten mehr ordnende, aber auch mehr weltverstarrende Macht, die Söhne haben mehr chaotische, aber auch mehr neuansetzende, eröffnende Macht.

Auch die Völker sind darin verschieden. Von den Deutschen ist zu sagen, daß sie beide Elemente zu äußerst in sich tragen, was sie für die anderen Völker rätselhaft macht: sie sind ewige Kinder des Chaos und vielleicht darum wie kein anderes Volk auf Ordnung bedacht.

Für den nordischen Mythos bezeugt denn auch Jakob Grimm in seiner »Deutschen Mythologie« dieselbe Uranfänglichkeit des Chaos wie bei den Griechen:

Vor erschaffung des himmels und der erde war eine ungeheure kluft, gap (hiatus, gaffen), mit verstärktem Ausdruck gap ginnûnga (kluft der klüfte) genannt zum begriff des griech. ((chaos)) stimmend. Denn wie ((chaos)) zugleich abgrund und finsternis scheint auch ginnûngagap die nebelwelt zu bezeichnen, aus deren schoß alle dinge sich erhoben.

Daß der nebelbrauende Norden das Chaos an den Anfang stellt, kann nicht verwundern. Daß die Griechen aber in einem lichtesten Lande dasselbe tun, müßte erstaunen, wenn wir nicht wüßten, daß auch sie aus dem Norden kamen. Und es darf auch nicht vergessen werden, daß der Mythos, anders als der Logos, noch wesentlich mitbestimmt wird vom autochthonen Volk, dem pelasgischen. Doch alle solchen Erklärungen geht die allen Völkern eigene Erfahrung der Seele voraus, die den Ursprung der bewußten Gestaltung und Bildung in dem der ordnenden Geisteshand noch entrückten Raum des Elementarischen weiß.

Alle in denen etwas wird, wissen um diesen Raum, den nicht geheuren, in dem noch alles durcheinanderwogt, nichts an seinem Platz ist, alles noch als undurchdringbare Finsternis erscheint, die nur von grellen Blitzen für Augenblicke überhell wird, um in noch tieferes Dunkel zu versinken. Alle, in denen etwas wird, wissen von diesem hocherregenden Zustand, in dem alles schon da ist und noch nichts.

Chaos ist sprachlich ein Neutrum. Das ist bedeutsam. Doch es will nicht heißen, daß es gegenüber den Potenzen der Geschlechter gleichgültig sein, sondern daß noch beide in ihm gestaltlos als namenlose Elemente treiben.

Das Chaos ist urmännlich. Man kann in die Versuchung kommen, es als die männliche Ursprungswelt zu bestimmen gegenüber der weiblichen, der Erde. Die wilde Grenzenlosigkeit des männlich Expansiven ist in ihm. Samentieren drängen mit peitschendem Antrieb vor. Das Sichverdrängen aller entspricht dem Andrang aller. Die chaotische Frühzeit des Menschen als des unbestimmt schweifenden Manntieres ist noch nah in der mythischen Vision des Chaos.

Wiederum aber ist man versucht, das Chaos als den ersten Mutterschoß aller Dinge zu sehen. Das Kluftartige, das Gähnende, das Dunkle weist auf den Schoß. Das Chaos ist der Urraum, den Leere bestimmt. Die Mutter aber ist der Urraum und ist die Große Leere. Das Chaos erscheint in diesem Betracht als die Gebärmutter, die matrix aller Welten, das Nichtssein zwischen Nichts und Sein, die Welt in Geburt, in den Wehen.

Doch wir dürfen uns nicht verführen lassen, das Chaos einem der Geschlechter zuzuschreiben. Das Chaos umfaßt beide Geschlechter &endash; darum ist es in jedem mächtig. Bevor Mutter und Vater als Urgestalten geboren, wogen sie ineinander als Elemente. Das Chaos ist fruchtbar. Es ist noch nicht die Landschaft des Segens, es ist aber das Urland, aus dem alle sichtbare, gebildete, plastische Landschaft hervorgeht.

*

Das Chaos ist ein Anfang der Welt &endash; doch es ist wiederum der Ursprung einer Reihe göttlicher Weltgestalten.

Aus dem Chaos stammt der Erebos, der Todesschatten und Nyx, die Nacht. Ein dunkles Paar, diese ersten und eigensten Kinder des Chaos.

Wir halten einen Augenblick den Atem an. Nach mythisch und unzweifelhaft mütterlicher Weisheit stammt die Welt aus dem Dunkel. Der frühe Mythos denkt aus dem Schoß. Es geht wie in aller Geburt, so auch in der Geburt der Welt zum Licht &endash; das Licht aber entsteigt dem Dunkel. Die Weltnacht geht dem Tag der Welt voraus. Weihnachten enthüllt die früheste Geburt des Lichtes. Und Jakob Böhme, der das Licht auf dunklem Grunde erstehen läßt, sah mehr als die Großen der antiken, der mittelalterlichen und der neuzeitlichen Aufklärung.

Es war nicht nur dunkler Muttervölker Wachtraum, das Licht aus dem Schoße der Nacht hervorgehen zu lassen. Die Griechen selber sind es, die das scheinbar Ungriechische mit ihrer mythischen Seele erfassen. Der nordische Mythos, der nicht von dunklem Volk bestimmt ist, steht im selben Zeichen. Jakob Grimm sagt in seiner »Deutschen Mythologie«:

»die edda läßt den tag erst aus der nacht erzeugt werden.«

Es war wohl die erste Erfahrung des frühen Menschen in allen Völkern, daß es dunkel sei auf der Erde, doch daß aus dem Dunkel als aus einem Schoß das Licht geboren würde.

Unzweifelhaft liegt hier eine Selbstbefangenheit der weiblich-mütterlichen Seele vor. Die Maya der Mütter läßt das anfängliche Weltgeschehen aus dem Dunkel des Weltschoßes hervorgehen. Die Genesis, in der Gott befiehlt: »Es werde Licht!«, ist dazu der genaue Kontrapunkt männlich-väterlichen Ursprungs.

Während aber die Väter immer ausschließlicher zum Lichte drängten, ein Zug, der heute noch mächtig ist unter den fortschrittlichen Söhnen, die in den ewigen Morgen marschieren &endash; gingen die Mütter nie soweit, jemals die Nacht an sich anzubeten, den Welttag abzuwehren und das Licht zu verfluchen. Hierin ist keine Gleichung unter den Geschlechtern. Immer schon drängte die Welt der Mütter aus dem Dunkel in das Licht. Isis, die dunkle Mutter, erwartet sehnlichst Osiris, den lichten Sohn. Erst heute in überwacher Zeit drängen die Novalis heim zur Nacht:

Abwärts wend ich mich zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnisvollen Nacht ...

Die romantischen Söhne aber, die die Mutter suchen, vergessen den gewaltigen Drang der Nacht in den Tag.

In der Genealogie Hesiods folgt denn auch auf das dunkelste Paar in erstaunlicher Geburt das lichteste: der Aithçr (( o aithçr)) erscheint, der Glanz der himmlischen Luft und die Hemera ((ç çmera)), das anbrechende Licht des Tages.

Das Dunkelste bringt das Lichteste, das Tiefste das Höchste hervor. Sehnsucht ist im Spiele. Himeros, ((o imeros)) die Gestalt der Sehnsucht des Eros. Kein Mittleres genügt der Sehnsucht. Der frühe Mythos ist schon in der zweiten Geburt aus dem Chaos im Raum der letzen Götter. Denn immer schon ist der frühe Mythos auf dem Wege von einem Pol zu seinem Gegenpol.

Der Aithçr ist das Element der letzten griechischen Götter. Zur Todestiefe ist er die Höhe des Lebens. Die Sphäre der plastischen Formung. Er ist das Element Hölderlins wie das der Griechen. Die gemeinsame Heimat. Gerne spricht der ursprünglichste mythische Mensch der Söhnezeit vom »Vater Äther«. Das Leben des Lichtes ist das Sehnsuchtsziel der Väter &endash; wenn auch nur Söhne es erreichen: Apollon, Christus.

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Doch die Nacht ist auch an ebenbildlichen Kindern reich. Sie gebiert sie aus sich selbst. Immer wieder geschieht im mütterlichen Raum die Parthenogenesis, die zeugungslose Geburt. Doch hier geht es nicht um eine Betonung der mütterlichen Selbstgenugsamkeit. Die Gewalten, die die Nacht gebiert, sind Wirklichkeiten, die mit ihr mächtig werden.

So gebiert die Nacht Moros, den alle Ereilenden und Ker, den Raffer und Thanatos, den Tod. Nicht weit von den Gewalten des Todes entstehen die Todähnlichen: Hypnos, der Schlaf und Oneiros, der Traum. Und nahe an den Gewalten des Todes erscheinen auch Momos, der Beschuldiger, und Oizys, die leidvolle Bedrängnis. Und nicht weit von diesen wiederum die Gewalt der rächerischen Vergeltung, die Nemesis, und Eris, die Streitsucht. Und eigentliche Kinder der Nacht sind auch noch die schmerzensreiche Mühe und Lethe, das Vergessen, die der Eris zugeschrieben werden.

Dies alles ist mit einem inneren symbolverständigen Sinn zu nehmen. Widersprüche sind nicht, wie dies von allzu logischen Geistern immer wieder geschah, todernst mit einem Entwederoder zu nehmen. Widersprüche sind meist nur scheinbar. So nennt Hesiod in seinem Katalog der Mächte, die aus der Nacht hervorgehen, auch die Moiren. Dies besteht zu Recht, wenn wir die Schicksalsgewalten nehmen. Und es ist keineswegs widersprüchlich, wenn sie als Schicksalsmütter, das heißt als personhafte Wesen, in eine andere Genealogie, die der Mutter Erde gestellt werden. So erscheinen die Moiren bei Hesiod an anderer Stelle als Kinder der Themis, der mütterlichen Gottheit, die gerecht die Lose verteilt.

Doch auch schöne Töchter, sternenhafte, nennt Hesiod als Kinder der Nacht: die Hesperiden, die

kostbare goldene Äpfel an fruchtbaren Bäumen ziehen.

Und wir wollen nicht vergessen, daß aus der Nacht und dem Todesschatten unmittelbar die Geburt des leuchtenden Tages und der glänzenden Himmelsluft geschieht. Im Chaos wohnt alles nah beieinander, ja in ihm flutet alles ineinander ohne die Trennungen der offenbaren Welt. Und man kann sagen, daß die Frau immer noch dem anfänglichen Ineinander der Welt näher steht als der Mann, der auf den scharf trennenden Tag zugeht. Und es ist eines der vielen Zeichen der wiederkehrenden Mütter, daß wir heute in dem immer noch Kundigsten, der Kunst, die logische Welt verlassen: es gibt heute ein vielentdeckendes heraklitisches Wissen um das nahe Beieinander, das untrennliche Ineinander der gegensätzlichsten Kräfte, die unvereinbar aller Synthese spotten und doch nie von ihrem verwegenen Spiele lassen.

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Doch das Übergewicht der dunklen Mächte des Chaos darf dadurch nicht in Frage gestellt werden. Schon Hesiod sagt: ((to chaos zopheron)), das finstere Chaos. Und soweit die Welt der Mütter reicht, überwiegt die dunkle Sphäre der Welt. Die Welt ist Schoß. Die Welt ist Höhle. Die Sphäre der Nacht ist die eigentliche Sphäre der Mütter. Und auch jetzt noch gehen die Männer, die Täglichen, jeden Abend in die andere Sphäre, gehen wie Kinder in die nächtliche Mutter zurück.

Wir erfahren &endash; anders als der frühe Mensch &endash; die Wohltat der Nacht. Wir sind gejagt von scharfen Entscheidungen, die höchstes, angespanntestes Bewußtsein verlangen. An den Nerven der Zeitgenossen zerrt der Tag mehr als die Nacht. So spüren wir auch die Mütter wieder als Mächte, die uns vom Krampf des Tages lösen und erlösen. Und es ist gut, wenn die Sprache dem folgt und nicht mehr, wie im Zeichen der Väter und ihrer aufklärerischen Söhne, dem Tag alles Gute, der Nacht alles Böse zuschreibt.

Der frühe Mensch aber ist von Düsternis dicht umstellt. Da er innen nicht zum Licht durchdringt, ist auch die Welt für ihn finster. Und ohne die Waffen des Lichtes erleidet er ohnmächtig die dunklen Gewalten. Und so spricht schon Hesiod von der ((nuks oloç)), der »verderblichen Nacht«. Und wenn wir auch bedenken, daß schon ein Späterer in ihm spricht, so wissen wir doch, daß er der Ewige Bauer ist, der von Allem Abhängige und daß er dem welterleidenden Typus des Menschen, dem pathischen, aus dem Herzen spricht.

Der Mensch sucht immer, dem ungründigen Chaos zu entgehen. Der erste Grund erscheint ihm in der festen Erde.

Die Gegenmythe von der gründigen Erde

Hesiod spricht außer vom Chaos noch von einer anderen anfänglichen Welt: von Gaia, der Erde, der Mutter der Mütter:

Wahrlich, zuerst entstand das Chaos und später die Erde,

Breitgebrüstet, der Sitz von ewiger Dauer für alle

Götter, die des Olympos beschneiten Gipfel bewohnen

Und des Tartaros Dunkel im Abgrund der wegsamen Erde.

Es ist nun aber ein Streit darüber, ob das heiße, Gaia, die Erde sei als das Spätere aus dem Chaos geboren oder sie sei der andere spätere Anfang. Wer ein Interesse daran hat, das Chaotische der Erde zu betonen &endash; und das haben die Väter und alle anderen Verächter des erdlichen Ursprungs bis heute &endash; der liest den völlig klaren Text auf seine Weise: die Erde sei, weil später entstanden ein Kind des Chaos.

Nun aber sagt, das »später« ein anderes aus. Es entstehen zwei Anfangswelten, eine früher, eine später. Und mit der Unfehlbarkeit des Mythos wird dem Chaos das »Früher«, der Gaia das »Später« zugeschrieben. Beide aber entstehen als die zwei Wurzeln urverschiedener Stammbäume. Die Genealogie des Chaos und die der Gaia werden denn auch getrennt aufgeführt. Vom Chaos heißt es:

Aus dem Chaos entstanden die Nacht und des Erebos Dunkel; Aber der Nacht entstammten der leuchtende Tag und der Aither. Schwanger gebar sie die beiden, von Erebos Liebe befruchtet.

Von Gaia, der Erde aber wird gesagt:

Gaia, die Erde erzeugte zuerst den sternigen Himmel

Gleich sich selber, damit er sie dann völlig umhüllte,

Unverrückbar für immer als Sitz der ewigen Götter...

Es braucht viel interpretatorische Kunst, um diese zwei unverwechselbaren Genealogien durcheinander zu bringen.

Es liegt jedoch im männlichen Denken begründet, nur Einen Ursprung und nur Einen Anfang anzunehmen. Das weiblich-mütterliche Sehen bildet dazu den genauen Kontrapunkt: die mütterliche Welt ist polar und polar ist darum Ursprung und Anfang.

Gaia erscheint als Gegenpol zum Chaos. Sie ist dem chaotischen Wirbel gegenüber das Gesetzte, dem Unbeständigen gegenüber das Beständige, dem Ungründigen gegenüber das Gründige. Darum kann sie zum »Sitz ewiger Dauer für alle Götter« werden, für die auf dem Olympos, für die, die im Tartaros hausen.

Die Welt geht auf zwei Urwelten zurück, auf eine immer unfeste, aber dafür zu jedem Neubeginn fähige, und auf eine feste, aber leicht sich »zum Starren waffnende«.

Als Faust nach der Kerkernacht und der Hinrichtung Gretchens völlig zerstört ist, da rettet ihn die Mutter, die Erde. Er erwacht zu neuem Leben in »anmutiger Gegend«, »auf blumigen Rasen gebettet«, und er spricht die Kindesworte des Mannes dankbar aus:

Du, Erde, warst auch diese Nacht beständig.

Das ist das andere Welt-Sein und die andere Seins-Welt, die der Mythos meint, wenn er von Gaia, der Erde, spricht.

Die Genealogie der Gaia ist von Anfang an viel persönlicher als die des Chaos. Aus ihr gehen alle späteren Götter hervor. Auch die Nacht, die Tochter des Chaos, ist mütterlich, denn im Chaos ist alles. Doch die Nacht ist bei aller göttlichen Wesenheit und Wirklichkeit mehr göttliche Sphäre als göttliche Person. Und dasselbe gilt vom Erebos, dem Todesschatten, vom Aithçr, dem Glanz der himmlischen Lüfte und von der Hemera, der anbrechenden Gottheit des Tages. Die Erde aber trägt der Mutter höchst persönliche Züge.

Wenn wir daran denken, daß das Reich der Mütter entstand, als der Mensch in die Erde eingepflanzt wurde, so wissen wir auch, daß die Erde eine Festung bedeutete gegen das grenzenlos ausbrechenden Chaos. Die Hesiodische Gegenstellung der zwei Anfangswelten erhält zum ersten Male ihren Ursinn. Die mythische Geschichte der Menschwerdung des Menschen verbietet kategorisch, die Erde zum Kind des Chaos zu machen. Die Erde ist die erste Gegenwelt gegen das wilde gesetzlose Chaos.

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Wir könnten uns von den Müttern kein falscheres Bild machen, als wenn wir sie als weiche Mütterchen sähen, die das Kind Mensch verzogen. Die Mütter waren die strengsten Regenten des Menschen.

So fest wie die Erde gegen das Chaos mußten die Mütter gegen das chaotisch-schweifende Tier Mensch sein, um es in eine göttlichere Ordnung zu zwingen. Sie waren die Ersten, und ihr Kampf um den Menschen war ein grausamer Nahkampf, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Den Müttern ging es wirklich um die Existenz des Kindes Mensch &endash; nicht wie unseren Existentialisten um ihre brüchige Existenz, um das Stück Willkür, das ihrem Ausleben noch möglich ist. Wie ein Kinderspiel mutet schon das Leben der späteren Götter, der Olympischen an gegen den grauen, ja auch grauenvollen Ernst der Mütter.

Das war das erste und einzige Gesetz, das die Mütter dem jagenden, raubenden und kriegenden Mann entgegensetzten: Es darf kein Blut mehr vergossen werden. Wer Blut vergißt, den verfolgen wir, bis er selber sein Blut läßt. Wer nicht Friede wahrt, der sei friedlos. Nicht die »Gesellschaft« sprach so. Die »Gesellschaft« bestand aus Wölfen. Und nicht die kluge Verträglichkeit sprach so, um so zu einem Vertrag zu kommen. Nicht das »Interesse aller« sprach so. So sprachen die Mütter. Sie sprachen so um ihrer Kinder willen. Sie sprachen so um ihrer Familie willen, um der kleinen engsten, um der größeren der gesamten Sippe. So sprach das gewaltige Herz der Mütter.

Schon die Väter verstanden diese Sprache nicht mehr. Der kategorische Imperativ hatte sich ausgewirkt. Die uralte Wildheit war zwar gebrochen, doch die Freude der Männer am Kampfe blieb. Es ging nie ganz in sie ein, was die Mütter von ihnen verlangten.

Und die Söhne sind noch viel ferner. Doch jetzt geschehen Dinge, die die Sprache der Mütter wieder verständlicher machen als je. Die Bestie Mensch war immer da, nun aber ist sie ausgebrochen und bedroht den Menschen im Menschen. Und es könnte einem Geschlecht, das nichts als Krieg, Völkerkrieg und Volkskrieg erfährt, aufdämmern, was die Mütter gewesen, die sich wie Löwinnen schlugen und die es tatsächlich fertig brachten, das ausgebrochene Raubtier Mensch in übermenschlich göttliche Fügungen zu stellen. Wir, nach zehntausend Jahren, könnten die harte Sprache der Mütter wieder verstehen, die nicht nur Friede sagten und Krieg waren wie die Männer heute, die Friede wollten, weil sie Friede waren. Von allen menschlichen Typen ist nur die Mutter Friede. Friede spricht ihre Sorge und Angst. Friede spricht ihr Mut. Friede spricht ihr Recht. Und Friede will noch ihre Rache. Und auch die heutigen Frauen könnten die Sprache der Mütter verstehen, wenn sie nicht vernarrt waren in die Rechte der Männer. Wenn sie bei sich selber wären und aus sich die Dinge beurteilten. Wenn sie sich nicht verführen ließen von den immer prachtvoll dahinredenden, versprechenden Männern und ihren verschlagenen Ideologien.

Heute verkündet ein Mann wie der Doktor Schweitzer, einmal mit Wort und Tat, der frühere Theologe als Urwaldarzt: »Ehrfurcht vor dem Leben!« Und er beruft sich dabei auf den, dem es gelang, Mensch zu sein, Goethe. Er weiß vielleicht nicht, daß er die älteste Botschaft wiederholt in ähnlicher Weltsituation. Das war die große Lehre der Mütter. Das war der Atem ihres Lebens. Ehrfurcht vor dem Leben: das lehrten sie, das lebten sie dem Kinde Mensch.

Doch das ist ihr Tribut an die frühe Zeit: wurde ihr Gesetz gebrochen, dann wurden auch die Milden wild. Dann rasten sie gegen den unholden Mann. Dann wurden aus den Eumeniden, den Freundlichen, Erinyen, Zürnende. Dann wurden aus denen, die die Dämonie des Mannes bekämpften, Dämonen. Dann mußte Blut fließen. Und die, die das Blut heilig sprachen, tranken wohllüstig Blut.

Nur kein Sentimentalismus, wenn der Name der Mütter genannt wird. Es wäre keine Weltwende geschehen, wenn nur Sentimentalität wie heute der Brutalität des Mannes begegnet wäre.

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An ihren Gottheiten könnt ihr sie erkennen. Die Großen Mütter sind von einer Unerbittlichkeit, die gegen alles Mütterliche schreit. Sie sind unverständlich ohne die Voraussetzung, die wir hier aufdecken: daß sie die ersten Bollwerke schufen, die den im Manne eingefleischten Geist der Willkür zu brechen hatten. An ihrer Furchtbarkeit ist die der vorgängigen Zeit des »Wilden Mannes« zu ermessen.

Die Töchter der Nacht, die Moiren oder Parzen sagen, daß sie es seien, die den Lebensfaden spänen und abschnitten. Und die Aïsa sagt, daß sie es sei, die jedem sein Los zuteile. Und die Themis, die Tochter des Uranos und der Gaia sagt, daß es ein Recht, eine Ordnung, eine Sitte gäbe, die niemand ungestraft verletze. Und die Dike sagt, daß nach Gerechtigkeit vergolten werden, Maß für Maß. Und die Ananke sagt, daß alles nach eherner Notwendigkeit geschehe. Und die Adrasteia sagt, daß dem Weltgesetz nicht zu entrinnen sei. Und die Nemesis sagt, daß sich alles räche und daß alles gerächt werde. Und die Heimarmene sagt, daß alles Schicksal sei, gutes Geschick, Ungeschick nach dem Gewebe der Schicksalsmütter. Es sind viele Namen, und es ist schwer, einer jeder der Gottheiten ihr besonderes Wort zuzuweisen, denn zuletzt sagen alles dasselbe: Der Mensch kann nicht tun, wie er will. Er hat sich zu fügen in ein größeres Leben. Er hat nicht in das Grenzenlose auszuschweifen, sondern sein ihm zugewiesenes Geschick zu erfüllen.

Die Namen aber gehen ineinander über, denn es ist im Grunde nur Eine einzige panische Gottheit, in der alles beschlossen ist. Die Mütter kennen nur Eine personhafte Gottheit, die Mutter &endash; und diese Eine ist vollkommen unpersönlich. Sie ist aber unpersönlich, um den Menschen von seinem Abgrund, einer Willkür, wie sie kein Tier kennt, zurückzureißen und in die menschlichere Bahn zu bringen, die Bahn heiliger unverbrüchlicher Ordnung. Die Mütter zähmen den maßlosen Mann durch die Bilder und Namen der allgewaltigen Mächte.

Die Macht der Muttergottheiten ist offensichtlich. Es ist den Müttern wirklich gelungen, die Macht des Schicksals gegen alle männliche Eigenmacht durchzusetzen, die der Unsterblichen wie die der Sterblichen. Das Schicksal waltet auch im Reiche der »Neuen Götter«, der »Himmlischen«. Vergeblich versuchen die Späteren, den Göttern, vor allem aber Zeus, da er nun doch Weltherr geworden, die Lose in die Hände zu geben. Es kann nicht gelingen. Ein anderes ist Schicksal, ein anderes Herrschaft. Den Müttern eignet das Eine, den Vätern das Andere. Die Aïsa Dios ((aisa Dios)) ist ein hölzernes Eisen. Der untaugliche Versuch erweist sich in den homerischen Ausdrücken, die Götter würden Glück und Unglück »spinnen«. Das Bild des »spinnenden« Zeus tötet sich selbst durch seine Lächerlichkeit. Die Mütter spinnen. Die Moiren bleiben die großen Spinnerinnen. Homer wechselt denn auch beständig im Ausdruck. Bald ist es die Moira allein, bald die Moira und einer der Götter. So sagt Patroklos, als im Hektor die Waffen wegnimmt, zu dem Siegenden, daß nicht er ihn erschlagen, sondern die verderbenbringende Moira und der Sohn Letos. An solchen Verbindungen fehlt es nicht, in denen die Götter die Vollstrecker des Schicksals werden. Und nur schüchtern und vereinzelt wagt sich ein dritte Auffassung hervor, die den Göttern, im besonderen Zeus, die Schicksalsmacht ausschließlich in die Hand gibt.

Wie die Dinge bei Homer stehen, verrät am prägnantesten das Schicksal Hektors. Die Götter sind uneins im Kampf um Troja. Zeus und Apollon stehen zu Troja, Athene mit Hera und Poseidon zu den Griechen. Doch über allen steht das Schicksal, durch das der Untergang der Stadt des Priamos beschlossen ist. Und als die Schicksalsstunde Hektors nahe ist, da jammert es Zeus, den untadeligen Helden, der sich immer ergeben seinem Ratschlusse fügte, verderben zu lassen. Er wendet sich an die anderen Götter mit dem Vorschlag, Hektor zu retten. Da aber geht ihm Athene, die Lieblingstochter, scharf an, was ihn ankomme, dem Schicksal in den Arm fallen zu wollen. Zeus muß einsehen, daß es nutzlos wäre. Denn kein Gott, auch der höchste, kommt auf gegen das Schicksal. Das aber steht in der Götter Macht, zu verhüten, daß etwas über das Schicksal hinausgeschehe ((yper moron, yper moiran)). So prüft Zeus die Waage des Schicksals, daß sein Held nicht vor seinem Schicksalstag falle, dem ((aisimon çmar)). Die Waagschale Hektors fällt, die des Achilleus steigt. Das Schicksal des Priamossohnes ist besiegelt. Von demselben Augenblick an darf Apollon, der treue Helfer Hektors, nicht mehr an dessen Seite sein &endash; das wäre gegen das Schicksal. Und von demselben Augenblick an darf Athene, die göttliche Feindin, tun, was sie schon lange im Sinn hat, sie darf Hektor in den Tod treiben. Die Göttin täuscht ihn, indem sie einen mächtigen Waffengefährten an seiner Seite darstellt: so gibt sie ihm den Mut ein, Achilleus zu bestehen. Sobald der Kampf im Gange ist, ist sie verschwunden, Hektor allein gegenüber seinem übermächtigen Gegner. So vollstreckt sie das Schicksal. Soweit reicht also noch bei Homer die Macht des Schicksals. Eine neue Welt ist da mit den »Neuen Göttern« &endash; doch in ihren helleren Tag hinein ragt die unheilschwangere Wolke der vorausgehenden Welt: die Allmacht des Schicksals.

Das ist in die Geistesverfassung des Menschen eingegangen. Das gilt in Germanien wie in Griechenland. Die Nornen stehen über den Göttern wie die Moiren. Und das gilt selbst über Zeiten hin, als längst der Christengott herrschte, der nach seiner alt- und neutestamentlichen Tradition kein Schicksal kennt, nur seinen Willen. Und das dunkle Gefühl, daß über uns schicksalige Mächte walten, hat auch alle Aufklärungen überlebt. Und selbst heute, da der eigene Wille in ungeheuren Dammbrüchen wieder durchgebrochen ist, gebiert die ewig leidende, die pathische Nacht immer wieder die Moiren, die Schicksalsgewalten.

*

Das nie zu vergessende Positivum der Macht des Schicksals hat selbst noch Homer auszusprechen gewußt. Es geschieht dies an einer bedeutsamen Stelle der Ilias. Apollon schilt die Götter, untätig zuzuschauen, wie Achilleus den toten Hektor schände, indem er den Leichnam um dessen Vaterstadt schleife:

... er weiß wie der Löwe nur Wildes,

Der, gereizt von gewaltiger Kraft und trotziger Kühnheit,

Ein in die Herden der Sterblichen bricht ...

Apollon ist die Trauer, ja der Zorn um des Freundes Tod, um Patroklos verständlich. Aber, so sagt er, der Mensch hätte gelernt, Trauer zu ertragen, ohne in uralte Wildheit auszubrechen. Und in diesem Zusammenhang preist Apollon den duldenden Sinn, den die Moiren dem Menschen gelehrt:

Denn ein geduldiges Herz verliehen die Moiren den Menschen.

((tlçton gar moirai thymon thesan anthrôpoisin))

An dieser Stelle spricht Homer sogar nach alter Weise von den (drei) Moiren, während er sonst stets das spätere und abstraktere Moira braucht. Die großen Zusammenhänge liegen klar vor unseren Augen. Apollon verlegt dem Menschen, auch dem heldischen, den Rückweg in das wilde Tier. Er anerkennt die Tat der Mütter, die Stiftung des duldenden Sinnes, der immer auch der duldsame ist. Die Götter gehen in Apollon weiter, nicht zurück &endash; er weist ihnen den Götterweg.

Sonsthin kennt Homer diese Schätzung der alten Mächte nicht mehr. Die Moira oder Aïsa bleibt bei ihm mächtig, gewaltig &endash; doch sie ist böse. Hesiod weiß in seiner »Theogonie« noch um beide Seiten des Schicksals, um Glück und Unglück:

Auch gebar sie die Moiren, die Zeus, der Berater, am höchsten

Ehrend achtete: Klotho und Lachesis, Atropos; diese

Sind für den sterblichen Menschen die Geber des Guten und Bösen.

Bei Homer bringt die Moira nur noch Unglück und Verderben. Sie bedeutet Tod.

Es ist immer wieder zu erfahren: die Späteren wissen nicht mehr zu ermessen, worum es den Früheren ging, denn sie sehen nicht mehr in das Herz des Glaubens, der diese einmal bewegte. Ja, in den Augen der Späteren wird leicht dämonisch, was einmal göttlich war.

So sehen die Späteren auch vom Reiche der Mütter nur noch das große Negativum, den Riesenschatten des Todesschicksals über der Erde des Menschen. Kein Licht dringt mehr durch die Finsternis des Vergessens. Alles Licht fällt auf die »Neuen Götter«, die »Himmlischen«: diese erscheinen als das Leben &endash; die Erdgottheiten als der Tod. Als ob die Erde nur Tod gebären würde, nicht auch Leben, ja übermächtig, in einer ungeheuren Frenesie Leben.

Doch es sind nicht nur die Späteren, deren Augen erblinden für den Glanz des ursprünglichen Glaubens, den sie nicht mehr zu sehen vermögen. Es gibt auch ein Sterben des Glanzes in jeder gläubigen Welt, ein Erblinden und Erkalten der Sonnen, die einmal den Menschen erhellt und erwärmt und befruchtet haben.

Es ist offensichtlich, daß auch die Welt der Mütter sich verfinsterte. Es ist eine dunkle Welt, doch ihre Strahlung ist mächtig. Die Seele des Schoßes ist eine gute Sonne wie der Schoß der Seele. Es ist eine dunkelglühende Sonne, die zur schwarzen Sonne des Todes wurde.

Der Terror der Muttergottheiten ist offensichtlich. Sie halten den Menschen, indem sie ihn schrecken. Sie haben das Schrecklichste in den Händen für die Sterblichen: das Todesschicksal. Alles, was am Menschen feige Kreatur ist, duckt sich devot unter dem drohenden Schatten. Der Mensch duckt sich und haßt doch zugleich die bedrückende Luft. Und was männlich und aufrecht am Menschen ist, das ertrug sie nie, die schwarzen Mächte.

Deren Schatten füllten immer noch die Kirchen. Denn die Väter sammelten die devoten Seelen. Die Kirche der Väter lebt von den Müttern. Sie bilden die großen Massen der Unterwürfigkeit. Wie die Mütter lieben, Kreaturen zu sein, so lieben die Väter, Kreaturen unter sich zu haben. Und als ob die Kirche wüßte, wer ihre Heerscharen wären, bekleidet die Neue Mutter ihre Priester mit Soutanen.

*

Wohl reizt der furchtbare Spuk der Gespenster, die nicht sterben können und doch schon lange gestorben sind. Und es erregt das Augenverdrehen. Das Rächerische des Toten. Der böse Blick. Das Hexenhafte. Doch wir überlassen es frechen Naturen, die schwarzen Heere der Bigotten zu verhöhnen.

Wir glauben an das Herz der Mütter. Kein Schatten vermag ihre Sonne zu verhüllen. Wir gebärden uns nicht groß gegenüber den Armen, wir wissen, daß sie einmal reich waren. Wir wissen, daß sie einmal waren, was sie für die Ewigkeit sind: Quellen des Lebens, Quellen des Segens.

Doch, was ist geschehen mit den Müttern, daß sie zu Priesterinnen des Todes wurden? Wie konnten die, die das furchtbarste Tier, das Tier Mensch überwanden, statt des Großen Mordes den Großen Tod anbeten? Wie konnten die Mütter, die den Terror des Manntieres Mensch brachen, das erste »Heilige Amt« der Großinquisition begründen, den Terror des unentrinnlichen, schergenhaften, des bösen Todesschicksals? Wie konnten Mütter, Mütter dazu kommen?

Wir haben nicht zu richten. Es muß eine jener großen Verkehrungen alles Positiven in das Negative geschehen sein, der wir auch in allen Religionen der Väter und in alle Revolutionen der Söhne begegnen.

Noch ist die Verkehrung der Urimpulse, die zur Christenheit führten, in ihrer heillosen Unüberwindlichkeit vor unseren Augen &endash; und schon geschieht auch die Verkehrung des Antichristentums, das vom schwarzen Christentum gerufen wurde. Und noch seufzen die Völker unter der Last ihrer Religionen &endash; und schon ist die Menschenwelt voller Seufzer und Tränen, voller Schweiß und Blut unter neuen Peinigern, unter der Last unserer Revolutionen.

Ein fatales Geschehen durchzieht die ganze Geschichte des Menschen. Und der törichte Sinn kann sich &endash; vor dem eigenen Fatum blind &endash;, selbstgerecht empört, nicht genug darin tun, die Fatalität der Anderen zu verfluchen.

Das Herz der Welt durchbrach selbst einmal die mächtigsten Mauern &endash; die verhärteten Herzen der Gerechten &endash;, doch die Christen sind nicht weniger selbstgerecht pharisäisch geworden. Das Herz der Welt kam als das Licht und das Leben &endash; seine Verkünder aber terrorisierten den Menschen mit Tod und Hölle. Die Botschaft der Christen ist eine Frohbotschaft &endash; das Christentum aber wurde zur schwarzen Welt des Todes. Das Wort ward Fleisch &endash; es ist aber wieder zum harten »Wort« geworden, mit dem »bewiesen« wird und wie mit Waffen Kampf geführt. Die Gnade, das heißt die nicht rechnende Liebe, kam in die Welt &endash; wer aber das Christentum von heute, von den längst Erkalteten und Verhärteten, etwa von den Eiferern des »Zornigen Gottes« verstehen wollte, wie sollte er von ihnen aus die ursprüngliche Verkündigung zu ermessen vermögen: Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn dahingab...

Doch wir würden auch das Judentum völlig falsch beurteilen, sähen wir es nur in den traurigen Überresten, den »Schriftgelehrten und Pharisäern«, den Feinden Jesu Christe, sähen wir die große Gotteszeit der Propheten nicht und nicht die Geburt des gewaltigsten Gottes.

Nicht anders als die späteren Christen, so glaubten auch die Gerechten Israels, hart sein zu müssen, den Bund zwischen Gott und seinem Volk wie eine Festung auszubauen, das Himmelreich zu verschließen vor den Nichtbefugten, den zudrängenden Sehsüchtigen und Hoffenden. Und nicht anders als die späteren Christen glaubten auch schon die Juden an die »Notwendigkeit«, unerbittlich sein zu müssen, sich zu verpanzern gegen den »altbösen Feind«.

Das Christentum hat kein Recht mehr, sich über das Judentum zu erheben. Die römische Kirche hat sich aus »Notwendigkeit« zum Staat gemacht, hat den Heiligen Geist, der weht, wo er wehen will, in das Amt befohlen. Und in der glühendsten Revolution der Christenheit, der Deutschen Reformation, geschah es im Zeitraum Einer Generation, daß die »Notwenigkeit« befahl, sich an das »Wort« und die »Schrift« zu halten als die ausschließlichen Zeugnisse des Heiligen Geists.

Und würde man die Französische Revolution nach der Terreur fragen, so würde sie mit den Achseln zucken und antworten: Die Notwendigkeit gebot den Terror &endash; das Ancien régime mußte ausgerottet werden. Und Rußland &endash; das alte Land des Fatums &endash; war nur noch hemmungsloser in seiner revolutionären »Notwendigkeit«. Und dieselbe »Notwendigkeit« befahl das disziplinierteste Volk in die wesensfremdesten Verbrechen, die den Namen der Deutschen dämonisierten.

Alle, Religionen und Revolutionen glauben an die »Notwendigkeit«, hart zu sein. Handkehrum aber ist das glühende Herz selber hart. Und kein Empfänger göttlicher Impulse mehr. Und der Tod an Stelle des Lebens. Und die Finsternis, das Undurchdringliche an Stelle des Lichtes. Und die Selbstgerechtigkeit an Stelle der Gerechtigkeit und Liebe. Und Tod und Teufel an Stelle Gottes.

Die Welt fordert Panzer. Kein Herz erträgt sie ohne Vorwerke, Befestigungen nach außen. Selbst die größten Mächte bedürfen der Abwehr. Das steht nicht in Frage. Wer nicht hart sein kann, der kann auch nicht weich sein. Das zarte Zentrum ist leicht zerstörbar.

Auch Bäume schützen sich mit harten Rinden. So schützen sie den Aufstieg der Säfte. Um des Weichen willen ist das Harte selbst bei der Pflanze not. Ein anderes aber sind die Rinden, ein anders ist die Verholzung. Ist das Innere verholzt, so gehört der Baum ins Feuer.

Wir haben die Weisheit der Bäume noch nicht erreicht. Wir wissen noch heute nicht, was für ein Baum selbstverständlich ist, die Vereinigung der Härte und des Weichen, die äußere Härte um der inneren Weichheit willen. Und doch hängt alles davon ab, ob wir dies vermögen, nach der »Notwendigkeit« der Welt hart zu sein, doch Herz zu bleiben, frei von Panzerung, Festung, Verhärtung, Tod.

Vielleicht wissen wir es heute weniger als je. Wir glauben hart und kalt werden zu müssen, um der harten und kalten Hölle Welt gewachsen zu sein. Und plötzlich ist die Hölle Welt in uns. Wir sind heute, gerade in diesen Jahren, in einem fast unentrinnlichen Sog in die Ewige Tragödie.

Ist es unbillig, den Müttern zuzugestehen, daran gescheitert zu sein, woran wir immer gescheitert sind und gerade heute scheitern? Ist es unbillig, den Müttern die Würde des Tragischen zu gewähren, die wir aller männlichen Geschichte, den väterlichen Religionen und sohnlichen Revolutionen zuerkennen? Sprachen wir nicht von »Notwendigkeit«, unter deren Gebot sich alle bisherigen Welten des Menschen stellten, an deren Härte alle bisher scheiterten? Warum soll diese Tragödie nicht auch für die Mütter gelten? Warum nicht ganz besonders für sie, die die »Notwendigkeit« zuerst erkannten? Scheitern wir nicht immer noch an der furchtbaren Ananke, an der die Welt der Mütter scheiterte? Warum dann die Selbstgerechtigkeit gegenüber der mütterlichen Zeit?

Was für eine Tragödie! Eine nie geschriebene. Noch nicht einmal gesehene. Gegen die ausschreitende Willkür stellten die Mütter die Notwendigkeit. Aus ihrem Schoß schöpften sie die Vision des Unwillkürlichen. Aus dem weichen wachstümlichen Schoß. Aus ihrem Leben. Aus dem Geschehen, das sie still und gewaltlos band. Aus ihrer Gebundenheit. Aus der Erfahrung der Empfängnis, der Reifung und der Geburt. Aus dem duldenden Mut, den sie aufzubringen hatten, daß es geschah. Voß übersetzte die angeführte Stelle: »Denn ausduldenden Mut verlieh den Menschen das Schicksal.« Es mag wohl umgekehrt gegangen sein: aus dem ausduldenden Mut sahen die Mütter das Schicksal. Sie nahmen es an. Sie trugen es. Sie erfuhren, daß wir nicht alles sind, nicht alles vermögen. Und dies Weichste wurde zum Härtesten. Und das Leben zum Tod. Und die Rettenden wurden Verderbende. Und die ersten Gesegneten wurden zu Fluchenden.

Wer gebot die Tragödie? Die Notwendigkeit, hart zu sein. Die Mütter sahen ihre eigene Gottheit, die Ananke, nicht ein. Wer hätte jemals seinen Gott eingesehen?

Die Mütter trieben die Macht der Notwendigkeit in das Äußerste, um den Menschen zu zwingen, eine unverbrüchliche Heilige Ordnung anzuerkennen. Und wie später die Väter den absoluten Willen Gottes nicht genug steigern konnten, ja in das schrankenlose Willkürliche emportreiben, um unseren Eigenwillen zu brechen, so irrten schon die Mütter in immer wahnsinnigeren Übersteigerungen des Einzwanges der Ananke. Und wie die großen Eiferer unter den Vätern die Prädestination, die willentliche Vorbestimmung durch den persönlichen Gott in jeden Wahnwitz trieben, sogar den Fall des Menschen von Gott voraus bestimmen ließen, für den dieser dann die armen Kreaturen mit dem Verluste des Paradieses strafte &endash; so übertrieben die nicht weniger fanatischen Mütter die unpersönliche Macht des Schicksals.

Und die Mütter sahen, was die heutigen Machthaber wieder entdeckten, den sich krümmenden Wurm Mensch, der dem Tod entgehen will wie alle andere Kreatur &endash; nur noch erregter durch das Gefühl und das Bewußtsein. Und sie sahen die hocherregende Wirkung der Schicksalsdrohung in der Angst des Menschen. Und sie arbeiteten wie später die Väter und heute die Gespenster der Väter mit der Angst der Kreatur. Und so schufen die, die den anarchischen Terror des Wilden Mannes zu brechen hatten, den ersten Heiligen Terror des Schicksals.

Und da verloren die Mütter ihren Namen, kaum daß sie ihn erreicht hatten. Wir alle müssen sein, die wir sind. Wir alle steigen, wenn wir den Namen erfüllen. Wir alle fallen, wenn wir den Namen verlieren. Die Mütter wuchsen mit ihrem Namen, mit ihm nahmen sie ab. Unter dem Unmütterlichen der kalten Gewalten duckte sich der Mensch, um sie endlich wie einen Alptraum abzuschütteln.

Wenn Eine Macht, mußten die Mütter weich bleiben wie der Schoß und die Brüste und das Herz. Furchtbares Geschehen, daß selbst die Mütter hart wurden und ihr Herz zu Stein.

*

Alle Religionen und Revolutionen werden zum Tod, wenn ihr Herz hart wird und kalt. Wenn sie aber zum Tod werden, ereilt sie selber der Tod.

Die Träger der menschlichen Welt, die Mütter und Töchter, die Väter und Söhne haben ihre eigentümliche Verführung zum Tode.

Die Mütter fielen als die Ersten der menschlichen Tragödie, der noch kein Reich des Menschen entging. Sie waren nicht nur die Ersten, die ein menschliches Reich begründeten &endash; sie sind auch die Ersten durch ihre unvergleichliche Nähe zum Tode.

Die Mütter stehen ganz nah dem Tod, denn sie stehen noch ganz nah dem Chaos. Es ist noch Nacht und der Schatten des Todes liegt über ihrem Reich. Die Mütter sind mit den ersten Kindern des Chaos geboren. Noch sehen sie den leuchtenden Tag nicht und noch atmen sie nicht die Himmelsluft des Aithçrs.

Die Mütter sind nicht selber Kinder des Chaos, doch ihre Sphäre ist noch immer die Nacht. Die Nacht ist unheimlich fruchtbar in den Müttern.

Die Mütter sind nicht selber Kinder der Nacht. Auch wenn die Erinyen »Töchter der Nacht« genannt werden. Aber die Kinder der Nacht sind noch übermächtig in den Müttern. Die Mütter selber sind nicht die Gewalten des Todes, Moros, der jeden Ereilende, Ker, der Raffer, Thanatos, der Tod. Und sie selber sind nicht Hypnos, der Schlaf, und Oneiros, der Traum. Und sie sind auch nicht Momos, der Beschuldiger, und Oizys, die leidvolle Bedrängnis. Diese Kinder der Nacht sind nur Sphären der mütterlichen Welt, doch sie sind die übermächtigen Sphären der Mütter. Das Leben der Mütter ist ohnmächtig unter diesen Gewalten der Nacht.

Und die Mütter sind auch nicht selber Eris, die Tochter der Nacht, die Entzweiende. Diese Tochter kommt nicht aus ihrem Herzen, aber die Mütter atmen noch die unheilschwangere Luft der streitenden Welt.

Noch heute werden die Frauen seltsam angezogen von allem, was der dunklen Sphäre angehört, Geburt und Tod, Krankheit, Unglück und Verbrechen. All das erregt sie. Was weiblich ist am Menschen, ist pathisch, welterleidend, ja geht bis zur Pathophilie, zur Leidensliebe, zur Leidenschaft im eigentlichen Sinne. Es ist sprichwörtlich, daß Frauen Leiden besser ertragen als Männer. Sie sind darin in ihrem Element &endash; was ihren Glückshunger nicht ausschließt, sondern herausruft. Als die Männer in dem zerstörten Berlin selber zerstört waren, da nahmen die Frauen die Geschicke in die Hände. Die Männer führten die Große Zerstörung herbei &endash; die Frauen, als ob sie seit Jahrhunderttausenden an den zerstörerischen Mann gewohnt wären, wirkten still und nicht für Zeitungsberichte in den Trümmer- und Schutthöhlen der toten Stadt. Nie aber beteten sie das Nichts an wie die Männer. Und nicht verkündeten sie wie die Männer den Existentialismus &endash; in diesem Augenblicke rangen sie in der ältesten Not des Menschen um die Existenz.

Das Weib ist nicht die Nacht, aber es ist die Nacht seine Sphäre. Zu denken, daß Jahweh, der Allmächtige, keine Macht hat in der Nacht!

Das Weib ist nicht das Leiden, aber das Leiden ist seine Sphäre. Zu denken, daß Buddha seine Religion gründete auf der Flucht vor dem Leiden! Undenkbar die große Litanei: Wer einmal liebt, der leidet einmal. Wer zweimal liebt, der leidet zweimal... Und so fort bis zum hundertfachen Lieben und hundertfachen Leiden. Undenkbar solche Logik für das töchterliche wie das mütterliche Weib. Denkbar aber für alles Weibliche im Menschen das hundertfache Lieben und hundertfache Leiden.

