DIE ORDNUNG DES INTELLEKTES
1. DIE ANSCHAULICHE UND DIE GEDACHTE WELT
Die Philosophie - wenn sie wieder einmal eine Sprache haben will -
hat es nicht in der Hand, ihre Fachausdrücke beliebig zu
wählen, sondern sie ist darauf angewiesen, was die Natur ihr
sagt; sie darf sich nichts aus den Fingern saugen. Da ist es denn der
Mißbrauch der Worte »Verstand« und
»Vernunft« vor allem und deren wechselseitige Vertauschung,
die es immer wieder verhindern, daß ein Weltbild zustande
kommt. Es ist Schopenhauers unvergängliches Verdienst, hier
Ordnung geschaffen, mindestens aber angebahnt zu haben. Er hatte ein
Auge für die Natur, das Kant fehlte, und darum sah er sie
besser. Zunächst wenigsten; sein späteres Versagen stammt
daher, daß er nicht verstehen wollte, was »transzendentale
Logik« heißt. Schopenhauer nun bemerkte, was die
Philosophie bisher übersehen hatte, daß die
Erscheinungswelt sich mir in zwei deutlich geschiedenen Arten
darbietet, nämlich als angeschaute und als gedachte Welt. Das
heißt, ich kann mich einem verwickelten Gedankengang über
irgendein Thema hingeben; gleichzeitig aber bleibt die Welt der
Anschauung vor meinen offnen Augen in unberührbarer
Vollständigkeit erhalten. Auch wenn ich ein Buch lese und von
dessen Gedankengängen eingenommen bin, so bleibt zu gleicher
Zeit das Buch selbst, seine Schriftzeichen, ferner die Umgebung, der
Tisch, die Blumenvase, die Bilder und die weiter Tiefe des Zimmers
ohne jede Einschränkung als anschauliche Welt in meinem
Bewußtsein, nur freilich mehr oder minder abgeblaßt, weil
mein Intellekt sich gerade eben nicht mit ihr, sondern mit dem
Gedankengehalt des Buches beschäftigt. Und dabei ist jene
anschauliche Welt keineswegs etwa bloß Sinnesempfindung,
sondern verstandene Welt. - Daß nun jener Denkvorgang
intellektuell ist, versteht sich von selbst, daß es aber die
anschauliche Welt auch ist, wenigstens zum entscheidenden Teile, das
ist bestritten worden und bedurfte des Beweises.
Den aber hat schon das Altertum erbracht. Und zwar geschah es durch
ein paar Worte des Sokrates im Gespräche mit Theätet.
Dieser nämlich hatte die Behauptung aufgestellt, Erkenntnis sei
Sinnesempfindung ((aisthsis)), und SOKRATES hat das in seiner
ironischen Art gelobt, dann aber gleich die Gegenfrage gestellt, die
den Satz zu Fall bringt: »Sollen wir also sagen: ehe wir die
Sprache der Barbaren erlernt hätten, hörten wir nicht, was
sie sprächen, oder hörten wir und verstünden auch, was
sie sagten ...?« Aber es kommt noch schlimmer: »Gibt es so
etwas wie Erinnerung ? - doch ohne Zweifel: ja. Also dessen, was man
gesehen hat, erinnert man sich doch manchmal ... nicht? - Und auch,
wenn man die Augen zumacht - oder hat man es dann vergessen
...?«*
Mehr zu sagen ist durchaus nicht nötig, um die gesamte
sensualistische These zum Einsturz zu bringen. Sokrates meint also:
die Tatsache, daß es Erinnerung gibt, beweist, daß in
einem gesehenen Gegenstande außer dem Sinneseindruck noch ein
anderes Element enthalten sein muß, das uns nicht durch die
Sinne geliefert wird; denn sonst müßte es aufhören,
wenn der Sinneseindruck erlischt. Dieses andere Element aber liefern
wir, und es heißt nouw oder Verstand. So war das Altertum in
vollem Besitze des Beweises für die Intellektualität der
Anschauung und damit dafür, daß die Natur nicht mehr auf
der Straße liegt. Das Subjekt ist an ihr beteiligt und dadurch
wird sie Erscheinung. Schopenhauer zitiert EPICHARM: »Der
Verstand sieht und der Verstand hört - das andere ist blind und
taub.« Das ist genau Kants Satz von der Blindheit der Anschauung
»ohne Begriffe«.