Diese Sphäre blieb immer die des Volkes. Es trägt ja alles Volk mütterliche Züge, selbst noch in den modernen Massen. Die Massen sind auch heute noch pathisch. Und ohne ihre Pathophilie wären die heutigen Machthaber nicht in ihrer grenzenlosen Macht. Und das ist das Uralte an der vermeintlichen Vorkämpferin der Weltrevolution, an Rußland. Und das ist das Uralte, in das es keine Rückkehr gibt.

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Es ist nicht von ungefähr, daß das mütterliche Weib die Ananke entdeckte. Der »Gezwungene Zwang«, als den Carl Spitteler das Weltwesen verfluchte, liegt dem Weibe mehr als dem Manne. Das Weib ist organischer als der Mann, zugleich aber mechanischer. Das bedingt sich. Alles Organische braucht, was die Romantik übersah, ein großes Maß an Mechanischem. Und es ist denn auch die natürliche Fallrichtung der organischen Natur, in bloßen Mechanismen zu erstarren. Das Weib ist nie so willkürlich wie der Mann, doch es hat auch selten seine Größe: die Unruhe des schöpferischen Neubeginns. Dem weiblichen Menschen eignet meist so wenig wie der Natur das ungebärdige Wesen der schaffenden Freiheit. Der Mensch wäre längst erstarrt unter bloß weiblich-mütterlichem Zeichen. Was Goethe in dem Tobler zugeschriebenen Aufsatz von der »Natur« sagt: »So wie sie's treibt, kann sie's immer treiben« &endash; das gilt ebenso vom weiblich-mütterlichen Menschen. Gerne hält sich das Weib im Gewohnten. Und willig erfüllt es die »ewigen Gesetze«. Das Fraglose ist der Teil auch der Natur, die im Menschen mächtig ist.

Daß aber die Natur auch im Menschen ungleich mächtiger ist als sich dieser noch vor kurzem dachte, enthüllt der erstaunliche Rückfall in das Fatum des Gewohnten. Der Mensch der Neuen Zeit erschien im Vormarsch seiner abenteuernden Freiheit nach ungewöhntem Neuland in seinem Element &endash; heute zieht es ihn schon wieder in das uralte Fatum. Zu leicht gelingt es den fatalen Mächten, ihn mit revolutionärer Phraseologie in die überlebtesten Formen der menschlichen Gesellschaft, die kollektiv alles Selbständige auslöschenden, zurückzuführen. Die Konvention siegt. Die Freiheit unterliegt. Noch einmal flüchtet der Mensch in das Kreatürliche zurück, um der eigenen Verantwortung zu entgehen &endash; auch wenn mit ihm wieder umgegangen wird wie in den primitivsten Zeiten. Das Funktional-Mechanische, in das der Mensch heute wieder absinkt, entspricht dem technischen Zeitalter, wenn auch nicht der heutigen Physik, die ein Lichtsprung der Freiheit ist. Dies Zeitalter aber lebt wiederum von der leicht mechanisierbaren Natur, die sich heute zur Maschine erniedrigen läßt.

Man denke aber hier nicht nur an Rußland. Das neue Fatum geht über die ganze heutige Erde hinweg. Daß das ausgesprochenste Pionierland, die Vereinigten Staaten, das Land Walt Whitmans, in ein paar Generationen ein Land konventionaler Massen geworden ist &endash; das läßt ermessen, wie mächtig der Hang des Menschen zum Fatum des Gewohnten ist. Ja, selbst dieses Geburtsland des freien Menschen, dieses prometheische Europa ist epimetheisch geworden, geduckt unter das Fatum, das es zuerst als tragisch erfuhr und durchbrach. Das neue Chaos schreckt. Die Schwere der Erde, das Klima der Ananke, lastet selbst über dem leichtesten, weil geistgeborenen Kontinent.

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Die Mütter sind nicht selber das Chaos und seine Kinder, die Nacht und der Todesschatten. Aber sie erleiden noch zu nah die Gewalten des Chaos.

Die Mütter sind die Erde. Gaia und alle göttlichen Mütter und alle menschlichen Mütter sind nur Eine einzige Mutter. Und die Erde ist eine Festung gegen das Chaos. Doch sie bringt den Müttern nur die halbe Rettung.

Die Erde sagt Leben. Die Erde singt Leben. Sie ist der Schrei des Lebens. Die grüne Fahne der Mütter weht überall. Das letzte Gräslein ist ein Wimpel der siegreichen Armee des Lebens wie jede Krone mächtiger Bäume ein Bogen des Triumphes.

Und so wie in der Erde ist in den Müttern das Leben ursprünglich mächtiger als der Tod. Die Mütter gehören aus ihrem Herzen nie zur Partei des Todes. Wird aber ihr Herz hart und kalt, dann werden sie wie die Erde im Winter die Träger des Todesschattens und der Nacht.

Die Erde sagt auch Tod. Sie klagt Tod. Persephoneia muß nach jedem Frühling und Sommer im Herbst und Winter wieder zu ihrem Gatten, dem dunklen Hades, dem Gott der Toten. Einmal hat er das spielende Kind der Demeter geraubt und in sein Unreich verschleppt. Und die Mutter brach in eine Trauer aus, daß alles Leben stille stand, nichts mehr wuchs, kein Gras und kein Korn. Das bezeugt: die Erde erleidet den Tod. Und sie, die Mutter des Lebens, muß einstimmen, daß ihre Tochter die eine Zeit bei ihr weilt, die andere Zeit im Reiche des Todes. Sie hat keine Wahl.

Und so wie die Erde, der Großen Mutter, wie der Demeter, die nur ein anderer Name ist für Gaia, schwingt für die Mütter das Herz zwischen den äußersten Polen: Leben und Tod. Wie es das Geheimnis der Erde ist, so ist es das Geheimnis der Mütter: sie stehen dem Leben am nächsten, zugleich aber am nächsten dem Tod. Das ist die grausame Spannung der Mütter. Und diese Spannung ist so weit mächtig, so weit die Welt der Mütter reicht.

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Die Maya der Mütter ist groß. Die Mütter sind von der Erde befangen. Mehr als selbst die Pflanze, die Tochter der Erde, sind die Mütter des Menschen eins mit der Erde.

Die Übermacht der Erde war einmal notwenig gegenüber dem erdflüchtigen Tier Mensch. Doch einmal war sie überlebt. Der Mensch ist ein Sohn der Erde. Die Erde aber ist nur Einer der Ursprünge des Menschen. Die Erde war der erste Fels in der Brandung der Tierflut. Doch was Heil war, barg auch ein Unheil in sich.

Eine Todeslast lag auf den Müttern des Menschen, vom Chaos her und seiner Nacht und seinem Todesschatten. Und die Erde nahm diese Todeslast nur für eine Zeit von den Herzen der Mütter.

Von der Todesseite der Erde her ist die Erde schwer. Es ist etwas Bleiernes in den Gottheiten der Erde. Sie haben keine Flüge. Gaia vermag sich kaum von ihrem Lager zu erheben. Sie liegt im Bett der Erde. In ihm empfängt sie, in ihm gebiert sie. Das Bett der Erde ist der Schoß der Geburt und das Grab des Lebens. Die Erde ist eine schwerfällige Gottheit.

Der Mensch der Erde, der in die Erde Eingepflanzte, der Bauer weiß davon. Schwer ist sein Schritt. Seine Hände sind wie Wurzeln knorrig. Bald ist sein Rücken vom Bücken gekrümmt. Die Erde macht zäh, doch starr. Der Mensch der Erde ist von allen Elementen das starrste. Und der Mensch der Erde ist von allen Typen des Menschen der steifste. Wer sich einmal in der Erde verfestigt hat, dem fällt es schwer, weiter zu schreiten. Der einzige echte konservative Mensch ist der Bauer. Was er einmal begriffen hat, was ihm einmal den Griff der Welt bietet, das hält er fest. Als längst die geistigen Väter ihre Himmel dichteten, blieb der Bauer der Gottheit der Erde treu. Zum Himmel hielt er wie die Erde als zum befruchtenden Element. Doch es wuchsen ihm nie Flügel zu den mystischen Ekstasen des Geistes.

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Die Gravitationskraft der Erde ist übermächtig. Sie zwingt die Zwingenden, die Gottheit der Erde. Der Mensch wird erdrückt im Zeichen der Erde. Und es konnte Hilfe nie von der Erde selber kommen, sie mußte vom anderen Pole kommen, vom Himmel. Die Elevationskraft der himmlischen Mächte mußte die Gravitationskraft der Erdmächte aufwiegen. Das ist der siegreiche Sinn der »Neuen Götter«, der »Himmlischen«.

Die »Neuen Götter«, die »Himmlischen« mußten aber nicht nur von der lastenden Schwere der Erde, ihrer Todesstarre befreien, sie mußten auch die Enge der Erde sprengen.

Auch die Erde hat ihre Breite, ihre Weite. Hesiod nennt Gaia die Breitbrüstige. Gegenüber dem Tier und dem tierverlorenen Menschen ist die Erde das Offene selber. Sie ist nie in sich geschlossen wie das Tier. Sie geht nicht mit sich allein. Sie geht mit dem zeugenden Himmel. Sie ist aufgetan dem Gott der Sonne. Und wir wollen das Gründige der Erde jetzt nie mehr vergessen, auch wenn wir in ihre Abgründe blicken.

Der pflanzliche Mensch aber hat die Pflanze nie erreicht. Dafür war er doch zu tierförmig. Auch die Pflanze hat einen kleinen Umkreis um ihren festen Standort. Aber sie trägt nicht das Unzeichen der Enge wie der eingepflanzte Mensch. Es ist, wie wenn sie alles für sich in Anspruch nähme, die Anspruchslose, die Kraft und den Saft der Erde und alle Himmelskräfte, Licht und Wärme und das befruchtende Wasser.

Der Boden der Mütter war die Sippe. Saft war das Blut. Darüber haben sich die Mütter nie erhoben. Nur der engste Umkreis galt. Es ist noch heute in den Müttern etwas Enges. Sie denken nie weit. Die nächste Sorge erfüllt sie wie das Quecksilber die Röhre des Fiebermessers. Ihre Fieber steigen und fallen mit der Angst um das Nächste, um das Nest. Und die Fieber steigen in rasender Kurve, wenn das Nest verletzt wird, die Sippe angefeindet, Blut vergossen. Dann rasen sie, delirieren sie.

Die Mütter sind die Genien der Nähe. Sie waren nicht einstmal, sie sind immer die Gegenspieler des weit ausschweifenden Mannes. Ihr Sinn für das Konkrete aber wiegt so schwer auf der Waage des Menschen wie der Sinn des Mannes für das Abstrakte. Man denke an das französische Volk mit seinem gesunden Sinn, seinem bonsens, seiner Kunst, dem Augenblick das Höchstmaß an Leben abzugewinnen, seinen vom breit Verträglichen bis zum spitzig Frechen gehenden Sinn für die leibhaftige Existenz der Familie &endash; und man bedenke diesen lächerlichen Staat der Franzosen mit all dem Betriebe seiner Parteien, mit all den großrednerischen Programmen und dem durch keine großtönende Rhetorik zu verdeckenden Nichts an realisierender Kraft.

Und wir werden den Sinn für das Nahe, Konkrete wieder notwendiger als je haben, da jetzt über den berauschenden weltweiten Plänen und Organisationen der Mensch selber vergessen wird, der zuletzt doch alles tragen muß mit der Kraft seiner Seele.

Doch wenn die angriffigen und kriegslustigen Männer die uralte Sache der Mütter, den eigenen Boden und das eigene Blut zu einer Losung im Wettstreit machen, auf ihre heutige bubenhafte Weise »Blubo« schreien, dann ist es Lüge und kann nicht gut herauskommen und muß zum Gegenteil alles dessen führen, wofür die Mütter von jeher sich opferten. Das Bodenständige, der Urausdruck der Wende der Mütter ist das genaue Gegenteil zur männlichen Tiergier nach Eroberung fremden Bodens und zum männlichen Einbruch in fremdes Blut.

Der Bodenständige muß bleiben, doch es gibt keine Rückkehr mehr in die alte Enge des Bodens und des Blutes.

Auch das echte Bodenständige ist nur Eine Seite des Menschen &endash; sie muß das Fliegenden, Überfliegende des menschlichen Geistes balancieren: doch niemals darf das Bodenständige die Aufschwungkraft des menschlichen Geistes mit Bleigewicht hemmen und hindern.

Aus der Enge der Mütter, die am Boden klebten und am Blute, brachen die Väter auf zur Höhe des Menschen in der Überlegenheit des Geistes. Und wenn die Söhne zur Erde zurückkehrten aus den Himmeln der Väter, zu denen der Mensch nicht bestimmt ist, und wenn darum die Mütter wieder näher sind als Jahrtausende lang &endash; so geht der Drang niemals in das Enge der Mütter zurück, sondern in die Weite des welthaften Seins.

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Einer jener aussterbenden Geistigen mit Geist, der Russe Wjatscheslaw Iwanow, hat 1935 im Januarheft der unvergeßlichen »Corona« einen Aufsatz geschrieben über den »Terror antiquus«. Damit meinte er den Terror der Mütter. Das Bild eines Malers, das er beschrieb, trug diesen Titel. Und wie den Terror, so sah Iwanow wohl als Erster den seltsamen Absolutismus der Mütter. Der Aufsatz ist verschollen, der Gedanke niemals aufgenommen worden. Iwanow sah sogar auch noch den Gegenterror der Väter. Doch der Aufsatz endete wie die gesamte Sturmflut des letzten russischen Geistes in einer gnostisch-christlichen Romanze der Vermählung des sohnlichen Geistes mit der töchterlichen Seele der Welt, der Sophia.

Iwanow sprach vom Monotheismus der Muttergottheiten, an den der spätere Polytheismus der olympischen Götter nie herangereicht hätte in seinem Relativismus der Göttergestalten. Der noch mutternahe Russe sprach. Bei den Müttern aber ist nicht von Monotheismus zu reden. Monotheismus bedeutet immer die gewaltige Systole, die nur ein Schöpfergott mit allem Abstand gegen die Schöpfung schaffen und halten kann. Dieser Abstand ist auf griechischem Boden unbekannt.

Das Urwort der Mütter ist Pan. Ihre Gottheiten stellen den ursprünglichen Pantheismus dar. Die Muttergottheiten sagen ebenso einschließend, umschoßend Pan wie der Gott des Moses von sich ausschließend als dem Einen, Einzigen spricht, der keine Götter neben sich duldet. Die Mütter bekennen alle Wirklichkeiten, die sich ihnen manifestieren. Da sie aber erdgebunden sind, auch den Himmel nur als das sternige Zelt über der Erde sehen, die Erde aber als die Mutter aller Mütter erfahren, ist für sie alles Mutter und so die Mutter alles. Das ist der Absolutismus der Mütter.

Nur die griechischen Muttergottheiten sind mit dem jüdischen Vatergott zu vergleichen. Dazu reicht Zeus nicht heran. Er ist dafür ein zu privater Gott. Die Götter sind vornehmer, aber auch verspielter als die Muttergottheiten. Nur die Großen Mütter haben dieselbe leidenschaftliche Bemühung um alles Geborene wie der Vatergott Jahweh um alles Geschaffene. Die Große Mutter und der Eine Vater sind in derselben Verantwortung für die Welt. Beide sind in dieser Verantwortung Allmächtige, beide in ihrer Allmacht absolutistisch und terroristisch. Beide sind besessen von Recht und Rache. Derselbe rächerische Geist verzehrt die Große Mutter und den Einen Vater. Der Terror des Schicksals und der Terror der willentlichen Vorbestimmung, der Prädestination, halten sich die Waage. Es ist beiden Gottheiten ernst und beider Ernst ist tödlich. Die Wucht beider Mächte, der urmütterlichen und der urväterlichen, ist dieselbe: beide beugen den Menschen rücksichtslos unter das unpersönliche Gesetz, beide weisen ihn gemeinsam in das Joch des Geschöpflichen. Wenn Homer von den Moiren sagt, sie hätten dem Menschen den duldenden Sinn verliehen, so gilt dies auch von Jahweh &endash; man denke allein an den einzigen Hiob: der Satan, der noch in Gott selber war, überredet Jahweh, Hiob, den frömmsten seiner Knechte, bis an den Rand zu prüfen, ob er annehme, daß er nichts, Gott alles sei. Die Muttergottheiten aber sind so hart wie der Eine.

Auf griechischem Boden erreichen die Väter erst im Logos-Theos ihre absolute Position. Mit der absolutistischen Logokratie beginnt denn auch der neue Terror des Einen ausschließlichen, alleingöttlichen Geistes.

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Das Versöhnliche der Mütter des Menschen ist, daß sie bis zur Selbstaufopferung um der Kinder willen und um das Kind Mensch kämpfen. Erstaunliche Zeugen für die Selbstvergessenheit sind schon die Tiermütter. Es ist schon in diesen eine magische Macht. Die magische Macht der Mütter aber ist nicht um der Mütter selber willen gewaltig. Die Macht an sich ist eine Männersache. Sie setzt nicht Selbstvergessenheit, sie setzt Selbstbewußtsein voraus. Auch das Weib kann um seiner selbst willen Tyrannin sein, doch dann nicht als Mutter, sondern als Weib. Entartungen zählen nicht. Das schließt das Erdrückende und Verschlingende der Mütter nicht aus.

Was für eine Macht das Kind für die Mütter bedeutet, das bezeugen die Großen Mütter, die unbedenklich, ging es um das Kind, den Gatten zur Seite stießen. Der Mann stand nicht hoch im Kurse: nur der Not gehorchend brauchte ihn das mütterliche Weib als Befruchter. Der Fanatismus der Mütter heißt Kind.

Uranos, der Gatte der Gaia, verstößt deren Kinder in den finsteren Tartaros. Damit macht er sich zum Feind der Mutter der Mütter. Sie weiß sich zu rächen. Sie stiftet den titanischen Sohn Kronos an, den Vater zu entmannen. Der Sohn erklärt sich bereit zu dieser Tat. Als Uranos zur Nachtzeit &endash; er ist noch der nächtliche Himmel &endash; sich über Gaia lagert, da gibt sie dem Kronos die Sichel in die Hand, mit der dieser seinen Vater des Geschlechtes beraubt. Indem aber Gaia Uranos durch den Sohn entmannt, stürzt sie ihn vom Thron der Welt. Das ungeheuerliche Geschehnis hat zu allen Zeiten die Phantasie der Mythenseher und Mythenhörer erregt.

Etwas gemildert wiederholt sich dieselbe Geschichte an Kronos selbst. Kronos verschlingt seine Kinder. Wer zu lesen weiß, vernimmt viel aus dieser scheinbar unmöglichen mythischen Kunde. Der Mann hat Jahrhunderttausende das Kind verschlungen. Er will zeugen &endash; das Kind kümmert ihn nicht. Das ist heute noch weithin der Fall. Rhea, des Kronos Gattin, die den Namen der Großen Mutter, der ((megalç mçtçr)) zum erstenmal trägt, leidet wie Gaia. Und wie Gaia revoltiert die Titanin, deren ständiger Begleiter der Löwe ist. Sie verheimlicht Kronos das jüngste Kind, den späteren Zeus, indem sie es in einer fernabliegenden Höhle im idaischen Gebirge gebiert und bis zur Mannbarkeit verbirgt. Sie gibt Kronos einen gewickelten Stein zum Verschlingen. Die Männer sind listig in Jagd und Krieg, aber viel listiger noch sind die Frauen, wenn es um ihre Liebe geht oder ihr Kind.

Anders aber als die um ihre Lieben kämpfenden Frauen helfen einander die Mütter im Kampf um das Kind. Gaia verbirgt Zeus und zieht ihn auf, als ob es ihr eigenes Kind wäre. Die Mütter sind Eine einzige Mutter. Die Griechen sprechen von der Allmutter, der ((pammçtôr)).

Gegen den zur Weltherrschaft aufsteigenden Zeus aber ergrimmt Gaia und wird dessen tödliche Feindin. Die Feindschaft geht nicht gegen die Herrschaft, die die Muttergöttinnen ergeben hinnehmen. Sie geht gegen Zeus, der die Titanen verstößt und die Giganten auszurotten beginnt. Wenn es um ihrer Kinder geht, da kennen die Mütter keine Ergebenheit.

Doch keine der Erdgöttinnen kämpft wie die Männer, keine berührt eine todbringende Waffe. Der Mythos spricht gewaltig, auch wenn er schweigt. So ist Gaia verurteilt, der Schlacht zwischen den Göttern und den Titanen, das heißt den Göttern um Zeus und denen um Kronos und der Schlacht zwischen den Göttern und den Giganten mit jenem größeren Leiden derer, die tief mitbetroffen sind und doch untätig zuschauen müssen, wie Schicksal sich vollzieht. Wie später Niobe, die Tantalide, die den Stolz, ja die Hybris des Menschengeschlechtes auch als Mutter bezeugt, daß sie mit Leto, der Mutter Apollons und der Artemis, zu messen sich vermißt &endash; wie später Niobe zuschauen muß, wie ihre sieben Söhne vom Bogen Apollons niedergemäht werden, so muß Gaia entsetzt dem Untergang ihrer riesenhaften Kinder, der Giganten, beiwohnen. Der Pergamon-Fries hält die entscheidende Stunde fest. In diesem Augenblick wendet sich die Welt. Es enthüllt sich die Ohnmacht der Mütter. Sie steigen ab. Die geistigere Macht der Väter steigt auf. Zeus, der Weltvater, triumphiert über Gaia, die Weltmutter.

Die Niederlage der Mütter ist nicht nur in ihrer kämpferischen Ohnmacht begründet. Selbst im Kampf um ihre Kinder ist die Maya der Mütter groß und einmal durchschaubar. Die Mütter sind nicht nur von der Erde befangen und in deren Grenzen gefangen. Die Mütter sind wie von der gebärenden Erde von allem Geborenen befangen.

Und wenn ein Gleichnis besteht zwischen der Muttergottheit und dem Vatergott in der leidenschaftlichen Sorge um die gewachsene oder geschaffene Welt &endash; so trennen sich beide Gottheiten scharf darin, daß der Vatergott keine Befangenheit von Kindern kennt. Da wirkt sich das Eine, Einzige gegenüber dem Pan der Mütter aus. Im Reich der Mütter ist alles eins &endash; erst die Väter kennen den absoluten Abstand.

Die Tragödie der Mütter vollendet sich in ihrer Befangenheit von den Kindern. Das Wahllose der Mütter war notwendig, um die wählerische Willkür des Mannes zu brechen. Doch einmal war das Wahllose überlebt. Es ist ein dauerndes Gesetz der Mütter, unter ihren Kindern nicht auszulesen. Dies Gesetz gilt noch heute und wirkt private Tragödien.

Die Großen Mütter traten für Ungestalten ein, nur weil diese ihrem Schoß entstammten. Sie wußten nie, Wesen von Unwesen zu unterscheiden. Was geboren war, war heilig. Sie deckten mit dem Namen des Kindes Ausgeburten der erdlichen Fruchtbarkeit. Es war gut, Fruchtbarkeit gegen Furchtbarkeit zu stellen. Doch es gibt eine wahllose Fruchtbarkeit, die die Nähe des Chaos verrät. Die mythische Phantasie der Griechen hat nie die dschungelhaften Ausmaße der indischen angenommen. Doch treten auch im griechischen Mythos Fünfzigköpfige und Hundertarmige auf. Gaia beschützt sie &endash; auch sie sind ihre Kinder. Sie ist nicht für sie, weil sie gewaltig, sondern weil sie Kinder sind. Um des ihnen heiligen Gesetzes der Fruchtbarkeit willen, müssen die Großen Mütter die furchtbaren Ungestalten in Schutz nehmen, die von den edleren Kindern, den Göttern, nicht geduldet werden dürfen. Die wahllose Fruchtbarkeit führt zu neuen, führt zu ungenannt furchtbaren Männerkriegen. Die Titanomachia und die Gigantomachia entbrennen. Doch nicht die Titanen, nicht die Giganten sind der eigentliche Feind: das sind die unantastbaren Mütter. Die Mütter sind tabu. Sie sind der Hintergrund der bisher unerhörten Männerschlachten.

Das ist die Tragödie der Mütter. Die Einzigen, die wirklich Frieden wollen, treiben in die größten aller bisherigen Kriege. Auch das Kind rettet der Mütter Reich nicht. Die Befangenheit vom Kind ist ein Stück der Befangenheit der Mütter von der Erde. Auch das wahllos bejahte Kind treibt mit in den Untergang. Das Reich der Mütter war nicht zu halten. Der Mensch mußte den Schritt von ihm zum Reich der Väter tun. Wenn Schwärmer von einer Rückkehr in das Reich der Mütter reden, so wissen sie nicht, was sie tun. Daß die Mütter und ihre Sache dauern und daß sie heute &endash; der Erde nicht mehr wie vordem verhaftet &endash; mitsprechen in den Kämpfen der Söhne, ist eine andere Sache.

Die Mütter fielen durch ihr eigenes Gesetz. Da sie die Willkür bannen wollten, schufen sie das Ungeheuer der Ananke. Da sie das Kind beschützten, bejahten sie die Ausgeburten ihres Schoßes.

Der Mensch gehört zur Erde, doch nicht als ihr Gefangener. Die Mütter selbst haben als Erste das Göttliche zum Maß genommen. Das Fruchtbare gehört zum Göttlichen, doch es erreicht das Maß des Göttlichen nicht. Die göttliche Rangordnung durchbrach das Wahllose der Mütter.

Der göttliche Adel wird &endash; wie in Germanien von den Asen &endash; in Griechenland von den Olympiern gebildet. Sie nehmen Abstand von der Erde wie der Tag von der Nacht, wie das Licht vom Dunkel. Und sie bereiten das Kommen des letzten Gottes vor, des geistigen Lichtgottes, des Logos-Theos.

Die Mythe vom Eros, dem Mittler

Doch nicht in diesem dunklen Tal ist von der Welt der Mütter Abschied zu nehmen, um über den Olymp zu den Himmeln des Logos zu gelangen. Die erste menschliche Welt kennt nicht allein das allzu flüchtige Chaos und die allzu schwere Erde &endash; sie kennt einen Gott, vielleicht ihren eigentlichsten, den beschwingtesten aller Götter, den Großen Löser und Vereiniger der polaren Welten, den Eros kosmogonos, den welterschaffenden Eros.

Von ihm redet denn auch Hesiod, unmittelbar nachdem er das Chaos und die Erde genannt hat:

Eros zugleich, der schönste der ewigen Götter,

Lösend bezwingt er den Sinn bei allen Göttern und Menschen

Tief in der Brust und bändigt den wohlerwogenen Ratschluß.

Eros aber ist nicht der dritte Gott in der Reihe der Götter des Anfangs. Er darf nicht gleichgestellt werden mit dem Chaos und der Gaia. Bei ihm ist kein »Früher« oder »Später«. Eros entsteht »zugleich« mit den Welten des Anfangs. Er kann nicht früher als sie sein, denn er ist ihr Zusammenhang, ihre Spannung und ihre Durchdringung. Und er kann nicht später als sie sein, denn ohne Eros wären alle Welten in ihrer Sonderheit verloren. Das Hesiodische »Zugleich« ist ein Wunderwort, das in das Schwarze trifft, mitten hinein. Die polare Welt des Mythos ist undenkbar ohne den »schönsten der Götter«. Ohne ihn würde sie brückenlos erstarren in ihrer Gegensätzlichkeit, mit ihm aber vermögen sich alle Pole von sich selber zu lösen und über sich hinauszuschaffen.

Eros ist mit dem Chaos und der Gaia auch darin nicht gleichzustellen, da er selber keine eigene Genealogie kennt. Es gibt kein Geschlecht des Eros. Doch es ist keine Genealogie ohne ihn. Er ist aller Genealogien treibender Meister. Wo Welt wird durch Paarung, da ist Eros immer dabei. So ist er schon im Chaos mächtig: es geschieht keine elementare Zeugung und Empfängnis ohne ihn. Eros ist des chaotischen Wirbels schöpferische Kraft. Und wenn die Nacht und der Erebos den leuchtenden Tag und den Aithçr erzeugen, dann ist Eros dabei, der in sich den Himeros, den Sehnenden, trägt. Und wenn die Erde nach ihrem Gegenpol, dem Himmel ruft, ihn um sich will, den sternigen Mantel, daß er sie ganz einhülle, dann ist Eros der Rufer. Und wenn die Erde zu schwer ist und zu schwer macht, dann gibt uns Eros die Flügel, um höher zu steigen vom Himmel zu Himmel, von Licht zu Licht.

Eros ist in polarer Welt selber wieder ein Pol. Die Welt entsteht, indem sie in ihre Pole auseinandertritt: in das Chaos, das Unbeständige und in die beständigere Erde. Diesen beiden besonderen Welten gegenüber ist Eros der Gegenpol. Der sie beide enthält: unbeständig wie das Chaos &endash; beständig wie die Erde. Unaufhörlich wächst durch ihn die Welt auseinander zu besonderer Gestalt &endash;unaufhörlich ruft er die sich trennenden Welten wieder zusammen zu festlicher Hochzeit. Eros liebt die Diastole des Alls und die Systole des Einen. Er ist das Herz der Welt, das immerwährend ihre All-Einheit schafft.

Eros vollbringt Wunder: Wen er löst, den bindet er. Wen er bindet, den befreit er. Das ist in dem Hesiodischen Wort:

Lösend bezwingt er ...

Eros ist ein Urgott. Und man tut gut daran, den späteren Amor aus dem Spiele zu lassen. Das ist schon eine dekadente Figur. Eros ist der Gott des pathischen Menschen, der die göttlichen Mächte erleidet. Er ist der Gott weiblicher Pathophilie. Es gibt keine größeren Gesänge als die Klagen des Weibes im Erleiden des Eros. Wie ein Sturm aus den Bergen Eichen befällt und zerwühlt, so befällt Eros das Herz der Sappho. Aber auch Sappho bezeugt das Wunder: Schlägt Eros in Bann, dann löst er die Glieder. Und anderes sagt auch Sophokles nicht in seinem berühmten Preislied auf den Eros in der »Antigone«:

Eros Allsieger im Kampf!

Keiner kann dir entrinnen,

Weder ein ewiger Gott

Noch ein sterblicher Mensch.

Wen du ergreifst, der ist außer sich.

Der Eros ist der große Lysios, Löser. Er löst uns von uns selber, aus der Enge unseres Ichs. Er löst aus der Enge jeder Weltgestalt. Er ist der Erlöser in der panischen Welt.

Wenn aber Eros uns über uns selber heraus ruft, dann geschieht das Wunderbare, daß er das Eigenste in uns herauslockt. Wir selber müssen einmal erscheinen. Es darf nichts Allgemeines, Unverbindliches sein, mit dem wir uns zudecken. In der Hand des Eros schlägt nur das ausgesetzteste Herz.

Doch noch mehr der Wunder: Mit dem eigensten Element ruft Eros das gemeinsamste hervor. Er durchbricht jede Verpanzerung, mit der wir unser Eigensein schützen und holt aus uns das Weichste heraus, mit dem wir uns den anderen, dem Ganzen aufzugeben vermögen. Eros ist der Gemeingeist der frühen mythischen Welt, der göttliche Einbruch in das abgeschlossene Tier und der göttliche Aufbruch des ersten offenen Menschen. Was der hölderlinsche Empedokles von sich sagt, das spricht den Eros an:

Und die Liebe der Lebenden trag

Ich auf und nieder; was Einem gebricht,

Ich bring es vom Andern, und binde

Beseelend, und wandle

Verjüngend die zögernde Welt,

Und gleiche Keinem und Allen.

Wenn einer heute wissen will, was der Große Löser und Große Binder in archaischer Zeit war, der findet seine Elegie in Hölderlins Gesamtgedicht. Denn, was sich heute Eros nennt, hat mit dem archaischen Gott nichts zu tun.

Der Eros gleicht Keinem und Allen. Er ist das gemeinsame Element. Er rinnt durch alle Wesen als Ein einziger Strom, und wenn sie in ihn tauchen und wenn sie sich von ihm forttragen lassen, sind sie im All, sind sie beieinander, gehen sie aufeinander ein, leben sie umeinander, sind sie ineinander mächtig. Das ist sein Wort in unserer Sprache, das Wort »einander«.

Eros will kein Einerlei der Welten. Er bedeutet: die Welt ist Kampf. Er spannt zum Äußersten. Er mobilisiert alle Abwehr, daß sich die Geschlechter der Welten und die Welten der Geschlechter fliehen, um sich nicht ineinander zu verlieren. Sein Triumph ist es, wenn die, die wie Todfeinde sich gegeneinander wehren, ihre Rüstung abwerfen und einander wehrlos gehören. Dann ist er der Allsieger im Kampf, den Sophokles besingt.

Eros gleicht wirklich Keinem und Allen. Er nimmt aller Welten Natur an, in die er sich einwohnt. In den Dunkeln ist er dunkel, in den Hellen hell, in den Sanften sanft, in den Rauhen rauh, in den Milden mild und in den Wilden wild. Nie ist er nach einer Art zu bestimmen: so ist er auch beide Geschlechter, ist empfänglich und zeugend.

Immer braucht Eros die Pole der Welt. Darum ist er am mächtigsten in der Welt der Geschlechter. Ob nun Empfängnis und Zeugung in der Scholle der Erde geschieht durch Sonnenkraft oder im Schoße des Weibes durch Manneskraft oder in der Seele empfänglicher Jugend durch die Kraft des Genius &endash; immer will ein Empfängliches ein Sichverströmendes, immer will ein Sichverströmendes ein Empfängliches.

Es hat keine der Welten ein Genüge in sich, nicht die Erde, nicht der Himmel, nicht das Weib, nicht der Mann: alle Welten sind füreinander bestimmt &endash; das ist das Gesetz des Eros. Ein glücklicher Zufall hat uns ein paar Verse eines verschollenen aischyleischen Dramas, der »Danaiden«, erhalten. Was aber in ihnen Aphrodite für sich in Anspruch nimmt, gebührt dem ältesten und immer jüngsten Gott, dem Eros kosmogonos:

Es sehnt der hohe Himmel sich, die Erde zu

Durchdringen. Sehnen treibt die Erde, ihm sich zu

Ergeben. Regen rinnt von dem Umarmenden.

Die Erd empfängt ihn und gebiert den Sterblichen

Das Gras der Lämmer und die Gaben Demeters.

Und durch den hochzeitlichen Segen steht

Der Hain in Blüte. Alles dies bring ich hervor.

Dies vermag die spätere Göttin nicht mehr, die im olympischen Reich an die Stelle des Eros tritt.

Als das Geschlecht des Uranos ins Meer fällt, entsteigt dem Schaum, dem Aphros, Aphrodite, ein Bild vielbeschrieben und vielgemalt. Eros aber führt die eben geborene Göttin zu den Göttern:

Eros geleitete sie, und der herrliche Himeros folgte,

Als die soeben Geborene zur Sippe der Götter emporstieg.

Das war ihr von Anfang an als ihre Sache zuteil

Unter den Menschen sowohl wie unter den ewigen Göttern:

Mädchenhaftes Gekose und frohes Lachen und Arglist,

Süßes Ergötzen und Wonne und Liebe und schmeichelnde Süße.

So sagt Hesiod in der »Theogonie«. Das ist nicht mehr der Eros, der bei aller Weltwerdung dabei ist. Das ist eine der Gestalten in der bunten Schar des Olympos, vielleicht die schönste, anziehendste, doch fern der Gestalt des Großen Mittlers aller Welten.

Eros bestimmt allmächtig noch das zweite mythische Zeitalter, das des Bundes von Himmel und Erde, das uranische und das titanische. Die Musen besingen dies Zeitalter:

... Im Klang der unsterblichen Stimme

Preisen sie zuerst die hehre Sippe der Götter,

Die zu Beginn mit der Erde der weite Himmel erzeugte.

Erst im dritten Zeitalter, dem der »Neuen Götter«, der »Himmlischen« unter Zeus wird Eros zur privaten Angelegenheit der Götter oder zur Staatsräson der Hochherrschenden. Die Geschichte der Liebe endet in Liebesgeschichten. Während im Aufstieg zu den lichteren Sphären der Logos in Aszendenz ist, ist der Eros in voller Dekadenz. Erst in diesem dritten und letzten mythischen Zeitalter wird der Bund von Himmel und Erde aufgelöst, die Alleinherrschaft der Oberen gegründet. Dieses Zeitalter führt mit Notwendigkeit zur Ohnmacht des Eros und zur Allmacht des neuen Gottes, des Logos-Theos.

*

Einer gibt sich mit der Abwendung der »Neuen Götter«, der »Himmlischen« vom Eros, dem »schönsten der Götter« nicht zufrieden: Prometheus.

Denn mit dieser Abwendung bricht die ganze frühe Welt zusammen. Es geschieht der kosmische Ehebruch von Himmel und Erde. Denn wenn sich Zeus auch paart, so paaren sich nicht mehr Welten. Der Himmel steht noch auf der Erde. Doch er hat die Erde unter seinen Füßen. Die Erde ist verstoßen. Die Allesbedeutende stürzt in das Unbedeutende.

Mit der Erde aber fallen die Erdensöhne, die Menschen. Der Blick der »Himmlischen«, der verächtlich die Erde übersieht, übersieht noch verächtlicher die machtlosen und dauerlosen Kinder der Erde. Die Herren des Himmels kümmert dies armselige Volk des Menschen nicht. Das Band, das die Mütter mit allem Geborenen verband, ist zerrissen.

Einer allein unter den Gottentstammten hält an diesem von Eros geknüpften Band von Himmel und Erde, von Gottheit und Menschheit fest: Prometheus.

Und darin beruht die außerordentliche Bedeutung des Prometheus-Mythos. Und darin ist ein Gleichnis mit Jesus Christus. Beide sind Mittler. Aus beiden spricht der weltenverbindende Eros. Doch während Jesus Christus vom Vater ausgeht, muß sich Prometheus gegen den »Höchsten der Väter«, wie Pindar den Zeus nennt, erheben, daß dieser die Welten nicht zerreiße und eine Willkürherrschaft auf verächtlich unterworfenem Volk errichte.

Zeus und Prometheus sind Titanensöhne. Sie sind gleichen Ranges. Jedes Herkunfts-Ressentiment fällt weg. Ihr Streit ist ein Kampf von Urtypen des Mannes. Unbegreiflich ist dem neuen Weltherrn die Liebe des Prometheus zu diesem Geschlecht von Eintagsfliegen. Verhaßt ist Prometheus die neue persönliche und zu äußerst willkürliche Herrenmacht des Zeus. Die beiden Titanensöhne ringen miteinander im nie entscheidbaren Kampf von Macht und Liebe.

Die Liebe des Prometheus schwebt im griechischen Raum nicht in der Luft. Er ist ohne sie nicht zu denken. Prometheus verkörpert als Mann die früheste Tradition, die des Eros. Der »gütige Helfer«, wie ihn der sonst zeushörige Hesiod nennt, kommt nicht als deus ex machina. Er kommt als der echte und treue Sohn der Mütter.

Der Mythos macht Gaia zur Mutter des Prometheus. Aischylos nennt Themis, die spätere Gattin des Zeus, die uralte Göttin, damit auch dadurch die große Versöhnung der beiden Todfeinde geschehe. Die logischen Geister mögen sich nicht erregen: es gibt noch andere Versionen. Der Mythos geht nicht auf das Tatsächliche, er geht auf das symbolisch Bedeutsame. In diesem symbolischen Sinne ist es wichtig, daß der Mythos Prometheus von den beiden größten Seherinnen unter den Müttern abstammen läßt. Aischylos nennt Gaia in der Orestie die Erste Seherin. Vom Vater Japetos hat Prometheus seinen unbeugsamen titanischen Trotz, von seiner Mutter, sei es nun Gaia oder Themis, die unverbrüchliche Liebe zu dem von den »Neuen Göttern« verachteten Menschengeschlecht und den Sinn für die kosmische Gerechtigkeit, die dem Ausschließlichen der »Himmlischen« ein heiliges Widerstandsrecht entgegensetzt.

Prometheus bleibt der Welt des Kronos treu, dem titanischen Bund von Himmel und Erde. Doch er trägt den Eros kosmogonos in die junge Welt des Menschen. Er bildet im Menschen den Neuen Bund von Himmel und Erde, indem er Himmelskräfte und Erdkräfte miteinander vereinigt. Sein bildhauerisches Handwerk ist dafür symbolisch. Prometheus schafft mit Feuer und Erde, er schafft den gebrannten Ton. Prometheus bringt ein neues Element in die Welt des Menschen: das Feuer. Und damit überschreitet auch er die Erdwelt der Mütter.

Prometheus hält die älteste Tradition fest, doch er trägt sie nach vorn in das hoffnungsloseste und zukunftsvollste Geschlecht des Menschen. Das ist in seinem Namen. Die Wurzel »me« deutet auf den Logos. Er ist der Vorausdenker. Zeus und Prometheus können beide den Weg der Mütter nicht mehr weiter gehen. Sie müssen beide einen neuen Weg beginnen. Sie sind die Prototypen der kommenden Jahrtausende.

Zeus vereinigt, da er zu sich selber kommt, den uralten männlichen Willen zur Macht mit dem neuen geistigen Element, dem Nous, der Einsicht. Er vereinigt den Geist der Macht und die Macht des Geistes. Und damit wird er zum Archetypus aller späteren weltlichen und geistlichen Herren.

Prometheus verläßt wie Zeus die genitalische Welt seiner titanischen Mütter und Väter. Ihm gelingt der Sprung in das Genialische. Das Genialische aber ist ihn ihm wie in allen späteren Genies ganz Eros und ganz Logos. In seinem göttlichen Genie blitzt in Prometheus die Idee eines schöpferischen Menschengeschlechtes auf. Der schöpferische Typus des Mannes kommt im griechischen Raum aus der Mutter. Er setzt ihre Linie der Fruchtbarkeit auf einer anderen, höheren Ebene fort. Er sieht &endash; wie die Mütter &endash; die Welt als schöpferisches Werden, als Kosmogonie, Theogonie, nun als Anthropogonie. So wenig aber wie die Mütter ertrugen, daß man ihre Kinder verstieß oder verschlang, so wenig kann der schöpferische Typus, der prometheische ertragen, daß man den Menschen in das bloß Geschöpfliche stößt, zur bloßen Kreatur macht, gut genug als Objekt für die vielen Künste einer Herrschaft von Unverwandten. Prometheus rettet den Menschen zum zweiten Male vor der verachtenden Macht. Er rettet das Werk der Mütter für die kommende, nun wieder männliche Zeit.

An dem Tage aber, da der Mensch sich selber verrät über seiner Produktion, verrät er Prometheus. Denn wer den Eros zum Menschen verrät, ist nicht am Werke des Prometheus. Goethe war der letzte Promethide, der am Bilde des Menschen selber schuf. Oder war er wieder der Erste?

Der Kampf zwischen Herrschaft und Schöpfertum ist noch nicht zu Ende gekämpft. Heute siegt über die schöpferischen Impulse der Neuen Zeit der Söhne ein uraltes Herrentum von solchen, die keine Herren mehr sind. Es wird gebrochen werden, auch wenn sich alle Mächte der Gewohnheit und Gewöhnlichkeit des Menschen mit ihm verbünden. Es ist ein neuer Welttag.

*

In dem Maße wie der Logos siegt, tritt der Eros in den Hintergrund. Dies geschieht so genau wie in einer mathematischen Gleichung.

Eine große Ausnahme durchbricht noch einmal das unaufhaltsame Geschehen: Platon. Was der mythische Morgen sah, das sieht verklärt der Abend des Mythos. Platon bezeugt den Neuen Gott, den Logos, doch er bezeugt ihn mit der Kraft des »schönsten der ewigen Götter«. Mit dem Eros nimmt er auch wieder den Mythos auf: der Eros ist das Herz des »Neuen Mythos«. Platon ist wie sein Meister Sokrates zugleich ganz Eros und ganz Logos. Wenn er den Neuen Gott, den neuesten verkündet, verkündet er ihn mit der Liebe des ältesten. Man kann sagen: Sokrates-Platon bezeugen erotisch den Logos. »Lösend bezwingen« sie die empfänglichen Seelen der Jünglinge.

Das »Gastmahl« Platons ist dem Gott Eros geweiht. Es ist des Gottes Elegie. Der neuen Geist, der Logos, huldigt dem »ältesten Gott«. So nennt Aristophanes, einer der tiefgründigsten Redner des Symposions, den Eros. Der »älteste Gott« ist gegenwärtig als der jüngste. Sokrates führt wie immer den Gang des Gespräches. Doch einmal ist er nicht der unfehlbare Meister. Es ist nicht von ungefähr, daß eine Frau das Weiseste vom Eros sagt. Sokrates nennt den Eros die Liebe zum Schönen. Das ist echt männlich, echt idealistisch. Es schwebt in der Luft. Die Frau, von der Sokrates erzählt, Diotima von Mantineia, die im »Faust« zur Seherin Manto wird, belehrt den Allebelehrenden, indem sie Sokrates in das zeugende und empfangende Doppelgeschehen der polaren Welt des Mythos zurückführt. Sie bestimmt den Eros als das Zeugen im Schönen, sei es in Leibern, sei es in Seelen. Das ist schon von Einer Seite aus gesagt, der männlichen. Doch die andere ist mitgemeint. Die beiden Pole bleiben dieselben: eine zeugende Kraft, die eine empfängliche sucht &endash; eine empfängliche Kraft, die eine zeugende sucht.

Diotima weiß auch noch um die kosmische Rolle des Eros. Sie nennt ihn den »Großen Dämon«, der das abgründige All verbindet. Sie kennt ihn noch als den Mittler-Gott, der zwischen den Unteren, den Sterblichen und den Unsterblichen die Brücke schlägt.

Und Sokrates-Platon lassen Diotima die noch nie gehörte Mythe der Herkunft des Eros erzählen. Diese Mythe ist schon etwas allzu sehr allegorisch und lehrhaft. Sie zeigt den Eros als den Sohn der größten Gegensätze. Sein Vater ist der Überfluß, seine Mutter die Dürftigkeit. Während eines Rausches wohnt der reiche Vater dem armen Bettlerweib bei. Was ist da aus den Urgegensätzen geworden, in denen der Eros lebt: aus der empfänglichen Leere des Schoßes und aus dem zeugenden Überschuß! Der Mann spricht. Vom Reichtum des Empfänglichen weiß er nicht mehr. Die Welt der Mütter ist eine arme Bettlerwelt geworden. Der überhebliche Logos spricht. Es ist schon sehr späte, für den Mythos zu späte Zeit.

Und so endet denn die Rede der Diotima seltsam: die noch eben vom Zeugen im Schönen sprach, spricht zuletzt vom Eros als der Sehnsucht nach der Idee. Himeros verdrängt Eros.

Und von diesem Eros-Himeros ist noch zu reden, der das letzte mythische Reich schafft, das olympische, um dann über dessen kosmischen Glanz hinaus- und hinaufzuführen zu den geistigen Himmeln der Sonne des Logos.

 

Anmerkung:
Extremer Polarismus des indischen Mythos

Der indische Mythos ist &endash; bei aller Übereinstimmung im Grunde &endash; nach den beiden Seiten der Mütter noch viel ausgesprochener als der griechische: die Mutter als Kämpferin um den Bestand des Lebens und die Mutter als Todbringerin, ist, dem Gesamtstil entsprechend, zugleich zu noch größerer Gewalt gediehen.

Indien blieb in seiner Seele Mutter. Der kastenhafte Abstand seiner hellen Einwanderer verrät nicht deren Stärke, verrät deren letzte Schwäche. Die Kurve der mythischen Linie Indiens verläuft anders als die unsrige: sie geht von der mütterlichen Allmacht aus, weicht zurück vor dem Einbruch der arischen Götter, um wieder zurückzuschwingen in die uralte Allmacht der Mutter. Das wirre Durcheinander, als das der indische Mythos noch Goethe erschien, entwirrt sich heute, nicht zuletzt dank der erstaunlichen Einfühlungskraft Heinrich Zimmers, der endlich den Großen Geist mit großem Geist erschloß.

Bedeutsam für die Mutter als Kämpferin ist die indische Mythe ihres Sieges über den Stierdämon. Immer wieder müssen nach dem indischen Mythos Rettungen geschehen im Einbruch dämonischer Mächte in die Welt. Ungötter bedrohen immer wieder die Götter. Nun aber ist ein Ungott da, vor dem die Götter ratlos sind. Der Ungott des rasenden Lebens ist da. Der noch ungebrochene Lebenstrieb selber. Er wirkt in vielerlei Gestalt sein weltverheerendes Unwesen. Seine eigentliche Gestalt aber findet er im Stier. Im Stier ist zugleich das Dumpfe der Lebenskraft und ihr blindes Rasen. Er ist das Symbol der männlichen Kraft auf dem Naturgrund. Auch er entstammt der Mutter, doch er ist ihr entlaufen. Er ist ein tobendes Element, das keine Grenze duldet. Und gereizt ist er die Wut selbst, der die Erde auf die Hörner nimmt und zerreißt.

Diese Mythe ist in ihren Urbestandteilen wohl älter als Götter und Ungötter und geht auf die Zeit zurück, da die Mütter es als Erste unternahmen, die blinde Tierkraft des männlichen Elementes zu bändigen.

Auch die griechischen Götter hatten Hilfe nötig gegen die Titanen, die kosmischen Urmächte und gegen die Giganten, die Riesenkinder der Erde. Sie suchten diese Hilfe selbst bei unterweltlichen Ungeheuern, wenn diese sich nur den »Neuen Göttern« unterwarfen. Sie suchten Hilfe aber vor allem bei gottmenschlichen Helden wie Herakles. Nie aber hören wir, daß sie Hilfe bei den Großen Müttern suchten. Was für ein Zeichen für das abendländische Geschick! Diese Fatalität ist jedoch insofern begreiflich, als auf abendländischem Boden die Mütter im Bunde mit den Titanen und den Giganten standen, blind, weil diese ihre Kinder sind.

Auf indischem Boden aber scheut sich die Muttergottheit nicht, die furchtbaren Ungestalten der Erdkraft zu schlagen. Die indische »Mutter« ist nicht identisch mit der Erde, die eine besondere Göttin ist. Und so vermag die »Mutter« die Verwandtschaft der riesigen Ausgeburten der Erde mit dem Großen Tier zu durchschauen.

Die Götter aber vermögen den Kampf mit dem Stierdämon und seinen Heerscharen nicht zu bestehen, weil sie späte Erscheinungen sind, schon zu sondergestaltig, um eine solche elementare Urkraft zu schlagen. Der Stierdämon ist so geladen mit Mayakraft, zeugender und zerstörender, daß weder Indra, der König der Götter, der Zeus der Inder, noch Brahma, der Weise, noch Vischnu, der Schöpfer, noch der indische Dionysos, Shivah, der Vereiniger und Zerstörer, gegen ihn aufzukommen vermögen.

In ihrer Ohnmacht werden die Götter jedoch zu einer wirklich göttlichen Geschichte fähig. Sie werden indisch weise. Sie überwinden ihren Stolz, so daß sie alle ihre versonderten Kräfte in die Urquelle, in die »Mutter« zurückleiten, mit aller ihrer Mayakraft die Große Maya übermächtig machen.

Eine im Abendland, das immer auf der Flucht nach vorn ist, undenkbare Geschichte. Eine Geschichte, die so mächtig ist, unsere eitle männliche Selbstgefälligkeit zu erschüttern. Der Erdteil des Fortschrittes würde lieber untergehen, als seine Teilkräfte, die durch Sonderung hochentwickelten, doch nicht zu vereinenden, dem ursprünglichen Ganzen des Seins zurückzugeben, um es siegreich zu machen gegen weltzerstörende, weil dem Ursprung entlaufene wilde Elemente.

Nur die Große Maya selber kann gegen die entfesselte Maya des Stierdämons, die blinde, siegen, denn sie allein besitzt die Kraft der Hellsicht wie die der Verblendung. Und wirklich: da die Götter alle ihre göttlichen Teilkräfte der Muttergottheit wieder zurückfließen lassen, wächst die Geheime, die nur im Verborgenen Mächtige zur unbesieglichen und siegreichen »Göttin«. Die »Geburt der Göttin« leitet den »Kampf mit dem Stierdämon« ein.

An diesem Kampf berauschte sich die flügelmächtige indische Phantasie &endash; wir dürfen ihr nicht folgen: doch auch für uns bleibt die Große Weisheit, daß aus dem Ganzen das Heil kommt, daß nur die Kraft der Kräfte imstande ist, absonderliche und damit dämonische Mächte wie den Wilden Stier zu besiegen.

*

Der Kampf mit dem Stierdämon ist uralt und weithin über das mythische Land des Menschen verbreitet. Ursprünglich ist es der Kampf zwischen dem Zeitalter des Stiers, der wilden und blinden Elementarkraft des Manntieres Mensch und dem Zeitalter der Kuh, in dem das sanftere Gesetz der Mütter siegt, das des unwillkürlichen Gebärens und das der schenkenden Tugend des Nährens.

Wir sind zu verdorben, um dieses Wort »Kuh« noch mit der urtümlichen Bedeutung auszusprechen, das heißt im Zusammenhang der kosmischen Verwandtschaften. Das Symbolwort ist in wieder männlicher Zeit längst zu einem verächtlichen Wort geworden, ja zu einem Schimpfwort. Die Fortgeschrittenen wundern sich, daß heute noch in Indien die Kuh verehrt wird &endash; ermessen nicht, was das bedeutet, ermessen den Sieg der »Mutter« über Indien nicht. Die »heilige Kuh« aber ist eine Blasphemie für die Frommen, die nur Gott und den Menschen kennen und nennen. Schritt für Schritt sehen wir Christen und Antichristen in derselben fanatischen Ausschließlichkeit.

Für den mythischen Menschen sprechen alle Wesen und Dinge. Diese Sprache ist eine Symbolsprache. Die sanfte Kuh spricht wie der wilde Stier eine ganze Welt aus. Die mythische Welt ist Ausdruckswelt. Ihre Maße sind die der symbolischen Expression. Die weiße süße Milch der Kuh deutet auf einen anderen Ursprung des Lebens als der wild herausgeschleuderte zeugungsmächtige Saft des Stiers. Und wer den beiden Tieren in die Augen schaut, der sieht zwei abgründige verschiedene Welten. Das drangvoll zornige Auge des Stiers und die große Leere und Ruhe des Kuhauges sprachen dem mythischen Menschen von zwei Urwesen. Hera, die Königin unter den olympischen Göttinnen wurde kuhäugig genannt. Spätere erst nahmen Anstoß daran und übersetzten das klare ((boôpis)), mit großäugig oder ruhenden Auges. Die Welt des Mythos ist noch eine Welt voller Verwandtschaft: das Auge der Kuh sprach das unsichtbare Wesen der olympischen Königin aus.

Niemals fiel es dem Mythos ein, eine der beiden Seiten der Welt unbedingt zu verneinen. Selbst in der schärfsten Zeit des Kampfes der Mütter mit dem »Wilden Mann« wurde das Männlich-Gewaltige nie ausgeschlossen. Es mußte gebändigt werden, es durfte nicht gebrochen werden. Im Zeitalter des Zeus löst eine Gleichgewichtslage den einmal weltwendenden Kampf ab. Zeus erscheint als Stier, man denke an Europa. Hera aber ist die Herrin des Kultes der Kuh. Als Zeus seine Geliebte, Io, in eine Kuh verwandelt, verlangt Hera sie in ihr heiliges Gehege, womit deren tragische Geschichte beginnt, die jedoch nicht hierher gehört.

Immer wieder ist das wilde Element, das in die gestaltete Welt des Menschen einbricht, zurückzuschlagen, zu bändigen, zu besiegen. Doch nun hören wir von Helden wie Herakles und Theseus, daß sie den Kampf mit dem Stierdämon bestehen. Und bis heute blieb es die Sache des sehend kämpfenden Mannes, die blinde Elementarkraft des Stieres zu schlagen. Noch heute ist der uralte Kampf im Gange, doch nun nur noch als Schauspiel, das seinen ursprünglichen sakralen Sinn verloren hat.

Die mythischen Kämpfe der Helden Griechenlands mit dem Stierdämon sind verbunden mit der Abwendung vom alten zerstörerischen Element und der Zuwendung zur Kultur der Erde.

In den Eleusinen, den Mutter-Mysterien, von denen Vergil noch spricht als von den »Eleusinae matris«, wird die erste Einjochung des »Wilden Stieres« und der erste Dienst des »Ackerstieres« gefeiert.

Aufschlußreich ist die Geschichte der Deianeira. Sie ist die schöne Tochter des Oineus, des ersten Pflanzers der aitolischen Weinberge. Deianeira wird wild umworben von Acheloos, einem Flußgott, der bald als Schlange, bald als Stier, bald als Stiermensch erscheint, dem Ströme aus dem wildbärtigen Mund fließen. Stier und Strom werden mythisch oft in eins gesehen. Der Stier ist das Symbol des wilden, wütenden Stromes, der das schöne Land, das eben erst bebaute, bedroht. Als Schlange erwürgt der Strom das Land, als Stier wühlt er es auf. Herakles befreit Deianeira, die »Männerfeindliche«, indem er mit dem Strom-Stier kämpft, bis dessen Horn gebrochen ist, mit dem er die schöne Erde wieder aufreißt. Deianeira wird zur Gattin des Herakles, dessen Tod sie unabsichtlich bewirkt, eine Geschichte die wiederum nicht hierher gehört.

Ebenso eng verbunden mit dem Schutz des fruchtbaren Landes ist die Geschichte des marathonischen Stiers. Herakles bändigte ihn, doch er verlief sich wieder und streifte zerstörend durch die attischen Kulturen. Helden kämpfen mit ihm, doch er überrennt sie. Nur dem heraklesgleichen Helden Theseus gelingt es, den Rasenden zu bändigen und lebendig nach Athen zu bringen, wo er ihn Apollon opfert.

Am bekanntesten ist jedoch die Geschichte des Kampfes mit dem Minotauros, aus dem der Held Theseus mit unvergänglichem Ruhm hervorgeht. Minotauros ist der Stier des Minos, des großen Königs von Kreta. Er haust in einem Labyrinthe, diesem anderen Chaos. Das Chaotisch-Elementare der Stiernatur findet darin seinen Ausdruck. Minos, über Athen erzürnt, fordert von diesem alle neun Jahre sieben Knaben und sieben Mädchen. Die Zahlen bezeugen, daß wir im väterlichen Zeus-Zeitalter stehen. Als die Schar zum dritten Male ausgeliefert wird, da fährt Theseus mit den Opfern. Er wagt es, in das Labyrinth, aus dem niemand noch den Ausgang wieder fand, einzudringen. Und er wagt es, das Ungeheuer, das niemand noch besiegte, anzugehen. Theseus besiegt den Stier-Dämon. Und er tötet ihn. Am Faden der Ariadne, der dem Stier Geweihten, findet er den Ausgang wieder, wo er mit den erlösten Opfern ein Fest feiert und das erste Liebesfest mit der Tochter des Minos, die er zugleich befreite &endash; doch auch diese Geschichte gehört nicht mehr hierher.

Nun aber fehlt im griechischen Mythos der Kontrapunkt zu den vielen Geschichten des Kampfes mit dem Stier-Damön nicht. Der Mythos ist immer kontrapunktisch. Ebenso leidenschaftlich wie der Stier um des mütterlichen Landes willen bekämpft und gebändigt wird &endash; ebenso leidenschaftlich begehrt die Pathophilie des Weibes in harten Ordnungen des apollinischen Reiches darnach, von seiner wilden Kraft zerwühlt zu wer den.

Aufsehenerregend war dafür allezeit die Geschichte der Pasiphae ((Pasiphaç)), der Gattin des Minos. Poseidon, dem der Stier heilig ist, schenkte dem Minos einen Opferstier. Dieser Stier aber war so schön in seiner Gewalt, daß Minos den Frevel beging, das Geschenk des Gottes für sich zu behalten, den Stier in sein Gehegen zu nehmen. Auch hier findet sich das kosmisch Verwandte: wie die brechende Wucht der Woge ist die Wut des Rasenden Stieres. Poseidon erzürnt und reizt den Stier, daß er aus dem Gehege ausbricht und Kreta allesverwüstend durchrast. Pasiphae, von seiner Kraft verblendet, jagt dem Flüchtenden über Berge und durch Wälder nach. Man erzählt, daß Minotauros die Frucht dieser brünstigen Liebe sei. Diese Geschichte hat selbst im mythischen Reich Anstoß erregt. Das aber kann sie nur, wenn sie wörtlich genommen wird. Pasiphae ist die Tochter des Helios, des Sonnengottes, doch sie ist Mond, schimmernd weiß, wie der Mond aber in seiner Hörnung kuhgestaltig. Durchgängig hat der Mythos den Mond in unfehlbarer Symbolik als Kuh gesehen. Und so sind die Dinge weniger romanhaft und schon gar nicht pervers. Die Mondkuh begehrt nach dem Sonnenstier.

Was aber hier als Einzelschicksal uns berichtet wird, das ist bekannter Brauch des dionysischen Kultes, der wie eine wiederkehrende Woge der Vorzeit in die Formenstarre des apollinischen Griechenland einbricht. Sein örtlicher Ursprung ist Asien, sein Wesensursprung das Weib im Weibe. So rufen die Frauen von Elis nach Dionysos, rufen nach ihm als dem Stier, rufen nach dem ((tayromorphos)), dem Stiergestaltigen:

Komm, Dionysos Held, in deinen heiligen Tempel zu Elis, komm mit den Charitinnen in den Tempel, stampfend mit dem Stierfuße, mächtiger Stier.

So ruft der gehaltene Geist des griechischen Mythos nach dem Ungehaltenen und so gleicht der Mythos beständig die Gewichte aus.

*

Anders der indische Mythos. Das indische Land und Volk ist immer vom Maßlosen bedroht. Es kennt die Renaissance des Barbarischen nicht, die das leicht sich schwächende Europa des längst schon überbewußten Menschen immer wieder notwendig hat. Indien muß sich ungleich heftiger gegen das grenzenlose Element wehren. So geht sein Endkampf mit dem Stier-Dämon auf Tod und Leben. So muß die ursprünglichste Kraft die anfänglichste besiegen. So muß der Stier-Dämon getötet werden.

Die indische Spannung ist eine andere. Die Mutter ist der Held selber, der den leben- und landbedrohenden wilden Stier der männlichen Zerstörungskraft besiegt. Wie die Mutter aber eine unvergleichliche Macht des Lebens ist, ist sie im indischen Raume auch eine unvergleichliche Macht des Todes.

Die rote Mutter des Lebens ist auch die schwarze Mutter des Todes: Kali und Maha-Kali, die Große Mutter Tod.

Das Erstaunlichste der indischen Mythe vom »Kampf mit dem Stierdämon« ist das für den abendländischen Hochmut des Mannes schlechthin Undenkbare: Brahma selber, der Weiseste der Götter bittet die »Mutter« um Hilfe:

Du bist »DIE«! ... bist die höchste mütterliche Göttin. ... Aus dir kommt die Welt, du erhältst sie und am Ende verschlingst du sie wieder. Dein Wesen ist das Hervorgehen, dein Wesen ist der Bestand &endash; dein Wesen ist das Wieder-in-dich-Hineinnehmen am Ende der Welt, o du, die du die Welt bist! Große Weisheit, Große Maya, Große Einsicht, Großes Gedenken ... Große Verblendung, verehrungswürdige Große Göttin &endash; Große Widergöttin! Du bist die Nacht des Weltentodes, die Große Nacht (der Hellsicht) und die Große Nacht der Verblendung, Unerbittliche! &endash; Du bist das Glück, Herrin, bist die Scheu, bist der Kluge Sinn, Verstehen ist dein Zeichen, du bist die Ehrfurcht, Gedeihen, Gesegnetsein, Gelassenheit und Geduld. Was irgendwo west, gut oder bös, &endash; du, die du aller Wesen bist, bist die Kraft von alledem &endash; wie soll ich dich da preisen?

Dieses Bittgebet, das uns Heinrich Zimmer in seiner »Maya« überliefert, ist jedoch nicht nur beredt in seiner Demütigung der Götter vor der Muttergottheit. Es hebt die beiden Seiten der »Göttin« mit dem expressiven Nachdruck des indischen Mythos heraus. Die einseitigen Götter erkennen: durch ihre Doppelseitigkeit ist die Göttin allein imstande, den Stierdämon zu besiegen. Selbst Shiva, der Zweieinige, vermag dies nicht &endash; er, der doch zur Rettung der Götter Erschienene. Shiva ist die Wiedervereinigung der Gegensätze &endash; die »Göttin« aber ist der all-eine Ursprung. Sie ist undenkbar früher als der paradoxe Gott. Die hellen Götter aber vermögen nichts gegen die blutdunkle Kraft des Stierdämons &endash; so wenig wie die heutigen Intellektuellen etwas gegen das unterirdisch Finstere ihrer eigenen Seelen wie der Seele der Massen. Nur die »Mutter«, die im Dunklen hellsichtig ist und im Lichte geblendet, die denkt, wo das Denken aufhört und die unbedenklich ist, wo es beginnt &endash; vermag den Stierdämon, die blinde Urkraft zu besiegen.

*

Der indische Mythos ist fanatisch darauf bedacht, die beiden Pole der Welt herauszustellen. Es genügt ihm keine Farbe, das Zwiegesicht Welt grell hervortreten zu lassen. Dann allein scheint ihm, daß er der Wahrheit diene.

Kali, die Muttergottheit aber ist die Gestalt, in der die schwebende Lage der Welt zwischen dem Schönen und dem Schrecklichen sich am mächtigsten bekundet. Und da die »glückspendende Kali« dem natürlichen Menschen meist eindeutig in den Müttern sich verkörpert, wendet sich die expressive Kunst des indischen Geistmenschen meist der »schwarzen Kali« zu. Über der allgebärenden Mutter soll nie die allverzehrende, über der Leben Schenkende nie die Bringerin des Todes, über der Sichverströmenden nie die Allesverschlingende vergessen werden.

Kali ist die weibliche Gestalt der Kala, der Zeit. Als Zeit zeitigt sie das All, als Zeit vernichtet sie es. Wir wissen heute in Meeren von Wissen nicht, was der Mythos schon längst unübertrefflich scharf herausgestellt hat: wir wissen heut noch nicht um die Doppelrolle der Zeit. Wir kennen das Zwiegesicht der Zeit nicht, da wir wie kein früheres Geschlecht Benommene von der Zeit, da wir als Söhne, die immer die Neue Zeit sind, wie kein Geschlecht vor uns, Mörder im Dienste der allesvernichtenden Zeit sind. Der Wettlauf des Lebens mit dem Tode in der Welt der Mütter wiederholt sich heute in der Welt der Söhne: um so mehr wir vernichten, müssen wir Neues hervorbringen &endash; um so mehr wir Neues hervorbringen, müssen wir vernichten und werden wir vernichtet. Die Raserei unserer Produktion hat mehr als politisch-wirtschaftliche Gründe: sie kämpft mit dem Leerlauf des Nichts.

Es bleibt aber der Unterschied, der die frühe und die späte Welt in das Unvergleichliche auseinanderhält: Der Mythos sah das Zwiegesicht der Zeit ein und vermied den blinden Anheimfall an ihr Verhängnis &endash; wir aber, wissensvoll und weisheitsleer, gehen in unserer Freiheit fataler den Weg des Verhängnisses als die unwissenden, aber hellsichtigen Mütter. Kali schafft die vollkommene Illusion &endash; und schafft zugleich die vollkommene Desillusion der Zeit.

Die indische Kunst schuf Schreckensbilder der »schwarzen Kali«. Auf einem berühmten Bild fährt Kali in einem Boote über ein Meer, das aus dem Blute ihrer Kinder besteht. Doch nicht genug: gierig schlürft die Grausame aus der Schale eines Totenschädels den berauschenden Trank des warmen Blutes. Doch ist bei solchen einseitigen Bildern meist schon ein Geist am Werke, der die »Mutter« &endash; wie man heute sagen würde &endash; »entlarven« möchte, um sie zugunsten des abstrakt erkennenden Geistes, des Logos, zu entthronen.

Der echte mythische Geist ist daran zu erkennen, daß es ihm nicht um die Eine, daß es ihm um die ganze Wahrheit geht. Auch der mythische Geist ist eine erkennender Geist, ja, ein fanatischer Geist: sein Fanatismus aber gehört der panischen, der Allwahrheit.

So hält denn die mythische Kunst das Doppelgesicht der Kali fest, wenn der fanatische Wahrheitsgeist auch meist mit schwarzen Farben malt. So zeigt ein anderes Bild die Kali tanzende auf zwei Shivas: einem leblosen und einem unter ihren Füßen erwachenden. Sie ist ganz schwarz. An Stelle eines Blumenkranzes trägt sie einen Kranz von Totenschädeln, der ihr bis unter die Knie reicht. In der einen der rechten Hände, der im Reich des Mythos immer männlichen, trägt sie ein Schwert, richterlich hocherhoben, in der anderen Rechten die Schere, die den Lebensfaden abschneidet &endash; wie die dritte der griechischen Parzen. In der einen linken Hand, der Herzhand, der immer mutterheiligen, trägt sie eine volle Schale, die Nahrung des Lebens und in der anderen Linken die Lotosblume, die Blüte des Lebens.

Der indische Mythos zeigt ein Übergewicht des Dunklen wie der griechische ein Übergewicht an Licht. Im griechischen Mythos ist schon alles Frühe, noch Unerhellte von einem geheimen Licht durchstrahlt und nach einem geheimen Maß abgewogen. Es ist, als wäre Apollon immer schon anwesend. Und so dunkeldrohend das Todes-Schicksal auch noch über der späten mythischen Welt hängt &endash; die Luft der Welt ist lichter Glanz. Und während die furchtbare Größe des indischen Mythos einen ewigen unabänderlichen Zustand der Welt enthüllt, ist nicht erst der Logos, ist schon der griechische Mythos ungeduldig auf dem Weg aus dem Dunkel der Nacht in das Licht des Tages.

Wir können uns vorstellen, wie die Bilder der »schwarzen Kali« Goethe abgestoßen hätten. Sie hätten eine Schwäche in ihm entblößt: das nicht nur goethesche, das gesamtabendländische Unvermögen, die beiden Gesichter der Welt, das Todesgesicht wie das des Lebens zu bestehen. Vielleicht büßen wir heute dafür, daß wir dazu nie den vollen Mut hatten, sondern in das Licht entliefen.

Die Kali-Bilder enthüllen aber auch eine Stärke des goetheschen wie des gesamtabendländischen Menschen: die niemals beweisbare, doch auch nie widerlegbare Gläubigkeit an den Triumph des Lebens über den Tod. Wir haben in den Müttern allezeit das Übergewicht des Lebens gesehen. Selbst das Mittelalter, das an die Schwarzmalerei der Kali-Bilder am nächsten herankam in seinen nun väterlichen Drohungen mit dem »trionfo della morte«, nahm die Mutter aus und kam zu ihrem höchsten Kulte. Eva erschien als Sünderin &endash; nie als »schwarze Kali«. Und Maria trat in ungekanntem Glanze an ihre Stelle.

Es ist abendländisches Paradoxon, daß wir, die wir uns viel schroffer von den Müttern abwandten, das Ewig-Mütterliche ungleich heiliger bewahrten, als die immer von der schwarzen Mutter bedrohten Inder.

Vielleicht ist dies Rätsel zu lösen. Im Osten blieb die Welt Mutter, die Blut trinken mußte, um Blut verströmen zu können. Im Westen aber wurde ihr Urbild durch den »Sohn« in den Himmel getragen, die Mutter &endash; wie noch im Faust-Schluß &endash; zur Gottesmutter und Himmelskönigin erhöht.

Auf eine andere Weise kann dies so gesagt werden: Der Osten blieb als Welt bis auf unsere Tage kosmisch-weiblich. Der Westen hingegen hat die Welt als Materie unterworfen &endash; die Frau selbst aber hat er in das Personhafte Gottes und des Menschen gerettet.

Darüber jedoch in einem anderen Werk: der »Geburt des Sohnes«.

 

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DIE NEUEN GÖTTER
ODER
DIE EINPFLANZUNG DES MENSCHEN IN DIE HIMMEL

 

ERSTES KAPITEL
DIE ARCHETYPEN

DER INNEREN MENSCHWERDUNG

Die »Neuen Götter«, die »Himmlischen«

Hesiod kennt zwei mythische Zeitalter, das vorolympische und das olympische. Im Mittelpunkt des ersten Reiches steht Gaia, im Mittelpunkt des zweiten Zeus.

Um aber die Genesis des mythischen Geistes auch in den Übergängen zu erkennen, ist es gut, drei Reiche zu unterscheiden: Das Urreich der Mütter, das erst heute wieder entdeckte, das unbelichtete, in dem sie eine gewisse Selbstgenugsamkeit wahren. Das Zwischenreich des Bundes von Erde und Himmel, Gaia und Uranos, Rhea und Kronos, das noch vorwiegend unter weiblich-mütterlichem Zeichen steht, wiewohl männliche Götter die Herrschaft ausüben. Das olympische Reich unter Zeus, dem Weltherr und Weltvater, seinem Sohne Apollon und seiner Tochter Athene, in dem der männliche Geist über den weiblichen siegt, damit aber der Himmel über die Erde, das Licht über das Dunkel, der Tag über die Nacht.

Von diesem dritten und letzten der mythischen Zeitalter ist zu sagen, daß es das Zeitalter des Logos vorausverkündet, ja vorausnimmt.

Die olympischen Götter überwinden das Chaos und seine Kinder, den Todesschatten und die Nacht. Sie erheben sich in die Höhe des Aithçrs, in den Glanz der himmlischen Luft und in den helleuchtenden Tag. Der Wechsel der Sphären geschieht mit einer großartigen Entschiedenheit, wie sie kein anderer Mythos kennt.

Das olympische Reich entgeht zugleich der Schwerkraft der Erde. Die Bleigewichte, die tödlichen, die auf den Müttern und durch die Mütter auf allen Wesen und Dingen lasteten, fallen. Die Elevationskraft der Himmel triumphiert über die Gravitationskraft der Erde. Der Adler des Geistes steigt steil auf in unvergleichlicher Kraft des Aufschwungs.

Aischylos reden in seinem »Prometheus« mit Recht von »Neuen Göttern«, von »Himmlischen«. Wohl stammen alle in ununterbrochener Genealogie von den Urgottheiten der Erde und des Himmels, Gaia und Uranos, ab. Die »Neuen Götter« kommen nicht von außen. Doch es geschieht eine innere Wandlung wie die durch die Muttergottheit. Sie kann in ihren Folgen nur mit der ersten, der maternalen Revolution verglichen werden.

Das Zeitalter der Väter beginnt. Sein erster Himmel ist erreicht. Noch steht der Himmel auf der Erde, doch die Luft der Welt ist gewandelt. Die Erhebung über die Ursphäre des Chaos, die Nacht und über die Schwere der gründigen Erde bringt eine wunderbare Erleichterung mit sich, die Gott und Mensch beglückt. Denn wenn auch der Mensch mit der Erde fiel, so stieg er doch zugleich auf mit den Bildern der »Himmlischen«. Es gab eine Welt des Lichts und des lichten Seins. Wie einmal durch die Mütter im abgeschlossenen Tiermenschen ein göttlich Offenes durch den Aufschluß der Erdtiefe erreicht wurde &endash; so geschieht nun durch die »Neuen Götter« der zweite Schritt in das Offene als Aufschwung in die Höhe der Himmel.

Die »Himmlischen« brechen aus den erstarrten Winterwelten des Schicksals unwiderstehlich wie Frühlinge auf. Noch gelingt es den Olympischen nicht, das schreckende Schicksal wie einen bösen Alptraum abzuschütteln. Die gewittrige Wolke hängt noch in dunkler Schwere in die neue, die heitere Welt. Die mythische Tragödie sieht in zwei Abgründe: in den Abgrund des Alten Terrors der Muttergottheiten und in den Abgrund der Neuen Hybris von Göttern, Helden und Menschen. Doch sie sieht die Abgründe von einem neuen Grund aus, dem göttlichen Maß. Und von ihrem Grund aus hat die Tragödie den Mut, die Abgründe, die in der unvergleichlichen Bewußtheit der Griechen aufklaffen, heroisch zu bestehen.

Homer aber feiert den »Olympischen Frühling« mit den Festen von Heiterkeit. So grau die Welt des Schicksals war, so bunt wie Wiesen wird sie im Anhauch der himmlischen Luft.

*

Wenn das letzte mythische Reich eine Vorverkündigung, ja eine Vorausnahme des Logos-Reiches ist, so ist damit nicht gesagt, daß es eine bloße Vorstufe bedeute.

Der Logos hat in keiner Weise, zu keiner Zeit und an keinem Ort die Vollkommenheit der Gestalt Apollons erreicht. Kein Philosoph, auch der göttlichste nicht, Platon, kommt an das Bild Apollons auch nur entfernt heran.

Der Logos ist kein Höheres als der Mythos, er ist ein Anderes. Wir zweifeln keinen Augenblick daran, daß er notwendig, ja heilsam war &endash; ebensowenig aber an seiner nur anderen Fragwürdigkeit. Die wählerische Ausschließlichkeit des Logos ist zu wägen mit der wahllosen Einschließlichkeit des Mythos, sein streitender Charakter mit dem duldsamen, seine Abstraktheit mit der Anschaulichkeit des Mythos. Heute ist der Logos umstritten wie einmal der Mythos.

Für das 19. Jahrhundert war es eine Selbstverständlichkeit, den Weg des Mythos zum Logos als einen fraglosen Fortschritt zu sehen. Und es war für die in diesem Jahrhundert herrschende Professorokratie über den Geist völlig ausgemacht, daß das abstrakte Begriffsdenken eine »höhere Stufe« darstelle gegenüber dem anschaulich bildhaften.

Doch nicht nur das 19. Jahrhundert dachte so &endash; zwei Jahrtausende war dies eine fraglose Sache. Doch die Väter hatten noch zu kämpfen und sie standen unbemerkt in neuen mythischen Welten. Kein Jahrhundert war so simplistisch verschlossen für die mythische Welt wie das 19. Jahrhundert &endash; das als Erstes in einem Entgegenlaufen der Gegensätze den Mythos als eigene Welt und Weltsprache wieder entdeckte.

Kleiner Exkurs über den heutigen Streit über den Mythos

Heute entdecken Theologen endlich den durch und durch mythischen Charakter der Heiligen Schrift. Von Adam und Eva bis zu Maria, der jungfräulichen Mutter, die vom Heiligen Geist empfangen hat und von dem Gott, der den Menschen nach seinem Bilde erschuf, bis zu dem Vatergott, der in seinem Sohn seiner Schöpfung aus Liebe zu Hilfe eilt, ist eine einzige mythische Geschichte. Schöpfung und Erlösung sind mythische Ereignisse. Das Paradies ist ein mythisches Land, nirgendwo und überall zu finden. Und Kain und Abel sind nicht weniger mythische Figuren als Prometheus und Epimetheus. Seitenlang wäre so fortzufahren. Und auch wo der Mythos geschichtliche Figuren ermißt, wie bei Moses, dem Stifter der alttestamentarischen Religion und bei Jesus von Nazareth, dem Stifter der neutestamentarischen, ist Mythos, transzendente Geschichte, die nicht mit ihrem Faktischen zu uns spricht, deren mythischer Gehalt uns gewaltig anspricht. Was ist Jesus von Nazareth, wenn ihm seine mythische Bedeutung genommen wird? Ein armer Narr, der sich als Sohn Gottes wähnt und über die Mächte des Himmels zu verfügen glaubt! Dann wirklich ein Übeltäter, der blasphemisch die alte Religion des Einen ausschließlichen Gottes antastet! Da ist nichts zu verrücken: mythisch ist die ganze christliche Urgeschichte &endash; mythisch ist der Kampf mit dem Teufel, mythisch die Hilfe der Engel, mythisch das Kommen des Himmelreiches, mythisch die Luft der Gleichnisse.

Die Theologen aber, die den mythischen Charakter der Heiligen Schrift endlich entdecken, gehen sogleich an das, was sie »Entmythologisierung« nennen. Diese vollendet die immer radikalere »Entsymbolisierung« der christlichen Welt durch den protestantischen Geist. Warum der Eifer, das Christentum vor dem Mythos zu retten? Warum der Haß gegen ihn?

Die rechtgläubigen Theologen sahen bisher in der Heiligen Schrift im Gegensatz zu den Mythen der Erde die Eine Offenbarung des Einen Gottes. Was die Heilige Schrift enthält, war wahr, denn es war von Gott. Offenbarung hob sich in das Unvergleichliche von den Mythen ab. Und es fiel nicht schwer, die Mythen als reine poetische Erfindungen abzutun, ja dem Teufel zuzuschreiben. Man glaubte, glaubte wörtlich. In sechs Tagen hat Gott die Welt erschaffen. Und aus Ton den ersten Menschen Adam. Und aus seiner Rippe das Weib Eva. Das war nicht mythisch-symbolische Kunde, das war geoffenbarte Geschichte. Und das konnte einen rechten Gläubigen nicht irremachen, daß auch die Mohammedaner von Offenbarung sprachen und alle, die nicht an diese glaubten, zu Ungläubigen machten. Und doch war da ein anderes Heiliges Buch und ein anderer Buchstabe. Darüber entbrannten Kriege des Glaubens. Solche aber entzündeten sich auch mitten in der Christenheit. Rechter Glaube stand wider rechten Glauben. Und die Unterliegenden nannte man Ketzer. Verfolgung, Großinquisition, Feuertod, Marter säumt den Weg des geoffenbarten Glaubens.

Doch es kam über all dieser Fatalität eine Zeit, in der der naive Glaube starb. Es kam die Moderne, die mit bubenhafter Frechheit darnach fragte, ob denn wirklich diese Geschichte »wahr« sei, die so selbstverständlich hingestellte. Und da mußte es sich zuletzt erweisen, daß die Heilige Geschichte von Anfang bis zum Ende in dem neuen Sinne des Faktischen nicht wahr sein konnte. Es war nicht so, daß Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen hatte. Und es war nicht so, daß Adam, der erste Mensch, aus Ton gebildet wurde. Doch auch das Neue Testament war voller unglaubwürdiger Dinge wie die Empfängnis der Maria durch den Heiligen Geist, wie Mariä Himmelfahrt, die Gottessohnschaft Jesu, seine Auferstehung und Wiederkehr. Und da sprach der moderne rationalistische Geist sein Wort: dies alles ist »nur Mythus«. Und er konnte sich nicht genug tun, alles mit »nur« zu erklären.

Die Geschichte bezeugte ein anderes Mal ihren tragischen Charakter: dem naiven, doch herrschsüchtigen Glauben der Väter antwortete in wachsender Frechheit ein aufklärerisch-rebellierender Unglaube der Söhne. Mit dem Gesetz erhobenen Fürwahrhalten der Dogmen der Väter aber fiel der Glaube an transzendente Mächte überhaupt.

Und wenn sich nun auch die Pioniere der »Entmythologisierung« gegen den Verdacht wehren, der rationalistischen Moderne entsprechen zu wollen, um so das Christentum im letzten Augenblick noch zu retten, so ist dies doch kein bloßer Verdacht. Die reformatorische Herkunft des Protestantismus ist alles andere als eine rationalistische &endash; und doch hat der Protestantismus aus dem Geiste der Kritik selber rebellisch den neuzeitlichen Rationalismus begünstigt und ihm den Weg gebahnt. Und es bleibt ein Stück seiner Kurzsichtigkeit, für eine längst fragwürdig gewordene Moderne die ungleich dauerfestere mythische Bedeutsamkeit der christlichen Urgeschichte zu opfern. Während die katholische Kirche in einer Verwegenheit in extremis die leibliche Aufnahme der Mutter Jesu Christi, der »Mutter Gottes« in die Himmel des Vaters zum kirchlichen Dogma erhebt &endash; geht der Protestantismus mit seinem ganz und gar nicht reformatorischen, doch übermächtig-rationalistischen Geist an die Beseitigung des Ärgernisses der Mythologie, um die »Frohe Botschaft« dem »modernen Menschen« wieder näherzubringen.

Die »Entmythologisierung« aber ist der zweite Streich, mit dem die moderne Theologie die Heilige Schrift der Christen umbringt. Der erste Streich war die liberale Bibelkritik mit der »Waffe der Wissenschaft«. Diese Bibelkritik löste den Kanon auf, zerstörte seine Einheit, verlor über jüdischen und griechischen Einflüssen das allesverbindende »geistige Band«. Auf den naiven Glauben an den Buchstaben folgte ein kritisches Wissen um den Buchstaben. Was aber konnte die Christenheit noch anfangen mit einem überall unsicheren Text

Wenn es jedoch gilt, das Christentum für den »modernen Menschen« zu retten, es seiner Geistesweise, der immer noch aufklärerischen anzupassen, so muß auch an die »Entmagnetisierung« der Schrift gegangen werden. Denn wer glaubt da »noch« an das magische Wort, durch das die Welt erschaffen wurde: »Und Gott sprach: Es werde Licht &endash; und es ward Licht.«? Wer glaubt den wunderbaren Taten Jesu Christi, wenn nicht Gläubige? Dem Wandel auf dem Wasser, der Beschwörung des Sturmes durch das befehlende Wort? Der Vertreibung der Dämonen und ihrer Verbannung in die Schweine? Den vielen magischen Heilungen: »Stehe auf, denn siehe, dein Glaube hat dir geholfen.« Der Wiedererweckung des Lazarus. Wie hinfällig ist das alles, wenn es der leeren Vernünftigkeit, der sich aufblähenden, unterworfen wird! Man wird aber die merkwürdige Entdeckung machen, daß im Gegensatz zum griechischen Mythos, dem Reich des Auges, die ganze Heilige Schrift von Anfang bis zum Ende voll ist von magischer Kraft und Wirkung &endash; dem Glauben an das schöpferische Wort gemäß, dem Gehöre hörig. Mehr als die mythische Gestalt ist da die magische Gewalt in ihrer Macht.

Doch sie kommen spät, diese Propheten, die nach dem 19. Jahrhundert zurückschauen. Was damals modern war, ist es schon lange nicht mehr. Gewiß: wir alle wollen uns nicht mehr betrügen mit schönen Bildern so wenig wie mit schönen Begriffen. Aber lebte das gläubige Volk je anders als existentiell in seinen Heiligenbildern? Es glaubte an das Heilige in ihnen &endash; so glaubte es, daß sie wirklich und wahrhaft erschienen seinen. Es hatte gar keine Frage nach der faktischen Wahrheit wie diese armen Modernen. Es ist falsch von der aufklärerischen Moderne, zu sagen, die Geschichten der Heiligen Schrift seien unwahr &endash; sie haben ihre eigene Wahrheit. Vor der aufklärerischen Wahrheitsfrage ist die Heilige Schrift nicht zu retten. Und sie soll auch nicht für den Aberglauben an die rein faktische Geschichte gerettet werden.

Doch nicht die rein faktische Geschichte ist heute in der »Entmythologisierung« gemeint. Als Rettung vor dem Mythos erscheint den existentialistischen Theologen das magische Zeitwort »Geschichte«. Es ist das Paradoxon der Antimythiker, vom Mythos befreien zu wollen durch den Mythos der Geschichte. In die neu und vielleicht unvergleichlich erfahrene Allmacht der Geschichte betten sie ihr heilsgeschichtliches Denken wieder ein. Fällt nicht in der Heilsgeschichte die wahre Lehre in die wirkliche Existenz? Und ist nicht Jesus von Nazareth der Protagonist des Eintrittes Gottes in die existentiale menschliche Geschichte?

Die Dinge sind leicht zu durchschauen: das Ewige Israel wehrt sich gegen das Ewige Griechenland. Magie des Willens steht gegen den Mythos des Bildes. Und es ist nicht zu verkennen: der Mythos war nie gewollte weil gesollte Heilgeschichte in dem Sinne, wie sie etwa von Augustin für die Christenheit, von Marx für die Antichristenheit begründet wurde.

Der antimythische Affekt aber vergißt, daß das Thema der Heilsgeschichte längst schon vom Mythos angeschlagen war. Wie die Heilsgeschichte durch und durch mythisch ist, so ist der Mythos durch und durch heilsgeschichtlich. Die Dinge sind immer integraler als der sezierende logische Geist zu sehen vermag.

Der Unterschied zwischen der mythischen Geschichte und der gewollten Heilsgeschichte liegt tiefer: beide sind Geschichte, der Mythos aber verzeichnet das Werden der göttlichen Welt in seiner Theogonie seismographisch, die Heilsgeschichte im augustinischen und marxistischen Sinn aber ist logisch und ethisch vorgezeichnete, vorgeschriebene Geschichte des Gottes und des Zukunftsstaates.

Das aber hat zur Folge: der mythischen Geschichte fehlt der gewaltige Impuls der willentlich ausgerichteten Geschichte &endash; sie kennt andererseits den Zwangscharakter der logisierten und volantarisierten Geschichte nicht, sei diese nun christlich oder antichristlich.

Hegel, der Panlogist, lehrte die »Geschichte als Schlachtbank«: alle bisherigen Gestalten der Geschichte müssen aufgeopfert werden, daß die letzte Gestalt, die des absoluten Geistes erreicht werde. Der Mythos sieht die »Schlachtbank« &endash; aber er lehrt sie nicht. Ja, in den Griechen konnte der Mythos zur Tragödie kommen, da sie den tragischen Charakter der Geschichte einsahen. Man denke an »Prometheus«, die »Orestie« und an die »Antigone«.

Hier scheiden sich die Geister. Zur schöpferischen Maya der Zeit gehört zentral der Geschichtsgeist. Ohne ihn ist die Söhnewelt nicht zu denken, denn ihr ist Werden und Wandlung bestimmt. Der Geschichtsgeist gehört aber auch zur verblendenden Maya. Diese Zeit scheitert an ihrem gewalttätigen Geist &endash; kennt keinen Reichtum an Gestalt und keine Freiheit der Person. Wir sind heute betroffen von Gewittern einer Geschichte, die ihre Paradiese und jüngsten Tage erzwingen will. Der Mythos im echten Sinne aber kennt weder die Anarchie der faktischen Geschichte, noch die Diktatur der ideologisch erzwungenen. Und es ist die Frage, ob wir den tragischen Charakter der Geschichte, noch die Diktatur der ideologisch erzwungenen. Und es ist die Frage, ob wir den tragischen Charakter der Geschichte, auch der gewollten Heilsgeschichte in ihrer männlichen Hybris des Erzwingens zu erfahren vermögen, um den verkappten falschen apolaren Mythos der Geschichte durchbrechen zu können. Niemals steht die Rückkehr in das Fatum der prälogisch-mythischen Geschichte in Frage. Der prälogisch-frühe und der heutige metalogische Mythos aber kann uns dazu dienen, der hastigen Ungeduld des heutigen Geschichtsgeistes, der wie das Fatum eines unwiderstehlichen Weltbrandes uns befällt, menschlich-überlegen zu entgehen. Denn die mythische Geschichte ist im Zwangslosen gelassener: sie hat in ihrem erfahrenen Erleiden eine größere Nähe zum konkreten Menschen und zugleich eine ungleich größere Ferne im Bewußtsein der immer anwesenden übergeschichtlichen Urbilder der Geschichte. Sie mildert den fanatisch-willentlichen Geschichtsgeist mit dem verstehend-willigen.

Das eigentlich Unmögliche ist noch gar nicht gesehen worden. So sehr stecken wir in der Maya der abendländischen Geistigkeit. Nicht das Mythische ist das Unmögliche, in dem die protestantischen Puristen immer noch ein Heidnisches wittern. Das zu Überwindende ist die Dogmatisierung der Mythen. Die mythische und die dogmatische Denkweise gehen nicht zusammen. Sie fliehen sich wie Wasser und Feuer. Ihr historisches Gemisch, das unhaltbare, löst sich heute auf. Die Dogmatisierung stammt aus der sterbenden Antike, in der der Mythos sein prälogisches Leben abschloß und der Logos sich des Geistes bemächtigte. Die mythische Geschichte wurde dem Bewußtseins-Gesetz des Für-wahr-Haltens unterworfen, damit festgestellt. Diese Stabilisierung des immer sich wandelnden Mythos, der in neuen Aufschlüssen und auch in neuen Deutungen lebt, ist die eigentliche Untat des logisierten Christentums. So war der Mythos und so war der Logos unfrei. Das mag geschichtlich verständlich sein, doch dies ist das Mittelalterliche, das nicht mehr zu tragen ist.

Hier wird auch der Ausweg sichtbar. Der Mythos ist nicht zu dogmatisieren. Die mythische Geschichte, die übergeschichtliche, muß frei sein. Sie ist niemals abgeschlossen. Sie muß auf unsere, durch den Logos hindurchgegangene, doch über ihn hinausschreitende Weise weiter gehen können. Mythos und Logos sind in sohnlicher Zeit ein freies Paar &endash; zur gegenseitigen Spannung und Durchdringung bestimmt. Den Logos haben wir der unseligen Verflechtung mit dem Mythos entrissen &endash; nun ist auch der Mythos zu befreien. Die Dinge sind dem unendlichen Krampf zu entziehen, der um jeden Preis die Heilige Geschichte und den ungeschichtlichen Logos aneinanderfesseln wollte. Dieser Krampf hat das Christentum zu einem so häßlichen Gebilde gemacht, daß sich der neuzeitliche Mensch schaudernd von dessen Gewalttätigkeit abwandte &endash; nicht ohne selber in seinen Revolutionen demselben dogmatischen zwang, derselben Festung der lebendigen Geschichte, derselben Großinquisition zu verfallen.

Die Schöpfungsgeschichte des Pentateuch ist weder wahr im heutigen historischen Sinne, noch unwahr nach ihrem mythischen Kern. Wir haben lange versäumt, diese wie alle andere mythische Geschichte nach ihrem eigentümlichen Wahrheitsgehalt zu erkennen, der keiner »Wissenschaft« unterliegt. Wir scheitern an der Skylla, dem Felsen eines dogmatisierten Mythos und in der Charybdis, dem verschlingenden Strudel der amythischen Welt des bloß Faktischen.

Unterdessen aber sind wir über die Grenzen des 19. Jahrhunderts hinausgelangt. Damit aber auch über die Grenzen einer Geistesverfassung, die alles, was nicht wissenschaftlich feststellbares Faktum war, mit dem geringschätzigen Urteil »nur Mythus« abtat. Dieser elende Sprachgebrauch hat sich eingebürgert. Er ziert die Zeitungen. Was immer künstlicher Neben, falscher Nimbus, ideologischer Vorwand ist, das ist für die Gescheitseinwollenden ein »Mythus«. Die Massen sind genau da, wo die Forschenden vor hundert Jahren waren. Für die zurückgebliebene Geistesverfassung der Massen aber ist kein Christentum mehr zu retten. Die Geistesverfassung dieser Massen ist verloren, nicht das Christentum, nicht die mythische Weisheit der Erde. Die Massen müssen erst wieder lernen, mit etwas mehr Ehrfurcht an die Dinge zu gehen und nicht ihre gemeine Meinung allem Großen anzuhängen. Hierin dürfen die, die dem Geist verpflichtet sind, keinen Kompromiß eingehen. Vor lauter Nachlaufen hat der Geist schon lange seine Ehre verloren. Es muß sich Verachtung in uns regen, wenn von »Rettung des Christentums« die Rede ist. Das Christentum ist nicht zu retten &endash; es rettet oder es ist nicht. Die Theologen aber mögen um der lächerlichen Rettung willen nicht verpassen, sich nach vorn auszurichten. Denn vorn sind selbst die Kreise der eingefleischtesten Rationalisten und Materialisten, die Ärzte, zu Wegbahnern eines neuen Verständnisses der Mythen geworden. Es ist ein neues, nun nicht mehr prälogisch-naives, sondern metalogisch-existentiales Mythenverständnis im Zentrum der heutigen Erforschung der menschlichen Seele.