Die Natur selber aber betont diesen Tatbestand, indem sie ihm einen
Abdruck in der Materie verleiht; das heißt, die
Gehirnphysiologie lehrt die deutliche Trennung des Zentrums der
Empfindung von dem des Intellekts. Schopenhauer zitiert den
französischen Physiologen FLOURENS, welcher schreibt: »Il
faut faire une grande distinction entre les sens et
líintelligence. Líablation díun tubercule
détermine la perte de la sensation ... líablation
díun lobe cérébral laisse la sensation...elle ne
détruit que la perception seule...La sensibilité
níest donc pas líintelligence, penser níest pas
sentir« (SCHOPENHAUER, »Satz vom Grunde«, § 21,
Griesebach). Also: die Empfindung hat ihre besondere Stelle im Gehirn
und der Intellekt auch; und nur aus dem Zusammenwirken dieser beiden
entsteht die anschauliche, verstandene Welt. Wenn also jemand ein
Buch schreibt, das etwa lautet: Ȇber den Ursprung unserer
Erkenntnis aus den Sinnesempfindungen«, so kann man es - so dick
es auch sein möge - getrost beiseite legen; denn der Autor kann
sein Wort doch nicht halten. Der grünende Baum, den ich vor mir
sehe, ist ebenso, nicht mehr und nicht weniger, durch die
Sinnesempfindungen bestimmt, die ihn füllen, wie durch den
Intellekt, der ihn versteht. Die wenigen Worte die Sokrates an
Theätet haben bereits alles entschieden.
Wenn die Natur einen von der Philosophie entdeckten Tatbestand in der
Materie unterstreicht, so ist das ein Zeichen dafür, daß
es ihr Ernst damit ist. Die Philosophie hat ihre Unterscheidung von
Sinnesempfindungen und Intellekt nicht ins Blaue hinein fabuliert,
sondern sie hat einen Naturbefund aufgedeckt, der so und nicht anders
angeredet werden muß. Es geht aber noch weiter: die Natur
betont nicht nur den Unterschied von Sinnlichkeit und Intellekt,
sondern auch den von Verstand und Vernunft, und sie hat die gleichen
materiellen Mittel angewandt, um ihn zu sichern. Die Philosophie aber
hat bisher im Unsichern getappt, und die Unterscheidung, die ebenso
sicher im Gehirn manifestiert ist, nicht mit Klarheit vollzogen. (Wir
bringen den Beweis an späterer Stelle). Der einzige, der es
überzeugend tat, war Arthur Schopenhauer.
Es hat seinen Sinn, daß die anschauliche Welt, deren
subjektives Korrelat im Intellekt der Verstand ist, erhalten bleibt,
während sich die Denkakte der begrifflichen Welt, die von der
Vernunft vollzogen werden, abspielen; denn die anschauliche Welt ist
die bessere, mindestens aber das Symbol für etwas, das man so
nennen kann. Sie ist stets unmittelbar und unschuldig, sie ist die
Quelle und der Boden aller freudigen Erregung und damit der bildenden
Kunst, sowie der Dichtung, ja, sie behauptet ihren unverlierbaren
Platz in der Religion und verwahrt sich stets und mit Sicherheit
gegen verstiegene Anmaßungen der Wissenschaft. Die gedachte
Welt der Vernunft wird durch alle Kasus der Grammatik durchgehechelt;
die anschauliche steht immer im vollen Nominativ da. Die Vernunft ist
stets »diskursiv«, das heißt
»davonlaufend«; der Verstand stets intuitiv, das
heißt »im Anblick verstehend«. Wir wollen aber im
übrigen dieses Wort vermeiden, nicht nur wegen seiner
Häßlichkeit, sondern wegen des Mißbrauches, den man
mit ihm trieb; denn man verstand darunter »höhere«
Einsichten, und es kam zu einem unlegitimierten Intuitiefsinn. Der
Verstand aber ist von erhabener Nüchternheit und konstitutiv; er
ist am Bau der anschaulichen Welt als dessen intellektueller Faktor
beteiligt.