Vorurteile fallen. Mißdeutungen der Aufklärung treten in ihrer Blöße hervor. Die kämpferische Verdammung des Mythos durch die Wissenschaft wetteiferte mit der kämpferischen Verdammung der »Götzen« durch primitive christliche Fanatiker. Wer aber spricht noch heute, wenn er von Zeus, Apollon, Athene redet, von »Götzen«?

In all seinen Geistzeiten und Geisträumen hat sich der Mensch um das Mühelose bemüht, in dem sich ihm das Verborgene aufschloß. Und dies ist uns Wahrheit. Nicht erst durch Heidegger. Durch ihn nur mächtig bestätigt. Die Griechen haben mit ihrer wunderbaren Wortkunst es längst schon ausgesprochen in ihrem Zauberwort A-Letheia, das ist das der Lethe, der Todesvergessenheit entrissene Sein. Doch viel weiter ist Offenbarung zu sehen &endash; Heidegger scheut vor diesem schönen, für ihn der frische Sprache sucht, mißbrauchten Wort. Dies Wort ist der Enge aller dogmatischen Wahrheit zu entziehen. Hamann, Herder und Goethe war es ein Rausch von Weite. Ein Lieblingswort Goethes ist das Wort »Offenbar Geheimnis«. Leidenschaftlich enthüllt der Mensch, doch wenn er kein bloßer Aufklärer ist, dann liebt er die gründige Welt der Offenbarung auf dem bleibenden Urgrund des Geheimnisses. Viel bewußter als je sind wir auf Entdeckungsfahrt in den Offenbarungen der Völker der Erde &endash; und doch wächst für uns das Geheimnis der Offenbarung. Wir kennen kein »nur« mehr &endash; was am Anfang war, das ist das Ende: das Erstaunen.

Und wenn wir in den »reinen Osten« aufbrechen, so gilt die goethesche Losung des »West-östlichen Divan«: »Glaube weit.« Und wir lassen uns sagen, daß Divan Versammlung der Weisen, auch Versammlung des Göttlichen heißt. Und darnach steht uns der Sinn. Wir sind keine Relativisten, die vor der Unabsehbarkeit der Offenbarung mit den Achseln zucken und mit Pilatus sprechen: Was ist Wahrheit? Wir ermessen, wo wir immer in die Tiefen eindringen, ob in den Veden oder Im I Ging erstaunend die wunderbare Ökonomie der Weltwahrheit.

So stellen wir hier nicht den griechischen Mythos gegen den jüdischen und christlichen. Wenn wir vorerst dem griechischen folgen, dann aus dem einfachen Grunde, weil in ihm die Linie von den mütterlichen Erdgottheiten zu den »Neuen Göttern«, den »Himmlischen« und von diesen zum letzten antimythischen, abstrakten Gott Logos so klar heraustritt, wie in keinem anderen Mythos. Mag sich der eifersüchtige Gott regen und aufregen, der immer noch nicht überwundene. Seine Eifersucht ist schon von der größeren Liebe der christlichen Urgeschichte gesprengt. Wir gehen den Weg dieser Liebe. In der Weite dieser größeren Liebe konnten sich schon die Griechen im christlichen Raume ansiedeln.

Wenn wir darum, noch wesentlich in griechischer Bahn, zum Logos übergehen werden, zu dem die »Himmlischen« die Brücke schlagen &endash; dann wird es nicht unter den üblichen Fanfarenstößen seiner Professoren-Priester geschehen. Wir bringen vom Mythos eine große vergessene Wahrheit mit: um der Wahrheit willen auf alle Weiß-Schwarz-Malerei der Selbstideologisierung des Logos zu verzichten. Die mythisch Welt ist unsterblich wie die logische. Mythos und Logos sind ebenbürtige Sprachen. Beide haben ihre Vorzüge und ihre Nachteile. Beide Sprachen bekunden auf ihre Weise das Unvergeßliche, die A-Letheia, die Wahrheit.

Das Offene ist unser Zeichen.

Zeus &endash; der Vater

An drei Gestalten des olympischen Mythos soll die Vorausnahme des Logos angedeutet aufgezeigt werden: an Zeus, dem Vater, an Apollon, seinem eigentlichen Sohne, und an Athene, seiner Lieblingstochter. Dies herrschende Dreigestirn muß für die ganze bunte Schar stehen.

Das absolut Unterschiedliche zum mittleren Reich, dem Zwischenreich des Bundes von Gaia und Urans, Rhea und Kronos tritt darin mächtig heraus, daß im olympischen Reich die Söhne und Töchter des Zeus nicht mehr gegen den Vater stehen, sondern mit ihm Verbündete sind.

Das wiederum deutet auf die für das ganze Zeitalter ausschlaggebende Wendung, daß es Zeus gelingt, sich zum Vatertum durchzuringen. Das letzte mythische Reich ist auf griechischem Boden das erste väterliche Reich.

Es ist noch ein mythisches Reich. Und darin bekundet sich noch eine letzte Macht der weiblich-mütterlichen Weise, die Welt zu sehen. Erst dem ausgesprochenen Logos gelingt es, die bunte Bilderwelt des Mythos durch logisch gebaute Weltbilder abzulösen.

Zeus, der Titanensohn, hat Mühe, sich zu einer wirklichen, verantwortlichen Weltvaterschaft durchzuringen. Die Erbschaft der Ahnen ist groß und schier unüberwindlich. Es ist die Erbschaft des ewig-männlichen Willens zur Macht. Zeus erscheint zuerst nur als ein anderer der seltsamen Weltherren, die mit ihren Kindern sehr unväterlich umsprangen, sie entweder in den Tartaros verbannten oder einfach verschlangen. Auch der Herrschaftswille des Zeus schreckt zuerst vor keiner Willkür und Gewalttat zurück: was seiner Herrenmacht dient, ist gut, was ihr entgegensteht, ist böse und muß aus dem Wege geräumt werden.

Es besteht im griechischen Raum eine besonders große Schwierigkeit, die Höhe des Vatertums zu erreichen. Wie soll Zeus Vater der Welt werden, die er nicht erschaffen? Gaia ist von Natur aus Mutter. Sie ist nichts als Mutter. Sie übt nicht Herrschaft aus, sie erfährt Mutterschaft. Sie weiß, was es heißt, Mutter zu sein. Aber diese Götter ... Sie wollen zeugen, ohne sich um das Gezeugte weiter zu bekümmern. Kein Wunder, daß die Mütter noch alles sind, als schon Uranos regiert oder Kronos. So wie Gaia und Rhea, so schaute einmal »Mütterchen Rußland« mit ironischem Blick auf diese »Väterchen«, diese schwachen Stärkeprahler.

Es ist selbst für den Schöpfergott der Juden schwer, zu einem wirklichen Vater zu werden. Die Schwierigkeit aber ist von ganz anderer Art. Der Urheber-Gott ist zu fern und zu übermächtig, um wirklich väterlich zu sein. Der Abstand zwischen dem Schöpfer und der Schöpfung ist zu groß. Der biblische Schöpfergott wird denn auch erst wirklich zum Vater im Sohn. Der Sohn bringt den Vater in seine Urbestimmung. Wie in der platonischen Welt der Eros, so ist in der evangelischen der Sohn notwendig als Mittler zwischen dem Urheber und seiner Schöpfung.

Selbst in der Heiligen Schrift wird Gott erst Gott, als er Vater wird &endash; wieviel mehr gilt dies aber von Zeus, der die Welt nicht geschaffen hat.

Wie aber kann ein Gott »werden«? Das ist wider alle Lehre, die wir in uns aufgenommen haben. Nach rechter Christenlehre ist doch der vollkommene Gott am Anfang und wir sind es, die das Vollkommene durch unseren Abfall in das Unvollkommene reißen.

Doch was für Väteraugen tabu war, das ist für uns nicht mehr selbstverständlich. Der scheinbar werdelose Gott des Alten Testamentes ist alles andere als ein vollkommener Gott. Sein Absolutismus ist für uns gerichtet, auch wenn wir uns nicht zu seinem Richter machen. Der zornige, wütende, rächerische Gott ist nicht Gott selbst. Es hätte sonst auch keines Neues Testament bedurft. Und dies ist denn auch der Einwand aller orthodoxen Juden: Wenn Gott vollkommen ist, wie bedarf es da eines Neuen Testamentes? Es hat sich aber die göttliche und menschliche Notwendigkeit herausgestellt, daß sich ein anderes Gesicht Gottes zeige, als das des Gottes, der auf den Rat Satans Hiobs Schinder war. Und wenn alles Judenchristentum darauf bedacht war, das neue Gottesgesicht dem alten wieder anzugleichen &endash; es gelang nicht. Kommt ein Gesicht aus göttlichem Grunde, so ist es trotz all unserer vielen Künste zu mächtig, um von Menschen wieder ausgelöst zu wer den. Das Evangelium aber ist nicht eine neue Offenbarung des gleichen, sondern die des eigentlichen Gottes. Der Sohn enthüllt das Herz des Vaters. Und so ist auch die Heilige Geschichte eine Geschichte des werdenden Gottes.

Die Heilige Geschichte der Griechen aber ist wirklich genau, wie sie Hesiod nannte, Theogonie, Gottwerdung. Die Theogonie verzeichnet nicht nur die Genealogie der Götter, sie ist wirklich Gottgeschichte. Im Wandellosen sturen Machtwillen stürzen Götter &endash; in ihrer Wandlungsfähigkeit aber erreichen Götter sich selber, indem in ihnen das Göttliche triumphiert.

Zeus ist anfänglich nicht, wozu er in seiner Kraft der Katharsis gelangt. Was keinem der kosmischen Götter eignet, nicht Uranos, nicht Kronos, das kommt Zeus zu: er vermag aus dem bösen Kreis der Macht, der in sich selber ohne Ausgang geschlossen ist, herauszuspringen. Zeus wird Zeus. Dieses Werden des Gottes setzt ihn in unseren Augen nicht herab, es erhöht ihn.

Die Revolution des Prometheus ist undenkbar ohne den Zeus, der noch nicht zu sich selber gekommen ist. Prometheus muß diesem neuen überheblichen Weltherrn Widerstand leisten. Auch die Titanenväter leisten Widerstand &endash; doch sie wollen im Alten bleiben, im kosmischen Kreisen. Prometheus bricht aus dem geschichtslosen Raum aus wie Zeus. Zeus um einer neuen Weltordnung willen &endash; Prometheus um einer neuen Schöpfung willen. Die leidenschaftliche Bemühung der Mütter um alles Geborene, vor allem um den Menschen, lebt allein in Prometheus und in ihm zwingt sie Zeus, über das bloß Herrenhafte und dessen Willkür hinauszugehen zu einer neuen Ordnung, die nicht nur die überschrittenen Welten und Götter, sondern auch die anhebende Menschenwelt väterlich umsorgt.

Es ist die Kunst des Aischylos, Recht wie Unrecht der beiden Titanensöhne aneinander zu steigern, um sie zu sich selber, zu ihrem göttlichen Berufe zu bringen. Aischyleische Dramaturgie ist Theurgie: sakrale Schöpfung des Gottes.

Die Mütter eignet das Kreisen wie der Natur. Ihre Urhaltung ist das Unwillkürliche, das leidende Hinnehmen der kosmischen Schwingung. Sie kennen keine Wahl vor dem kreisenden Lauf des Kosmos: sie folgen der Zwei der rhythmischen Zeitenfolge von Tag und Nacht, von Geburt und Grab &endash; sie folgen dem Rhythmus des monatlich zunehmenden und abnehmenden Mondes.

Die Titaninnen sind in diesem kosmischen Kreislauf in ihrem rechten Element &endash; die Titanen sind in ihm Gefangene. Der Mann aber wird furchtbar, wo er beharrt, wo er keinen Schritt weiter gehen darf, weiter gehen will. Kronos will zeitlos herrschen &endash; so verschlingt er die Kinder. Die titanische Welt ist voller Werden, doch kann ihr Werden nicht in Geschichte münden.

Zwei Titanensöhnen gelingt es, in das geschichtliche Werden zu entkommen: Zeus und Prometheus. Den beiden Todfeinden. Zeus wird auf griechischem Boden zum ersten Vater der Welt, Prometheus zum ersten eigenmächtig-sohnlichen Bildner des sohnlich-selbstschöpferischen Menschen.

Zeus gelingt es, sich zum echten Vatertum durchzuringen, da er, wie Prometheus, ein neues Element mitbringt, das den Titanengöttern abging: das Element des Geistes. In Prometheus ist der Geist schöpferische Voraussicht &endash; in Zeus untrügliche Einsicht.

Es gibt keine Herrschaft ohne Macht. Selbst die Mütter, die an sich Ohnmächtige, brauchten für ihre Ordnung des geschützten Lebens Macht, magische, mythische Macht. Doch wie die Macht der Mütter einen tragenden Grund hat, der tiefer liegt als die Macht selbst, den Schoß ihres Herzens, das Herz ihres Schoßes &endash; so hat die Macht des Zeus einen höheren Grund: die Überlegenheit des Hauptes.

Prometheus selbst nennt in der »Theogonie« Hesiods Zeus ((aphthita mçdea eidôs)), »unvergänglicher Einsicht kundig«. Mit dieser Kraft entgeht Zeus im üblichen Männerstreit unter den Göttern und Menschen, in der gegenseitigen Überlistung, dem Opferbetrug des Prometheus, den Zeus furchtbar an den Menschen rächt. Hesiod kommt zum Schlusse:

((ôs oyk estin Dios klepai noon oyde parelthein.))

So kann keiner den Sinn des Zeus umgehen noch täuschen.

Es ereignet sich zum erstenmal &endash; die platonische Vereinigung des Königs und des Weisen vorwegnehmend &endash; die große Wendung: Ein göttlicher Weltherrscher stellt seine Macht auf den ((noys)), den bewußten, einsichtigen Geist.

Auch Zeus wird von Hesiod ein barbarischer Akt zugeschrieben: er verschlingt, um einem Schicksalsspruch zu entgehen, der seinen Sturz durch ein Kind der Metis voraussagt, kurzerhand seine Gattin. Es gibt aber bedeutende Erklärer, die in dieser Tat keine Fortsetzung der Schaudergeschichten des Uranos und des Kronos erblicken, sondern die Symbolhandlung, durch die Zeus seinen Machtsinn dauernd mit dem klugen Sinn (metis) vereinigte. Zeus heißt denn auch nach dieser Meisterin der Klugheit ((mçtieta)) oder ((mçtioeis)), der Ratreiche.

Die Mütter hätten nicht herrschen können ohne die nächtliche Hellsicht des pathischen, die Welt erleidenden Menschen. Sie erfuhren als Medien leidend voraus, was in der Geburt lag, Wehen ausstrahlte. Sie waren als Seherinnen Meisterinnen des Schicksals.

Die Väter aber siegen in dem Weltaugenblick, da sie der Macht der plumpen Kraft den Abschied geben, um sich auf ein neues Element zu stützen, das sie Jahrtausende trägt: den aktiven Geist, den vernünftigen, den ((noys)), der nur ein anderes Wort ist für den Logos.

Prometheus ist den seherischen Müttern noch näher als Zeus: er hat eine Voraussicht, die der pythischen, die immer eine pathische ist, noch verwandt ist, wie er denn ein großer Leidender bleibt. Zeus aber ist von anderer Art: er macht den Schritt zur unbetroffen weltbeherrschenden Vernunft, zur väterlichen Logokratie.

*

Es mag sein, wie es will &endash; niemals ist es klug, einsichtig, vernünftig, dauernde Mächte, bloß weil sie ihre besondere Zeitmacht eingebüßt haben, zu verstoßen. Denn keine der Grundwirklichkeiten, die die Seele des Menschen bestimmen, läßt sich auf die Dauer verdrängen.

Diese Wahrheit ist nicht den Seelsorgern zu verdanken, den unzähligen, die die Seele des Menschen in den Händen haben wollten. Mit zuviel Absicht, Wille, ja Zwangsgewalt gingen sie ans Werk. Und ihr Werk war geradezu, jede Regung der Seele, die nicht ihrem Moralkodex entsprach, zu unterdrücken.

Ärzte, deren sehendes Auge mächtiger war als die Konvention, entdeckten, daß alles Verdrängte dennoch lebt, ja ein gesteigertes Leben entfaltet, sich rächt und seine verborgenen Wege in die Ausdruckswelt findet. Die Wahrheit, die von meisterhaften Psychologen herausgestellt wurde, erschien neu. Und sie war neu in unserer abendländischen Welt, die längst von einer Religion terrorisiert wurde, die die Fülle des Herzens verloren und wie das Spätjudentum moralistisch eingeschrumpft war.

Die archaische Zeit kannte diese Wahrheit längst. Was den Moralismus am Mythischen und im besonderen am griechischen Mythos immer wieder abstieß, war genau diese Wahrheit, die auf den reichen Aufschluß der Welt ging, nicht auf den armseligen Ausschluß. Von jeher erregte das Weiblich-Wahllose an der weiten mythischen Welt. Es erregte schon Sokrates, Platon, geschweige denn die Eiferer des jüdischen und des christlichen Moralismus. Wir aber bekennen offen, daß uns gerade dies Urelement des Mythos anzieht &endash; es entspricht dem Zug in die Weite der sohnlichen Welt. Was uns die Väterwelt verhaßt machte, war der Geist der Unterdrückung. Es war genau bestimmt, was leben durfte und was in den Tartaros der Seele hinab mußte. Und viele Jahrhunderte regten sich die verbannten Mächte vergeblich, drängten herauf, an die kleinen Fenster der Gefängnisse oder an die schwerverriegelten Türen. Bis der große Sturm begann, der die Festungen der Väter brach.

Zeus ist der Vater, der das griechische Vatertum begründet. Und wenn auch er schon »logisch« gedacht hätte, dann hätte er das Muttertum aus seinem Kreise ausschließen müssen &endash; wie das der spätere Gott tat, der Logos-Theos. Die Mutter-Tochter-Linie, Gaia, Rhea und Demeter hätte er abbrechen müssen. Dionysos hätte er so wenig dulden dürfen wie Pan. Um der Einheit des »Neuen Systems« willen hätte er den Widerspruch aus seiner Welt verbannt.

Zeus aber ist als Vater eine echt mythische Gestalt. So wenig wie die Großen Mütter die Herren der Welt ausschließen, so wenig schließt Zeus die Großen Mütter aus. Zeus ist ein ebenso kluger Erbe der vorolympischen Zeit wie ein gewaltiger Kämpfer um seine Neue Herrschaft. Sein neues Element, die kluge Einsicht, der Nous, sagt ihm nicht nur, daß die dunkle und schwere Welt der Mütter zu verlassen sei &endash; die Vernunft sagt ihm auch, daß die Macht der Mütter nicht so gewaltig gewesen wäre ohne ein dauerndes göttliches Recht. Zeus versichert sich der alten Wahrheit, um seiner Weltordnung dauerhafte Fundamente zu schaffen.

Die großen Muttergottheiten verlieren, wie dies nicht anders sein kann, ihre Allmacht. Aber sie werden nicht angetastet. Sie bleiben tabu. Demeter, die Tochter der Rhea, wird in der wunderbaren Möglichkeit der Wandlung auch der Götter zur Erdmutter im olympischen Kreis. Sie könnte nicht mehr die Mutter von Kyklopen sein. Die zarte Blüte des Mädchens Persephoneia wächst auf ihrer gepflegteren Erde. Und doch lebt auch die Urmutter, die Mutter der Mütter: Gaia. Ein dodoneischer Spruch sagt die mythische Doppelwelt vollkommen aus:

Gaia bring Früchte, verehrtet darum als Mutter die Erde.

Zeus war, Zeus ist, Zeus wird sein. O du gewaltiger Zeus du!

Dodona galt als das älteste Orakel-Heiligtum des Zeus. Es ist hochbedeutsam, daß sein Spruch die göttliche Mutter und den göttlichen Vater zugleich bezeugt.

Auch in Hera, der Herrin der Götter, seiner eigentlichen Gattin, einer anderen Tochter der Rhea, nimmt Zeus ein mächtiges Stück des alten Muttertums in seine Neue Welt. Sie ist die Gattin in Person, ungeneigt, die Liebesspiele des Weltherrn hinzunehmen. Sie ist als Enkelin der Gaia von demselben kräftigen Wuchs. Das ganze Erdreich ist in der Breitbrüstigen versammelt. Die Dichter rühmen die mondweißen Arme, die gewaltigen. Und das derbe Geschlecht der Urmütter verrät seine letzte Sanftheit im Kulte der Hera: im Kulte der Kuh.

Eine ganz andere Seite des Weiblichen zieht Zeus an sich in Metis, dem weiblich-klugen Geist. Sie hat die Fähigkeit, die dem Manne oft so fatal abgeht, instinktsicher Situationen und Personen zu durchschauen. Weil sie den Geist der Nähe besitzt, der sich in die Dinge versetzten kann, besitzt sie das Vermögen des blitzschnellen guten Rates. Züge, die sich dann noch großartiger in der Tochter des Zeus und der Metis, in Athene entfalten.

Doch auch die Titanide Themis, die Tochter des Uranos und der Gaia, in der sich der Rechtssinn der Mütter versammelt, die zweite Seherin des delphischen Orakels nach ihrer Mutter Gaia &endash; auch sie wird nicht mit den Titanen verstoßen. Sie ist die Begründerin des Rechtes gegenüber aller bloßen männlichen Macht. Sie steht früh zu Zeus, da sie in ihm einen Wechsel vom Recht der Gewalt zur Gewalt des Rechtes erwartet. Und Zeus macht sie dafür zur Gattin. Es ist eine Vernunftehe. Doch in ihr bezeugt der Mythos die tiefe Verbeugung des Zeus vor der ersten Ordnung der Welt, der mütterlichen. Und er bezeugt, daß Zeus nicht ohne Themis, den rechtlichen Sinn sein kann. Er raubt ihr die Waage des Schicksals nicht: er trägt sie fortan mit ihr zusammen. Und nach dem Gesetz der Wandlung, das den Mythos beherrscht, geschieht das Wunderbare: Zeus wandelt sich an der Titanin, er wird rechtlicher &endash; Themis wandelt sich in Zeus: die jede Verletzung des Rechtes wie am eigenen Leibe erfährt, wird gefaßter in der Ruhe der Macht.

Aischylos, der gespannteste aller Dramatiker, löst den Streit zwischen Zeus und Prometheus, in dem beide recht und beide unrecht haben, durch die dritte Figur der Themis, die bei ihm zugleich die Mutter des Prometheus ist und die Gattin des Zeus wird. Der Rechtssinn ist in ihrem Sohne Prometheus, doch auf eine zu harte, trotzige, rebellische Art. Der Rechtssinn ist in ihrem Gatten Zeus, doch auf eine zu harte, herrschsüchtige, gewalttätige Art. Die weibliche Gottheit muß versöhnen, was der immer trennende, immer blockbildende, immer steinhafte Sinn der Männer zu tödlichem Kampf gegeneinander türmt. Die Versöhnung des konservativen und des revolutionären Geistes der Männer liegt in den Händen der Mütter. Der Mythos ist nicht altertümliche Kunde: er ist gegenwärtigste Wirklichkeit.

Es hat immer erstaunt, zu welch hohen Ehren Zeus die Titanide Hekate brachte. Diese seltsamste Göttin des griechischen Mythos, die den Zusammenhang der Überwelt, der Welt und der Unterwelt schafft, die die lichte und die dunkle Seite des Daseins vermählt, die große geheimnisvolle Göttin der Kreuzung aller Sphären, auch der Kreuzung der Geschlechter und der Wege &endash; gerade diese ihm fremdeste Gestalt der titanischen Welt zieht Zeus an sich, überhäuft sie mit Würden, mehrt ihre Macht. Hekate ist vielleicht das innerste Sinnbild des titanischen Bundes von Himmel und Erde. Was Zeus wie den anderen Olympischen fehlt, das ist die wunderbare Gabe, das titanische Band, mit dem Hekate geisterhaft ungefesselt alle Sphären zusammenwebt. Schritt für Schritt aber enthüllt sich der hellsichtige Sinn des Mythos. Es ist ein Meisterstück des Mythos, was man das Meisterstück des Zeus nennen könnte: daß der Gott, der zum erstenmal den Himmel von der Erde trennt und die Allmacht in das Obere, das Haupt verlegt, sich mit der urtitanischen Gottheit verbündet, die in allen Reichen wohnt und in keinem, die selbst die Seelen im Hades mit mütterlichen Händen, immer zuverlässigen, niemals verlassenden, anrührt.

Der abgründige Unterschied zwischen dem umschließenden mythischen und dem ausschließenden logischen Geist ist noch in Zeus, dem Vater, mächtig.

Zeus überschreitet die Grenze der mütterlichen und der titanischen Welt &endash; doch er hält an ihrer unvergänglichen Wahrheit fest. Die Stirne des Zeus übernimmt in sich ausweitenden Räumen, was der Schoß der Mütter barg. Er schließt in die systolische Einheit seiner neuen Weltordnung das diastolische Pan der maternalen Zeit.

Auch noch in Zeus triumphiert der griechische Geist, der keinen Fanatismus kennt, sondern durch Großherzigkeit siegt. Zeus will keinen unbedingten Sieg über die Mutterwelt, so vermeidet er die Weltkatastrophe, die Niederlage aller.

Das Goldene Zeitalter:
Der titanische Bund von Himmel und Erde &endash; die nie vergessene Zeit

Nur eine Macht schließt Zeus fanatisch aus: die titanische seines Vaters Kronos.

In den Titanen geht es um die Front seiner männlichen Feinde &endash; da springt Zeus die berserkerische Wut wie aus den Titanen der felsige Trotz. Gegenüber den Titanen gibt es für Zeus nur eine Frage: Entweder sie oder ich!

Zeus haßt die Titanen noch in Prometheus, dem anderen Titanensohn, der doch wie er selbst sich vom Geist der Gewalt zu Gewalt des Geistes wendet.

Titanen haßt Zeus &endash; Titaninnen liebt er. Das ist kein Scherz. Das hat seine guten Grund. Titaninnen sind im kreisenden Leben in ihrem Element und sie sind in ihrem Element im titanischen Bund von Himmel und Erde. Die titanische Welt ist ja im Grunde immer noch eine mütterliche Welt. Titanen aber sind im kosmischen Kreise Gefangene. Sie haben keinen Ausweg und sie wollen keinen Ausweg. Kronos ist der Zeitiger der kreisenden Sphären. Doch er ist nicht Chronos, der Zeitgott. Er kennt die Linie der fortschreitenden Zeit nicht. Er versucht das Ungeheuerliche, die Zeit stillzustellen, in dem er seine Kinder, die immer Neue Zeit, verschlingt. Er will sich ewig wissen im Kreislauf des Gleichen. Das ist seine Grenze, die Zeus wie Prometheus nicht erträgt. Zeus ist unerbittlich: Wer nicht weiter will, muß überschritten werden. Wer nicht hinauf will, muß hinab. So stößt er seinen Vater und mit ihm das ganze titanische Geschlecht in den Tartaros. Er kann die Titanen nicht töten, denn sie sind unsterblich wie er. Doch er kann sie, die Fruchtbaren, ins Unfruchtbare verbannen.

Es ist keine Frage, daß Zeus die titanische Welt überschreiten mußte. Sie stand zu sehr noch unter dem maternalen Zeichen. Der Weg in das Offene, den schon die Mütter auf ihre Weise eingeschlagen hatten, mußte weitergegangen werden. Es ist kein Wort zu verlieren über die Notwendigkeit, in der wir noch heute den Ausweg in das Freie suchen.

Ein anderes aber ist, daß Zeus als Erster die Wahrheit einer göttlichen Welt verliert. Wohl fügt er seiner Neuen Welt Titaninnen mit ihrer unvergänglichen Wahrheit ein: wir nannten Themis, nannten Hera, nannten Metis. Wir nannten Hekate und wir werden noch Mnemosyne zu nennen haben. In dieser Verbindung mit dem Unvergänglichen zeichnet sich der wahre Weg des Neuen Weltherrn, der wirklich zum Weltvater wird, ab.

Einer Weisheit aber kann sich Zeus nicht rühmen &endash; er trägt das große Positivum der titanischen Zeit nicht weiter: den Bund von Himmel und Erde. Er sprengt mit drängendem Recht den gefangensetzenden kosmischen Kreis. Doch es beginnt größeres Unheil in ihm: der kosmische Ehebruch von Himmel und Erde, Licht und Dunkel, Tag und Nacht &endash; der kosmische Ehebruch der Vaterwelt gegenüber der Mutterwelt.

Darin unterscheidet sich Prometheus herkünftig und zukünftig von Zeus: er hält felsenhaft am titanischen Bund von Himmel und Erde fest. In dieser Treue steckt sein titanischer Trotz. Aus dieser Treue wächst ihm aber auch die größere Freiheit. Zeus verfängt sich in der Maya der »Himmlischen«: in die Eifersucht gegenüber den Menschen, den Söhnen der Erde und in die wachsende Hybris der Oberwelt. Prometheus aber trägt den titanischen Bund nach vorn, trägt ihn in das kommende Geschlecht des Menschen. Indem er mit den Kräften beider Welten den Menschen erbildet, gerät er in das Element des Schöpferischen, das immer Bezeugung und Empfängnis, das immer die polare Welt des Männlichen und Weiblichen voraussetzt. Das Schöpferische aber ist die Sphäre des Eros kosmogonos, der in Prometheus zum Eros anthropogonos wird. Prometheus ist mächtig im »schönsten der Götter«, dem Urgott, dem Großen Löser und Großen Binder.

Zeus kennt den »Großen Dämon« &endash; wie ihn Diotima in Platos »Gastmahl« nennt &endash; nur noch, darin ein Spätling, in seinen persönlichen Beziehungen zu unsterblichen und sterblichen Frauen. Zeus und Hera sind kein kosmisches Paar mehr, sind nicht mehr Himmel und Erde. Ohne den Eros kosmogonos aber muß Zeus in wachsenden Rissen Himmel und Erde auseinanderreißen. Gaia wird erniedrigt. Die Titanen aber werden mit ihrer ursprünglichen und darum unvergänglichen Wahrheit in die abgründige Unwirklichkeit des finsteren Tartaros verstoßen.

Dieser einzige, doch ungeheuerliche Ausschluß eines göttlichen Geschlechtes rächte sich. Die Titanen kamen wieder, kamen umgewandelt, ja verstellt, verböst, kamen ohne der Großen Mutter Besänftigung und Begütigung, kamen als ein gestauter Strom, ausbrechend und sich überstürzend in haltlosem Gefälle. Was aber immer Zeus war, Herrgott, Vatergott, das fiel niedergerissen von der Wucht einer vergewaltigten Wahrheit.

*

Wo Zeus nicht weise ist, da unterdrückt er nur. Und wo er unterdrückt, da ist er nicht weise.

Solange wir selber alles, was unserem engen Geiste nicht genehm war, in die Hölle versetzten, solange erregte uns keine Verbannung, auch die nicht des titanischen Geschlechtes.

Wir sind heute jedoch hellhöriger für die Tragödie der Verbannung. Die Flüchtlinge, die den herrschenden Mächten nicht passen, die nach innen wie nach außen weichen müssen, sind an Zahl undenkbar groß, größer aber noch an Leid.

Und wir sind hellhöriger für die brutale Selbstverständlichkeit der Siegenden. Wir wissen jetzt, daß die Geschichte von den Siegern geschrieben wird. Der Verfluchung der Besiegten durch die Sieger hat Hesiod vor Jahrtausenden einen monumentalen Ausdruck verliehen, da, wo er in der »Theogonie« Zeus die Titanen verdammen läßt:

Aber die anderen schalt der Vater mit Namen Titanen,

Söhne, die Uranos einst, der Gewaltige, selber erzeugte;

Sagte er doch, sie hätten gestrebt nach Frevel und böse

Taten verübt, drum würden sie später der Rache verfallen.

Wir kennen heute diese Töne, kennen die Verfemung, kennen die geistige Vernichtung durch die, die den »Apparat in den Händen haben«.

Sind wir auch nur um Einen Schritt vorwärts gekommen, seitdem der verfluchende Zeus die Sintflut der Willkür von seiner Seite losließ &endash; wie Jehovah von der anderen Seite und nach beiden im selben Weltstil auch der christliche Gott?

*

Was hier im Mythos geschieht, was hier gegen den überzeitlichen Charakter des Mythos geschieht &endash; das ist das Übliche der zeitverfallenen Geschichte: die siegreiche Zeit läßt die besiegt hinter einem Sperrfeuer von Verfluchungen zurück, daß sie nicht mehr wiederkehre.

Es wäre diese Erscheinung vollkommen trostlos, wenn nicht in der Dämmerung der Sieger von späteren Geschlechtern der besiegten Zeit wieder ihr heilig Recht würde.

Jahrhundertelang galt für die siegreiche Neue Zeit das Mittelalter als ein böser Alptraum: es wurde als eine finstere Nacht vor dem endlich und endgültig aufklärenden Morgen dargestellt &endash; eine letzte Großmut der Sieger sprach von einer Nacht mit Sternen. Doch mit den bitteren Früchten der Aufklärung, dem Chaos der Revolutionen und dem Sieg des ehrfurchtslosen Klugen Geistes kam ein neuer Sieg und Geschmack für die großen Ordnungen des mittelalterlichen Glaubens wieder auf, und wir maßen die Aufklärung an den Erleuchtungen der Väter.

Doch die christliche Zeit erfuhr nur das Schicksal, das sie selber der vorchristlichen bereitet hatte. Auch die christliche Zeit der sieghaften göttlichen Liebe hatte für die vorausgehende Antike den alten bösen Blick, mit dem die Zeiten sich ermorden. Selbst dem noch verwandtesten christlichen Geist, Augustinus, durften die Tugenden der Heiden nur glänzende Laster sein. Von den Griechen nahm man die Philosophie, von den Römern das Recht &endash; den Boden aber, auf dem der geistige und rechtliche Sinn wuchsen, verfluchte man. Das ist eine der vielen Künste der Geschichte, mit der sie den Bund der Zeiten zugleich zerstören und ausnützen will. Hegel hat von der »List der Vernunft« allzu listig gesprochen, um die »Schlachtbank der Geschichte« zu rechtfertigen. Die Vernunft ist vernünftiger als alle die mörderischen Künste der Geschichte. Die Kritik der geschichtlichen Vernunft weist auch die Geschichte in ihre Schranken: sie lehrt einen neuen Sinn, einen bewußten Doppelsinn, den goetheschen »Doppelblick« für das unweigerlich Vergängliche, nicht minder aber für das Unsterbliche aller ursprünglichen Zeiten.

Goethe hatte am 6. Oktober 1821 in Jena sein Gedicht »Eins und Alles« geschrieben, darin die Verse:

Und umzuschaffen das Geschaffne,

Damit sich's nicht zum Starren waffne,

Wirkt ewiges, lebendiges Tun.

Und was nicht war, nun will es werden

Zu reinen Sonnen, farbigen Erden:

In keinem Falle darf es ruhn.

Es soll sich regen, schaffend handeln,

Erst sich gestalten, dann verwandeln;

Nur scheinbar stehts Momente still.

Das Ewige regt sich fort in allen:

Denn alles muß in Nichts zerfallen,

Wenn es im Sein beharren will!

Doch seinem griechischen Sinn für das Sein ließen diese Verse keine Ruhe. Er ärgerte sich, als eine Versammlung von Naturforschern sie in goldenen Lettern erstrahlen ließ. Und so schrieb er 1829 in Weimar das Gegengedicht, mit dem er das Gleichgewicht der beiden Waagschalen Sein und Werden wiederherstellte, das Gedicht »Vermächtnis«, eine der größten Huldigungen der göttlichen Mnemosyne:

Kein Wesen kann zu Nichts zerfallen!

Das Ewige regt sich fort in allen,

Am Sein erhalte dich beglückt!

Das Sein ist ewig; denn Gesetze

Bewahren die lebendgen Schätze,

Aus welchen sich das All geschmückt.

Das Wahre war schon längst gefunden,

Hat edle Geisterschaft verbunden:

Das alte Wahre, faß es an! ...

Dann ist Vergangenheit beständig,

Das Künftige voraus lebendig,

Der Augenblick ist Ewigkeit.

*

Auch der Name »Titan« ist aus seinem Grab der Verfluchung auferstanden. Es war ein doppelt aufgehäuftes Grab. Was die olympischen Götter begraben hatten, das blieb auch unter dem christlichen Gott verschüttet.

Erst das goethesche Zeitalter wagte es, den Namen der Titanen wieder auszusprechen, ohne damit einen Fluch auszustoßen, ja, es wagte, den Namen der Titanen auf sich selber zu beziehen.

Dies geschah nicht etwa nur durch die »Stürmer und Dränger«, dies geschah weit über die Verherrlichung des Kraftgenies hinaus in der großen Wendung der Geister zur Natur, wie immer diese auf den Ruf der Herzen antwortete &endash; sanft oder gewaltig, schöngebildet oder kraftgeladen. Jean Paul sagte von seinem »Titan«, was vom ganzen neuen titanischen Geschlecht zu sagen war:

Er eilte mit Lebensblicken, die wie zornige aussahen, ... zur Titanide, zur Natur, die uns zugleichen stillet und erhebet.

Damit ist aller Festlegung des Titanischen auf das bloß Gigantisch-Auftürmende gewehrt: die ganze Schwingung des Lebens zwischen dem Weiblich-Stillen und dem Männlich-Stürmischen ist mit dem Titanischen gemeint. Der neue Sinn des Zeitalters geht auf den »Geist des Elements«, den »heiligen Lebensgeist«, den Hölderlin in seinem »Hyperion« und seinem »Empedokles« preist. Die »zärtlichgroße Seele« Hölderlins nennt ihren sanften Helden nach dem Namen eines Titanen: »Hyperion« ist ein Sohn des Uranos und der Gaia, der Bedeutung seines Namens nach der Wanderer auf dem Höhenwege, der Hochwandelnde &endash; der Vater des Helios. Nicht vergessen sei auch, daß der englische Bruder Hölderlins, Keats, eine Titanenmythe »Hyperion« geschrieben hat.

Doch nicht nur das Elementarische der Natur zog die Geister erneut in seinen Bann: sie suchten es überall, suchten es in der Geschichte, suchten es in den eigenen Taten des Geistes. Und so rückte das mythisch Große aus der Ferne der Vergessenheit in die Nähe der feurigen Herzen. Wer Geist besaß, der suchte mehr als die dünne und dürre Verstandesbildung der Zeit, der begnügte sich auch nicht mit dem bloßen Staunen vor dem getanen Großen, der begehrtet selber nach Größe &endash; den elementaren Zug nach Größe aber nannte die Zeit »titanisch«. So spricht Jean Paul in seinem »Titan«:

Tut es da genug, mit Augen voll Bewunderung und gefalteten Händen um die Riesen zu schleichen und dann welk und klein zu ihren Füßen zu verschmachten? ... Nein wir haben keine Gegenwart, die Vergangenheit muß ohne sie die Zukunft gebären.

*

Wenn Goethe in dem Gedicht »Eins und Alles« die Richtung des Neuen Werdens weist:

Und was nicht war, nun will es werden

Zu reinen Sonnen, farbigen Erden...

so deutet er auf den innigsten Berührungspunkt der neuzeitlichen mit der antiken titanischen Welt: den neuen Bund von Himmel und Erde.

Denn unter den göttlichen Gestalten des griechischen Mythos sind die Titanen dadurch bestimmt, daß sie nicht bloß chthonische Mächte wie die Mütter, nicht bloß uranische Mächte wie die »Neuen Götter«, die »Himmlischen« sind, sondern Kinder beider Weltseiten. Aischylos bezeugt dies in seinem »Gefesselten Prometheus«:

((Titanas, Oyranoy te kai Chthonos tekna,))

Die Titanen, des Himmels und der Erde, Kinder,

Das Göttliche ist das noch Ungesonderte, das noch Heile, das noch Ganze. Der kosmische Ehebruch des Himmels ist noch nicht geschehen. Der Himmel hat sich noch nicht der Erde überhoben. Die Erde ist vom Himmel noch nicht erniedrigt worden. Das All ist noch All. Die Götter sind noch allweltlich, die Welt ist noch allgöttlich.

Himmel und Erde sind ein Paar. Und dem elterlichen Urpaar Uranos und Gaia gemäß sind alle Titanen Paare. Die titanische Welt darf nicht nur an ihrer Erdgebundenheit gemessen werden, wie dies seit den Olympischen geschieht, sie hat ein Anrecht, nach ihrem eigentlichen Charakter ermessen zu werden, nach der in ihr mächtigen kosmischen Zusammengehörigkeit von Himmel und Erde und aller ihrer Kräfte und Gegenkräfte. Die titanischen Paare sind Liebespaare. Die Welt ist aus der Liebe geboren &endash; bezeugt Hölderlin, der, den »Himmlischen« nah, doch zum Ganzen des Alls hält, zur »alliebenden Mutter« wie zum »Vater Äther«. Immer sind die Dichter die Verschworenen des »Eros kosmogonos«, des »schönsten aller Götter«, der die Pole von Himmel und Erde vermählt. So beginnt noch tief im Schoß der mittelalterlichen Christenheit die neue kosmische Zeit. In der Dichtung Dantes ist die akosmische Scholastik überwunden. Es beginnt der Gesang der Vita nova, der Gesang der Beatrice, die Himmel und Erde in sich vereinigt. Und der kosmischen Dichtung Dantes entspricht im entbundenen Raum der Neuen Zeit die Dichtung Goethes, der nun umgekehrt von der wiedergewonnenen heimatlichen Erde die Himmelskräfte an sich zieht. Es kommt bei Goethe zu einem Schweben zwischen Himmel und Erde, das an das chinesische Gleichgewicht heranreicht.

Auch das Zeitalter Goethes ist das der Paare. So geht der Titan Jean Pauls seinen Weg durch Himmel und Erde nicht allein: mit Albano ist Liana, die Titanide &endash; und es liegt der Zauber urzeitlicher Hochzeit auf ihnen:

Alles ist eins und darum recht und so göttlich.

In Hyperion und Diotima wandeln in Dichtung und Leben Hölderlins wieder die uralten seligen Gestirne: Hyperion, der sonnenhaft Hochwandelnde und Theia, die mondhaft Göttliche. Und es tönt wieder die Musik der sich begegnenden und durchdringenden Sphären:

Es leben umeinander die Naturen wie Liebenden; sie haben

alles gemein, Geist, Freude und ewige Jugend.

*

Und so wird innerstes Gesetz des Neuen Aion sichtbar, soweit er nicht im fatalen Lauf seiner einseitigen logozentrischen Richtung befangen beleibt.

Die »Wiedervereinigung des Getrennten« ist das geheime Thema der Neuen, der sohnlichen Zeit.

Hierin stimmen Goethe und Hölderlin bis auf den Wortlaut überein. Was der Eine aus der Fülle seines Menschentums erfährt, das nimmt die reine Empfänglichkeit des Anderen nicht minder großherzig auf.

Goethe sagt überlegen, doch leidend:

Verfolgt werden solche Männer, die an eine Wiedervereinigung des Getrennten dachten.

So spricht der unbekannte, der nicht olympische Goethe, der prometheische, der zu den Müttern hält und in ihnen den Weltenriß schmerzlich erfährt. In all seinem Glück der Wiederversammlung aller Sphären ist Goethe inmitten der Raserei der männlichen Weltspaltung wie sein mythischer Ahne ein Märtyrer.

Was Goethe in seiner Schrift über »Winckelmann« (1804/1805) als »Antike« erfährt, das ist die noch ungebrochene Ganzheit der Welt und des Menschen. Ihr gegenüber bedauert er »jene kaum heilbare Trennung«, die seiner Meinung nach durch das dualistische Christentum und die säkularisierende absolutistische Vernunftherrschaft in die Welt gekommen. Wir aber vermögen heute zu erkennen, daß die Spaltung der Welt schon viel früher einsetzte, daß sie mit den »Neuen Göttern«, den »Himmlischen« begann, wenn diese auch viel Erdliches und Menschliches in den Himmel trugen, das den Sprung im Weltgebäude verhüllte.

Auch Hölderlin erfährt die getrennten Welten bis zur Zerstörung. Doch er geht mit seiner leicht zerstörbaren Natur nicht in den großen Kampf Goethes ein. Er läßt sich in sein eigenes Element wie in einen mitreißenden Strom hineinziehen. Und so geschieht in ihm zum allverstehenden Goethe das andere Wunder. Hölderlin verdichtet sich zum Neuen Element, zum Gesamtgeist selbst. Er ist der lichte Traum des kommenden Tages. Die Strahlung der wieder versöhnten Welt geht in reinster Gewalt aus vom Weltunterlegenen. Der »Hyperion« ist ein einziger Gesang der Wiedervereinigung. Der Neue Kairos vereinigt die zwei grundverschiedenen Naturen Goethe und Hölderlin in derselben Formel. Im Thalia-Fragment des Hyperion heißt es:

... da werden wir uns alle wiederfinden, bei der großen Vereinigung alles Getrennten.

Der Streit der beiden Weltseiten ist nicht das letzte Wort. Im »Hyperion« Hölderlins entspricht der Schlußsatz der heiligen Schließe des Kosmos:

Wie der Zwist der Liebenden sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder.

Es scheiden und kehren im Herzen die Adern und einiges, ewiges, glühendes Leben ist alles.

Auch der »Empedokles« Hölderlins nimmt in tragischerem Gefälle das große Thema des »Hyperion«, die »Wiedervereinigung des Getrennten« wieder auf. Hölderlin nennt in seinen Vorbemerkungen zu seinem ersten Plan Empedokles »einen Todfeind aller einseitigen Existenz ...«

Das macht ihn nach hölderlinischem Gottverständnis gottähnlich, daß er in die prometheische Hybris gerät. Diese aber ist der hölderlinischen Natur nicht gemäß. Die Fassung »Empedokles auf dem Ätna«, die nicht durchgeführte, ist die Hölderlin selber wohl am nächsten kommende. Empedokles ist in ihr der Sohn, der bestimmt ist, die beiden Eltern, Himmel und Erde, sich selber opfernd wieder zu vereinigen. Der Seher Manes kündigt ihn an, den Retter aus doppelter Herkunft:

Ein Größrer ists, denn ich! Denn wie die Rebe

Von Erd und Himmel zeugt, wenn sie, getränkt

Von hoher Sonn, aus dunklem Boden steigt,

So wächst er auf, aus Licht und Nacht geboren:

Es gärt um ihn die Welt, was irgend nur

Beweglich und verderblich ist im Busen

Der Sterblichen, ist aufgeregt von Grund aus;

Der Herr der Zeit, um seine Herrschaft bang,

Thront finster blickend über der Empörung.

Sein Tag erlischt und seine Blitze rauchen.

Doch was von oben flammt, entzündet nur,

Doch was von unten strebt, die wilde Zwietracht.

Der Eine doch, der neue Retter, faßt

Des Himmels Strahlen ruhig auf und liebend

Nimmt er, was sterblich ist, an seinen Busen,

Und milde wird in ihm der Streit der Welt,

Die Menschen und die Götter söhnt er aus,

Und näher wieder leben sie, wie vormals.

Und daß, wenn er erschienen ist, der Sohn

Nicht größer, denn die Eltern sei, und nicht

Der heilge Lebensgeist gefesselt bleibe,

Vergessen über ihm, dem Einzigen.

So lenkt er aus, der Abgott der Zeit,

Zerbricht, er selbst, damit durch seine Hand

Dem Reinen das Notwendige geschehe,

Sein eigen Glück, das ihm zu glücklich ist,

Und gibt, was er besaß, dem Element,

Das ihn verherrlichte, geläutert wieder.

Das ist Hölderlin. Das ist sein Kontrapunkt gegenüber Goethe. Es bewegt sie derselbe Geist. Bei Hölderlin aber tritt der Mensch, der Sohn, noch einmal zurück vor Vater und Mutter, Himmel und Erde.

Ist Hölderlin ein Ende, wie für ihn Christus ein Abend war? Oder ist er ein neuer, erst noch kommender Anfang? Hölderlin begriff sich in Empedokles als Letzter:

Denn wo ein Land erstehen soll, da wählt

Der Geist noch Einen sich am End, durch den

Sein Schwanengesang, das letzte Leben tönet.

Wohl ahndet ichs, doch dient ich willig ihm.

Es ist geschehn. Den Sterblichen gehör ich

Nun nimmer an ... O Ende meiner Zeit!

O Geist, der uns erzog, der du geheim

Am hellen Tag und in der Wolke waltest,

Und du, o Licht! und du, du Mutter Erde!

Hier bin ich ruhig, denn es wartet mein

Die längstbereitete, die neue Stunde ...

Es ist die Stunde eines neuen Gethsemane. Christus ist nah. Der Geist ist derselbe: der Geist des Opfers. Der Kairos aber ist ein anderer. Hier opfert nicht mehr der Vater seinen Sohn, die Welt zu erlösen &endash; hier opfert sich der Sohn Mensch, daß Himmel und Erde, Vater und Mutter wieder eins werden. So tief geht der Neue Mythos, der in Hölderlin Gestalt suchte &endash; und kein Mund der Gewohnheit erfreche sich, vor diesem Opfer von Blasphemie zu reden. Das Opfer ist vollbracht worden. Es blieb nicht beim Wort. Das ganze Dasein Hölderlins ist dies Opfer. Die Umnachtung ist sein flammender Ätna.

... und wenn jetzt, zu einsam sich

Das Herz der Erde klagt, und eingedenk

Der alten Einigkeit die dunkle Mutter

Zum Äther aus die Feuerarme breitet,

Und jetzt der Herrscher kommt in seinem Strahl,

Dann folgen wir, zum Zeichen, daß wir ihm

Verwandte sind, hinab in die heilge Flammen.

*

Die »Wiedervereinigung des Getrennten« aber ist die neue Gründung des Menschen, der mit seiner Ganzheit steht und fällt. Der selbstbewußte Geist mag als der Eine einzige leben &endash; soll aber der Mensch sein, so mußt der erdliche Teil wie der himmlische gelten. Wird der Bund von Himmel und Erde aufgelöst, triumphiert der Engel über die Menschen. Luzifer steht hinter der Scheidung des Himmels von der Erde: der selbstgenugsame Geist ist der Todfeind des göttlicheren, des ganzen Menschen.

Der Mensch galt noch nicht als Mensch, als die Erde alles war. Die Mutter überwog den Sohn. Sie schützte das Kind Mensch, setzte es aber im Schoß gefangen. Doch ungleich weniger als für die gebärende Erde galt das Kind Mensch für die überheblichen Himmel. Die Alleingöttlichkeit des väterlichen Himmels schoß die Göttlichkeit des erdgeborenen Menschen aus. Die Mütter bekannten dagegen mit ihrem weiten Herzen die Allgöttlichkeit der Welt. Und so zogen sie den Menschen an ihr Herz. Und für sie, die niemals Trennenden, war Weltwerdung, Gottwerdung und Menschwerdung Eine einzige göttliche Geschichte.

Die Dichter aber sind die Hüter der ungeteilten Welt, denn sie wachsen auf dem mütterlichen Grund, der die Welt der Bilder gebiert. Sie wissen, was später Philosophen und Theologen in ihrem Berufswahn sich verhüllen, daß Götter und Menschen Eines Ursprungs sind.

Bei Homer, der doch die Olympischen besingt, ist das Göttlichste am weitesten ausgebreitet: es umfaßt Zeus und den »göttlichen Sauhirten Eumaios« &endash; ohne den Gott herabzusetzen. Auch davon wäre viel zu sagen.

Hesiod aber weiß in den »Werken und Tagen« aus seinem immer älteren bäuerlichen Wissen:

Willst du, so werd ich dir noch andere Kunde berichten,

Gut und wohlerfahren, du aber beweg es im Herzen:

Wie ja nämlichen Ursprungs die Götter und sterblichen Menschen.

Und selbst der aristokratische Pindar, der Sänger des Zeus, weiß noch dasselbe. Die sechste nemeische Ode beginnt:

Vom gleichen Stamm sind Menschen und Götter, es atmen durch Eine Mutter die beiden ...

Doch die Erde fährt fort zur scharfen Scheidung der Unsterblichen von den sterblichen Menschen:

Doch trennt und ganz verschiedene Macht.

Hier ein Nichts, aber ehern steht

Allzeit der Himmel, ein sicherer Sitz.

Mitten im Herzen der Dichter liegt die Wasserscheide der beiden Welten, der existentialisch-mütterlichen und der idealisch-väterlichen.

Wir aber vermögen im Ausmaße unserer Katastrophen die Fatalität der Abtrennung einer idealischen Welt von der wirklichen zu ermessen. Denn öde und leer war die Erde, als die Verführung der Himmel ihre magische Kraft einbüßte.

Die Tat des Prometheus ist nicht an der olympischen, nicht an der christlichen Konvention, sie ist an unserer Erfahrung zu messen. Wir ahnen heute, was es bedeutete, daß Prometheus noch rechtzeitig, vor der endgültigen Scheidung von Himmel und Erde, den Menschen aus beiden zusammen erbildete, ob nun der Mythos auf eine Urschöpfung des Menschen oder auf dessen schöpferische Wandlung geht. Die »Metamorphosen« des Ovid halten in ihrem ersten Kapitel über die »Schöpfung« den Weltaugenblick der prometheischen Tat fest:

Als das junge, vom hohen Äther soeben geschiedene Erdreich noch Keime des verwandten Himmels in sich barg, da mischte es Prometheus mit strömenden Wasser und formte es nach dem Bilde der allesgestaltenden Götter.

Diese Tat, die die Richtung der »Himmlischen« durchbricht, ist es denn auch, die Zeus maßlos ergrimmt.

Die Todfeindschaft zwischen Zeus und Prometheus entspringt aus ihrem Streit um den Menschen.

Es gibt keine absolute Herrschaft der »Himmlischen«, hat auch der Mensch göttlichen Rang &endash; Prometheus aber steht für den Menschen gegen die absolutistische Herrschaft der »Himmlischen« auf. Zeus bricht mit dem titanischen Bund von Himmel und Erde, so zerbricht er den Menschen, der ein Kind beider Welten ist &endash; Prometheus aber hält im Menschen den titanischen Bund aufrecht. Zeus weist den Menschen in das Verächtliche von Eintagsfliegen &endash; Prometheus aber weist ihn mit der Gabe des Schöpferfunkens in das Göttliche. Zeus will das Menschengeschlecht vertilgen, das ihn mit seinem Rebellentum bedroht &endash; Prometheus aber macht sich gegen den Haß der eifersüchtigen Götter zum Anwalt des kommenden Menschen.

Der Mensch steht damit Prometheus näher als Zeus und den Titanen näher als den Olympischen. Mit den platonischen Ideen und den byzantinischen Engeln siegen die »Himmlischen« &endash; mit dem zu sich selber kommenden Menschen der Neuen Zeit aber siegt Prometheus.

*

Es sagt viel, daß Hesiod, zur Zeuswelt gehörig, das Zeitalter des Kronos, also das titanische, das »Goldene« nennt.

Es ist das Zeitalter des Segens. Der segnende Himmel und die gesegnete Erde sind das göttliche Paar. Die Erbittung des Segens und der Dank für den Segen sind die Regungen des frommen Sinnes, der dies Zeitalter erfüllt, doch über alle Zeiten hin bis zur unsrigen im echten Volke lebendig blieb.

Es ist die Welt der Fruchtbarkeit. Die ewige Welt des Bauern. Das breite Leben, das sich auf der »breitbrüstigen Erde« mit allen noch urkräftig geladenen Sinnen ausladet. Das breite Leben, in dem selbst der Bauer, der Eingewurzelte, in seinem Grund und Boden beinahe immer Enge, keine Gemarkung hat. Das breite Leben, das der Bauer in der Vermählung von Himmel und Erde erfährt, das selbst den Schweren, Flügellosen hochzeitlich zu beschwingen vermag.

Es ist die frühe patriarchalische Welt voller Freude an Zeugung und Empfängnis. Goethe preist sie im »West-östlichen Divan«:

Flüchte du, im reinen Osten

Patriarchenluft zu kosten,

Unter Lieben, Trinken, Singen

Soll dich Chisers Quell verjüngen.

Dort im Reinen und im Rechten

Will ich menschlichen Geschlechten

In des Ursprungs Tiefe dringen,

Wo sie noch von Gott empfingen

Himmelslehr in Erdessprachen

Und sich nicht den Kopf zerbrachen.

(Hegire, Buch des Sängers)

Es ist die Vision des »Titan« Jean Pauls:

Es war die göttliche Überfülle und Vermischung der Welt.

Es ist die dichte und dichterische Welt, in die auch noch Gottfried Keller hineinreicht in seinem beglückten Wort:

Gott strahlt vor Weltlichkeit.

Es war einmal das »Goldene Zeitalter« &endash; und es ist doch alle Zeit.

Hesiod beschreibt in den »Werken und Tagen« das »Goldene Geschlecht« also:

Golden war das Geschlecht der redenden Menschen, das erstlich

Die unsterblichen Götter, des Himmels, Bewohner, erschufen.

Jene lebten, als Kronos im Himmel herrschte als König,

Und sie lebten dahin wie Götter ohne Betrübnis

Fern von Mühen und Leid, und ihnen nahte kein schlimmes

Alter, und immer regten sie gleich die Hände und Füße,

Freuten sich an Gelagen, und ledig jeglichen Übels,

Starben sie übermannt vom Schlaf, und alles Gewünschte

Hatten sie. Frucht bescherte die nahrungsspendende Erde

Immer von selber, unendlich und vielfach. Ganz nach Gefallen

Schufen sie ruhig ihr Werk und waren in Fülle gesegnet,

Reich an Herden und Vieh, geliebt von den seligen Göttern.

Dieses »Goldene Geschlecht« unter Kronos endet Zeus mit seinem neuen Willen zur Herrschaft des Himmels und seiner Verachtung für die Erde und den Menschen, den Sohn der Erde. Hesiod, der der älteren, der goldenen Zeit Verwandte, der bäuerliche Dichter, der an das Dauernde des Zeitalters des Segens gebunden ist, verzeichnet als frommer Mensch willig unmittelbar nach seiner Rühmung das Ende des »Goldenen Geschlechtes«:

Aber, nachdem nun dies Geschlecht in der Erde geborgen,

Wurden sie Dämonen nach Zeus, des Erhabenen, Willen ...

*

Viele Zeiten des Menschen sind in der Sintflut seines Vergessens untergegangen. Es gibt aber auserwählte Zeiten, im persönlichen wie im überpersönlichen Dasein, die der Mensch nie vergessen kann. Die Erinnerung an solche Zeiten hält er als ein Maß der menschlichen Existenz fest. Und er sagt sich: so muß es wieder einmal werden. Der Mensch mag alles zugeben, was die Erfahrung vom Einmaligen und Unwiederholbaren der Zeiten lehrt und vom Unumkehrbaren ihres Flusses. Der Mensch glaubt dennoch, daß in irgendeiner Gestalt die Zeit, in der er einmal bei sich war, wiederkehre. Dieser Glaube aber ist eine unentbehrliche Kraft im Leben der Völker wie des Einzelnen. Es ist keine bloß romantische Lust, die sich in der Auslese einer bewunderten Vergangenheit erschöpft. Diese Kraft reißt vorwärts. Denn das echte Vorwärts entstammt der Rückkehr in das schöpferische Zentrum. In die Zeit zurück gibt es keine Rückkehr. Immer ist ein neues Erscheinen des glückhaften Sternes gemeint.

So erhielt sich unerschütterlich eine Erwartung der Wiederkehr der griechischen Antike in ihrer unbefangenen Weite. Und so erhielt sich innerhalb dieser Erwartung der Antike die der Wiederkehr des Goldenen Zeitalters des Menschen unter dem Zeichen des Kronos-Saturn.

Eine nie abgerissene Überlieferung ging selbst über die strahlungsmächtige apollinische Zeit, die den Sieg des Lichtes bedeutete, doch auch die Trennung des Himmels von der Erde, auf das Zeitalter des ersten Bundes zurück, das titanische Zeitalter der Söhne und Töchter von Uranos und Gaia.

*

Die berühmte Weissagung der Wiederkehr des »Goldenen Zeitalters« ist die Vergils in der IV. Ekloge seiner »Bucolica«. Sie verbindet sich mit der Prophezeiung der Geburt des Knaben aus der Jungfrau, die ein Jahrtausend als Vorverkündigung der Erscheinung Jesu Christi verstand.

Ultima Cumaei venit iam carminis aetas;

Magnus ab integro saeclorum nascitur ordo.

Iam redit et Virgo; redeunt Saturnia regna;

Iam nova progenies coelo demittitur alto.

Tu modo nascenti puero, quo ferrea primum

Desinet ac toto surget gens aurea mundo,

Casta fave Lucina: tuus iam regnat Apollo.

Das heißt in deutscher Sprache:

Schon kommt das letzte Weltalter nach dem Spruch der Sibylle; von neuem ersteht eine große Ordnung der Zeiten. Schon kehrt auch die jungfräuliche Zeit, schon kehren die saturnischen Reiche zurück, schon wird ein neues Geschlecht vom hohen Himmel gesandt. Sei du nur, Lucina, Reine, bei der Geburt des Knaben gnädig, mit dem das eiserne Geschlecht vergeht, das goldene auf der ganzen Erde wiederersteht: schon herrscht dein Apollo.

Lucina ist Diana-Artemis. Die seltsame Prophezeiung enthält also drei Elemente: die herrschende Zeit ist die Apollons, darum wird Artemis, die in Geburtsnot beisteht, angerufen. Das zweite Element ist die Geburt des Knaben aus der »Virgo«, dem Ursprung. Das dritte Element ist das Ende der eisernen und der Wiederanbruch der goldenen Zeit, die durch den Knaben geschieht. Diesem dritten Element sind die »Bucolica« Vergils gewidmet: der Dichter erwartet den Anbruch einer reicheren, weiteren, das heißt der entfalteten Urwelt.

In der christlichen Zeit wurde nur Ein Element gesehen: das der Geburt des Knaben aus der Jungfrau. Innozenz der Dritte und Dante berufen sich mit vielen anderen zusammen auf diese außerordentliche Weissagung Vergils. Dante feiert im 22. Gesang des »Purgatorio« seinen Meister Vergil und dessen Botschaft:

quando dicesti: »Secol si rinnova,

Torna giustizia e primo tempo umano,

e progenie scende dal ciel nuova.«

als so du sprachst: »Der Weltenlauf erneuert sich,

Gerechtigkeit kehr wieder und der Urzeit Art,

und nieder steigt von Himmelshöhn ein neu Geschlecht.«

*

Die Geschichte der Erwartung der wiederkehrenden »Goldenen Zeit«, der saturnischen, ist hier nicht zu schreiben. Sie ist hier wichtig allein als nie verstummtes Gegenwort zum Aufstieg der »Neuen Götter«, der »Himmlischen«.

Wenn wir uns an das besondere Geschick unserer Zeit halten, ist an zwei Namen zu erinnern, die sich mit der Geheimen mächtigen saturnischen Tradition verbinden: an den Namen Hölderlins, in dem sich das Schicksal des deutschen Geistes formuliert und den Namen Shelleys, der für den rebellischeren Geist des Westens steht.

Hölderlin ist keine titanische Natur und er liebt das Titanisch-Gewalttätige nicht. Die Abneigung gegen den »ungebundenen Abgrund« ist durchgängig im ganzen hölderlinischen Gedicht. Und die Herabbeschwörung der ausbrechenden titanischen Gewalten der Neuen Zeit ist bis zur Prophetie gesteigert. Hölderlin sieht sie im rächerischen Aufstieg, die herabgeworfenen »Wilden«. Sie verhindern den Neuen Tag der Götter. Daraufhin ist das Hymnen-Fragment »Die Titanen« gebaut:

Nicht ist es aber

Die Zeit. Noch sind sie

Unangebunden. Göttliches trifft Unteilnehmende nicht.

Dann mögen sie rechnen

mit Delphi ...

Was einmal geschah, die notwendige Überschreitung der titanischen Gewalten durch die göttlichen Gestalten, das muß wiedergeschehen. Der Mythos ist eine Ewige Geschichte.

Verkehrt sind jedoch alle sich jetzt häufenden Versuche restaurierender Geister, Hölderlins naturhafte Abneigung gegen die titanische Gewaltsamkeit christlich-apologetisch zu einem Zeugnis seiner endlichen Unterwerfung unter den »Höchsten«, den Vater, auszubeuten. Hölderlin hat das unchristlich-christliche Vatertum Gottes in seiner jahwistischen Gewalttätigkeit so geflohen wie die Gewalttat der titanisch-chthonischen Mächte. Und es gehört zur Ökonomie des geistigen Reiches, daß der Widerstand von Geistern wie Goethe und Hölderlin gegen einen längst überlebten, vom Christentum jedoch nicht überwundenen Theismus und entsprechenden Theologismus nicht abgeschwächt wird, sondern gerade jetzt in einer sich wieder beruhigenden Christenheit wirksam bleibt. Falsche Freunde bestärken wie falsche Feinde das Unwesen, echte Feinde aber wie echte Freunde weisen in das Zentrum.

Hölderlin ist der neue mythische Mensch und sein überpersönlicher Mythos ist der des Neuen Bundes von Himmel und Erde. Weil der Mythos Ewige Geschichte ist, sind in ihm alle geschichtsbildenden Mächte dauernd wirksam. So ist die mächtige Wahrheit von Kronos-Saturn, des Sohnes von Uranos und Gaia, in Hölderlin im hegelschen Sinne »aufgehoben«, das heißt überwunden nach der Zeitlichkeit, jedoch aufbewahrt in der zeitüberlegenen Wirklichkeit. In Hölderlin ist echt mythisch der ganze spannungsreiche göttliche Kosmos wiedervereinigt. Er kennt die übliche Entscheidung als Scheidung nicht &endash; wohl aber die neue Entscheidung als Ent-scheidung, als Überwindung der Weltscheidung. Sein Geist ist nicht der logisch trennende, sondern der metalogisch allverbindende Geist, der Gesamtgeist. So preist er neben Christus, dem Einzigen, Dionysos, den Gemeingeist. Die letzten Hymnen, die man als Bruch mit dem ganzen früheren Werk hinzustellen sich vermißt, sind bruchlos die Krönung des ganzen hölderlinischen Werkes.

Hölderlin weiß um seine Gefahr: nur den Himmlischen zu gehören. So sucht er Schutz bei der mütterlichen Gegenwelt, sucht Schatten und Kühlung und Geborgenheit vor dem versengenden Strahl, der ihn zuletzt doch zerstört. Hölderlin spürt menschlich: die Erde gehört zum guten Geschick. Und so ließ er nicht um den Preis der höchsten Himmel die Mutter, die alliebende, allduldende. Er kann sich bei all seiner &endash; die zeitgenössische Christenheit überragenden &endash; geschöpflichen Frömmigkeit mit dem ersten himmlischen Regenten, mit Zeus so wenig versöhnen wie mit Jahweh und dem in deren Gesetz noch stehenden vorchristlichen Christengott.

Die »Anmerkungen zur Antigone« sind dafür aufschlußreich. Hölderlin geht in ihnen von der Voraussetzung aus, daß wir uns gegenüber der griechischen Wandlung in einem umgekehrten Vorgang befinden. Wanderten die Griechen unter dem Terror des Schicksals in die Himmel aus &endash; so sind wir die Rückwanderer aus den Himmeln in das Schicksal der Erde. Es war die griechische Schwäche, vom Schicksal bezwungen zu werden, so mußte die griechische Richtung sein, zum Schicksalslosen aufzusteigen, das heißt in das ortlose und zeitlose Sein. Dagegen ist es unsere Schwäche, in der blauen Luft des Gedankens schicksalslos zu sein, und so muß es unsere Richtung werden, hier wieder Geschick zu haben. (Der Gedanke Hölderlins, der für ihn zu Recht bestand, gilt für uns nicht mehr ohne weiteres. Wir sind wieder Überwältigte des Fatum &endash; ohne in irgendeinen »idealen« Raum fliehen zu können.) Hölderlin anerkennt als sohnlicher Mensch wieder die Erde als Schicksal, doch niemals läßt er sich verführen, über der Mutter den Vater zu vergessen. Und so sucht er nach dem »eigentlicheren Zeus«, der im Neuen Kairos die Gegenbewegung zur Erde führt:

Für uns, da wir unter dem eigentlicheren Zeus stehen, der ... den ewig menschenfeindlichen Naturgang auf seinem Wege in die andere Welt entschiedener zur Erde zwinget ... da das Schicksalslose das ((dysmoron)), unsere Schwäche ist.

Im Bestimmteren oder Unbestimmteren muß wohl Zeus gesagt werden. Im Ernste lieber: Vater der Zeit oder Vater der Erde, weil sein Charakter ist, der ewigen Tendenz entgegen, das Streben aus dieser Welt in die andre zu kehren zu einem Streben aus einer anderen Welt in diese.

Doch darüber hinaus geht Hölderlin still den Weg des siegenden Zeus zurück in das Goldene Zeitalter des Kronos-Saturn. In antiker Unbefangenheit fordert die ältere Frömmigkeit Hölderlins Zeus auf, seines Vaters zu gedenken und sich des Dankes nicht zu schämen:

Du waltest hoch am Tag, und es blühet dein

Gesetz, du hältst die Waage, Saturnus Sohn!

Und teilst die Los und ruhest froh im

Ruhm der unsterblichen Herrscherkünste.

Doch in den Abgrund, sagen die Sänger sich,

Habst du den alten Vater, den eigenen, einst

Verwiesen und es jammre drunten,

Da, wo die Wilden vor dir mit Recht sind,

Schuldlos der Gott der goldnen Zeit schon längst,

Einst mühelos und größer, wie du, wenn schon

Er kein Gebot aussprach, und ihn der

Sterblichen keiner mit Namen nannte.

Herab denn! oder schäme des Danks dich nicht!

Und willst du bleiben, diene dem Älteren

Und gönn es ihm, daß ihn vor allen,

Göttern und Menschen, der Sänger nenne!

Denn, wie aus dem Gewölke dein Blitz, so kommt

Von ihm, was dein ist, siehe! so zeugt von ihm,

Was du gebeutst, und aus den alten

Freuden ist jegliche Macht erwachsen.

Und hab ich erst am Herzen Lebendiges

Gefühlt, und dämmert, was du gestaltetest,

Und war in ihrer Wiege mir, in

Wonne die wandelnde Zeit entschlafen,

Dann hör ich dich, Kronion! und kenne dich,

Den weisen Meister, welcher, wie wir, ein Sohn

Der Zeit, Gesetze gibt und, was die

Heilige Dämmerung birgt, verkündet.

Hölderlin geht in der ersten Fassung des »Empedokles« noch weiter. Er hofft auf die Wiederkehr der »glücklicheren Saturnustage«:

Es sprechen, wenn ich ferne bin, statt meiner

Des Himmels Blumen, blühendes Gestirn,

Und die der Erde tausendfach entkeimen.

Die göttlichgegenwärtige Natur

Bedarf der Rede nicht; und nimmer läßt

Sie einsam euch, wenn einmal sie genaht ...

Wenn dann die glücklichen Saturnustage,

Die neuen, männlichern, gekommen sind,

Dann denkt vergangner Zeit, dann leb, erwärmt

Am Genius, der Väter Sage wieder!

*

Doch nicht nur in Deutschen ist diese Erwartung. Leicht werden sie ja romantisch gescholten. Und selbst Goethe und Hölderlin, die abseits der »Deutschen Romantik« stehen, erscheinen den futuristisch-fortschrittsgläubigen Geistern anderer Völker als der unverbesserlich romantischen Seele des deutschen Volkes zugehörig. Wenn es hoch kommt, so billigen sie Goethe und Hölderlin eine Klassik des Romantischen zu.

Vielleicht noch ausgesprochener lebt die saturnische Tradition und die Erwartung auf die Wiederkehr der saturnischen Welt in Shelley. Und sie ist in ihm nicht nur der Reflex des goetheschen Zeitalters. Urenglischer Beweggrund ist im Spiel: widerständiger Geist der Freiheit. Shelley ist revolutionär. In ihm ist jener Radikalismus des Westens, den weder Goethe noch Hölderlin kennen. Im Gegensatz zu Hölderlin steht Shelley unversöhnlich gegen Zeus. Die Hymne und das Fragment des jungen Goethe »Prometheus« leben in ihm. Er hat die andere Seite Goethes nicht, die im Jahr des »Prometheus« ihren mächtigen Ausdruck in der Ganymed-Hymne gefunden hat:

Aufwärts an deinen Busen

Alliebender Vater!

Darin unterscheidet sich Shelley vom versöhnlichen Geist des goetheschen Zeitalters, daß er um der sohnlichen Freiheit willen die Ehrfurcht als Brücke zur Unterwerfung zerbricht. Er haßt in Zeus das ganze väterliche Zeitalter der Herrschaft. Er haßt es in Jehovah wie in Zeus. Denn er haßt so glühend Kreaturen wie er Freie liebt. In den goetheschen Deutschen ist mehr als der prometheische Trotz die prometheische Liebe mächtig, die der Allgöttlichkeit er Welt die Treue hält:

Haben sie das all,

Doch nicht allein!

Dies Wort aus dem goetheschen Prometheus-Fragment läßt noch die Ehrfurcht vor dem Obern bestehen, das Element, in dem die Väter lebten. Goethe weitet das Land der Ehrfurcht, indem er es auf den Menschen, ja, auf das, was unter diesem ist, ausdehnt. Shelley aber ist trotzig wie der mythische Prometheus. Im Vorwort zu seinem »Prometheus unbound« verwirft er den Versöhnungsversuch, den Aischylos im dritten, verlorenen Teil seiner Prometheus-Trilogie unternommen:

But, in truth, I was averse form a catastrophe so feeble as that of reconciling the Champion with the Oppressor of mankind &endash;

In Wahrheit aber war ich gegen eine so schwächliche Katastrophe wie die der Versöhnung des Vorkämpfers der Menschheit mit ihrem Unterdrücker.

Es gibt für Shelley &endash; nach echtem westlichem Geist &endash; keine Versöhnung zwischen freiem Schöpfergeist und Herrschaft.

Der tiefere Grund der Begeisterung für Prometheus aber ist auch bei Shelley die »Wiedervereinigung des Getrennten«, die Hoffnung auf die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters im Zeichen des Kronos-Saturn, des Neuen Bundes von Himmel und Erde.

In den berühmten Schlußversen gegen die blutig-goldene Macht eines jeden Zeus, des jüdischen, christlichen, mohammedanischen wie des griechischen und römischen, beschwört Shelley in seinem Drama »Hellas« die Wiederkunft des Goldenen Zeitalters von »Saturn and Love«:

The world's great age begins anew,

The golden years return …

Die große Zeit der Welt beginnt erneut,

Die goldnen Jahre kehren wieder ...

Die Erwartung ist so groß, daß eine mächtige Schar von menschlichen Geistern, die kein Gleichnis mehr hat in der heutigen Zeit, sie mit den Händen des Geistes zu greifen vermeint.

Shelley ist kein erdlicher Mensch, der die vom Uralt-Chthonischen wieder gefangen und von ihm befangen in die überwundene titanische Zeit zurückkehrt. Er ist unter Menschen ein himmlischer Geist, in dem die Kraft der Erhebung, des Aufschwungs überwiegt. Er ist jedoch ein himmlischer Geist, der von der Erde wieder angezogen, der die Erde wieder liebt und bezeugt. Er ist der Selbstliebe des Satan-Engels entronnen: Luzifer ist in ihm geschlagen &endash; wie in allen anderen Gebieten der goetheschen Zeit.

Ein neues Schauspiel beginnt: erdliche Geister wie Goethe bekenne den Himmel &endash; himmlische Geister wie Hölderlin und Shelley bekennen die Erde.

Das Herz des Menschen vereinigt in sich Himmel und Erde. Es beugt den Himmel zur Erde, es erhebt die Erde zum Himmel. Es entsteht ein neues Menschentum, in dem der Mensch Sohn von Himmel und Erde wird. Das ist nicht das Menschentum, das bloß die Selbstgenugsamkeit des Engels ablöst. Und das ist nicht der Humanismus, der den heutigen Bestialismus austrug, der weder Himmel noch Erde kennt, nur wieder neu den uralten tiermenschlichen Nutzen und die uralte tiermenschliche Macht.

Noch einmal bekennt in »Prometheus unbound« The Earth, die Erde, den Menschen:

Leave man...

Es bleibt der Mensch...

Doch der Mensch bekennt:

Heaven and earth united now...

Himmel und Erde &endash; nun wiedervereint.

 

ZWEITES KAPITEL
APOLLON &endash; DER SOHN

Apollon &endash; der Sohn

Auch Apollon hat seine Geschichte. Seine volle Herrlichkeit tritt nicht mit Einem Schlage heraus. Das verworrene Geschlecht des Menschen hat Mühe, das Reine Licht zu fassen. Jagdgrund genug für die wissenschaftlichen Jäger der Entstehungszeiten, der Abhängigkeiten, Entlehnungen ...

Und doch ist Apollon nach seinem innersten Wesen werdelos. Einstmals als eins mit dem Licht selbst erkannt, hört vor seinem Glanz alles Werden auf, tritt das Sein ohne Entstehen und Vergehen heraus in die dauerlose vergängliche Welt. Das Licht ist geschichtslos. Es kennt kein Werden an sich, kennt es auch ein Werden in der Welt. Ist Licht der Ursprung, so hat es keinen Anfang und kein Ende. In Apollon aber wird auf griechischem Boden das Licht zum Ursprung.

Auch der Befehl des Gott-Schöpfers in der biblischen Genesis »Es werde Licht!« geht von der Macht des Lichtes als dem Ursprung aus. Er enthält nicht die Kunde von der Erschaffung des Lichtes, er geht darauf hinaus, daß Licht in der Welt mächtig werde. Denn Licht ist auch im Pentateuch das Wesen Gottes, seine eigenste Kraft. Daß Licht werde in der Finsternis des Nichts, des Chaos und der Erde &endash; das ist der göttliche und der menschliche Wille in der Welt des Vaters. Die Väter sind im Guten und im Bösen luziferisch, sind die Lichtbringer. Denn einmal war Luzifer noch in Gott.

In Zeus, dem Vater, geht die Sonne des geistigen Lichtes auf, der Nous, der Logos. Mitten im Kampf um die Macht erscheint die weltentscheidende Kraft: die Lichtkraft des Geistes. Und Zeus ist Geschichte, weil er in sich den Gegensatz des Willens zur Macht und der Willigkeit zum Lichte trägt. Dieser Gegensatz bewegt die Zeus-Welt. Zeus bleibt in dieser Geschichte noch Titan und wird in ihr zum »Neuen Gott«. Und schwer hat Zeus, der Vater, zu ringen, daß sein Geist der Macht überstrahlt werde von der neuen Macht des Geistes.

Was der Vater mühevoll zu erreichen sucht, das ist den Vatersöhnen oft mühelos gegeben. Auf niedrigstem Plan sind die Vatersöhne reich an Geld und Gut, das der Vater erwarb. Auf höchstem Plan sind sie das Ziel, wonach die Väter vergeblich die Hände ausstreckten: das lichte Sein selbst.

Zeus ist lichthungrig wie Prometheus &endash; doch er ist so wenig das Licht selbst. Die Titaniden wollen Licht &endash; Apollon aber ist Licht. In Apollon ist weder der Zeus-Wille zur Macht noch der Prometheus-Wille zum Schaffen. Apollon ist über aller Macht und Schöpfung das Sein selbst, so, daß ihm nach keiner Weltherrschaft oder Weltschöpfung der Sinn steht. Er dient weltenthoben der Herrschaft des Zeus und er duldet ohne Neid die Schöpfung des Prometheus.

Zeus und Prometheus sind tragische Figuren und darum Figuren der Tragödie. Ihr Recht ist auch ihr Unrecht &endash; ihr Unrecht auch ihr Recht. Zeus muß unbedingte Macht in den Händen haben, will er Herrschaft über die Welt. Prometheus muß notwendig zum Rebellen werden, will er ein selbstschöpferisches Menschengeschlecht. Die zwei kommenden Weltzeiten, die der herrscherlichen Väter und die der selbstschöpferischen Söhne, stehen einander in den beiden Titaniden gegenüber.

Apollon aber ist keine tragische Figur. Denn das Licht kennt in sich keinen Zwiespalt. Es genügt sich selbst. Es ist ohne dialektische Nötigung monologisch. Wenn Apollon in den Kampf der »Neuen Götter« gegen die Erdgottheiten in der »Orestie« eingreift, dann als Triumphator, der das Recht des Siegers besiegelt. Zeus und Prometheus wissen um Sieg und Niederlage. Zeus ist der erste, Prometheus der letzte Sieger. Apollon aber erst enthüllt als ruhendes Gestirn des wandellosen Lichtes das Unsterbliche der Götter. Er kreist nicht mehr wie der Sonnengott der titanischen Welt, Helios, um Aufgang und Untergang. Sein Licht steht fest. Und für die Griechen geschieht in Apollon allein keine Tragödie.

*

Das Ungeschichtliche aller Aufklärung, der antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen, ja, die Feindschaft gegen die Geschichte beruht auf diesem werdelosen Gott des Lichtes. Das Licht erscheint dem erkennenden Geiste als in sich vollkommen und unbedürftig. Wonach sollte es das Licht verlangen? Ist es nicht in sich selbst am Ziel? Und ist das Licht darum nicht das Sein selbst? Wenn aber der lichte Geist der Welt vorausgeht, wer kann da selig sein, wenn nicht der, der sich in die ursprüngliche Heimat, das wandellose Sein, aufzuschwingen vermag? Der offene oder geheime Gott aller Aufklärung ist der erste Gott, der die schattenlose Klarheit des Göttlichen enthüllte: Apollon

Schon die Losung Pindars ist urgriechisch:

((genoi oios essi mathôn.))

Werde lernend der du bist!

Dieser Vers der zweiten pythischen Ode ist aus dem Munde Apollons gesprochen. Allem apollinischen Griechentum kommt es im Werden auf das Erreichen des Seins an. Auch im Moralismus der Sokrates und Platon können wir nur werden, die wir eigentlich sind. Dabei ist mit diesem eigentlichen Sein nicht das Individuelle des Menschen gemeint, sondern das ursprüngliche, der Geburt aus dem Licht gemäße Sein. Erst im Munde von Goethe und von Nietzsche färbt sich die pindarische Lösung mit der Klangfarbe des unverwechselbar Individuellen.

Apollon selbst ist jedoch über die apollinische Losung erhaben. Er braucht nicht lernend er selbst zu werden. Er ist. Er ist vom ersten Augenblick an der, der er ist. Als Vollendeter tritt er unter die Schar der Götter. Er braucht nicht um sein Wesen zu kämpfen &endash; kampflos fällt es ihm zu. Er braucht sich nicht zu klären &endash; er selber ist die Klarheit. Er braucht keine Reinigung &endash; wer in ihm ist, der ist in der Katharsis.

Apollon ist das Urbild dessen, was die Griechen mit ihrem Zauberwort »Sein« beschwörend nennen.

Apollon übertrifft seinen Vater Zeus an göttlicher Strahlung wie Jesus Christus den Gott des Alten Testamentes. Und man hat darum nicht mit Unrecht das olympische Zeitalter der Herrschaft des Zeus das apollinische genannt. Zeus ist der neue göttliche Trieb und an Triebgewalt ist er mächtiger als Apollon. Doch schöner als der Trieb ist die Blüte. Die Blüte ist die Hochzeit. Apollon ist die Blüte des Griechentums. Und die Blüte ist auch schöner als die Frucht, als der letzte Gott, der Logos-Theos.

Immer verband sich mit der Blüte das Lichte. Immer ist Hochzeit ein Fest des Lichtes. Apollon ist das ewige Fest des Lichtes. Ein Fest ist, Tag für Tag, das Erscheinen des Lichtes. Die Griechen rühmen Apollon als das strahlende Auge, als die sehende Sonne der Welt. Goethe weiß wieder, was die Griechen erfuhren, daß Licht und Auge urverwandt sind. Der goethische Satz in der Vorrede zur »Farbenlehre« besteht zu Recht, daß das Auge sein Dasein dem Licht verdanke. Das Auge aber ist das Organ des Lichtes, und so kann auch gesagt werden, daß das Licht sein Dasein dem Auge verdanke. Das fällt in Apollon zusammen: Licht und Auge. In Apollon ist alles Auge. Rilke meint wohl dies, wenn er, einen »Archaïschen Torso Apollos«betrachtend, in die überraschende Wendung ausbricht:

... denn da ist keine Stelle,

die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.

*

Noch Hesiod weiß, daß das Feuer ursprünglich zur Erde gehörte und wie das Feuer auch der feurige Strahl, der Blitz. Und daß der Blitz erst später in die Hände des Zeus kam. Und von den Himmlischen Feuer und Blitz als ihre Privilegien gehütet wurden.

Das ist noch im Feuer. In ihm ist noch die Düsternis der Erde und ist doch schon das Erhellende der Himmel. Und auch der Blitz ist noch zerstörendes wie erweckendes Element. Die Zornmacht des Vatertums enthüllt sich in ihm wie dessen welterhellende Kraft.

Doch das Feuer erinnert sich seiner eigentlichen, der himmlischen Herkunft. In Flammenarmen verlangt es nach seiner eigentlichen Heimat. In Zeus geschieht die Wende. Und wenn auch noch die Wolke um ihn ist als ein blitzender Schild &endash; er weiß sich als »Strahl« des Himmels. Hölderlin erfährt ihn so wie das mythische Volk. Dieses steht unter Zeus in den Gewittern Gottes. Und es blickt nicht mehr in die Tiefe, blickt in die Höhe, wenn es Gott ahnt.

Doch in Zeus ist der Weg erst begonnen. Der Aufstieg geht vom Feuer zum Licht, vom Licht zum Geist. Das milde Element des Lichtes erlöst vom wilden Element des Feuers. Von der Qual des Seins, das erst wird, erlöst die große Gelassenheit des wirklichen Seins.

Die zweite Genesis innerhalb der Theogonie der »Neuen Götter«, der »Himmlischen«, geschieht. Die Geburt des Lichtes aus dem Feuer, des Sohnes aus dem Vater. Das Licht erst scheidet endgültig den Himmel von der Erde. Das Auge des Himmels, das apollinische Licht, ist erst das eigentliche Gottesbild der Griechen. Sie erkennen sich mehr als in Zeus in dessen Sohn Apollon.

Darum nehmen die Griechen Jesus Christus an. Denn auch der Heilige Weg der Bibel geht von Gott dem Vater, der Feuersäule seines Volkes, zu Gott dem Sohn, dem Licht, das alle Erden überstrahlt.

Das erfährt Jakob Böhme wie kein anderer. Er geht den Weg vom feurigen, grimmigen Element, dem blitzenden des Vaters immer wieder zum lichten Element des Sohnes, dem milden, von der Qual des chaotischen Werdens erlösenden Licht.

*

Wir haben eine Gleichung Apollons mit Jesus Christus darin gesehen, daß beide Söhne die Vatergottheit überstrahlen. Für das anbrechende väterliche Zeitalter aber ist eine andere Gleichung noch ungleich schwerer wiegend: Apollon steht wie Jesus Christus zum Vater.

Als die ersten Worte Apollons, die dieser ausspricht, als er die Versammlung der Götter erstmals betritt, überliefert die erste der Homerischen Hymnen, die Apollon geweihte:

Lieben will ich die Leier und den geschwungenen Bogen

Und verkünden den Menschen des Zeus untrüglichen Ratschluß.

Es beginnt so das Leben Apollons &endash; anders als das des Kronos und seines Vaters Zeus &endash; mit einem Bekenntnis zum Vater.

Apollon ist Sohn. Er bricht mit der vatermörderischen Linie seiner Ahnen. Er läßt das Titanisch-Empörerische, die titanische Unsohnlichkeit, die der titanischen Unväterlichkeit entspricht, hinter sich. Apollon ist Sohn wie Zeus Vater ist. Die wichtigsten Wendungen der Theogonie sind die Reifung zur göttlichen Mutterschaft und Vaterschaft. Es gibt erst Söhne, seitdem es Mütter und Väter gibt. Als Zeus wirklich Vater wird, wird Apollon wirklich Sohn.

Apollon ist sohnlicher Lichtträger wie Prometheus. Doch Prometheus ist noch ein Sohn der Mütter, Apollon ein Sohn des Vaters. Von den Müttern her hat Prometheus den titanischen Trotz gegen die unväterliche Willkür des Neuen Weltregenten Zeus. Zeus redet ihm noch zu stark mit Blitz und Donner. Zeus ist gegenüber Prometheus noch nicht der allverantwortliche Vater. Das treibt Prometheus in seinen unsohnlichen Trotz.

Zeus ist zuerst nicht Vater, denn er war nie Sohn. Auch Zeus ist als Sohn noch im titanischen Aufstand. Auch Zeus ist als Sohn noch Titan. Er verweigert jede Sohnlichkeit gegenüber seinem Vater Kronos &endash; wie dieser sie verweigerte gegenüber seinem Vater Uranos.

Auch darin übersteigt Apollon in das Unverwandte seinen eigenen Vater: er endlich kann Sohn sein und er endlich ist Sohn.

Ferne des Titanischen

In Zeus ist das Titanische noch mächtig &endash; darum kämpft er so wild mit den Titanen. Er muß nicht nur seine äußeren Feinde &endash; er muß den Titanen in sich selber besiegen. Es ist noch ein wildes Vatertum in ihm. So erfährt ihn Prometheus und so erfährt noch der prometheische Goethe den alttestamentarischen christlichen Zeus. Zeus ist noch gewittrig geladen mit Wut. Wuotan ist nah. Und der zornige Gott Jehovah. In Zeus ist die witternde Angst und das Mißtrauen der Herren der Wüste, der Löwen. Und das, was er mit grollendem Donner seiner Stimme in der Weite erweckt, ist Angst und Schrecken.

Das alles liegt weit hinter Apollon. In ihm ist das Titanische auch innerlich überwunden. Er ist nicht mehr Element. Er ist Gestalt. Das Element des Blitzes wandelt sich in ihm in die Gestalt des Lichtes. Zeus ist der zuckende Strahl aus finsterer Wolke &endash; Apollon ist das stehende Licht des Mittags. Das mittägliche Licht Apollons steht so hoch, daß es keinen Schatten wirft. Und auch darin sind Gleichungen zu den anderen göttlichen Söhnen des Lichtes, zu Baldur, zu Christus.

Zeus hat mit den Titanen auch noch das Genitalische gemeinsam. Er ist wie sein Vater Kronos und wie Uranos ein gewaltiger Zeuger, nur daß er zu seinen Kindern steht. Er liebt die Fülle der Welt. Er ist noch ein Patriarch der Frühe. Er ist noch erdnah. Der Herr der »Himmlischen« ist noch ein Chthonios, ein Sohn der Gaia. Sein Herz zittert bei gewaltigem Weibtum und zartem Mädchentum. Er besitzt viele Gattinnen und viele Geliebte. Und er folgt auf listigen Wegen dem titanischen Urtrieb. Er wird zum Stier, der Europa, die er liebt, fortträgt. Er wird zum Schwan, der flügelschlagend in Leda eindringt. Er wohnt als Schlange Demeter bei und er wiederholt diese Beiwohnung selbst bei Persephoneia, der eigenen Tochter aus dem Schoße der Demeter... Und dieser chthonisch-titanische Zeus kann einen Sohn haben wie Dionysos, in dem das chthonische Element rauschhaft in die apollinischen Ordnungen einbricht.

Der Gegenspieler des Zeus, Prometheus, entgeht dem Titanisch-Genitalischen in das Genialische. Das ist die prometheische Metamorphose des Titanischen. Prometheus entdeckt innerhalb des griechischen Raumes das Schöpferische. Er entdeckt es aus seiner Eroskraft. Der Eros kosmogonos wandelt sich in ihm in den Eros anthropogonos. Doch der polarisierende Eros bleibt allmächtig. Prometheus vereinigt die alten Erdkräfte und die neuen Himmelskräfte im Menschen zum menschlichen Ganzen. Er vereinigt Feuer und Erde, Zeus und Gaia. Er bleibt auf seine genialische Weise der titanischen Paarung treu.

Ganz anders Apollon. Er steht weitab von seinem titanisch-genitalischen Vater. Und er steht auch der prometheischen Genialität fern. Er ist männlich hart wie Zeus und Prometheus, doch seine Männlichkeit ist ein kühler Geist und ein beherrschendes Herz. Was Goethe Prometheus zuschreibt: ein »heilig glühend Herz« &endash; das wäre von Apollon niemals zu sagen. Apollon kennt nicht die genitalische, nicht die genialische Unruhe. Er kennt den zeugenden Blitz der Erkenntnis nicht mehr, der Zeus und Prometheus vereint. Apollon erkennt nicht mehr auf die Weise, die in der Heiligen Schrift, im Alten Testament, stehende Formel ist: Er erkannte sie und sie gebar. Apollon reißt Zeugung und Erkenntnis auseinander. Immer ist er geheim schon die erste Figur des letzten Gottes Logos.

Mit dem Logos teilt Apollon das Selbstgenugsame. Während die vielen Gattinnen und Geliebten des Zeus allbekannt sind, weiß niemand von einer Gattin des Apollon. Es fehlt die andere Seite. Wohl ist die Kunde, er sei der Vater des Orpheus und des Linos &endash; doch es könnte ebensogut eine geistige Vaterschaft sein. Da ist er, der goldlockige ewige Jüngling in seiner eigenen Strahlung allein &endash; ohne jeden Gegenpol: selbstgenugsam wie seine Schwester Artemis, die ewig ungepaarte.

Der Eros aber nimmt im Zeitalter des Logos, des selbstgenugsamen Geisteslichtes, eine neue, die platonische Gestalt an. Bei Apollon erscheint als bei dem ersten Gott der Griechen die für die griechische Spätzeit so bedeutsame Knabenliebe. Der strahlende Gott liebt auch Mädchen, doch keine Liebe und keine Geliebte erreicht auch nur das Nennenswerte. Ungleich bedeutender sind die Geschichten der geliebten Freunde, der immer apollogleichen. Es ist, als ob sich der Gott in seine Spiegelbilder verliebte. Licht zeugt in Licht. Schönheit in Schönheit. Platons Eros paidikos wird von Apollon vorweggenommen. Man kann aber auch sagen: Platon erscheint vom mythischen Apollon aus als eine späte Epiphanie in logoshafter Zeit.