Unter der anschaulichen Welt verstehe ich das, was vor mir liegt,
wenn ich die Augen aufmache; aber auch, was ich höre, taste,
schmecke und rieche, gehört dazu, und es ist nur der offenbare
Vorrang des Auges vor allen anderen Sinnesorganen, der die Sprache
dazu gebracht hat, hier ganz richtig das Wort »Anschauung«
zu bilden. Diese anschauliche Welt darf ich nicht »meine
Vorstellung« nennen; denn Vorstellung ist das, was
übrigbleibt, wenn ich die Augen schließe. Der
gewöhnliche Sprachgebrauch behält hier recht und geht auf
die Irreführung nicht ein, die Anschauung und Vorstellung in
eines setzt. Die Vorstellung ist ein reproduktiver Akt, der einsetzt,
wenn der Zustrom der Sinnlichkeit versiegt ist; sie entsteht durch
die Einbildungskraft und ist stets durch die Tätigkeit der
Phantasie gefährdet. Phantasie aber gibt es in drei Arten: die
pseudologische, die künstlerische und die exakte, Goethes
berühmter Begriff, nach dem er lebte und dachte. Die
anschauliche Welt aber ist das alles nicht, sondern sie ist stets
rein objektiv; sie trägt das unverletzbare Siegel der
verbürgten Realität in des Wortes engster Bedeutung. Wohl
aber ist sie »Erscheinung«, wodurch nichts von ihrer
Realität fortgenommen wird - abgesehen von den Vorstellungen,
die der naive Realismus von der Realität hat. Ein vorgestelltes
Pferd also unterscheidet sich von einem gesehenen dadurch, daß
ihm keine Materie zugrunde liegt - wobei der transzendentale
Charakter der Materie vorläufig noch ungeklärt bleibt; es
gehört der bloßen Vorstellungswelt an, die ihren Inhalt
aus der anschaulichen geliehen hat. Das gesehene Pferd aber ist das
wirkliche der anschaulichen Welt. Die eingreifende Phantasie aber
kann in ihrer pseudologischen Phase etwa ein goldenes Pferd machen,
in der künstlerischen den Pegasus oder den Kentauren und den
»Turm der blauen Pferde«, während die exakte Phantasie
etwa die Entwicklungsgeschichte des Pferdes aus einem vierzehigen
kleinen Waldtier bis zum einhufigen Steppenbewohner sieht. Hierbei
aber springt bereits ein drittes ein, das gedachte Pferd oder sein
Begriff, ohne welchen es keine Wissenschaft gibt.
Damit aber ist das Gebiet der anschaulichen Welt bereits verlassen,
und man ist in die gedachte eingetreten, deren Basis die Vernunft
ist. Die gedachte Welt besteht nur aus Begriffen, empirischen und
reinen, die durch das Band der Logik zusammengehalten werden. Es ist
falsch und irreführend, wenn SCHOPENHAUER die empirischen
Begriffe »Vorstellungen von Vorstellungen« nennt; denn
gerade das ist ihr Merkmal, daß sie den Ballast der
Sinnlichkeit abgeworfen haben, von der die anschauliche Welt
durchtränkt ist. Zwischen ihnen und der Anschauung liegt der
entscheidende, sich übergangslos abspielende Akt der
Abstraktion. Alle Begriffe sind abstrakt; die Vernunft hat aus der
Anschauung deren intellektuellen Bestandteil allein herausgezogen
(abstrahere), was ohne jeden Rest vor sich geht, und hat hierdurch
die Möglichkeit geschaffen, über einen Gegenstand zu
denken. Die Unterscheidung zwischen »abstrakten« und
»konkreten« Begriffen muß also anders vorgenommen
werden als das gewöhnlich geschieht. »Konkret« ist ein
Begriff solange noch, als er mit seinem Gegenstande zusammengewachsen
ist; das aber gibt es nur in der anschaulichen Welt, will sagen im
Verstande. Im gesehenen Pferde steckt der Begriff »Pferd«
konkret, im gedachten Pferde, dem Gegenstande der Vernunft und der
Wissenschaft, ist er abstrahiert oder herausgezogen, wobei ihm dann
im »diskursiven« Denken Gelegenheit gegeben wird,
»davonzulaufen«. Das geschieht bekanntlich manchmal so
weit, daß ein Zurückfinden zur Welt der Anschauung in
Frage gestellt wird. Aber auch die Idee des Pferdes ist ein
Angehöriger der anschaulichen Welt, niemals aber der gedachten.
Nur ist der intellektuelle Faktor bei ihr eben der Verstandesanteil
der anschaulichen Welt, nicht aber die Vernunft, und man kann an
dieser Stelle wieder einmal deutlich sehen, wie nötig es ist,
beides zu trennen. Von hier aus wäre vielleicht auch PLATONS
»Erschauen« der Ideen zu retten.
Anstelle der Sinnlichkeit nun, die im Momente der Abstraktion
abgeworfen wird, tritt sofort als Füllung für das
entstandene Vakuum die Sprache. Denken ist immer mit Sprache
verbunden, ganz gleich, ob ich zum andern rede oder zu mir selbst.