Berühmt ist die Liebe Apollons zu seinem Freund Hyakinthos. Das ist ein Sterblicher, doch in seiner Sterblichkeit blüht die unsterbliche Sonne Apollons. Es ist aber, als ob das apollinische Licht alles andere Licht, das zu ihm aufblüht, auslöschen müßte. Apollon tötet den geliebten Freund im Spiel mit dem Diskos. Man sagt, daß die Hyazinthe aus dem Blut des sterbenden Hyakinthos aufgeblüht sei. Die Liebe Apollons ist unfruchtbar und wenn sie eine Fruchtbarkeit hat, ist sie dem Tod gleich. Licht löscht Licht aus. Hier klafft der Abgrund in das Unermeßliche zwischen dem titanisch-zeugerischen Vater und dem selbstgenugsamen Sohn.

Die Liebe der Artemis ist nicht weniger gefährlich für ihre Geliebten wie die des Apollon. Artemis ist &endash; Apollon entsprechend &endash; die erste Göttin der Griechen, die Mädchen liebt. Wie Apollon ewiger Jüngling, so bleibt Artemis ewig Mädchen. Und wie Apollon bleibt auch Artemis in ihrem jugendlichen Kreise. Sie beginnt mit jener lesbischen Liebe, die eifersüchtig über die Geliebte wacht. Für die Treulosen ist im Kreise der Artemis der Tod bestimmt. Berühmt ist die Geschichte der Kallisto: Artemis tötet sie, als sie im Bade deren Schwangerschaft entdeckt. Die Ironie will es, daß die Geliebte vom Vater der Artemis, von Zeus schwanger ist ...

Gegenpol zu den Erdgottheiten

Auch darin bleibt Zeus noch Titan: er bleibt den Großen Müttern nah. Er liebt die Erde. Es zieht ihn zu den Töchtern der Erde. Er bleibt wie alle Titanen mit einer Wurzel ein Sohn der Erde, ein Chthonios, auch wenn er über die Erde zu seinem Hochsitz aufsteigt.

Apollon erst sieht über die Mütter hinweg. Von ihm erst ist zu reden als von einem »Neuen Gott«, als von einem »Himmlischen«. Apollon erst schlägt die Brücke zum letzten Gott der Griechen, dem abstrakten Gott, der von allen Erdendingen zu abstrahieren weiß, dem Logos-Theos.

Apollon ist den Mütter fern, so fern der Himmel der Erde ist. Und damit entscheiden sich die Geschicke unserer abendländischen Welt. Denn die Titanen waren ein Zwischenreich, in dem die Großen Mütter die geheime Macht behielten. Zeus bricht äußerlich die Macht der Großen Mütter. Er ist nicht nur der Neue Herr, er schafft eine Neue Ordnung der Welt aus männlichem Geist. Doch erst in Apollon ist die Macht die Großen Mütter auch innerlich gebrochen.

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Bevor wir jedoch den kosmischen Abstand Apollons vom Reiche der Mütter ermessen, ist fest ins Auge zu fassen, was nie zu vergessen ist: Apollon bleibt wie die Mütter im kosmischen Raume. Sein Sein ist welthaft wie das der Mütter. In Zeus beginnt innerhalb des Mythos der Wille zur Rangordnung der kosmischen Sphären. In Apollon vollendet sich diese Rangordnung. Doch so hoch Apollon steht, er kennt nur eine höhere, nie eine Überwelt im späteren Sinne. Er spannt die Welt in eine untere und eine obere, doch er spaltet sie nicht. Die Welt bleibt auch noch in Apollon. Eine einzige Welt. In dieser geschlossenen Gestalt ist kein Riß.

Apollon ist ein Gott der Reinigung, der Katharsis, doch er ist kein Erlösergott.

Wir haben keine fremden Vorstellungen mit ihm zu verknüpfen. Das Orientalische hat in ihm keinen Zugang. Unüberbrückbar formt er das ganz andere Geschick des Griechentums gegenüber der jüdischen Tradition, in der der Schöpfer abgründig weit der Schöpfung gegenüber steht und nur fordernd im Gesetz mit ihr verbunden ist.

Apollon ist so mächtig welthaftes Sein, daß auch der griechische Logos-Theos keinen metaphysischen Dualismus bedeutet. Die Verführung war groß. Denn groß war die griechische Kunst der Abstraktion. Und die orientalische Maßlosigkeit, die wachsend Griechenland bedrohte, erwies sich auch darin, wie sie die Spannung der Neuen Vaterwelt zur alten Mutterwelt zu einem weltspaltenden Absolutum zu machen verstand. Wenn Griechenland widerstand, so widerstand in ihm der unzerreißbare Gott des Maßes. Apollon hielt die griechische Logokratie in ihrem eigenen Gesetz, als die Weltstunde der orientalischen Theokratie grenzenlose Ausmaße zu geben schien.

Unter diesem Vorbehalt fällt das gesamte vorchristliche Griechentum &endash; im Grunde aber auch das christliche. Man denke an den Kampf des griechischen Christentums um den Sohn, an die Verehrung der Bilder und den wachsenden Kult der Gottesmutter. Man denke an die auch innerhalb des Christentums unvergleichlich mythisierenden Kraft des Griechentums.

Unter diesem Vorbehalt der apollinischen Welthaftigkeit fällt das gesamte Abendland. Wenn es nicht dem Orient anheimfiel, so ist dies weitgehend den Griechen zu verdanken und innerhalb des griechischen Einflusses dem unbeeinflußbaren Gott Apollon.

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Und noch ein Vorbehalt ist zu machen, wenn von der Spannung zwischen Apollon und den Müttern die Rede ist.

Die Fremdheit Apollons zu den Müttern, seine Feindschaft gilt nicht der eigenen Mutter. Und dies aus keinem sentimentalen Grunde. Zu der eigenen Mutter kann Apollon stehen wie zu seiner Schwester. Ja, vielleicht müssen wir sagen, daß auch Apollon, der Feind der Mütter, mehr Sohn der Mutter ist als des Vaters.

In der mütterlichen Linie seiner Abstammung lag schon der Kult Apollons als des Reinen, Fernen, Entrückten. Leto, die Mutter, ist die Tochter der Phoibe, der Titanin, die wiederum auf Gaia und Uranos zurückgeht. Im Namen der Phoibe ist der Kultname Apollons als des Sonnengottes vorweggenommen. Phoibos bedeutet der Leuchtende und Strahlende. Bei Phoibe geht der Name auf ihre Mondnatur. Goldener Glanz und silberner Schimmer sind im Namen Apollons und seiner Ahnin.

Von dieser Art ist auch Leto. Sie ist ein verklärender Mond unter den Göttern um Zeus, doch sie bleibt die Ferne, die Zurückhaltende. An ihr ist nicht wie an Hera ein sich Durchsetzendes, das immer auch ein Gemeines ist. Sie hält sich &endash; wie später ihr Sohn &endash; im Ungemeinen. Ihr Wesen hat in seiner zarten Nähe und Ferne etwas Wohltuendes unter den gern auffallenden Göttern und Göttinnen. Sie hat wenig zu tun mit Zeus, dem mächtigen Gott, der nach titanischer Art sich nie zurückhalten kann. Um so mehr hat sie mit ihren beiden Kindern zu tun, mit Apollon und Artemis, die von ihrer Art sind.

Derselbe Typus ist auch in Artemis, der Schroffen, Scheuen, der jungfräulichen Göttin der unberührten Natur. Homer nennt sie wie sonst nur noch Persephoneia ((?Agnç)), die Heilig-Reine. Denn wie Persephoneia bei den Toten &endash; so ist Artemis in ihrer Wildnis die Ewig-Ferne.

Doch auch in Artemis ist die Doppelnatur der mythischen Gestalten mächtig. Der Mythos ist weise. Die jungfräuliche Göttin steht den Müttern in der schweren Stunde bei. Im Schwersten hilft nur das Leichteste. In der schmerzvollen Enge der mütterlichen Erde hilft die Tochter der Weite. Die jungfräuliche Artemis bleibt wie Phoibe und Leto im mütterlichen Dienst.

Doch eine andere Weiblichkeit und Mütterlichkeit als die der Erdmütter bereitet sich in der Linie der Phoibe, der Leto und der Artemis vor. Aus solcher Natur wachsen später in christlicher Zeit die helfenden Engel, die nicht das sind und immer da sind, wo Not die schwere Erde seufzen läßt.

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Wenn wir die weibliche Natur des Mythos, damit aber die Welthaftigkeit auch des überlegensten Gottes der Griechen streng im Auge behalten &endash; dann können wir den Abstand Apollons von den Erdgottheiten uns nicht weit genug vorstellen.

Die Mütter haben das Genie der Nähe &endash; Apollon ist der Genius der Ferne. Die Mütter können nicht genug umarmen, umschoßen, in sich hineinnehmen &endash; Apollon lebt im Pathos der Distanz. Die Mütter sind allem Lebendigen verwandt &endash; Apollon lebt im Unverwandten. Die Mütter halten an der Gleichheit aller Welten und Wesen wie an der ihrer Kinder fest &endash; Apollon lebt streng und abweisend im Ungemeinen. Die Mütter begründen die erste Einordnung des Menschen in das Ganze des Kosmos &endash; Apollon vollendet die von Zeus begonnene Rangordnung der Welten. Die Mütter haben für sich die Wärme des Blutes &endash; Apollon die Kühle des Geistes. Das Feuer der Mütter ist das Erdfeuer, Herdfeuer, Feuer des Herzens &endash; das Feuer Apollons ist die weiße Flamme des Lichtes.

Die Mütter sind schwer wie die Erde und schwer ist ihre Last auf Göttern und Menschen &endash; Apollon ist leicht wie der Aithçr, die Luft um das himmlische Licht, und die mit ihm schreiten, sind der Schwere der Erde enthoben und vergessen das Schwierige. Die Mütter sind massig wie die Erde, denn die Erde ist ihre Festung &endash; Apollon steht weit ab von der Erde, jungfräulich mag er sie nicht berühren, er verachtet die Masse Erde und mit ihr die Masse Mensch. Die Mütter sind gewaltig, doch ungestalt &endash; Apollon ist ganz Gestalt, ganz Form, ganz Gebilde.

Die Mütter sind voller Affekte, voller Sorge, voller Angst &endash; Apollon kennt allein den Affekt des Unbetroffenen. Die Mütter leben zwischen den Polen Freude und Leid &endash; Apollon ist leidlos, er hat die Freude des Seins für sich erwählt. Die Mütter teilen mit den Menschen alles Glück und alles Unglück, es trifft sie selber &endash; Apollon hat mit den Menschen nichts gemein, er belästigt sie nicht, der hohe Herr, vor allem aber läßt er sich nicht von ihnen belästigen.

Die Mütter sind ganz Seele &endash; Apollon ist ganz Geist. Die Mütter erleiden die Welt &endash; Apollon steht über ihr. Die Mütter sind die Weltseele, die schicksalsträchtige &endash; Apollon ist der überlegenen Weltgeist. Die Mütter sind pathisch, sie schwanken zwischen Sympathie und Antipathie &endash; Apollons Pathos ist die vollendete Selbstvergessenheit eins, die wiederum eins ist mit der Hingabefähigkeit &endash; Apollon lebt sich selbst, sich selbst zu erkennen befahl sein Heiligtum, mit ihm beginnt die Geschichte des Selbstbewußtseins.

In den Müttern ist der große Wunsch und die große Kraft der Fruchtbarkeit, ihre gute Hoffnung ist, mit Kindern gesegnet zu werden &endash; Apollon verachtet wie seine Schwester Artemis die wahllose Fruchtbarkeit. Die Fruchtbarkeit der Mütter ist noch groß in Helios, dem titanischen Sonnengott &endash; Apollon bemüht sich nicht, in der Erde zu zeugen, er leuchtet an sich und für sich. Die Mütter sind der kosmischen Sonne an lebengebender Wärme verwandt, so daß die Sonne im Deutschen die himmlische Mutter der Welt ist &endash; Apollon ist eine Sonne, doch seine Sonne ist Licht ohne Wärme und wenn sie zeugt, zeugt sie nicht Leben, zeugt sie im Geiste. Die Mütter sind die fruchtbare Fülle, sind, was ein frühes Geschlecht den Segen der Erde nannte &endash; Apollon aber ist Phoibos Apollon, der Reine, und sein Kult ist der der Katharsis, der Reinigung der Geistseele vom Dunkel-Dämonischen, vom Trüben und Dumpfen der Erde.

Vorkämpfer im Götterkrieg gegen die Mütter

Von Apollon, nicht von Zeus, geht die radikale Ablösung von den Müttern aus. Der Patriarch gehört zu den Matriarchinnen, auch wenn er deren titanischen Söhne, die nicht zum Vatertum reifen, schlagen muß. Im Kampf der »Neuen Götter«, der »Himmlischen« gegen die Erdgottheiten sind Apollon der Vatersohn, und Pallas Athene, die Vatertochter, die göttlichen Protagonisten.

Noch verwandt mit dem berühmten Kampf des Zeus gegen den Drachen Typhon oder Typhoeos, den Hesiod in der Theogonie breit erzählt, den Homer im Zweiten Gesang der Ilias erwähnt &endash; noch verwandt mit dem Kampf des Zeus gegen die ungeheuerlichen Ausgeburten der Erde ist der Kampf seines Sohnes Apollon gegen den Drachen von Delphi, der Orakelstätte. Die Überlieferung schwankt, so viele Male wurde dieser Kampf erzählt. Die homerische Hymne auf Apollon nennt eine Drachin ((drakaina)). Gewöhnlich spricht man vom Kampf mit dem Drachen Python, die heutige Forschung aber neigt dazu, mit der homerischen Hymne vom Kampf mit der Drachin Delphine ((Delphynç)) oder ((Delphinç))) zu erzählen. Der Name Delphine hat in unserem Zusammenhang besondere Bedeutung, weist er doch auf ein gebärmutterartiges Gebilde.

Viel wird erzählt, wie Apollon, kaum daß der noch Knabenhafte nach Delphi gekommen, um eingeweiht zu werden in das Orakel, dem Ungeheuer kühn auf den Leib rückte indem er die silbernen Pfeile seines Bogens spielen ließ. Und immer wieder wurde später der knabenhafte Triumphgesang über seinen Sieg gesungen, der erste Paian: Ié, Ié, Paiéon! ((iç iç paiçon)). Von da ab wurde Apollon ((Içios)), der Helfer genannt oder ((Paian)), der Heiler.

Der Kampf Apollons mit dem Drachen hat sein Gleichnis im Kampf Siegfrieds nach der nordischen und im Kampf des Heiligen Georg nach der christlichen Mythe. Der Sieg über den Drachen aber wurde immer und überall als Sieg des überlegenen Lichtes über die finster-feurige Erdkraft gefeiert.

Gaia gehörte das Heiligtum zu Delphi. Der Drache, der es bewachte, war eine Ausgeburt der Gaia. Als Apollon den Drachen erlegte, da traf er in ihm die Erdmutter selber. Und er hatte die Verletzung der Mutter der Mütter schwer zu sühnen. Er mußte das Heiligtum verlassen und außer Landes gehen. Acht Jahre hatte er bei König Admetos in Thessalien im Tale Tempe als Knecht zu dienen. Daran erinnert Hölderlin in seinem Gedicht: »Das himmlische Feuer«, das mit dem Verse beginnt »Wie wenn am Feiertage ...«:

Und wie im Aug ein Feuer dem Manne glänzt,

Wenn Hohes er entwarf, so ist

Von neuem Zeichen, den Taten der Welt jetzt

Ein Feuer angezündet in der Seele der Dichter.

Und was zuvor geschah, doch kaum gefühlt,

Ist offenbar erst jetzt,

Und die uns lächelnd den Acker gebaut

In Knechtsgestalt, sie sind bekannt dir,

Die Allebendigen, die Kräfte der Götter.

Das ist die Rache der Gaia: Sie nötigt Apollon, der Erde zu dienen und dazu noch in der doppelt demütigenden »Knechtsgestalt«.

Apollon aber bestand diesen Dienst glänzend &endash; darauf geht das »lächelnd«, mit dem Hölderlin die sonnenhafte Überlegenheit des Gedemütigten zum Ausdruck bringt.

Nach bestandenem Dienste durfte Apollon wieder nach Delphi zurückkehren. Der reinigende Lorbeer, den er mit sich trug, bezeugte ihn als den Reinen. Und dem Phoibos Apollon fiel zur gegebenen Zeit das delphische Heiligtum zu.

Die Sühne Apollons aber erweist die damals noch ungebrochene Macht der Erdmutter.

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Den eigentlichen Krieg zwischen Apollon und den Erdgottheiten hat Aischylos in seiner Tragödien-Trilogie, der »Orestie« verzeichnet.

In diesem Kriege aber ist ein anderer Apollon im Kampfe, der nur noch Hohn und Spott hat für die »Töchter der Nacht«.

Das fluchbeladene tantalische Haus der Atriden spiegelt auf menschlichem Plan den Götterstreit. Agamemnon, der Anführer der Griechen gegen Troja, hat seine Tochter Iphigenie geopfert, um der Flotte der Achaier guten Wind zur Fahrt zu verschaffen. Die Tochter aber ist mutterheilig, denn sie ist die künftige Mutter. Das ist das erste Glied der Schicksalskette, die das Geschlecht des Atreus erwürgt. Die Gattin des Agamemnon, Klytaimestra, rächt sich, indem sie Aigisthes, den Feind Agamemnons, in ihr Bett nimmt und mit diesem zusammen den heimkehrenden Sieger im Bade erschlägt. Das ist das zweite Glied der Kette der Schuld. Orestes, der Sohn, und Elektra, die Tochter, sinnen auf Rache. Elektra darf nicht töten. Die Rache kommt Orestes zu. Orestes erschlägt die Mutter. Das ist das dritte Glied der Kette. Das Unerhörte des Muttermordes ruft die Erinyen auf den Plan. Sie verfolgen den Muttermörder. Er soll mit Blut das von ihm vergossene Blut bezahlen.

Orestes scheint verloren. Doch er hat einen mächtigen Helfer: Apollon. Dessen Orakel gebot Orestes, die Mutter zu töten und damit den Vater zu rächen. Apollon nimmt den Kampf auf. Er geht auf das Letzte. Jetzt will er die Erdgottheiten selber schlagen. Sie sind geschlagen, gilt ihre Satzung nicht mehr.

Pallas Athene geht nicht so weit. Auch sie ist Vaterkind, doch versöhnlicher als der im Streite unerbittliche Apollon. Sie will die Erdgöttinnen versöhnen. Und die wie ihr Vater Zeus Kluge im Rate bringt es zustande, daß die Erinyen ihr den Fall des Orestes übergeben.

Vor dem Gericht der Athene, dem athenischen Areopag, tritt Apollon als Beistand des Orestes auf. Die Furien fahren ihn an, wie er, der Gott, dazu komme, die Verletzung göttlichen Rechtes zu schützen. Apollon fertigt sie ab mit den schärfsten Worten der Verachtung. Die Erdgöttinnen weisen auf die Mutter als den Ursprung des Lebens und damit als die Herrin über Leben und Tod. Apollon verneint die Mutter als Ursprung &endash; so verneint er sie als göttliche Herrin. Apollon erklärt sich eins mit dem Recht, denn es gelte fortan ein neues Recht, das des Vaters:

Den Zwiespalt lös ich auf: Des Lebens Ursprung

Entstammt der Mutter nicht. Sie pflegt den Keim,

Den später Kind sie nennt. Es zeugt der Vater.

Sie wahrt das Pfand und gibt ihm heilig Gastrecht.

Ihr wollt Beweis. Nun gut. Seht Pallas an.

Vom Vater stammt sie. Des Olympiers Kind.

War nie in eines Mutterschoßes Dunkel.

Mit diesen Worten stößt Apollon die Mutter vom Urthron. Diese Erklärung begründet die Herrschaft der Väter für Jahrtausende. Auch die Herrschaft der Väter ist durch Revolution entstanden. Ist die Revolution der Mütter eher eine Konservation, so ist in der Erklärung Apollons genau der Weltstil aller kommenden Revolutionen getroffen. Die alte Macht wird entgottet, die neue vergottet. So lösen sich später die Söhne ab vom Vater als dem Ursprung: sie bezeugen sich selber als Ursprung. So behaupte nacheinander Bürger und Arbeiter, die Schöpfer der Werte zu sein.

Das Gericht aber ist unschlüssig trotz des Beistandes Apollons. Der Mensch spaltet sich, streiten sich in ihm die Götter. Die eine Hälfte der Richter hält zur Erde, der alten Muttergottheiten, die andere steht zu den »Neuen Göttern«, den »Himmlischen«.

Doch da ist wieder Hilfe: Athene, die dem Gericht vorsteht, gibt den Stichentscheid für Orestes. Die »Neuen Götter« fällen also in eigener Sache das richterliche Urteil. Es gehört dies zum Bilde der Weltgeschichte, daß die Siegenden in eigener Sache richten. Der Mythos ist ein untrüglicher Spiegel.

Die Erinyen sind besiegt. Die sichere Beute ist ihnen entrissen. Doch noch geben sie sich nicht geschlagen. Nun bedrohen sie Athen selbst mit ihrer Rache. Athene muß erneut vermitteln. Versöhnung aber gelingt ihr nur durch das Äußerste, daß sie den Rasenden eine Kultstätte in ihrem Athen, ja in ihrem eigenen Heiligtum einräumt, die ihnen Recht und Geltung für alle Zeiten sichern soll. Sie anerkennt die Fluchdämonen als Segnende, die Erinyen als Eumeniden. Athen feiert das Versöhnungswerk seiner Schutzgöttin als Erlösung: die Stadt ist von den dunklen Gestalten der Nacht befreit, der Zwiespalt der Götter ist von ihren Herzen genommen. Die Götter sind eins, so können auch die Menschen wieder eins sein.

*

Die Welt der Mütter ist keine tragische Welt, wenn auch in ihr das Traurige von bleierner Schwere ist &endash; ihre innere Tragödie ist erst von uns aus zu ermessen. Und die titanische Welt des Bundes von Himmel und Erde kennt genügend Schrecken, doch sie weiß um keinen tragischen Riß im Gebäude der Welt. Erst da die einige Welt im kosmischen Ehebruch des Himmels gegenüber der Erde zerrissen wird, beginnt die Tragödie. Die Prometheus-Trilogie ist nur ein Herzstück des nun nicht mehr epischen, des nun tragischen Mythos. Wie die Richter des Areopages, so sind die griechischen Tragiker zerrissen. Der tragische Mythos sagt uns, wie leidenschaftlich der Grieche an der Erde hing und zugleich wie leidenschaftlich sein Zug in die Himmel ging.

Auch die Tragik der Antigone des Sophokles ist von derselben Art. Derselbe Riß, der den Himmel von der Erde trennt, scheidet auch das neue kalte männliche Recht des Staates vom Unrecht der Familie, vom Recht der Schwester gegenüber dem Bruder, dem Recht der Pietät. Der Spruch der Antigone:

Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da...

Ist der Herzspruch des gesamten weiblich-mütterlichen Zeitalters, der noch als Vermächtnis in den griechischen Tragikern liegt.

Es ist die große Bemühung des Aischylos, die Erdgottheiten und die Himmlischen zu versöhnen &endash; wie Prometheus und Zeus. Denn Aischylos erfährt den Götterkrieg als Tragödie. Er steht zu Zeus &endash; doch nicht unbedingt. Seine Bedingung ist, daß Zeus zum echten Gott werde. Und so gibt er Prometheus das heilige Widerstandsrecht wider den willkürlichen Gewalthaber. So steht Aischylos zu Apollon und Athene &endash; doch nicht unbedingt. Seine Bedingung ist, daß sie das ewige Recht der Mütter anerkennen. Unzählige Male läßt er den Chor das heilige, bisher gültige, nun aber gebrochene Recht anrufen. Der konservative Geist des Aischylos ahnt, daß das, was an den Erdgottheiten geschieht, nun immerfort geschehen kann: das revolutionäre Überschreiten aller göttlichen Welten.

Die Entscheidung ist nicht die Stärke der panischen Griechen. Die Griechen hängen am Ganzen des Seins &endash; so erleiden sie tödlich dessen tragische Zerreißung. Das ist selbst noch in den Logos-Griechen. Und so nennt sich die in allen Geisteskreisen des Menschen einzig dastehende griechische Tragödie nach dem zerrissenen Gott Dionysos: Trag-Odia = Bocksgesang. Der Zeitpunkt ihrer blutenden Blüte aber ist die Wende vom Reich der Mütter zum apollinischen Reich.

Nicht, daß alle Konflikte, die die griechischen Tragiker bewegten, zu reduzieren wären auf den Krieg zwischen der erdlichen und der neuen himmlischen Ordnung &endash; aus der Wunde dieses kosmischen Risses aber floß das Blut, das das tragische Bewußtsein in seinem ganzen Umfang erregte.

Die griechischen Tragiker aber hätten den Riß zwischen der erdmütterlichen Welt und der der »Neuen Götter«, der »Himmlischen« nie auf seine äußerste Weise erfahren, wenn es sich nur um einen Kampf der griechischen Herren mit dem pelasgischen Urvolk gehandelt hätte.

Und das ist der Tiefengrund, warum es weder in dem sonst verwandten Indien und Persien eine mythische Tragödie gibt. Denn für die indischen und persischen Indogermanen handelte es sich darum, als Herrenvölker eine ihnen nach Geist wie Blut fremde Welt siegreich zu bestehen.

Das griechische Volk hingegen erfuhr den Kampf der »Himmlischen« mit den Mächten der Erde als Riß im kosmischen Gefüge und damit als Riß in der eigenen Seele.

Und da ist es wiederum nicht zufällig, daß die griechische Tragödie auf attischem Boden erwuchs. Das attische Volk rühmte sich, autochthon, das heißt unmittelbar Kind seiner Erde zu sein. Es wuchs der jonische Stamm der Attiker nicht auf fremdem Untervolk, er wuchs auf eigenem Boden, und so wuchs er aus sich selber. Und so blieb für das attische Volk die Zugehörigkeit zur Erde selbstverständlich, auch da die Götter ihre höheren Sitze aufschlugen. Gaia hatte auf der Akropolis, die doch von der Athene beherrschte, ihre Kultstätte. Und die immer mutterheilige Schlange wurde auf ihr gehegt. Das Erechtheion war nach dem schlangenartigen Erechtheus &endash; Erichthonios, dem »Sohn der Erde« &endash; benannt. Der Kult der Demeter hatte im Ursprungsland der Tragödie seine besondere Bedeutung. Eleusis, die Nachbarstadt Athens, war das Zentrum der Mutter-Mysterien, der »Eleusinae matris«.

Und es ist auch nicht zufällig, daß Aischylos aus Eleusis stammt, mag er auch, wie die Forschung will, kein Eingeweihter der Mysterien gewesen sein. Der Geist von Eleusis ist dennoch in ihm gegenwärtig. Aischylos bleibt immer mutterbewußt. Er hätte ohne die Gründung in den Müttern weder den »Prometheus« noch die »Orestie« schreiben können. Im »Gefesselten Prometheus« läßt Aischylos den Prometheus sich an die Mütter halten als an die Quelle des existentialen Sinnes für das Recht und des existentialen klugen Sinnes. Die Mütter aber sind für Aischylos nur Eine Mutter:

Denn meine Mutter Gaia, die auch Themis heißt,

bei vielen Namen ist sie Eines Wesens nur.

In den »Sieben gegen Theben« preist Aischylos die Allmutter Erde:

Die Erd, die aller Mutter ist und treueste

Ernährerin ...

Die Mutterwelt bleibt die Voraussetzung des Aischylos: im Zusammenstoß der »Neuen Götter«, der »Himmlischen« mit ihr kommt es zu den Gewittern der Tragödie.

Hier also, auf attischem Boden war die Urbindung an die Erdmutter besonders stark, und darum erfuhren diese Griechen die Loslösung von der Mutter als Tragödie. Ein Kampf fremder Mächte ist niemals tragisch &endash; tragisch ist allein die »tödlichfaktische« Selbstentzweiung. Das attische Volk hatte nicht mit pelasgischem Volk zu ringen &endash; um so mehr aber mit sich selber. Darüber hinaus ist zu sagen: nirgends war die Wendung zu den »Neuen Göttern« reißender als auf dem flüssigen Boden Athens &endash; und doch war nirgends die Treue zur göttlichen Erde unverbrüchlicher. Das ist die Spannung des Bogens, dem der tödliche Pfeil der Tragödie entsprang.

*

Die Versöhnungen des Aischylos konnten nicht mehr gelingen. Nicht die der Prometheus-Trilogie, nicht die der Orestie. Dazu war die Zeit nicht bestimmt. Der neue Weg mußte weiter, mußte zu Ende gegangen werden. Die alten Mächte mußten in ihrer Blindheit untergehen &endash; die neuen aber mußten, geblendet vom schöpferischen Strahl, ihrer neuen eigenen Tragödie zulaufen.

Die schöpferische Kraft der Maya war bisher immer durch Verblendung groß. Es ist, als ob es nicht anders sein könnte, als ob die Neubegier des Schöpferischen allein mit der Blindheit des Wahnes unbeirrbar und unentwegbar sich durchzusetzen vermöchte. Und es ist, als ob jeder Weg in das Offene von Anfang an auf seine Schranken zuliefe, und also die Geschichte immer tragische Geschichte bleiben müßte. Vielleicht erfuhr kein Geschlecht wie das unsrige bewußt die Allmacht der Geschichte und zugleich deren fatalen tragischen Charakter.

Rettungen aber wie die des Aischylos sind nicht nur ohnmächtig gegenüber der mörderischen Zeit. Aischylos hat mit dem Versuch, die gewaltigen Erdmütter wie den gewaltigen Prometheus zu verharmlosen, deren Ewigem Recht mehr Abbruch getan als ihr Untergang in den Fluten der Zeit. Denn das mindere Recht ist in der grausamen Geschichte des Menschen immer das größte Unrecht.

Aischylos läßt Prometheus sein Recht &endash; doch es ist ein minderes Recht, das der prometheischen Sache niemals gerecht wird, dem Höhepunkt der tragischen Entzweiung nicht entspricht und von Prometheus niemals angenommen werden würde. Wohl hat sich Zeus zur Ordnungsmacht entwickelt, doch er bleibt der Prototypus der herrischen Macht. Größer als das mindere Recht des Prometheus aber ist sein Urrecht des Schöpferischen gegenüber dem Herrscherlichen. Seine Niederlage gegenüber Zeus ist aussichtsreicher als das ihm zugesprochene mindere Recht, anerkannt zu werden in seinem Dienste unter Zeus, dem väterlichen Herrn.

Und desgleichen ist der aischyleische Versuch, die gewaltigen Erdmütter zu geduldeten braven Mütterchen zu machen, größeres Unrecht als das, das sie durch die immer tragische Geschichte erleiden. In ihrem minderen Recht ist ihre Größe, mit der sie in magischer Macht den Menschen dem jagenden Tier entrissen, mehr begraben als in der durch ihre eigene Dekadenz bewirkten Tragödie. In ihrem minderen Recht kommen die Erdmütter wie Prometheus weniger zur Ruhe als in dem offenbar einmal zu revidierenden Urteil ihrer Besieger. Und wirklich: die Stunde der Revision ist gekommen.

Wenn sich der immer versöhnliche Mythos bemüht, den Unterlegenen, den Erdmüttern wie Prometheus das Recht ihres dauernden Bestehens zuzubilligen &endash; so enthüllt der Erbe der siegreichen »Himmlischen«, der Gott Logos, die wahre Zielrichtung. Der mythischen Entwürdigung der Mütter folgt die metaphysische Erledigung auf dem Fuße. Im Mythos behält die Mutter ihr minderes Recht &endash; im Logos wird sie als Materie die verhaßte und kaum mehr geduldete Gegenspielerin des logischen Geistes, immer aber die vom Göttlichen verächtlich Ausgeschlossene.

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Die Erklärung Apollons vor dem Areopag ist die weltgeschichtliche Erniedrigung und Beleidigung der Weltseite des Weiblich-Mütterlichen. In diesem Augenblick verliert die Mutter ihr göttliches Recht als Ursprung.

In der Mutterwelt war das Ei das Symbol des mütterlichen Ursprungs der Welt. Wie aus dem Ei das Leben kam, so kam es aus der Mutter. Und so zwiefältig das Ei ist und so ganz und rund &endash; so zwiefältig und doch ganz und rund ist für die frühe Symbolik die kosmische Welt.

Der Mann aber, da er geistig zu sich kam, schloß anders. Immer schließt der Mann. Das ist die Logik des Mannes, der seinen neuen Anspruch auf Herrschaft, ja auf Alleingeltung beweisen soll: wenn die Mutter der Erde gleich ist &endash; und das verraten doch die Erdmütter &endash;, so gibt sie offensichtlich dem ausgestreuten Samen nur die erste Heimat, in der er erwachen und treiben kann. Mehr nicht. Ist aber der Same alles, ist alles der Mann. So zeugt der Vater allein. Er allein ist Ursprung. Das ist der weltgeschichtliche Irrtum des Mannes, der im aischyleischen Apollon seinen selbstbewußt-scharfen Ausdruck findet. Die Maya der Mütter verbleicht, die der Väter strahlt blendend auf.

Von dem anderen »Beweis« &endash; immer beweist der Mann, so schlecht steht es um seine Sache &endash; von der »mutterlosen« Pallas Athene ist noch zu reden. Apollon verschweigt, daß die dem Haupt des Zeus Entsprungene das Kind der Metis ist, der Gattin des Zeus, die er wie seine Vorfahren in derselben Angst vor dem Sturz verschlungen hat.

Es brauchte das Zeitalter des Söhne, es brauchte die revolutionäre Wahrheit der zur Mutter sich zurückneigenden Söhne, bis den Müttern wieder ihr das von aischyleischen Apollon genommene Recht ward.

In dem niedrigsten, doch zugleich fruchtbarsten aller Jahrhunderte, dem 19. Jahrhundert, entdeckt ein goethenaher Naturforscher, Karl Ernst von Baer, das weiblich-mütterliche Ei auch im Menschen.

Keine der Väterzeiten hat nach dem weibliche Ei im Menschen gesucht. Der Erste, der das Ei als Matrix ahnte, war Paracelsus, der sohnlich-revolutionäre Faust zu Beginn der Neuen Zeit. Und Paracelsus ist auch der Erste, der die Ebenbürtigkeit des Weibes und des Mannes bei der Zeugung des Menschen behauptete. Dies war eine tollkühne Tat in einer Zeit, die vom theokratischen Mittelalter her noch dicht verhüllt war in den Schleier der männlich-väterlichen Maya. In all dieser Geschichte ist keine Zufall &endash; es sei denn, wir verstehen dies Wort in dem Sinn des uns in rechter Zeit Zufallende. Paracelsus ist ein Ahne Goethes, das Urbild des goetheschen »Faust«. Goethe aber baut unsichtbar für seine (und noch unsere) Zeitgenossen auf mütterlichem Grund. Den faustischen Gang zu den Müttern hat nur der unternehmen können, der von ihnen ausging. Goethe jedoch ist wiederum der Ahne Karl Ernst von Baers.

Die zünftige Wissenschaft hat von dieser Entdeckung, die gegen ihren Geist geschah, nicht viel Aufhebens gemacht. Denn sie geht auf die Unterwerfung der Natur aus, die in der Linie der väterlichen Weltwende liegt. Sie ahnt nicht, was damit geschah, daß ein vieltausendjähriges Unrecht wieder gutgemacht, der weltgeschichtliche Irrtum des Mannes aufgedeckt wurde.

Für den sohnlichen Menschen aber ist eine neue Weite gewonnen. Das erste Reich des Menschen, das auf den Ursprung baute, das der Mütter, ist unserem Blick wieder erschlossen &endash; ohne daß wir in die alte Gefangenschaft in der Maya der Mütter zurückkehren müßten. Denn, wenn sich die Söhne ihrer doppelten Herkunft bewußt sind, ist die mütterliche und die väterliche Einseitigkeit zugleich geschlagen. Dies Bewußtsein aber, Erbe der Mütter und der Väter zu sein, verhindert die neue mörderische Einseitigkeit der Söhne, die nihilistische, die keine Herkunft mehr kennt.

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Wenn Apollon die Erdmütter bekämpft, kämpft er gegen deren schwarze Dämonie.

Das Recht der Mütter ist »tödlichfaktisch« &endash; ein Wort, das Hölderlin von der griechischen Tragödie sagte. Sie fragen im Gericht über Orest steif und starr: Hat Orest seine Mutter erschlagen? Ist dies so, so ist er des Todes! Keine Frage nach den tragischen Zusammenhängen, nach der Untat der Klytaimestra. Die Mütter sind tabu. Der Vater darf erschlagen werden von der Mutter, ohne das die Furien über sie kommen. Die Mutter ist heilig. Der Schleier der Maya ist dicht und wird immer dichter gewoben.

Es mußten gewaltige Schritte geschehen, um über den Terror der Mütter hinaus in das Offene zu stoßen. Zeus ist der erste Schritt, Apollon der zweite.

Zeus, der Vater, begründet den neuen den rechtlichen Sinn. Mit ihm beginnt die Zeit der großen Gesetzgeber und Richter. Es geschieht im Geiste des Vaters, wenn Athene das Opfer der Erinyen, Orestes, deren blutgierigen Händen entreißt und einem ordentlichen Gericht überantwortet. Recht soll gesprochen werden, nicht Rache genommen.

Apollon aber bricht den Terror der Mütter auch innerlich. Die verendende Welt der Mütter hängt wie der Tod selbst über den Seelen. Diese sind in Angst und Schrecken vor dem Schicksal und leicht verstört von Verfolgungswahn, da die Hunde unaufhörlich hetzen, die bellenden Dämonen der Nacht.

Der apollinische Kult ist Reinigung. Damit berührt er sich mit dem persischen Kult. Alles Unreine ist finster und alles Finstere dämonisch. Apollon ist ein anderer Ormuzd und sein Kampf gilt der ahrimanischen Finsternis der Mächte der Erde. In Apollon geschieht die große Katharsis, die Reinigung vom Verstörend-Dämonischen, dem Bann der Erde. Auch darin ist Apollon die mythische Figur des künftigen Logos, des Reinen Geistes.

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Es ist die Tat des Apollons, den Todesterror der rächerischen Mütter, die Dämonie der verhaftenden Erde gebrochen zu haben. Es ist aber die Grenze und der Beginn der Mayabefangenheit des männlichen Geistes in Apollon, von den Gestalten und Taten der Großen Mütter nur noch die Schatten zu sehen, die das Licht verschlingen, Geister der Nacht, die keine Ruhe finden, bis sie ganze unschuldige Geschlechter von Schuldigen ausgerottet haben, blutdürstige Dämonen, die ihre Opfer ausweiden.

Für Zeus, den Titanensohn, waren die Titanen Ewige Feinde &endash; für Apollon aber ist die Welt der Erdgottheiten ein dämonisches Nichts, vor dem ihm graut, das seinen Blick beleidigt und von dem er sich indigniert abwendet.

Noch Zeus weiß aus seiner titanischen Wurzel um die Mütter. Im Gedenken an sie und im Danke für ihre Stiftung der ersten Ordnung, wahrt er die Würde der Großen Mütter, der Gaia und der Rhea, verbindet er sich mit Metis und Themis und ehrt die allverbindende Hekate.

Apollon aber überschreitet die Brücke Zeus. Er gehört zum anderen Ufer. Und was an Zeus Brücke ist, das bricht er ab. So reißt er viel ein, denn Zeus ist aus titanischem Erbe ein Pontifex maximus, ein höchster Brückenschlager. Zeus erreicht den Nous, den kommenden Gott &endash; Apollon geht von ihm aus. Apollon selber ist der Neue Geist. Ihm eignet als dem Ersten das descartische »clare et distincte«. Er lebt aus der Lichtwurzel der Welt &endash; so kann er die dunkle Erdwurzel, die noch in Zeus mächtig ist, nicht mehr erfahren, nur noch verachten. In der Fatalität des sich selber genügenden Lichtes verbreitet Apollon das tödliche Vergessen über das andere Ufer der Welt, das dunkle.

Auch die frühe mythische Welt kennt die Lethe, die Todesvergessenheit. Sie sah die Furchtbare-Fruchtbare noch ganz nach dem Chaos. Und sie verbarg die tödliche Tochter der Nacht nicht. Es gibt Vergessen und es muß Vergessen geben. Der Mythos wählt nicht aus. Doch der Mythos ist, daß Kunde des Unvergeßlichen sei.

Mnemosyne, das dankende Gedenken &endash; die Mutter der Musen

Eine der schönsten Gestalten unter den Göttlichen, den Titanen, ist Mnemosyne, die Tochter der Gaia und des Uranos, die Schwester der Rhea.

Wo sie mächtig ist, da ist treue Überlieferung, dankbares Gedenken, feiernde Erinnerung. Mnemosyne ist das Gedächtnis im ursprünglichen Sinne des Wortes &endash; noch keine Ansammlung von Gedanken oder Fakten wie im späteren Wortgebrauch des logischen Zeitalters.

Mnemosyne ist die polare Gegenmacht gegen die Macht des Todes, vor allem aber gegen die Todesmacht des Vergessens. Mnemosyne ist besorgt um die zeitlose Dauer des Seins aller Welten, der Welt alles Seins. Sie verbindet das dem Tode zueilende Leben mit den Ursprüngen. Sie verbindet die Zeitgenossen mit den Ewigen Gefährten. Es darf nichts Ursprüngliches, es darf nichts Göttliches, das sich einmal offenbarte, vergessen werden. Der Zug der Welterscheinung ist nicht zufällig. Alles baut auf allem auf. Mnemosyne hält zusammen, was die auflösende &endash; im polaren Spiel auch erlösendste &endash; Macht des Todes trennen will: Lethe, das Vergessen.

Mnemosyne ist darum das Herz des Mythos: in ihrem Zeichen ist der Mythos die Kunde des Unvergeßlichen. Mnemosyne verzeichnet die Weltwerdung, die Kosmogonie und sie verzeichnet die Theogonie, die Gottwerdung. Das Leben zahlt für das Werden den furchtbaren Preis des Todes, den unerschwinglichen, denn es weiß um seine sieghafte Macht. Dem mütterlichen Mythos aber genügt dies nicht. Er kann keine Offenbarung der göttlichen Geschichte dem Nichts des Vergessens überlassen. Denn das Neue ist sinnlos, gehört es nicht um großen ganzen Zug.

Selbst die Logos-Griechen, die soviel Vergessen gebracht, kämpfen mit der Mnemosyne zusammen gegen das Vergessen. Sie bestimmen die Wahrheit als das dem Vergessen entrissene Sein, als die A-Letheia. Und Platon gründet alles Wissen um die Idee auf die Anamnesis, die Wiedererinnerung, die logische Tochter der mythischen Mutter.

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Mnemosyne ist die Mutter der Musen.

Der Mythos sagt damit, daß es keine musische Kultur gibt, die ohne Erinnerung, ohne Gedenken und ohne Dank ist. Es kann sich nirgends eine musische Welt bilden, wo nicht der Strom des Werdens mit den festen Ufern des Seins verbunden bleibt. Der Mythos steht in der Erfahrung der ersten Kultur der Erde. Wo keine dauernde Pflege der Erde ist, da kann keine Kultur aufkommen, da ist rasches Verkommen. Musische Kultur ist kein überraschender Raub, sondern wachsende Fruchtbarkeit mit wachsendem Erbe. So kann sie auch heute nicht gedeihen in sprunghaft wechselnder, fortwährend abreißender Zeit.

Mnemosyne ist die Mutter der Musen &endash; Zeus aber ist ihr Vater. Der Titanin verband sich der Titanenstürzer. Zeus verleibte sich die göttliche Erinnerung durch Mnemosyne ein wie den göttlichen Sinn des Rechtes durch Themis. Ebenso aber mußte es auf der Linie dieser beiden Schwestern liegen, sich mit Zeus zu verbinden, um in ihm sich wandelnd zu wachsen.

Wie aber kommen die Kinder der Titanin Mnemosyne unter die Führung Apollons, der mit seinem tödlichen Lichte die Erinnerung an die Mütter, ja die Erinnerung selber durch seine Selbstgenugsamkeit auslöschte?

Das ist zuerst von Mnemosyne, dann von Zeus, dann von Apollon aus zu beantworten.

Es ist auch bei Mnemosyne, bei ihr in einem besonderen Maße, mit der Gewöhnung zu brechen, die von den Feinden der Titanen geschaffen wurde, in allem Titanischen ein krampfhaft Gewalttätiges zu sehen. Dies gilt selbst für die Titanen nicht, geschweige denn für die Titaninnen. Es ist zu bedenken: Die titanische Welt geht von der Welt der Mütter aus. Wohl kommen im titanischen Reich die männlich-gewalttätigen Mächte wieder zum Ausbruch &endash; doch sie haben in der Erdmutter, in Gaia und ihren Töchtern ihren Kontrapunkt. Die Titanen, die Göttlichen, sind nicht mit den Giganten zu verwechseln.

Man denke an den Titaniden Helios, den Sohn des Titanenpaares Hyperion und Theia, des Hochwandelnden und der Göttlichen, in dem das uranische Erbe besonders mächtig sich auswirkt. Helios ist der eigentliche Sonnengott der Griechen. Er führt jeden Tag seine goldenen und goldbeschwingten Rosse im heiligen Lauf über die Erde. Auch in ihm ist Sturm. Sein goldenes Haar fliegt auf bei der Fahrt wie die goldenen Mähnen der Rosse. Doch von Helios geht auch das Leichte der titanischen Welt aus, das unendlich Bewegte, das Gegenpolige zur festen Erde. Das gilt schon von seinem Vater Hyperion, dem Höhenwandler, er in Helios übergeht. Und das gilt auch von Okeanos, dem titanischen Strom, der die Welt umrauscht.

Das Titanische ist vor allem das Bewegte. Darin unterscheidet sich das zweite mythische Reich vom ersten, dem erdmütterlichen. Das Starre der Erde ist überwunden. Das Samentier Mann bezeugt sich, das Schlängelnde, Sichvorwärtspeitschende, Vorstoßende.

Doch auch die Erde hat im Weltgesetz des Integralen ein Bewegendes in sich. Auch sie ist im Lauf. Auch sie ist Werden. Auch sie ist Wechsel. Leben und Tod, Licht und Dunkel, Tag und Nacht folgen aufeinander. Ihr Leben ist Kreislauf.

Und Kreislauf bleibt das Leben der Titanen und Titaninnen. Helios kreist und es kreist auch die Sonne der Nacht, der Mond, die zarte Titanide Selçne.

Und wie in unserer Zeit der titanische Nietzsche Ewigkeit nur im Kreislauf, in der Ewigen Wiederkehr des Gleichen fand &endash; so kannten die Titanen in mythischer Zeit keine beharrende Ewigkeit, sondern nur die im unaufhörlichen kosmischen Kreisen geschehende.

Das ist die titanische Verbindung &endash; Titanen sind immer Verbinder &endash; des Beharrenden und Bewegte, des erdlichen und des uranischen Elementes.

Mnemosyne ist von ihrem Vater Uranos her dem Bewegten der Weltwerdung, Gottwerdung zugewandt &endash; zugleich aber von ihrer Mutter Gaia aus dem Beharrenden der Erde. So ist ihr Sinn gerichtet auf das Ewige der Bewegung &endash; doch noch mehr auf die Bewegung des Ewigen.

Die heilige Erinnerung im Sinne der Mnemosyne ist eine Wiederholung des Geschehens im Gedenken. Es ist aber kein Kult ohne diese Kraft der Mnemosyne. Auch das christliche Jahr ist eine Wiederholung des urgeschichtlichen Dramas, der Passion Jesu Christi. Und man kann sagen, daß Mnemosyne auch das Kirchenjahr der Christen bestimmt.

Alle ursprünglichen Zeit sind Kinder, die wohl sterben als Zeiten, doch im Wunder der Mnemosyne, im heiligen Gedächtnis, als Unsterbliche auferstehen.

Und die Vorbestimmung der Mnemosyne zur Mutter der Musen liegt darin, daß sie von der dahinraffenden Zeit befreit und den Sinn dem Unvergeßlichen zuwendet. Dadurch aber bringt sie das vom Tag gefesselte Leben in einen befreienden Atem.

Wir, die Fanatischen der Freiheit, kennen den befreienden Atem der Mnemosyne nicht mehr. Und so haben wir keine Kraft, die uns vom Tag und Alltag, von der Zeit und der Zeitung befreit, vom wuchernden Wust des doch zu Vergessenden, dem rasch die Leere füllenden, Sinne erregenden Sensationellen, das so leicht dahinstirbt.

Mnemosyne aber ist die Mutter der Musen, denn diese sind in Gesang und Dichtung, in Tanz und Musik, in Tragödie und Komödie, in kultischer Wiederholung der Weltwerdung, Gottwerdung, immer heiliges Gedenken und freudiger Dank. Die Musen heißen denn auch nicht nur Musai, sondern nach der Mutter Mneai. Die etymologische Wurzel des Wortes Musai ist übrigens dieselbe wie die des Wortes Mnemosyne, es ist die Wurzel men, man, die das Sinnende, Besinnliche besagt. Von dieser Wurzel aus ist der Weg von Mnemosyne über die Musen zu Apollon leicht zu finden.

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Es ist jedoch etwas Auswegloses im kreisenden Lauf der titanischen Bewegung: das Bild der Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt.

Okeanos kreist unaufhörlich im selben Lauf um die Erde. Und Helios steigt im Osten aus dem Okeanos auf, um im Westen wieder in ihm unterzugehen: während der Nacht treibt er auf goldenem Nachen auf dem erdumrauschenden Strom, um am Morgen im Osten wieder aufgehen zu können.

Je mehr Gefangenschaft in diesem ausweglosen, immer gleichen Kreisen ist, um so gewalttätiger bricht das männliche Wesen in den Titanen aus. Das ist, ein ganzes Zeitalter im Geiste wiederholend, in den gewalttätigen Ausbrüchen Nietzsches, in denen er einen Ausweg im Ausweglosen sucht.

In den Titaninnen bewirkt der ausweglose Kreis keine Katastrophe. Er ist dem weiblichen Wesen gemäß. Je mehr sie uranisch sind, also vaterbestimmt, um so leichter sind sie wie Selene, der silberne Zauber der Nacht. Je mehr sie aber von Gaia bestimmt sind, von der Mutter der Mütter, um so schwerer sind die Töchter von Himmel und Erde.

Es ist viel mütterliche Schwere in der Titanin Mnemosyne. Leicht verkrampft sie sich im Vergangenen und aus preisender Kunde des erschienenen Göttlichen wird wehvolle Klage über den Tod des Unvergeßlichen. In dieser starren Verklammerung entgeht auch Mnemosyne nicht dem Schicksal der titanischen Welt.

Es ist darum weise, wenn der Mythos Mnemosyne und Zeus sich in mächtiger Liebe vereinigen läßt. Neun Nächte wohnt der Titanensohn der Titanin bei. Es sind die pierischen Nächte, die berühmten, die Hesiod in seiner Theogonie besingt.

Wie Zeus und Themis sich aneinander wandeln, so wandeln sich Zeus und Mnemosyne in ihrer Liebe.

Mnemosyne findet in Zeus den Ausweg aus dem ausweglosen titanischen Kreisen und ihrem Kult des Vergangenen. Für Zeus aber bedeutet Mnemosyne den Gewinn des Ewigen Gedächtnisses, ohne das keine Weltordnung Bestand hat, die mit allen Welten, Sphären und Kräften zu rechnen hat. Zeus wird ehrfürchtiger, Mnemosyne freier. Mnemosyne erlöst wie Themis Zeus vom Männlich-Gewalttätigen, das eine Neue Zeit erzwingt, Zeus erlöst Mnemosyne von der Trauer über den Verlust des Vergangenen.

Die Wandlung der Mnemosyne unter dem Einfluß der Liebe des Zeus hat Hölderlin, der wie die Titanin von der Trauer über das »Vergangengöttliche« (Germanien) Bedrohte, der eigentliche mnemosynische Dichter unter den Söhnen der Neuen Zeit in seinem Gedicht »Mnemosyne« selbsterlitten ausgesprochen:

Am Kitäron aber lag

Eleutherä, der Mnemosyne Stadt, der auch, als

Den Mantel ablegt der abendliche Gott, nachher löste

Die Locken. Himmlische nämlich sind

Unwillig, wenn einer, nicht die Seele schonend, sich

Zusammengenommen, aber er muß doch; dem

Gleich, fehlet die Trauer.

In dieser Hymne ist der jahrzehntelange und tägliche Kampf Hölderlins eingegangen. Sie sagt: Zeus löst in abendlicher Liebe der Mnemosyne die Locken. Damit aber löst er sie von der Trauer zur Freude, aus der Fesselung an das Vergangene zur Freiheit des göttlichen Augenblicks. Denn es haben die Himmlischen an der erdschweren Trauer keinen Gefallen.

Das Erbe des Zeus verbindet sich auf das Glücklichste mit dem Erbe der Mnemosyne in den Musen, den gemeinsamen Kindern der neun Liebesnächte. Die Musen sind weniger als ihre Mutter an das schon erschienene Göttliche gefesselt und sie sind zugleich weniger gewalttätig auf das Neue bedacht als Zeus, der Vater. Sie verbinden krampflos das Neue mit dem Alten, das Alte mit dem Neuen. Von der Mutter her sind sie aller geschehenen Gottwerdung treu, vom Vater her sind sie zu aller neuen Gottwerdung frei.

Die Zeit der Musen ist der heilige Augenblick, in dem Unvergeßliches geschieht. Sie sind darin Töchter, nicht mehr Mütter. In der Kraft ihres göttlichen Gegenwärtigseins wohnt in ihnen die Kraft der Erinnerung, die Kraft ihrer Mutter Mnemosyne &endash; zugleich aber die Kraft des Vaters Zeus, die Kraft der Weissagung. Die Musen sind die unsterbliche Gegenwart &endash; so sind sie die Gegenwart alles Unsterblichen, des Vergangenen und Künftigen. Sie haben das Vermögen, das Unsterbliche zu wahren und zu Unsterblichem zu begeistern.

Von der Allzeitigkeit der Musen spricht Hesiod als von dem ihnen eigentümlichen Wesen. Hesiod wohnt in der Heimat der Mnemosyne, in Böotien, dem bäuerlichen Land, in dem sich die älteste Tradition der Griechen hielt. Das aber ist auch die Heimat der Musen.

Als Hesiod seine Lämmer am Berg der Musen, am heiligen Helikon, weidet, da kommen diese über ihn, reden auf ihn ein, lassen ihn zum Stabe den Zweig eines blühenden Lorbeers schneiden und weihen ihn so zum Dichter, daß sie ihm eine göttliche Stimme einhauchen:

... zu künden von Künftigem und Gewesenem

Denn von den Musen selber sagt Hesiod:

Künden doch alle Vergangnes, die Gegenwart und auch die Zukunft ...

Hierin bekundet sich der gewaltige Schritt von Mnemosyne zu den Musen. Die Musen sind nicht mehr wie ihre Mutter an das Gewordene gebunden &endash; als Töchter des Zeus haben sie die göttliche Allgegenwart: in ihr aber sind sie frei zur Weissagung des Künftigen.

Und doch bleiben die Musen in der Wendung zur göttlichen Allgegenwart ihrer Mutter treu, sind auch sie heilige Erinnerung. Und sie sagen denn auch aus der Kraft der Mnemosyne heraus Hesiod, was

Alles von Anbeginn und was als Erstes entstanden.

Das aber ist die Kunde der »Theogonie«.

Apollon &endash; nicht Dionysos &endash; wird zum Führer der Musen

Hesiod verzeichnet noch eine andere wichtige Wendung. Die Musen, die Kinder der neun Nächte der Liebe von Zeus und Mnemosyne, sind »unbeschwerten Sinnes«, oder wie ein anderer Übersetzer desselben Verses der »Theogonie« sagt: »mit Herzen, die den Kummer nicht kennen«.

Da sind wir schon weit von der titanischen Mnemosyne entfernt, von ihrer Schwere im unaufhörlichem Kampf mit Lethe, der übermächtigen Feindin, dem tödlichen Vergessen.

Und da ist es kein Rätsel mehr, wie Apollon, der himmlisch Leichte, zum Führer der Musen werden konnte. Was in einem Lied während der Prozession auf den dem Zeus heiligen Berg Ithome in Messenien gesungen wurde, das gilt noch mehr von seinem Sohn Apollon:

Zeus Ithomatas liebte immer die Muse, die reinen und freien Schrittes einherschreitet ...

Das ist die Muse, deren Chor Apollon anführt.

Und das ist die Muse, in deren Führung noch heute der Schritt des musisch Schaffenden rein und frei wird. Denn der echte Schaffende ist keiner Macht verhaftet. Er gehört nicht zur Klage der Vergangenheit &endash; er gehört nicht zum Geschrei der Zukunft. Die Tradition vermag ihn nicht zu fesseln und die Revolution vermag ihn nicht zu verführen. Er gehört zu keiner »poésie engagée«, denn er gehört keiner Macht, die ihn von außen bestimmt, die ihm diktiert, was er zu sagen und was er nicht zu sagen habe. Der echte Schaffende ist nicht für die Freiheit &endash; er ist frei im freien schöpferischen Geist und in diesem ursprünglich freien Sinn erfüllt er die Erwählung des Menschen zur Freiheit.

Apollon führt das Musische zu einer Selbständigkeit, wie sie keine Kultur der Erde kennt. Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß Apollon dabei immer auch der Verführer zu einer Selbstgenugsamkeit der Kunst ist, der das apollinische Frankreich die Formeln »l'art pour l'art« und »poésie pure« gab.

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Apollon ist vorbestimmt zum Führer der Musen. Er ist der musische Gott selbst. Er hat darin kein Gleichnis in einem anderen Gott der Griechen und der anderen Völker. Und durch ihn ist das Griechenvolk zum unvergleichlich musischen Volk geworden.

Das ist nicht selbstverständlich. Der Grieche ist so klug, daß er wie der Chinese oder der Engländer leicht für die Welt auf ihren Nutzen betrachtet, nur noch Vorteile für sich abwägt, das heißt händlerisch wird. Was wir im Levantiner verachten, das war allezeit bedrohlich mächtig im Griechen. Götter, ja selbst Göttinnen versuchen wie Sterbliche, einander zu überlisten. Athene ist wie Athen an diesem erregenden Spiel beteiligt. Und es messen sich an List schon Zeus und Prometheus. Apollon aber verachtet die listige Klugheit. In dieser Verachtung ist er den anderen Göttern fremd wie dem Menschen. Er ist so fremd dem nationalen Laster der Griechen, daß er als Nichtgrieche erscheinen könnte, wäre er nicht noch griechischer als die Griechen, wäre er nicht ihr göttlicher Geist.

In Apollon erweist sich das Gottsein. Er ist nicht nur der übermenschliche Mensch. Die Vorwürfe gegen die griechischen Götter, zu sehr Mensch zu sein, erreichen ihn nicht. Dieser Gott wagt, Gott zu sein. Er wagt nicht nur, asiatische Unmaße abzuwehren &endash; er wagt, eigene schlechte Maße des Griechenvolkes anzugehen. Wie es immer nur dem Fernsten gelingt, so gelingt es Apollon, dem Entrückten, das Volk der Griechen zum Schwersten zu bewegen, sich selber zu überwinden.

Hermes verkörpert den listigen Teil der griechischen Seele. Der Mythos enthüllt die Urgegensätzlichkeit der beiden Söhne des vielweltigen Zeus, indem er Hermes, den kaum Geborenen, in unübertrefflicher Listigkeit die Herde seines Bruders Apollon rauben läßt. Nicht weniger aufschlußreich ist jedoch der Mythos darin, daß er Apollon für die gestohlene Herde die erste Kithara aus den Händen des Händlers Hermes entgegennehmen läßt.

Doch noch mehr als den listigen Sinn haßt der musische Gott das Banausische, das am Boden klebt, sich nicht zu erheben weiß, da es keine Flügel hat und alle Dinge von unten beurteilt, aus der Perspektive der Frösche, die die Welt stumpfen Sinnes anglotzen.

Die musische Welt steht und fällt mit Apollon, ihrem Ewigen Gott. Sie war immer bedroht. Sie ist heute vielleicht bedrohter als je. Mit der musischen Welt ist nicht die Welt der sogenannten Gebildeten gemeint, die mit den Urbildern nichts mehr gemein haben, die nur noch Wasser schöpfen aus dem Meer des verlorenen Vielwissens. Mit der musischen Welt ist die jenes unbedingten Kündens gemeint, der künstlerischen und aller anderen bauenden und bildenden Geister, die sich von keiner terroristischen Macht einengen läßt, auch nicht von der des Kleinmenschlich-Banalen.

Heute aber droht nicht nur eine der beständigen Gefährdungen des Musischen, heute droht der rücksichtsloseste Tod. Das schaffende Element ist zur Arbeit geworden, die Arbeit aber, auf der noch der Strahl liegt, zu einer rasanten Betrieblichkeit, Geschäftigkeit, zu einer molochisch anwachsenden Produktion, ja, zu einem neuen Frondienst und zu einer Sklaverei, wie sie die Welt noch nie gesehen.

Die äußerste Ferne zum Musischen ist erreicht. Wir brauchen nicht Amerika oder Rußland zu sagen. Die musenlose Welt von heute ist aus uns selber geboren. Wir selber haben das Musische und seinen Gott verraten. Kein Land aber in diesem einmal glücklichen Kontinent ist so bedroht durch die im bösen Kreise anwachsende Notwenigkeit, aber auch willentliche Übertriebenheit eines gnadelosen Arbeitsfanatismus wie das Volk, das einmal das Volk der Dichter und Denker genannt wurde.

Und einsam als je seht diesem verräterischen Europa sein musischer Urgott gegenüber, der ihm bis zum Einbruch des Maßlosen das Maß gab. Apollon kehrt Europa heute seine Todesseite zu: es soll untergehen, wenn es schon falsch herauf will!

In seiner Unerbittlichkeit gegenüber allem niederträchtigen Geist ist der musische Gott dem Gott Logos überlegen. Dieser bezeugt heute, daß er aus der List stammt wie aus dem Licht. Schon in seinem größten Priester, Platon, war er dem Musischem Feind, als dieser die Dichter und die anderen bildenden Künstler aus seinem rationalistischen und moralistischen Staat verjagen ließ. Und doch war Platon selbst noch ein musischer Mensch &endash; nur verführt von der noch unbekannten Satanie des luziferischen Logos.

Doch noch diente der antike und der mittelalterliche Logos zu einer, wenn auch anderen Überlegenheit des Menschen über die Dinge. Und in dieser Überlegenheit lebte auch noch der musische Geist sein beschwingtes Dasein. Heute aber macht sich der logische Geist zum Diener der Klugen, der Listigen &endash; von den kleinen Hechten bis zu den großen Haien des Vorteils, des Nutzens, der wirtschaftlichen Macht. Der logische Geist, einmal ein Gott, läßt sich heute anheuern für das Schiff des Unterganges »Zivilisation«.

Apollon ist immer der Herr. Und er ist als Herr unbedingt und unerbittlich. Darin ist keine Brücke zwischen dem mythischen Gott, dem musischen und dem Gott Logos.

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Doch Apollon, der strenge Herr, hat es in sich, die Welt leicht zu machen. Er ist kein Bedrücker. Sein tödlicher Pfeil gilt allen erdrückenden Mächten. Die Strenge dieses Gottes ist der Preis für die göttlichen Gabe, die des Aufschwungs. Dieser Gott hat Schwingen &endash; nicht wie Hermes zu eiligen Botendiensten &endash; wie Helios zur Lichtfahrt des Lebens.

Und von diesem schwingenmächtigen Führer geleitet, schreiten die Musen und schreiten die musischen Menschen getragen von unsichtbaren Flügeln.

Unter diesem Anführer wurden die Musen jünger, ihr Tanz leicht, ihr Lied hochgestimmt, ihr Gedicht licht, ihre Musik durchsichtig.

Das Licht beflügelt. Kein Licht aber war jemals so flügelstark wie das griechische. Es gibt Licht, das nicht aufkommen läßt, das verzehrt, das tötet. Das afrikanische Licht. Und es gibt Licht, das verklärt, das hinwegträgt in die ruhenden Himmel der Väter. Das abendliche, nur noch innerliche Licht.

Das griechische Licht ist jung. Es ist herb und hart und heftig wie der Blick von Knaben. Es ist das Licht Apollons, das Unbedingte des Ewigen Jünglings. Hofmannsthal sagt von diesem griechischen Licht in seiner »Berührung der Sphären«:

Dies Licht ist kühn und es ist jung. Es ist das bis in den Kern der Seele dringende Sinnbild der Jugend. Bisher hielt ich das Wasser für den wunderbaren Ausdruck dessen, was nicht altert. Aber dieses Licht ist auf eine durchdringendere Weise jung.

Es ist dies Licht, das alle Dinge in ihrer Göttlichkeit erstrahlen läßt, als ob sie nie sterben müßten. Es ist dies Licht, das Griechenland in die Hybris der Jugend, die den Tod nicht kennt, immer wieder und unwiderstehlich zog. Es ist ein griechisches Wort, das Wort aus der Schattenwelt:

Lieber ein Knecht droben, als Achilleus hier.

Apollon aber ist das Licht &endash; so ist er zuletzt der griechische Gott.

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Die heilige Trunkenheit des Lichtes, die auch eine heilige Nüchternheit ist, entschied über die Gefolgschaft der Musen. Sie folgten doch zuletzt der Hybris des Lichtes &endash; nicht dem Rausch des Lebens. Das war nicht selbstverständlich. Ein anderer Führer bot sich an: Dionysos. Die Musen hätten zu ihm abwandern können, zu seiner Frenesie, seinem Außersichsein, seinem Überschwang, seinem Rasen, zu seiner mänadischen Schar.

Zeus, der Vater der Musen, ist auch des Dionysos Vater. Und es wirkte mächtige Verführung durch das Chthonisch-Weibliche dieses Gottes.

Die Musen selber aber sind von nymphischer Art, die vom panischen und vom dionysischen Element angezogen wird. Sie sind vor allem an Quellen mächtig. Sie hüten Quellen. Sie selber sind Quellen der heiligen Wasser der Begeisterung. Sie sind da, wo Leben, wo Geist entspringt. Die Nähe zu den Ursprüngen ist Erbe ihrer Mutter Mnemosyne. Doch sie sind, anders als ihre Mutter, weniger Erinnerung als Gegenwart entspringenden Daseins.

Und so ist nicht unverständlich, daß in den Musen zuerst ein Schwanken ist, als die beiden Ströme, der des Lichtes und der des Lebens, aufeinanderprallen. Das ist heute noch in den Schaffenden. Sie neigen zu beiden Festen, zum apollinischen und zum dionysischen. Und es kann geschehen, daß in demselben musisch bildenden Geist Zeiten sind übermächtiger Neigung zum seligen Rausch des Lebens oder zur heiligen Nüchternheit des Lichtes. Noch immer kämpfen Dionysos und Apollon in der Brust des musischen Menschen.

Apollon wurde zum Musageten. Das ist ein Ereignis, dessen Bedeutung kaum zu überschätzen ist. Damit ist nicht nur die apollinische Bestimmung der musischen Kultur Griechenlands entschieden. Damit ist auch die Richtung auf das Licht, die Richtung zum Logos mitentschieden. Und damit ist der Lauf des abendländischen Geistes vorgezeichnet. Der Kult des Lichtes blieb bis heute der Zentralkult &endash; bis in die Neue Physik hinein. Der Kult des Lebens blieb allezeit der unterirdisch bedrohliche, bis in diese Tage niemals anerkannte Gegenkult.

Vielleicht geht die endgültige Bestimmung Apollons zum Musageten auf das griechische Wunder zurück, das an das chinesische grenzt, auf die Verschmelzung der beiden Kulte im Einen delphischen Kult, durch die Apollon Dionysos eine Stätte im eigenen Heiligtum einräumt, Licht und Leben sich verbünden, eins werden in der Weite Apollons.

Die Musen konnten letztlich nicht anders als zu Apollon entscheiden. Er ist der prädestinierte Musaget. Eine Zeitlang vermischten sich musische Feiern und dionysische Feste &endash; dann aber tritt Apollon gebieterisch hervor, trennt Musen und Mänaden und macht sich selbst zum Anführer des musischen Chors.

So weitherzig der Mythos ist, so ist er doch gerade nicht das Ungefähre wilder Fabelei, als das ihn der Logos während der zwei Jahrtausende seiner Herrschaft hinstellte. Langsam setzt sich die Wahrheit durch. Der Mythos ist von einer Exaktheit im Wesentlichen, der gegenüber die wissenschaftliche Historie mit all ihrer Exaktheit der Akten und Fakten von untergeordneter Art ist. Während die Historie ihr abgründige Grundlosigkeit, ihre Ignoranz in der Erspürung des wirklichen, wesentlichen Geschehens durch eine Flut von Tatsachen-Wissen verdeckt &endash; verhüllt der Mythos sein ahnendes Wissen um das göttliche Geschehen mit dem bunten Spiel einer entfesselten Phantasie, die genau das Schwankende des Lebens, das sich hierhin, dorthin versucht, spiegelt. Der Mythos ist ein Schrecken für starre Gläubige und steife Wissende &endash; scheinbar kann man sich an gar nichts halten &endash; geht man aber mit der mythischen Welt wie mit dem Leben selbst, so ist doch alles bis zur Zeitlosigkeit der Erfahrung genau bestimmt.

So weit der Mythos ist, da in ihm die ganze Welt der Gestalt blüht &endash; so entschieden weiß er um den innersten Zusammenhang jeder Gestalt und so entschieden weiß er um ihre Verwandtschaft oder Feindschaft zu den anderen Gestalten.

Die Musen mußten sich zu Apollon entscheiden, weil sie innerlich doch zu ihm gehören. Und so muß jeder musisch Schaffende zuletzt doch zu ihm sich bekennen, wenn auch der Gott des Weins in ihm lebt und zu Festen außer Maß und Besinnung verführt. Das gilt heute genau wie in der schicksalsvollen Zeit, als sich Griechenland trotz aller Müdigkeit ob mütterlichen Nornen- und Normenstrenge zu Apollon bekannte. Es bleibt diese Entscheidung hohes Vorbild &endash; wie die Duldung des Gegengottes Dionysos durch Apollon.

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Dionysos hat zu der geistigen Linie, die Mnemosyne begründete, keinen Bezug. Das deutsche Wort Erinnerung bringt die Richtung der titanischen Göttin nach innen zum Ausdruck. Auch das Wort Gedächtnis liegt auf einer geistig-seelischen Linie, auch wenn es noch nicht intellektuell verstanden wird. Das Wort Gedenken hat den größten Abstand vom späteren logischen Geist, in ihm wird ein rein seelischer Bezug ausgesprochen, und doch enthält auch dies Wort schon das spätere Wort Denken.

Dionysos aber hat auch keinen Bezug zu dem, was im Namen der Mnemosyne ausgesprochen wird, zu ihrem Kampf gegen die Lethe, die Todesvergessenheit, zu ihrem mütterlichen Kampf um den Bestand aller göttlichen Kinder, alles erschienenen Göttlichen.

Dionysos bricht als Fest der Zerstörung in alle gewordenen, geschaffenen, gesicherten Ordnungen ein. Er läuft der Zeit zuwider, heißt die gesitteten Ströme zurückfließen in ihr ursprüngliche Wildheit. So überbrandet er mit dem Chthonisch-Elementaren das Chthonisch-Gestalthafte der Mütterwelt, das so mühsam errungene. Der Strom, der Stier verwüstet das bebaute Land der Seele mit aufwühlendem Horn und zerstampfendem Huf. Die Mütter müssen hinweg von Haus und Herd, von Wiege und Kind. Die ganze weibliche Welt ist gerufen. Es gibt kein Muttertum mehr. Es gilt nur noch das Weib. Es hat dem Gott zu folgen. Es hat alles andere zu vergessen. Selbst das Kind.

Der dionysische Ruf ist ein Ruf der Vorzeit. Eine Lethe-Flut tödlicher Vergessenheit überschwemmt aus dem zeitlosen Asien das erinnerungsstarke Griechenland. Indien widerläuft der abendländischen Geschichte. Shiva, der tanzende Gott, begegnet Apollon, dem Widerstehenden. Dionysos ist mit der Todfeindin der Mnemosyne, mit der tödlichen Lethe, im Bunde. Noch die Weisheit des Heraklit, die paradoxale, weiß:

Denn wenn es nicht Dionysos wäre, für den sie im taumelnden Zuge ziehen und dem sie die Hymne auf den Phallos singen, so wäre es ein schändliches Treiben. Eins jedoch ist Hades und Dionysos.

Das aber heißt mit anderen Worten: Leben und Tod sind in Dionysos eins.

Wehe dem, der sich nicht in die Sintflut der dionysischen Lethe stürzt. Ein Beispiel des wild gebrochenen und tödlichen bestraften Widerstandes gibt Euripides in seinen »Bacchen«. König Pentheus widersetzt sich Dionysos. So muß er sterben. Er hält sich außerhalb der allgemeinen Erregung, nicht ohne jedoch das Treiben von außen neugierig beobachten zu wollen. Er wird entdeckt. Und seine eigene Mutter zerreißt ihn, da sie in ihrer Verzauberung in ihm ein Raubtier sieht.

Dies Beispiel könnte jedoch verführen, anzunehmen, Dionysos und seine mänadische Schar hätte es auf die Welt der kritisch-kühleren Männer abgesehen, die vernünftigeren Sinnes dem Rasenden Gott Widerstand zu leisten sich vermessen. Doch es gibt ein schreckenserregendes Beispiel aus der Welt der Mütter. Als der wilde Zug in Böotien tobt, da halten sich die drei Töchter des Minyas außerhalb des Zaubers. Der Gott warnt die drei Häuslichen, sich seinem Zuge nicht zu entziehen, indem er ihnen als kleines Mädchen erscheint. Doch sie bleiben fest. Da ergrimmt der Gott. Um den Webstuhl, an dem sie arbeiten, rankt sich plötzlich Efeu und Rebe, das wilde und das gebildete Zeichen des Gottes. Von der Decke fließt Wein. Die Wollkörbe werden zu Nestern von Schlangen, die Dionysos heilig sind. Die drei Mütter werden mit Wahnsinn geschlagen. Sie losen eines ihrer Kinder als Opfer für den Gott aus und zerreißen das Erwählte. Dann stürmen sie der lärmenden Schar nach in die Berge, bekränzt mit Efeu, Winde und Weinlaub wie die anderen. Doch noch hat die Rache des Gottes kein Genüge: er verwandelt die drei, die dem Alltag gehören, in Nachtvögel, in eine Fledermaus, eine Eule und einen Uhu.

Diese berühmte Mythe zeigt den Gott im Ansturm wider die alte Mutterwelt. Von dieser ist nur Ein Bereich ausgenommen: der Kultbereich der Demeter. Seltsames Widerspiel: Der Gott der auf abgelegenen Bergen und in wilden Wäldern schwärmt, schützt die höchste Kultur der mütterlichen Erde, die der zartesten und der beständigsten Pflege bedarf: die der Rebe. Und umgekehrt: das edelste Gewächs, der Wein, bewirkt das wildeste, das dionysische Fest.

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Auch Dionysos erweckt eine ungeheure Erinnerung: er wiederholt wie Pan die vorzeitliche Raserei des ungebundenen Geschlechtes.

Es ist ja immer alles in uns, auch wenn die Zeiten darüber hinweggehen und es den Anschein hat, als ob sie alles auslöschen würden an früheren Feuern. Der Anschein täuscht. Es ist eine der Grunderfahrungen der heutigen weit- und vielzurückfallenden Zeit, daß die Zeiten sterben, allesamt, unwiederbringlich, nicht aber die Samen, aus denen ihre Frühlinge blühen.

In der Mütterzeit konnte es scheinen, als ob die wilde Art der Geschlechter entgültig überwunden sei. Da brachte Pan die alte Wildnis wieder, den Ewigen Jagdgrund des Mannes. Die Wildbeute aber war jetzt allein das Weib, der jagende Mann jedoch in divinierender Zeit der Gott. Und so dienten auch die Mänaden des Dionysos nicht Männern, dienten allein dem Gott. Die Männer waren ausgeschlossen vom dionysischen wie vom panischen Kulte. Und das ist in aller Feindschaft und Fremde die Nähe des Pan und des Dionysos zum Zeitalter der Mütter.

Das muß zusammen gesehen werden: Pan und Dionysos sind neue männliche Götter. Sie gehören aber nicht zu den »Himmlischen«. Es sind Erdgötter. Es sind Söhne der Mütter. Sie wenden sich zurück. Man könnte sagen, Pan und Dionysos seien &endash; etwa gegenüber Apollon, dem klassischen Gott &endash; romantische Götter. Ihre Tiernatur enthüllt dies. Pan ist böckig, Dionysos auch stierig. Ihnen entspricht eine neue weibliche Welt der Wollust, männliche Gewalt zu erleiden. Die zähmenden Mütter nahmen dem Weib wie dem Mann zuviel von der Urkraft des Geschlechts. Es geschieht eine Wiederholung der vormütterlichen Zeit, doch nun im pathischen Geiste des Weibes, den die Mütter noch gesteigert hatten. Pan und Dionysos rasen in neuer männlichen Gewaltigkeit in der weiblichen Pathophilie.

Und darum konnte es geschehen, daß die nymphischen Musen und die Mänaden zuerst ungetrennt feierten. Und darum konnte es geschehen, daß zwei Musen, Melpomene, die ernste, und Thalia, die heitere, die Tragödie und die Komödie begeisteten, die beide dionysischen Ursprungs sind. Im Reiche Apollons gibt es keine Tragödie und keine Komödie. Das Licht ist zu einig und zu rein. Aber Dionysos, der zerrissene und wieder auferstehende Gott, lebt sein Drama aller Tragödie voraus. Der Riß ist da. Das Licht will sich von der Dunkelheit trennen. Das Licht erfährt in seiner neuen Selbstgenugsamkeit den Riß nicht. Nur das Unbedingte ist gut. Aber das noch einmal wollüstig in das Polare der Welt ausschweifende dionysische Fest erfährt die kommende Trennung als Leid. Die Tragödie ist nicht, wie Nietzsche unter dem Einfluß Wagners glaubte, aus der Musik geboren &endash; die tragische Musik, der Bocksgesang ertönte aus dem Leiden des zerrissenen Gottes.

Und doch gibt es auf die Dauer keine musische Kunst auf dionysischem oder panischem Boden. Wenn auch Pan und Dionysos kultische Wiederholungen sind, so sind sie es nicht im Sinne der Mnemosyne, der Mutter der Musen. Pan und Dionysos löschen beide die der Mnemosyne heilige Zeit der Mütter aus. Der Strom der Lethe umgibt nicht mehr nur die Toten, der Tod des Vergessens ergreift Lebende wie Tote. Dionysos ist Hades für die Lebenden. Und so ist er zuletzt der Todfeind der Mnemosyne.

Dionysos ist die Wiederkehr des unbewußten Lebens, die Wiederentäußerung des erstmals verinnerlichten Menschen &endash; Mnemosyne aber ist das titanisch-gewaltige Festhalten der ersten Innerung des Menschen in das Göttliche der Erde und des Himmels: damit erfüllt sie ihren Namen, den der Erinnerung.

Dionysos hebt die erste innere Weltwende zur festen Erde wieder auf &endash; Mnemosyne aber ist in ihrem Zug zur Erinnerung die kultische Wiederholung dieser Urwendung der Mütter zum Dauernden.

In ihrem leidenschaftlichen Willen zur Dauer aber verbindet Mnemosyne sich in ihren Kindern, den Musen, zuletzt unweigerlich dem Gott der Dauer: Apollon.

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Auch Apollon ist ein Begeisterter. Denn auch das Licht ist ein Übermut. Es berauscht mit seiner heiligen Nüchternheit. Das Licht ist der Wein des Himmels.

Ohne Begeisterung ist keine musische Welt. Die Musen sind die Begeisternden und so die Erregerinnen der Schaffenden. Der reinste musische Dichter unter den Deutschen und vielleicht nicht nur unter ihnen, Hölderlin, nennt die Begeisterung die »Allerschaffende«. Als die griechische Natur wieder einbricht in die Wüste des abstrakten Geistes, da bricht auch die griechische Begeisterung wieder aus:

Denn sie, sie selbst, die älter denn die Zeiten

Und über die Götter des Abends und Orients ist,

Die Natur ist jedoch mit Waffenklang erwacht,

Und hoch vom Äther bis zum Abgrund nieder

Nach festem Gesetze, wie einst, aus heiligem Chaos gezeugt,

Fühlt neu die Begeisterung sich,

Die Allerschaffende wieder.

(Das himmlische Feuer: Wie wenn am Feiertage ...)

Auch Apollon ist ein Begeisterter. Doch anders als Dionysos kennt er keine Schwärmerei, weil keinen Überschwang. Er ist, der er ist. Er sucht nicht das Außersichsein des Eros. Er ist kein Hinreisender, denn er ist kein Hingerissener. Er liebt keinen Untergang, auch den im Rausche nicht. Und so liebt er auch nicht die berauschten Heere der Mänaden.

Apollon ist eher ein Begeisteter als ein Begeisterter. Und dem folgt seine kleine Schar, doch es ist eine bleibende Schar. Apollon kennt keinen Zulauf, doch er kennt so auch nicht das Sichwiederverlaufen der Massen, die sich gerne täuschen und leicht enttäuscht sind. Begeisterte verlodern &endash; Begeistete dauern.

Apollon will Dauer, denn er ist Dauer. Er ist der ein für alle Mal erwachte Gott. Er ist das Licht, das erweckt und das wach hält. Seine musische Welt ist nicht für den Tag, ist für immer gebaut. Apollon ist Dorer: seine Welt steht unverrückbar fest. Es ist kein auflösendes jonisches Element in ihr. Keine Schwingung nach außen gefährdet den steinernen Bestand. Sein Licht fällt senkrecht, und senkrecht ist die Kultur, die zu seinem Lichte aufblüht.

Auch Apollon ist ein Gott der Musik. Die Musik spielt in seiner Welt keine geringere Rolle als in der des Dionysos. Seine Musik aber ist eine andere als die dionysische. Sie ist nicht Wein, der berauscht, sie ist Licht, das erbaut. Seine Musik baut und hält Staaten durch ihren Nomos orthios, ihr strenges Gesetz. Ja, es kommt zu dem großen Bild: Apollon hält mit der Musik seiner Kithara auch die große Polis, den Kosmos in harmonischem Gleichgewicht &endash; die Töne, die er anschlägt, sind die Töne des leicht fügenden Lichtes.

Immer hält Apollon fest, immer hält er aufrecht. Und das verbindet ihm mit Mnemosyne, die im entschwindenden Leben das Unvergeßliche, das allein Haltgebende festhält.

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Apollon ist ein strenger Herr der Musen. Ihm verdankt das musische Griechenland seine feste Fügung der Formen.

Apollon duldet keine Improvisation. Der heilige Augenblick ist nicht flüchtige Eingebung &endash; er enthüllt das Dauernde, das Sein selbst, das nicht entsteht und das nicht vergeht.

Auch der apollinisch Schaffende lebt vom Einfall. Es kommt unter dem Gott des Lichtes nichts von uns selbst. Es kommt von fern her. Es kommt aus dem Auge des Lichts, dem panoptischen, allsehenden Auge. Auch Apollon ist ein einfallender Gott.

Und das künftighin Maß, die Norm, der Nomos orthios: das lichte Sein, das dauernde, das unvergängliche.

Und andererseits ist damit gegeben, daß unter Apollon das Maß alles ist. Herrscht Licht, Klarheit, Erkenntnis, Besonnenheit &endash; herrscht auch Maß.

Und so ist im apollinischen Reich eines und dasselbe: Sein Licht und Erkenntnis und Maß. Und so verkündet das apollinische Reich mächtig voraus das kommende Reich des Logos.

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Dionysos kehrt zurück in das Werden. Sein Werden ist ein anderes als das der Titanen. Dionysos ist wie sein Vater Zeus ein Feind der Titanen. Die Titanen sind es, die ihn zerreißen. Er kehrt nicht in den Kreislauf zurück, in dem die Titanen gebunden gehen. Auch er ist wie Apollon ein Entfesselter. Und dies trennt ihn auch von den Müttern, trennt ihn von ihrem Werden, aus dem das titanische kam. Auf den schon mechanischen Wechsel von Geburt und Grab antwortet der Lysios, der Löser, mit der ekstatischen Wandlung von Grab und Auferstehung, Zerreißung und Wiedervereinigung. Das dionysische Werden ist Wandlung. Dionysos ist der nicht gestaltgebundene, der wie das Element sich verwandelnde Gott.

Apollon aber sagt sich von allem Werden los, dem mütterlichen, dem titanischen, dem dionyischen. Dem mütterlichen Werden ist er ganz fern: das unsterbliche Licht kennt keine Geburt und kein Grab. So aber kennt Apollon auch nicht das titanische Kreisen. Das unterscheidet ihn vom Titanensohn Helios. Apollon kommt aus keinem Dunkel und geht in kein Dunkel zurück. Er ist die Sonne im ewigen Zenith. Wenn Apollon als Sonnengott verehrt wird, dann als Sonne, die keinen Untergang kennt. Auch darin ist Apollon die mythische Gestalt des kommenden Logos.

Doch Apollon ist auch wie das Licht maskenlos. Das Licht ist nackter als der nackte Leib. Es ist noch unverhüllter als der nackte Leib das, was es ist. Doch eine große Verwandtschaft verbündet das strahlende Licht und den strahlenden Leib. Und auch dies ist noch Verwandtschaft: Apollon ist gebunden an seine Lichtgestalt. Er ist der Gott als Gestalt. Der griechische Gott. Und man hat ihn nie anders gesehen als in der gottähnlichsten, der menschlichen Gestalt. Er ist die göttliche Gestalt des Menschen, er ist die menschliche Gestalt Gottes. In der griechischen Göttlichkeit der Gestalt ist er der asiatischen Zauberkunst der Verwandlung fern. Dionysos ist androgyn. Er wurde als Mädchen erzogen. Apollon aber ist männlich-hart in der Festung seiner Gestalt. In ihm formt sich der Marmor der kommenden männlichen Zeit.

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Was die Mütter dem schweifenden Menschen gaben, Standfestigkeit, das gibt Apollon ihm neu. Auch darin ist er allein den Müttern des Menschen vergleichbar. Die neue Standfestigkeit aber ist nicht mehr die der schweren Erde. Durch Apollon geschieht die erste Einpflanzung in die Himmel. Das Beharrliche des apollinischen Menschen ist die Dauer des Lichtes. In Apollon ist nicht mehr die unterlegene Sorge der Mütter, in ihm ist lächelnde Überlegenheit des Fernen. Die Mütter sind Bedrückte, Apollon ist der Entrückte. Der hohe Mittag ist die letzte Zeit, mit der er noch zu uns steht. Er erinnert an keine Dämmerung des Morgens &endash; es bedroht ihm keine Dämmerung des Abends. Am hohen Mittag feiert er das Fest der Ewigen Gegenwart.

Apollon ist das Fest des Seins, das nie verrauscht und auf das nie ein Morgen der bitteren Nüchternheit folgt. Das Unaufhörliche selber ist sein Fest. Soviel Göttlichkeit ist nach apollinischem Maß, soviel Sein mächtig ist. Gott ist, wer ist.

Für Apollon gibt es kein »Es war« und kein »Es wird sein«. Für ihn zählt allein das »Es ist«. Apollon ist das »Es ist«. Die Vergangenheit ist begraben, die Zukunft ohne Sinn. Der Ewige Augenblick ist alles. Apollon ist das Licht: vor dem Lichte aber war nichts und nach ihm kommt nichts.

Was immer staunenerregend am Anfang der griechischen Logo-Sophia steht, der Spruch des Parmenides, das erweist sich aus dem Golde Apollons gemünzt. Das Wort des Parmenides vom Sein &endash; das für ihn mit dem Lichte eins ist &endash; tönt aus der Gottesweise Apollons mächtig auf:

So bleibt nur noch Kunde von einem Wege: daß das Sein ist. An diesem Wege stehen sehr viele Merkzeichen: Weil ungeboren, ist es auch unvergänglich, ganz, eingeschlechtig ((moynogenes)), unerschütterlich und ohne Ziel. Es war nie und wird nie sein, denn es ist das Nun ((nyn)), nunc aeternum) als Alles, Eines, Zusammenhängendes ((epei nyn estin moy pan, en, syneches)).

Denn ward es, so ist es nicht und ebensowenig (ist es), wenn es erst in Zukunft sein sollte. So ist Entstehen verlöscht, Vergehen verschollen.

Als derselben im Selbigen verharrend, ruht das Sein in sich selbst, standhaft behauptet es seinen Standort.

Denn es ist unbedürftig.

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In seinem Sein ewiger Gegenwart hat Apollon den äußersten Gegenpol zu den Müttern erreicht, die an allem Gewachsenen hängen und die gerne guter Hoffnung sind.

Apollon führt die Musen an, doch er kennt Mnemosyne nicht mehr, ihre Mutter.

Auch Apollon will Dauer. Doch seine Dauer ist von anderer Art als die der Mnemosyne. Es ist die Dauer des werdelosen Lichtes. Das Leben der Erde nimmt zu und ab wie der Mond. Das Licht der Sonne aber bleibt für die Erfahrung des frühen Menschen allezeit dasselbe, wandellos.

Apollon ist todlos wie das Licht &endash; so aber hat er nicht gegen den Tod zu kämpfen. Fern ist ihm und unerfahrbar der Große Kampf der Mnemosyne gegen die Lethe, die Todesvergessenheit. Licht ist nicht das Unvergeßliche, es ist das Unsterbliche. Licht, die stärkste Macht der Geschichte, ist geschichtslos.

Apollon ist todlos, denn er ist schicksalslos. Kaum geboren, ist er schon, was er ist. Die Götter springen von den Sitzen, als er das erstemal den Saal betritt. Er ist vollendet. Und was er ist, das bleibt er immerfort. Kein Alter wandelt seine Ewige Jugend. Kein Tod bedroht sein unsterbliches Sein.

Einmal träumte der Mensch das Vollkommene. Das Vollkommene aber war ihm das Schicksalslose. Hatte er doch seine Hinfälligkeit fort und fort am waltenden Schicksal, dem zuletzt tödlichen, erfahren. Als Apollon erschien, da wichen sie, die niedrigfahrenden, die toddrohenden Wolken. Da atmete der Mensch auf vom Druck der immer schicksalsschwangeren Luft. Da wurden die schweren Seelen der Menschen leicht. Zwischen düsterem Zorn und einsichtigem Licht schwankte immer noch Zeus, der Vater. In Apollon, dem Sohn, war alles entschieden. Wolkenlos stieg der Himmel auf in die blaue Ferne. Endlich enthüllte sich das Rein-Göttliche: das unsterbliche Licht.

Hölderlins Gedicht ist Lobpreis der schicksalslosen Herrlichkeit Apollons. Keiner seit den Frühen, Archaischen, ist lichtgläubiger als er. Keiner begieriger in leicht zerstörbarer Seele nach dem Unzerstörbaren, dem wandellosen Licht.

Doch Hölderlin ist der Mensch der Mnemosyne wie Apollons. Keiner trauert dem Tag der Götter mehr nach als er und keiner ist kultischer in seinem treuen Gedenken und Dank.

Sein »Schicksalslied« ist zugleich Lobpreis und Klage, Rühmung der Himmlischen und Trauer über die von ihnen fallengelassenen Sterblichen. Brückenlos ist der Abstand zwischen den »Himmlischen« zu den Söhnen der Erde, die wie die schwere Mutter leiden und fallen:

Ihr wandelt droben im Licht

Auf weichem Boden, selige Genien!

Glänzende Götterfüße

Rühren euch leicht,

Wie die Finger der Künstlerin

Heilige Saiten.

Schicksalslos, wie der schlafende

Säugling, atmen die Himmlischen;

Keusch bewahrt

In bescheidener Knospe,

Blühet ewig

Ihnen der Geist,

Und die seligen Augen

Blicken in stiller

Ewiger Klarheit.

Doch uns ist gegeben,

Auf keiner Stätte zu ruhn,

Es schwinden, es fallen

Die leidenden Menschen

Blindlings von einer

Stunde zur andern,

Wie Wasser von Klippe

Zu Klippe geworfen,

Jahr lang ins Ungewisse hinab.

Hölderlin vermochte &endash; wie vielleicht kein anderer &endash; die übermenschlich-menschlose Ferne Apollons zu erfahren in ihrem unbedingten Licht &endash; und doch ist er selber zugleich dieser leidende und fallende Mensch.

Das Schicksal aber wollte es, das Hölderlin gerade von dem gesuchten, dem unzerstörbaren, in sich selbst beruhenden, sich selber genügenden Licht Apollons zerstört wurde. Zu spät suchte er Rettung bei der mütterlichen Erde. Was dem Menschen nicht bestimmt ist, die unmittelbare Erfahrung des himmlischen Elementes, die nicht durch Dinge oder nach der Weisheit Goethes durch Urphänomena abgeschirmte Erfahrung &endash; das stieß den Lichthungrigen in die dauernde Nacht. In dem berühmten Brief an seinen Freund Böhlendorf vom 2. Dezember 1802 berichtet Hölderlin zu Beginn seiner Umnachtung von dem Ereignis der Versengung seines Geistes, das ihm im südlichen Frankreich widerfuhr:

Das gewaltige Element, das Feuer des Himmels ... hat mich beständig ergriffen, und wie man Helden nachspricht, kann ich wohl sagen, daß mich Apollo geschlagen.

Apollon &endash; Licht und Tod

Apollon ist nicht nur todlos &endash; er selber ist ein großer Tod. Er ist der Tod für alles, was nicht Licht ist. Licht allein ist und darum soll allein Licht sein. Das ungeheure Licht Apollon löscht Welten aus. Apollon duldet die Welten nicht, die zwischen dem Todesdunkel und dem Licht des Lebens sich kümmerlich genug zu halten versuchen: die arme Welt der Erde und des Menschen. Das aber ist die Welt der Mütter.

Von Apollon geht wie von Dionysos eine Sintflut von Lethe aus. Die Hybris des Lichtes läßt wie der Rausch des Lebens, der nicht weniger hybride, alle mütterliche Notwelt vergessen. Darin sind die beiden gegenpoligen Söhne des Zeus von Einer Art. Es erscheint in ihnen zum erstenmal die Raserei des Vergessens, die zur Maya der Söhne, zu ihrer schöpferischen Kraft wie zu ihrer Verblendung gehört. Zeus, der Vater, zeugte mit Mnemosyne die Musen: er bezeugte damit seine hohe Wertschätzung der Überlieferung. Alle Väterwelten stehen in diesem Zeichen. Die Söhne des Zeus aber, Apollon wie Dionysos, löschen alle Erinnerung aus, es sei denn die, die mit ihrem Kommen verbunden ist. Die dionysische Hochflut des Lebens &endash; die apollinische Hochflut des Lichtes &endash;: außerdem ist nichts. Die arme Erde ist eine versinkende Insel im dionysischen Meer des Lebens &endash; das apollinische Meer des Lichtes aber ist der unseligen Zwitterwelt in unverwandte Ferne entrückt.

Leben und Tod &endash; Sein und Nichts: wo wir heute stehen, da stand schon der dionysische und der apollinische Mensch.

Der Mythos nimmt alles voraus. Er nahm schon in der Väterzeit das große Vergessen der Söhne voraus, in dessen Sintflut heute untergeht, wer nicht in der Arche der Urbilder den Berg Ararat erreicht.

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Der idealistische Zug des männlichen Geistes ist schon in den olympischen Göttern mächtig. Die Ideen Platons und die Engel von Byzanz sind in den »Neuen Göttern«, den »Himmlischen«, vorausgenommen. Der wählerische Logos, der auslesende, ist schon am Werke. Die Figur Apollons aber ist das Zentrum des idealistischen Willens, der den Mythos vollendet und im Logos triumphiert.

Der Mythos aber bleibt bis zum letzten Augenblick polar. Es ist jedem der im Lichte Wandelnden die Geburt aus der Nacht, ja aus dem Chaos anzuspüren. Das ist &endash; gegen die vieltausendjährige Überzeugung des Logos &endash; einer der größten Vorzüge des Mythos. Die mythischen Figuren sind wahr wie das Leben, noch nicht logisch-ethisch systematisiert. Keiner der griechischen Götter ist ein »Ideal« &endash; auch Apollon nicht.

Es sind in Apollon zwei Züge, die sich widersprechen und die doch gerade in ihrem Widerspruch das Geheimnis auch dieser mythischen Gestalt enthalten. Der Mythos weiß noch nichts vom Ausschluß des Widerspruches, der später im Reich des Logos durch Aristoteles zum Kriterium der Wahrheit wurde. Im Mythos ist der Widerspruch geradezu das Zeichen der Wahrheit. Dahinter verbirgt sich das als solches nie unmittelbar zur Erscheinung kommende Ganze, von dem die mythische Erkenntnis als von ihrem eigentlichen Ursprung ausgeht. Der logische Mensch aber ist seit Jahrtausenden aristotelisch. So möchte er auch Apollon eindeutig sehen. Das »Zweideutige« hat im logischen Zeitalter folgerichtig eine rein negative Bedeutung gewonnen. Im Ursinn des Wortes aber ist Apollon, ja, gerade Apollon »zweideutig«.

Unverständlich ist so schon für den Willen zur Systematik, daß Apollon wie seine Schwester Artemis in der Wildnis in ihrem Elemente ist. Der »Gott der Kultur« wohnt nicht in gepflegtem Parke. Er bleibt in seiner Heimat Lykien, der wilden, waldigen, dem Land seiner Mutter Leto treu. Der Wolf ((lykos)), nach dem Lykien benannt ist, das Sinnbild des raubtierigen Wildes, ist Apollons ständiger Begleiter. Unerklärliche Dinge für ein widerspruchsloses Denken. Doch wir sind noch nicht im Gehege des Logos. Der Mythos ist kein System. In den mythischen Gestalten ist alles in allem. Die Landschaft des Mythos ist panisch.

Doch erst im Zusammenfall des Licht- und des Todeselementes erscheint Apollon in seinem eigentlichen Geheimnis. Apollon trägt in sich eine so mächtige Todeswirklichkeit, daß Gelehrte in ihrem Denken an den Ausschluß des Widerspruchs gewohnt, ihn aus einem Todesgott hervorgehen ließen. Der Widerspruch aber wird nicht aufgehoben, wenn er geschichtlich erklärt wird. Die Dinge werden nur unverständlicher. Der Mythos will aus seinem eigenen Geiste erfahren werden. Wir sehen Apollon in der Sphäre des Aithers, des Glanzes der himmlischen Lüfte. Der himmlische Glanz aber geht, wie Hesiod noch wußte, in unmittelbarer Geburt aus dem Erebos hervor. Und so sehen wir Apollon, in dem das Lichtelement in vollkommener Strahlung hervortritt, zugleich mächtig im Element des Todesschatten.

Sein ständiger Beiname »Ferntreffer« geht nicht nur auf seine alldurchschauende Erkenntnis: Apollon trägt den Bogen, der unfehlbar tödliche Pfeile versendet. Wie die schwesterliche Jägerin, ist auch Apollon Jäger. Nur das Wild, das er jagt, ist ein anderes. Urzeiten leben noch in beiden und erscheinen in ihnen wie alles Archetypische wieder erscheint.

Als zu Beginn der Iliade Chryses, der Priester Apollons, die Schlacht um Troja durch angemessene Buße der Trojaner zu vermeiden sucht, wird er von Agamemnon schimpflich verjagt. Da steigt Apollon, »der düsteren Nacht gleich«, vom Olymp und bringt Tod unter die Achaier.

Und als Niobe sich vermißt, als siebenfache Mutter sich über Leto, die Mutter Apollons und der Artemis, zu stellen, da wehrt Apollon diese Anrührung einer Sterblichen mit der Indignation der »Unsterblichen« ab. Wie der Tod selbst fällt er die sieben schönen Bäume, die Söhne der Niobe. Ein silbernes Klirren &endash; mehr nicht. Das Leid der Mutter aber dringt nicht an sein leidloses Herz.

Der Mythos scheint grausam, doch er ist weise: er vermag die beiden sich ausschließenden Sphären ineinander zu sehen. Apollon ist das unbedingte Ja des Lichtes und ist zugleich das unbedingte Nein des Todes.

Die mythische Welt ist mit ihrer ganzen Leidenschaft auf Gleichgewicht bedacht, denn sie steht und fällt mit ihm. Jede Entscheidung für dies oder jenes Element bringt sie zum Sturze. Die olympischen Götter leiten diesen Sturz ein &endash; sie selber aber sind noch in ihrer entschiedensten Gestalt, Apollon in einer letzten polaren Spannung.

Nicht nur die Mütter versammeln in sich zugleich die Kraft, die zur Geburt in das Licht drängt und das wieder alles in sich zurücknehmende Dunkel des Todes &endash; in seltsamer Gleichung vereinigt auch ihr Todfeind Apollon die beiden Pole in sich. Nur, daß die Mütter dem Todesdunkel näher stehen, weil das Leben ihr Element ist, Apollon aber, im Element des Geistes, in der tödlichen Klarheit des Lichtes dominiert.

Das strahlende Licht hindert Apollon nicht daran, gegenüber der ihm fremden, widerwärtigen Welt der Mütter von nihilistischer Todesdunkelheit zu sein. Ja, das apollinische Licht entbrennt zu seiner verzehrendsten Glut an den Gegenmächten des Dunkels. Apollon, nicht Zeus, ist der Todesschatten über dem ersten göttlichen Reich des Menschen.

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Damit aber wird Apollon zum mythischen Schlüssel, der das verborgene Doppelwesen des endgültigen männlichen Geistgottes aufschließt: des Logos.

Der Logos ist zugleich der bauendste und der vernichtenste Geist. Doch anders als der Mythos, der seine zwei Gesichter offen und ehrlich zur Schau trägt, weiß der Logos seine tödliche Seite zu verhüllen. Der in seinem Gottspiel gern ungesehene Engel, Luzifer, ist übermächtig in den vielen Künsten des logischen Geistes.

Die Sonnenkraft Apollons zeugt nicht mehr wie die des titanischen Helios im dunklen Schoß der Erdmutter &endash; das apollinische Licht bezeugt leidenschaftlich sich selbst, seine Selbstherrlichkeit. In vollkommener Entsprechung aber fällt auch das Licht des Logos ausschließlich auf den logischen Sonnenstaat &endash; die erdliche, ja die kosmische Welt wird immer unbelichteter und darum düsterer im verneinenden, im vernichtenden Blick.

Dies aber ist die erstaunliche Verbindung Apollons mit dem partiellen väterlichen und dem totalen sohnlichen Nihilismus.

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Die Mütter schufen die erste innere Überlegenheit des Menschen über das Tier durch die Erinnerung an die Mutter, die Erde. In dieser Erinnerung geschah die weltwendende Wiedereinpflanzung des Tieres Mensch in die Erde. Wiedererinnerung und Wiederverwurzelung ist eines und dasselbe.

Auch die Einwurzelung des Menschen in die Himmel, durch die die Väter den Menschen zu seiner zweiten höheren Überlegenheit über das Tier führten, entsprach einer Wiedererinnerung an den anderen, den lichten, geistigen, himmlischen Ursprung, den väterlichen.

Wir aber, die Söhne, werden das Tier, das uns von neuem bedroht, niemals zu bezwingen vermögen, wenn wir den Tierraum des Erinnerungslosen, in den wir zurückgefallen sind, nicht mehr zu überschreiten wissen mit dem fruchtbaren Gedenken an die großen Taten der Mütter und der Väter in der Menschwerdung des Menschen.

Wir wollen Denkende sein, ohne Gedenkende zu sein. Wir Söhne sind Zeitbesessene &endash; so aber sind wir Besessene von der Lethe, der Todesvergessenheit. Es ist unzweifelhaft eine unserer mächtigsten Notwendigkeiten, zu vergessen. Der Berg des Vergangenen darf nicht zum Grabmal werden. Wir gehören nicht in die Schar der schwarzen Leidtragenden, der mit ihrer unaufhörlichen Todesklage dem Tod verfallenen Mütter. Wir sind in einem anderen Zug. Wir müssen weiter. Doch wir sind im Zuge des sohnlichen Sichlosreißens noch zu fanatisch auf das Vergessen eingestellt. Dabei sind wir Söhne archetypisch durch die Doppelrichtung unseres Geistes bestimmt. Wir sind ganz Herkunft wie ganz Zukunft. So sind wir im Wesen ganz Erinnerung und ganz Neuansatz. Diesem unserem Wesen entspricht unser Unwesen: wir sind zugleich extrem historisch wie extrem futuristisch. Eine Häufung von unverpflichtendem Gedächtnisstoff entspricht der nihilistischen Leere unserer Vorstöße in die Zukunft. Beide aber, sich gegenseitig bedingend, schaffen heute die Allmacht des Nichts. Denn unser Historismus ist unfruchtbar. Er begräbt uns mit seinen unheimlich anwachsenden Schuttmassen. Echte Erinnerung kennen wir nicht mehr. Denn wir verwechseln die haltlose Sintflut des Historismus mit den tragenden Geistfluten der Erinnerung des Unvergeßlichen. Wir werden aber unseren Namen, den der Söhne, nie erreichen ohne die Wunder, die im deutschen Wort Erinnerung aufgerufen sind.

Die Tragödie, die heute in der Welt der Söhne im Lauf ist, geht jedoch weit zurück. Sie wurzelt in der tragischen Entzweiung der Mütter und der Väter, von der die griechische Tragödie ihren Ausgang nimmt.

Die Mütter erinnerten den Menschen an den erdlichen, die Väter erinnerten ihn an den himmlischen Ursprung. Die beiden vereinigten sich jedoch nicht in dieser doppelten Erinnerung. Sie stellten Erinnerung gegen Erinnerung, Ursprung gegen Ursprung. So aber zerrissen beide, die Mütter und die Väter, den Menschen, daß er &endash; wie die Richter des Areopages, die Orestes abzuurteilen hatten &endash; nicht mehr weiß, wohin er gehört.

Die Mütter aber blieben ungleich mehr im Gesetz der menschlichen Doppelnatur. Die Erde überwog in ihnen, doch sie nahmen in fragloser Willigkeit die andere Seite in sich auf. Die Mütter sind immer panisch. Mit den Vätern aber begann das Radikale. Sie wandten sich in immer schärferer Scheidung von der Erde ab. Und wenn sie über die erdlichen Dinge regierten, so taten sie es wie Herrscher über fremdem Land und Volk. Denn Ursprung konnte für sie nur der Himmel sein. Und so löschten sie mit gewaltiger Geisteshand die Erinnerung an den dunklen erdlichen Ursprung aus mit der Erinnerung an den Lichtursprung.

Als der Mensch der Neuen Zeit sich jedoch auch von den Himmeln abkehrte, da er einsah, daß er nicht zum Engel bestimmt ist, sondern zum Menschen, da verbot es die geschichtliche Fatalität, daß der Sichlosreißende die große Möglichkeit erkannte, als Sohn sich der beiden Ursprünge zu erinnern, beide Erinnerungen in sich zu versöhnen und als versammelte Kräfte ineinander fruchtbar werden zu lassen zu seiner neuen, unverwechselbar anderen, sohnlichen Bestimmung.

Mit wachsender Fatalität drängt nun der sohnlich-unsohnliche Mensch der Moderne in den Raum des tödlichen Vergessens. Es ist sein heutiger Kurzschluß, mit aller Erinnerung zu brechen, auf diese Weise dem uralten Streit zwischen Himmel und Erde zu entgehen und sich freizumachen zu einem Weg ohne Herkunft von den Müttern und den Vätern. Diese Freiheit und der Nihilismus sind Eine Sache.

*

Apollon ist im griechischen Raume der Gott, der die große Scheidung der beiden Ursprünge, des Himmels und der Erde, schneidend vollzieht. In ihm ist der Traum des männlichen Geistes von der Selbstherrlichkeit des lichten Geistes in seiner höchsten Blüte. Es ist der Traum der Väter.

Apollon ist als Gott des lichten Seins ein echter Vatersohn. Sein Kult ist der Heilig-Väterliche: Kult des Seins, das dem Werden entronnen. Kult des Lichtes, das sich vom Dunkel getrennt. Kult des Tages, der die Nacht hinter sich ließ. Kult der Klarheit, die sich von allem Dämmernden entfernte. Kult der Reinheit, die die Mischung des Himmlischen mit dem Erdlichen schied. Kult des Wissens, das die Höhle des Unbewußten verließ. Kult des zeitlosen Nun, das alles Vergängliche verneinte.

Die Söhne der Neuen Zeit aber lassen auch noch die Väter hinter sich und mit ihnen den Kult des Seins. Sie sind, wie Nietzsche von der »seienden Seele« sagte, wieder »ins Werden getaucht«. Auch das Licht gehört heute zum Strom des Werdens &endash; der Reißende ist längst dem apollinischen Sein entstürzt. Die mutterlosen und vaterlosen Söhne der Neuen Zeit kennen keinen Bestand mehr.

Das Licht aber erweist sich abermals und nun endgültig dem Nicht verwandt. Vor den tödlichen Augen des Lichtes kann nichts mehr bestehen. Es ist alles fragwürdig geworden vor dem gnadenlosen Licht. Das Gnadenlose des Lichtes aber liegt heute wie von jeher im Willen, daß alles zu Licht werde. In diesem Willen liegt es, daß die Welt immer finsterer wird.

Das, was war, ist verachtet. Das, was ist, ist verhaßt. Nun zählt nur noch das Kommende. Die revolutionären Armeen der Söhne schreiten dem Morgen zu, der den Ewigen Tag eröffnet. Es ist immer noch der alte Väterweg aus der Nacht zum Licht, dessen erster Triumphbogen das Gottesauge Apollon war. Und der revolutionäre Gesang der Söhne: »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!« ist noch immer ein apollinischer Päan.

Doch schon ist auch der Morgen dem Blick des Menschen verhängt. Seine Fahne ist ein Tuch voll Blut, Tränen und Schweiß. Auch der Morgen ist Grauen. Auch mit dem Morgen ist nichts. So ist alles nichts. Die Sintflut des Nichts hat nun alle Standorte des Menschen überschwemmt.

Die noch eben begeistert aufgerissenen Augen erstarren vor den kommenden Schrecken. Der Illuminismus, der in Apollon begann, stirbt in das Todesdunkel, aus dem er aufstieg.

*

Es fehlt Apollon Mnemosyne, die göttliche Erinnerung, die keine Gottwerdung dem Nichts des Vergessens überläßt. In Apollon beginnt das Denken ohne Gedenken und ohne Dank. Das zuletzt nihilistische Denken.

Trat der Mythos jedoch einmal aus der göttlichen Gestalt der Mnemosyne heraus, so war er verloren. Das aber geschah in Apollon. Indem Apollon die Mütter verleugnete, da sich in ihm das Licht selbst genügte &endash; zerstörte er die mythische Welt. Der männliche Geist, der sich in den »Neuen Göttern«, den »Himmlischen«, bekundete, verlor den Sinn des Mythos, Kunde des Unvergeßlichen zu sein. Die Unsterblichen brauchten die Erinnerung nicht mehr, die Feier des Unvergeßlichen der Gottwerdung, Weltwerdung.

Das ist der Grund, warum die Olympischen nicht dauerten. Der Gipfel führte zum Abgrund. Wenn schon die Doppelseitigkeit von Himmel und Erde nicht mehr galt, mußte der Mythos, der wurzelhaft polare, sterben. Mit dem Mythos aber mußten auch die Götter fallen. Die Olympischen mußten dem radikalen Erben weichen, dem nun endlich eindeutigen Logos.

Die Doppelseitigkeit Apollons, die echt mythische, diente der erklärten, ja der fanatischen Einseitigkeit des Logos. Mit dem lichten Pfeil zielte der »Ferntreffer« in das unbekannte metakosmische Geistlicht des Logos &endash; der dunkle tödliche Pfeil aus seinem Köcher aber galt dem Herzen des »schönsten Gottes«, der das All in seinen Polen verbindet und vermählt, galt dem hochzeitlichen Eros.

Mit dem Eros kosmogonos aber fiel die gesamte frühe Welt, die der Großen Mütter und die des titanischen Bundes von Himmel und Erde, ja selbst die Welt des weltordnenden Zeus, des vielzeugenden, und die seines Gegenspielers Prometheus, der in der Liebe der Mütter ein schöpferisches Menschengeschlecht schuf.

*

Mnemosyne weint. Ihre Todfeindin Lethe, das tödliche Vergessen, hat in Apollon gesiegt. Das Unvergeßliche ist in den Händen des großen Vergessers. Erinnerungslos und danklos ist das Todesurteil aus dem Munde Apollons: Was Mütter? Waren die Mütter nicht nur Alpträume? Waren sie nicht nur Ausgeburten der Nacht, der Ausgeburt des Chaos? Was Erde? Was Erdgottheiten? Wie kann göttlich sein, was doch vergänglich ist? Was dem Tod gehört, soll es nicht des Todes sein? Und gehört nicht auch dieser Mensch zur Erde, der von ihr nie loskommt und der nie reines unbedürftiges Licht werden kann, dieser klägliche Mischling? Was Werden? Was für Welten sind denn geworden, als diese Todeswelten entstanden? Ist nicht für diese Schattenwelten der Erde und des Menschen der Strom der Lethe das beste wie für einen Toten?

Mnemosyne weint. Ihre Kinder, die Musen, sind in den Händen dessen, der durch Vergessen mordet. Nun haben sie die Unsterblichen zu preisen. Und nun vergessen die Kinder die eigene Mutter, vergessen die göttliche Erinnerung. Apollon hat ihnen ihren Urberuf genommen, die Kunde des Unvergeßlichen, die Kunde der Gottwerdung, Weltwerdung, Menschwerdung.

 

DRITTES KAPITEL
PALLAS ATHENE &endash; DIE TOCHTER

Die dritte voranweisende Figur

Das Bunte der vielen Götter und Göttinnen gehört untrennbar zur letzten mythischen Welt der Griechen, der olympischen. Aus der panischen Allmutter tritt die archetypische Vielfalt des Göttlichen.

Und doch ist bei allem Reichtum an Gestalt die Grundrichtung auf den Einen und das Eine, die Richtung der Väter, die hernach im Logos durchschlägt, unverkennbar.

Aus der vielgesichtigen Schar sind darum unbedenklich drei Grundfiguren herauszustellen, in denen sich das Wesen der »Neuen Götter«, der »Himmlischen« unverwechselbar bekundet und in denen sich die kommende Welt des Logos mächtig vorausverkündet: Zeus, der Vater, Apollon, der Sohn und Athene, die Tochter.

Es mag reizvoll sein, das seltsame Widerspiel des Beglückenden und Verderblichen der Aphrodite zu erkunden &endash; sie bleibt jedoch eine Macht, die der Gottwerdung keine neuen Akzente setzt: sie bleibt eine die neue männliche Götterwelt ergänzende Kontrastfigur.

Artemis trägt wohl ihre eigensten Züge, ihr Typus ist jedoch derselbe wie der ihres Bruders Apollon.

Athene aber ist eine wirklich andere Erscheinung als Apollon, anderer Herkunft und anderer Art, unentbehrlich für das Bild der »Neuen Götter«, der »Himmlischen«. Und wie Zeus und Apollon trägt Pallas Athene die Zeichen der letzten und höchsten mythischen Zeit &endash; doch auch die Zeichen des kommenden Zeitalters, des Logos-Theos. Diese drei, der Vater, der Lieblingssohn Apollon und die Lieblingstochter Athene, sind die Brücke vom Reich des Mythos zu dem des Logos.

Die pythische Kraft des Mythos ist groß. Der Mythos ist mehr als ein Spiegel, der das Geschehene reflektiert. Er ist auch ein Orakel, das das Kommende voraussagt. Der Mythos umfaßt aller drei Nornen seherische Kraft: er ist Urdr, Verdandi und Skuld, das Sehen des Gewordenen, des Werdenden und des Kommenden. Von seinen griechischen Künderinnen, den Musen, ist dasselbe gesagt:

Künden doch alle Vergangenes, die Gegenwart und doch auch die Zukunft.

Pallas entspringt dem Haupte des Zeus

Der ganze olympische Mythos kündigt das Kommen des Logos an. Schon die Erhebung über die Erde auf die Höhe des Olympos nimmt den Abstand des logischen Geistes von der Erde und der Erdendingen, vom »Bedingten«, voraus. Dann aber erscheint in Zeus, mitten im Sturm der gewalttätigen Errichtung des Neuen Reiches, der bisher ungekannte Sinn der Einsicht, der Besonnenheit, des untrüglichen Rates.

In seinem Sohn Apollon ist der Sturm und Drang des Zeus und seines Gegenspielers Prometheus, der beiden Titaniden verweht. Zum erstenmal erkennt der Mensch den Gott als das reine Licht, das ferne hohe des Himmels &endash; und nimmt so seine Entdeckung des erdfernen himmlischen Denkgottes Logos voraus, der geistigen Sonne des Alls, des alleinigen göttlichen Ursprungs.

Doch keine mythische Symbolik der kommenden Geburt des weltbestimmenden Logos erreicht die der Geburt der Athene aus dem Haupte des Zeus.

Zum erstenmal erscheint das Haupt als Schoß und damit als Ort der Geburt. Der weibliche Schoß ist damit entgottet. Echte Geburt geschieht von nun an aus väterlichem Haupt.

Weniges kommt an dies Geschehen heran, in dem der Mythos verkündet, die Zeit des Schoßes sei vorbei, die Zeit des Hauptes gekommen. Die mythische Kunde von der Geburt der Athene aus dem Haupte des Zeus übersteigt alle erzählerische Freude des Mythos: in ihr ist schon die Lehre &endash; ohne noch Lehre zu sein &endash;, ist schon das Dogma des väterlichen Mannes.

Auf dieses Ereignis baut Apollon in den »Eumeniden« der »Orestie« die (schon berufene) Verteidigung des Orestes:

Des Lebens Ursprung

Entstammt der Mutter nicht. Sie pflegt den Keim,

Den später Kind sie nennt. Es zeugt der Vater...

Ihr wollt Beweis. Nun gut. Seht Pallas an.

Vom Vater stammt sie. Des Olympiers Kind

War nie in eines Mutterschoßes Dunkel.

Gewaltsame Geburt

In jeder Geburt geschieht Gewaltsames, ist doch das Kind groß und die Pforte des Lebens eng. Und manchmal muß wider alles unwillkürliche Wesen des Schoßes dem Kinde gewaltsam ein Ausweg geschaffen werden. Geht es jedoch nach der dem Schoße eigentümlichen Ordnung, so schafft er selber das Kind an das Licht, in dem er in Wehen gerät, in rhythmische Erregungen, die der Mutter unerträgliche Schmerzen zumuten, das Unmögliche aber zum immer erstaunenden Ereignis werden zu lassen.

Es ist dagegen für die Geburt des männlichen Geistes symbolisch, daß er in der mythischen Vorausnahme durch gewaltsame Geburt in Erscheinung tritt.

Schon in Prometheus wird das Gewalttätige im Kommen des Logos vorausgenommen. Die Aneignung des Lichtes, das die Götter sich selber vorbehalten, geschieht durch einen Frevel. Nietzsche sah in Prometheus den dem Volk der Griechen eigentümlichen Mythos des Sündenfalls. Nicht Eva greift nach dem Apfel. Ein verwegener männlicher Gott-Held vermißt sich, göttliches Licht dem Menschen zu bringen.

Zur eigentlichen Symbolik der gewaltsamen Geburt des Logos kommt es jedoch erst im Mythos von der Geburt der Athene aus dem Haupte des Zeus. Für diese unnatürliche Geburt muß Hephaistos mit dem Doppelhammer die Stirne des Zeus entzweispalten. Die Symbolik dieses Bildes ist von erregender Schlagkraft. Der Mythos ist unfehlbar in seiner seismographischen Empfänglichkeit.

Und es wird denn auch kein Kind geboren mit seinem Wehgeschrei, den bergenden Schoß der Mutter verlassen zu müssen. Pallas Athene springt gewappnet mit einem gellenden Kampfruf aus dem Haupte des Zeus. So wie sie in ihrem Tempel, in der Akropolis, verehrt wird, in schimmernder Rüstung,

helm-, schild-, lanzebewehrt &endash; so ist Athene geboren worden.

Kriegerischer Geist

Hesiod sagt in der »Theogonie« von der Geburt der kriegerischen Tochter des Zeus:

Zeus selbst gebar aus dem Haupte die eulenäugige Tritogeneia, Kampferregend, heereanführend, die Göttin, nimmer besiegbar, Herrin, der tosender Lärm und Kriege und Schlachten gefallen.

Die Vorzeit des kriegerischen Mannes ist wiedergekehrt, doch nun in anderer Zeit, gegründet auf das höhere Fundament, das männliche des bewußten Geistes. Die friedewilligen Großen Mütter sind in das Unverwandte überschritten.

Das Kind der Mütter wird wehrlos, hilfsbedürftig und ohnmächtig geboren &endash; ein Zeichen der Mütter. Ein Zeichen der siegreichen Väter aber ist, daß die beiden Lieblingskinder des Zeus wie der Vater mächtig bewehrt sind.

Apollon trägt neben der geliebten Leier den nicht minder geliebten Bogen. So gewaltig erscheint er, wenn er mit dem gespannten Bogen die Versammlung der Götter betritt, daß diese, wie bei seiner ersten Erscheinung, von ihren Sitzen springen. Leto, die mondmilde Mutter, beruhigt die Götter, indem sie leise den Bogen Apollons entspannt.

Pallas Athene aber übertrifft darin Apollon, daß sie wie der Vater ganz Wehr ist. Es ist nichts Musisches an ihr &endash; alles Waffe. Das ist das Seltsame, Erstaunliche an Pallas, ist sie doch Weib. Was bei Apollon natürlich ist, ist bei Athene wider die Natur. Eine andere als die weiblich-mütterliche Natur kommt auf bei den männermordenden Amazonen, doch auch bei den zur Männerwelt gehörenden Vater-Töchtern. Darin besteht eine Gleichung mit Artemis, der jagenden Göttin. Doch die beiden Töchter des Zeus sind sonsthin von unverwechselbarer Art. Sie stammen von urverschiedenen Müttern. Und Athene ist ungleich mehr Vaterstochter als Artemis, die Letoide. Artemis gehört der Jagd, denn sie gehört der Wildnis &endash; Athene aber gehört zum Krieg der Männer. Im Kampf um Troja ist Pallas leidenschaftlicher als irgendein männlicher Gott beteiligt.

In all dem gleicht Athene dem Vater. Sie trägt auch seine Aigis, den Schild, mit dem er Sturm erregt. Aigisschüttelnd sind beide, der Vater und die Tochter. Und beide tragen in der Aigis das Gorgoneion, das schreckende schlangenumzüngelte Gorgonenhaupt. Das magische Schreckbild wird für die Tochter noch eigentümlicher als für den Vater. Apollon ist Licht und Tod &endash; Athene aber Geist und Tod. Beide vereinigen die höchste Helligkeit mit der Waffe der Finsternis. Die Nacht ist drohende Waffe geworden. Die Gorgo Medusa ist das Unheimliche, Furchterregende des Mondgesichtes. So entschieden der Mythos den Himmelsweg geht, so mächtig polar bleibt er in den beiden lichtesten Göttern. Apollon als Sohn der mondsilbernen Leto versendet silberne Pfeile. Athene wirft Blitze wie ihr Vater. Die Lanze ist ihr Blitz. Wie der Blitz das finstere Gewölk zerteilt und sein Ziel anspringt &endash; so die Lanze der Pallas.

Apollon läßt den Vater Zeus weit zurück im Gewinn entrückter göttlicher Höhe. Ungebrochen aber erscheint Zeus der Vater in Athene der Tochter. Der Vater verbindet Gewalt und Recht, die Erbschaft von Kronos und Themis. Er verbindet auch Macht und Einsicht, die Erbschaft von Kronos und Metis. Die Tochter verbindet den Klugen Geist und die kriegerische Leidenschaft, die Erbschaft der Mutter Metis und des Vaters Zeus. Diese Verbindung stellt Athene hoch über Ares, den eigentlichen Kriegsgott. Ares ist der Geist des Krieges &endash; Athene der Krieg des Geistes.

Apollon gelobt sich bei seiner Geburt, den Menschen den untrüglichen Ratschluß des Zeus zu verkünden. Der Schlachtruf, den Athene bei ihrer Geburt ausstößt, ist der der »Neuen Götter«, der »Himmlischen«. In all ihrer Verschiedenheit stehen Apollon und Athene in gemeinsamer Front. Das bezeugt ihr gemeinsames Eintreten für den, der seinen Vater gerächt mit dem Morde an der Mutter: Orest.

In der Geburt der Athene sagt der Mythos mit gewaltiger Sprache, daß der Geist im Abendland als Krieger geboren, sein Geburtsschrei ein Schlachtruf, sein Werk ein fortwährender Krieg sei.

Kein Wunder, daß Athene die Schutzgöttin Athens war, denn von dort nahm der Krieg des Geistes um seiner Herrschaft willen den Ausgang.

Die Mutterlose &endash; die Tochter der Metis

Athene wird im Prozeß um Orest von Apollon als die Mutterlose gefeiert, die »nie in eines Mutterschoßes Dunkel war«. Der uralt-heilige Ort, die mütterliche Quelle des Lebens, ist im apollinischen Reich verfemt.

Apollon aber verschweigt in seiner Verteidigungsrede, daß Pallas Athene dennoch einer Mutter Kind ist.

Denn soweit auch der Mythos geht, die Geburt des Logos anzuzeigen, die reine Geburt aus dem Haupte, die Geburt des Lichtes aus dem Licht &endash; soweit geht er nicht, die mütterliche Herkunft überhaupt zu verrufen.

Athene wurde nicht aus einer Mutter Schoß geboren und doch ist sie kein mutterloses Kind. Zeus hatte Metis, eine Titanide, die Tochter des Okeanos, sich zu seinem ersten Weibe genommen. Doch es war Zeus geweissagt worden, daß Metis ihm unvergleichlich kluge Kinder gebären werde, die seinen Thron in Frage stellen würde. Es plagt Zeus also dieselbe Sorge wie seinen Vater Kronos, die Sorge aller Herrschenden, vom neuen jüngeren Geschlecht überholt zu werden. Zeus aber läßt es nicht soweit kommen wie sein Vater Kronos. Er verschlingt nicht mehr die Kinder, er verschlingt die Mutter, bevor sie ihre Kinder geboren hat. Ein Zeichen, daß das Tabu der Mütter gebrochen ist.

Doch auch Zeus kann dem Schicksal nicht entgehen. Athene ist dennoch, auch wenn sie nicht aus dem Schoße der Metis geboren wird, ihrer Mutter Kind, deren Name der des »Klugen Geistes« ist.

Der Kluge Geist

Erbt Athene vom Vater Zeus den kriegerischen Geist, so ist sie von ihrer Mutter her mit der urgriechischen Gabe des Klugen Geistes begabt. Hesiod nennt Metis, die Mutter, in seiner berühmten Erzählung in der »Theogonie« die »klügste unter den Göttern«.

Der Kluge Geist ist nie vom Kriegerischen Geist der Pallas abzulösen. Athene ist so wenig ein Hermes wie ein Ares. Höheres Geheimnis ganzer Natur umgibt sie. Sie steht über beiden allzu absonderlichen Göttern. Sie führt geistig Krieg und lebt kriegerisch Geist. List ist ihr vertraut, doch sie ist bei ihr niemals Selbstzweck wie bei dem Gott der Schlauen.

Unter den göttlichen Helden ist Odysseus, der mit Klugheit kämpfende, Athene am verwandtesten. Homer nennt Odysseus ((polymçtis)), den Vielklugen. Und wie Homer den Odysseus, so nennt der 28. Homerische Hymnos die Athene. Die Bedeutung des Odysseus als Symbolfigur des griechischen, ja des europäischen vielklugen Helden ist unüberschätzbar. In Odysseus siegt selbst im Heldischen noch der Kluge Geist. Ein Zeichen der abendländischen Bestimmung zur rationalen Eroberung der Welt &endash; das Zeichen unseres Sieges, doch auch unserer fatalen Niederlage. Der Kluge Held wird in christlicher Zeit abgelöst vom Heiligen Helden &endash; um in der abenteuerlichen Neuen Zeit der Söhne durch den Geist des angelsächsischen Westens wieder und nun bis zur Ausschließlichkeit herauszutreten. Im griechischen Raum hatte der Kluge Held Odysseus seinen an Strahlung ebenbürtigen, wenn nicht überlegenen Kontrapunkt im Heldischen Helden Achilleus.

Der Held Odysseus und die Göttin Athene sind denn auch untrennbar miteinander verbunden. Pallas beschützt den weithin Verschlagenen, Vielverlorenen mit ihrer unaufhörlich bedachten, hilfesinnenden Nähe.

Im dreizehnten Gesang der Odyssee, als endlich der Strand der Heimat Ithaka wieder erreicht ist, doch noch einmal eine Verwirrung unter Göttern und Menschen entsteht, da redet Athene den Odysseus wie niemals zuvor persönlich nahe in eigener Gestalt an, damit ihm endlich die glückliche Heimkehr gelinge:

... es lächelte drob die hellhäutige Göttin Athene,

Streichelte ihn mit der Hand und glich mit eins einem Weibe,

Schön und hoher Gestalt und kundig glänzender Werke.

Und sie begann zu ihm und sprach die geflügelten Worte:

Klug und verschlagen traun, wer dir es wollte zuvortun

An vielfältiger List und käm auch einer der Götter!

Schlimmer, Überlistiger du, nie satt deiner Ränke,

Läßt du also im eigenen Land nicht von der Verstellung

Und den trügenden Reden, die dich schon als Knaben erfreuten?

Aber laß uns hievon nicht weiter reden; wir kennen

Beide die Kunst; du bist von allen Menschen der erste

An Verstand und Reden, und ich bin unter den Göttern

Allen berühmt durch Rat und List ...

Niemals hätte Apollon in solch intimer Nähe mit einem Sterblichen gesprochen und ihn mit sich verglichen. In diesen Versen ist Athene ganz weiblich. Die Erbschaft der Großen Mütter ist lebendig, wenn auch gewandelt. Nicht um Kinder kümmert sich die Klaräugige &endash; sie sorgt sich um Helden, sorgt sich um ihrer Helden. Wie sie listig die ihr fremden Helden zu Fall bringt, so schützt sie mit unübertrefflicher Klugheit ihre Freunde. Es schlägt ein echtes weibliches Herz unter dem Panzer ihrer Brust. Mag alles verloren sein, Athene weiß einen Ausweg.

Platon schreibt Athene ((»niys kai dianoia«)) zu. Doch er bezeugt damit nur seine Mythenferne in der Besessenheit vom eigenen, dem logischen Geiste. Athene besitzt weder »Geist noch Erkenntnis« im Sinne des Logos &endash; aber blitzgleich wie ihr Vater und vielwendig wie ihre Mutter ist sie allen Situationen gerecht, den sich immer wandelnden. Ihre Mutter ist eine Okeanide, weswegen sie Tritogeneia genannt wird, dem Reich der Tritonen entstammend. So aber ist ihr Geist das genaue Gegenteil zum platonisch-unwandelbaren.

Athene besitzt ihrer Mutter Klugen Geist, den immer existentialen. Sie ist denn auch der Vorbote des Klugen Geistes von Athen, der über die Götter siegte und die Weissagung vom Untergang des Zeus durch das klügere Kind der Metis dennoch zur Erfüllung brachte. Auch darin bleibt die Mythe unfehlbar. Die sophistische Welle Athens hat die Götter hinweggespült. Die Aufklärung geht von den letzten Göttern, den Olympischen aus, zugleich aber ist sie deren Grab. Klugheit hat noch nie die numinose Luft, in der das Göttliche lebt, zu erhalten vermocht. Wo der Kluge Geist zu herrschen beginnt, weichen die Götter. Das gilt für den Gott der Juden wie für die Götter der Griechen.

Der Kluge Geist der Athene aber nimmt noch mehr voraus: er ist der Vorbote des pragmatischen Geistes, der jetzt seine Herrschaft über die ganze Erde ausbreitet. Denn ein Zeichen der weiblich-existentialen Klugheit ist der berühmte Sinn der Athene für praktische Arbeit. Ein geläufiger Beiname der Athene ((»ç erganç«)) bezeugt sie als die Wirkende, Werkende, die Schaffende, Arbeitende. Ihre Kunstfertigkeit hat keinen musischen Charakter, sie ist durchaus zweckbestimmt, wenn sie auch über die Werke der häuslich-mütterlichen Frau hinausgeht. Athene kennt Spindel und Rocken der Mütter. Doch eigentümlicher ist für sie das Winkelmaß. Die Arbeit der Männer erregt sie wie deren Krieg. Schon ein antiker Dichter nennt Athene ((ç technç)) (Techne).

Athene kennt weder den musischen noch den Geist der Reinen Erkenntnis. Für den absichtslosen, den geistvollen Geist ist Apollon die mythische Figur. Wir sind heute brückenlos weit entfernt von der größeren Gestalt Apollons &endash; wir leben im geschäftigen, zur praktischen Tat begierigen Klugen Geist der Athene. Athen, das Vielgeschäftige, ist wie das Vielredende die Ewige Moderne.

Lange galt, über Jahrtausende, der echte Geist der Erkenntnis, der apollinisch reine. Lange galt die Erkenntnis um der Erkenntnis willen. Die Erkenntnis ohne Wozu, ohne praktische Abzielung. So lange dauerte der Geist, solange er Herr war wie Apollon. Der Geist, der jetzt von den Klugen zum Diener gemacht wird, ist nicht mehr Geist. Es ist die heilige Verlorenheit Apollons, in die der Geist heute zurücktritt.

Die Geburt der Athene erschüttert das All

Als die Geburt der Athene geschieht, der Hammerschlag des Hephaistos erdröhnt und der Schlachtruf der kriegerischen Jungfrau alles durchdringt &endash; erzittert das All, geschreckt von den Vorahnungen, daß der Krieg des Geistes die natürliche Welt aus den Fugen heben werde.

Schon bei der Geburt Apollons geschieht Außerordentliches: Leto muß umherirren von Ort zu Ort, da keiner sich zur Geburt hergeben will, vorausspürend den Großen Verächter der Erde. Doch erst bei der Geburt der Athene gerät das All in eine nie gekannte Erregung: die kosmische Welt erleidet das Kommen des Geistes, von dem sie unwiderstehlich überschritten wird. Die Untrüglichkeit des Mythos erweist sich darin abermals.

Die Kunde von dieser Allerregung ist vielerzählt. Pindar preist in der siebenten Olympischen Ode Lindos auf Rhodos, die frühe Kultstätte der Athene, als den Ort ihrer Geburt:

Wo einst der mächtige, der König der Götter,

Die Stadt mit goldenen Flocken beschenkt;

Damals als Hephaistos Kunst mit ehernem Beile

Dem Vater die Stirne aufschlug. Da fuhr Athena heraus,

Und es wollt lang nicht verhallen ihr Schlachtruf,

So daß der Himmel sich entsetzte und die Mutter Erde.

In der achtundzwanzigsten homerischen Hymne, die Athene geweiht ist,

erschraken ob ihrer Erscheinung alle Götter ... der große Olympos erzitterte unter der Gewalt der Eulenäugigen; im Umkreis erdröhnte die Erde, und es erregte sich das Meer im Aufruhr purpurdunkler Fluten, die See trat über die Ufer. Und lange Zeit ließ der herrliche Sohn des Hyperion die schnellfüßigen Sonnenpferde stillestehen, bis endlich Pallas Athene, die Tochter, die göttliche Rüstung von ihren unsterblichen Schultern nahm.

 

KLEINES NACHWORT

Das vorliegende Buch endet mit der Geburt der Athene aus dem Haupte des Zeus, in der das All in Aufruhr gerät. Mit der Höhe der »Neuen Götter«, der »Himmlischen«, ist die Brücke gewonnen für das andere Ufer, dem metakosmischen Raum des Reinen Geistlichtes, des letzten griechischen Gottes, des Logos-Theos. Ein neues Drama beginnt und eine neue Tragödie. Eine göttliche Erhebung geschieht und eine satanische Überhebung. Die Überhebung des Logos zum alleingöttlichen Gott-Geist ist mythisch mit dem Namen Luzifers benannt, des obersten und schönsten der Engel, der in seiner Hybris als Lichtträger sich an Gottes Stelle setzt. Luzifer ist der böse Genius aller Aufklärung, der antiken und mittelalterlichen wie der neuzeitlichen, der väterlichen wie der sohnlichen. Sein Illuminismus, vor dessen Gewalttätigkeit der apollinische in das Vornehme zurücktritt, bestimmt die abendländische Geistigkeit. Heute triumphiert er im Sieg er menschlich-unmenschlichen Technokratie. Der zweite Band:

 

DER STURZ LUZIFERS
DIE WELTREVOLUTION DES LOGISCHEN GEISTES

enthält des verwegene »Abenteuer der Vernunft« (Kant). Die Methode des Gesamtwerkes geht jedoch auf das Positive auch des logischen Geistes. Die Weiß-Schwarz-Malerei des Logos wird überwunden, gerade damit aber erreicht, daß der logische Geist über seine heutige Krise hinaus mächtig bleibt. Die heute notwendige Wendung geht nicht zurück, sondern vorwärts zu einer Metalogik des integralen Geistes.

Der dritte Band geht von der anderen Seite unserer Herkunft und Bestimmung aus. Es mußte zur faustischen Wendung vom logischen zum Geist magisch-schöpferischer Wirksamkeit kommen, um unser Zeitalter der rasenden Tätigkeit hervorzubringen. Innerhalb der logischen Welt der Wechsel von der Magie Gottes des Schöpfers zur sohnlich-eigenmächtigen Demiurgie des Menschen. Diese Demiurgie hat praktisch im Leben des Menschen gesiegt &endash; nun geht sie, sich überstürzend, daran, das Weltall zu erobern. Eines kann die Neue Magie der Technik schon jetzt: die Erde verwandeln, auch verwüsten &endash; sie vermag sie jedoch, wenn es sein muß, zu zerstören. Im Titel des dritten Bandes:

 

DER WEISSE FAUST
GRÖSSE UND GRENZE DER MENSCHLICHEN DEMIURGIE

ist der ursprüngliche Impuls der sohnlichen Weltverwandlung genannt wie ihre tödliche Bedrohung des Menschen.

Das abschließende Werk geht der heutigen Weltwende auf den Grund der tiefer liegt als die Zeit. Das gesamte Werk ist keine der jetzt beliebten Zeitdiagnosen, die weithin die Frage nach der Wahrheit, der Enthüllung des urbildlichen Gesichtes eines Aions, verdrängt, in dem nicht nur zeitliche, in dem eine überzeitliche Geschichte geschieht. Der Aion der Söhne geht auf den »Sohn« zurück, das Zentrum der christlichen Urgeschichte. Das Urbild des »Sohnes« rückt zum erstenmal in die Mitte der existentialen Geschichte. Die gott-menschliche Sohnsfigur war bisher jedoch verhüllt durch das paternale Christentum. Die Väter reduzierten in der Maya ihrer Selbstverblendung den »Sohn« zum Gesandten, der den Menschen in das Reich des Vaters zurückzuführen hatte. Die Wendung vom Alten Testament zum Neuen wurde niemals geschichtlich-existential. So aber schlug der übermächtige sohnliche Impuls um in das revolutionäre Antichristentum. Diese fatale Wendung der christlichen Heilsgeschichte kann auf beiden Seiten, der christlichen wie der antichristlichen, nur durch die entschiedene Wendung zum echten sohnlichen Geist überwunden werden. Das ist der Inhalt des letzten Bandes:


DIE GEBURT DES SOHNES
GRUND ZU CHRIST UND ANTICHRIST

Es mag noch bemerkt werden, daß diese Werke nicht nur geplant, sondern geschrieben sind, und daß jedes von ihnen in sich geschlossen ist.

*

Es darf aber kein Buch des Gedenkens und des Dankes sein, das nicht auch der Helfer gedenkt und ihnen Dank weiß für die Geduld mit der sie das Werk durch all die vielen Hindernisse hindurch mitgetragen haben.

Da sind einmal treue Freunde zu nennen, die große, ja selbst über ihre Kräfte gehende Opfer brachten: im besonderen Prof. Dr. Gustav Eichelberg, Zürich; Dr. med. Hans Müller, Lenzburg; Prof. Dr. Arnold Wolfers, New Haven, USA.

Ich ermangelte jedoch auch nicht der Hilfe von staatlicher Seite und von Stiftungen. So verdanke ich dem Bund, dem Kanton Zürich und der Heimatgemeinde Rütli einen Werkzuschuß für meinen »Prometheus«, der leider unverlegt blieb. Vom Kanton Zürich erhielt ich einen Preis als Anerkennung des gesamten Werkes. Für den Abschluß des ebenfalls nicht zur Herausgabe gelangten Goethe-Werkes bedachte mich die Schweizerische Schiller-Stiftung mit einer Prämie, die ich der steten Bemühung meines Freundes Prof. Dr. Robert Faesi verdanke. Auf besonders großzügige Weise stand mir die Goethe-Stiftung Emil Bührles für Kunst und Wissenschaft bei, deren Sekretär, Dr. Hans Zbinden, Bern, der Präsident des Schweizerischen Schriftsteller-Vereins, mir ein besorgter Freund wurde. Ich habe da viel zu danken und tue es gern.

Daß trotz all dieser Hilfe unser Leben, das meiner treuen Helferin, meiner Frau, wie das meinige dauernd im Unsicheren und Prekären der Existenz stand, das nehmen wir gerne auf uns, da es wohl zu Beruf und Berufung gehört.

Doch noch ist der Kreis des Dankes nicht geschlossen. Die Herausgabe dieses Werkes habe ich außer meinem Verleger Dr. Lambert Schneider der freundschaftlichen Bemühung von Dr. Paul Collmer und Friedrich Vorwerk in Verbindung mit Dr. Wilhelm Kimmich von der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart zu verdanken, die sich auch für die Herausgabe der folgenden Bände dieser Werkreihe einsetzen wollen.

San Giorgio, Losone, Tessin, Schweiz

Julius Schmidhauser