Die Verbindung des Denkens mit der Sprache ist aber keine ontische,
so daß man sagen könnte: Sprache ist die akustische Seite
des Denkens; denn dann gäbe es nur eine Sprache, und diese
wäre mit dem Denken im Einklang. Es ist also nicht so, wie bei
der Beziehung von Wille und Materie, wo das zweite die
Außenseite des ersten ist. Sondern Sprache und Denken leben in
Symbiose miteinander, und zwar in einer unauflösbaren. Beide
Elemente aber haben durchaus verschiedene Herkunftswege; sie stammen
beide von den Dingen. Die Sprache vom Zauberwort, das ganz dicht an
den Dingen anliegt und, wie ich vermute, akustisch das ist, was
optisch das empirische »Schema« in Kants Sinne. Die
Begriffe aber stammen von den Archetypen der Dinge. Kein Wunder also,
daß diese tiefe und seltsame Verknüpfung einen so
aufrührenden Schauder über den Denkprozeß wirft; man
müßte eigentlich großen Respekt vor ihr haben.
Es ist auch eine ganz falsche und herabwürdigende Auffassung
Schopenhauers und einiger der Psychologie verfallener Denker, die
vorgebliche »Entstehung« der empirischen Begriffe durch
»Weglassen unwesentlicher Merkmale«, womöglich gar
»allmähliches Weglassen« zu erklären. Es
muß vielmehr heißen: »im Begriff sind alle
unwesentlichen Merkmale weggelassen« - denn woher
wüßte ich denn, welche Merkmale »wesentliche«
sind und welche nicht? Das entscheidet ja allein das Wesen selber,
nämlich die Idee, ehe ich Zeit habe, darüber nachzudenken.
Im Akte der Abstraktion vielmehr und durch ihn, den die Vernunft
momentan vollzieht, wird unter dem Druck der Idee der Intellekt
gezwungen, den Begriff abzulösen, und man kann sich wahrlich
darauf verlassen, daß dieser Geburtsakt der Logik sich perfekt
vollzieht. Fix und fertig springt der Begriff aus der bildhaften
Anschauung heraus in die Vernunft, wie Pallas Athene aus dem Haupte
des Zeus, und hinterher erst erkennt der Intellekt, was am
empirischen Gegenstande wesentlich ist und was nicht. Der Rang aber
des einzelnen Menschen, der den Intellekt benutzt, entscheidet
darüber, wieviel ihm vom Wesentlichen durch den Begriff
erschlossen wird. Wir haben daher die empirischen Begriffe exakte
Signaturen der Dinge genannt.
Man will es immer nicht wahrhaben, daß alle empirischen
Begriffe, eingeschlossen die Individualbegriffe, auch nicht die
leiseste Spur eines anschaulichen Elementes enthalten, das
heißt, daß sie durchweg abstrakt sind und daß es
von diesem Worte »abstrakt« keinen Komparativ gibt. Die
Täuschung entsteht dadurch, daß in der Rede so lange es um
leicht vorstellbare Dinge geht, diese sich auch einzuschleichen
pflegen. Rede ich von Ochsen und Schafen, so fliegt unvermeidlich ein
flüchtiges Vorstellungsbild als »Schema« ein; das
hört aber auf, wenn ich allgemeinere Begriffe verwende, wie
Säugetier oder Lebewesen. Ich kann wohl Vorstellungen in die
Rede einfließen lassen; aber ich brauche es nicht, und ich kann
über Sokrates denken, ohne an ihn zu denken. Das eben ist ja der
Vorteil der Rede und des Denkens, daß ich blitzschnell
vorwärts komme, was unmöglich wäre, wenn ich den
Ballast der anschaulichen Vorstellungen mit mir herumschleppen
müßte. Nur freilich, wenn sich ein Gespräch in
Allgemeinheiten versteigt, die Vernunft also in ihrer diskursiven
Leidenschaft durchgegangen ist, dann ist es gut, wenn jemand mahnt:
ob man sich das, wovon man redet, auch noch vorstellen könne?
Die anschauliche Welt soll immer die Heimat bleiben, zu der die sich
verlaufen habende Vernunft zurückgeführt werden kann; denn
in ihr ist sie zu Hause.
In dem Augenblicke, da der Akt der Abstraktion vollzogen ist, das
heißt, da die Vernunft den empirischen Begriff aus seiner
Umklammerung durch die anschauliche Welt befreit hat, in dem
Augenblicke schon benimmt sich der Begriff ähnlich wie ein
Fisch, der lange Zeit auf dem Trocknen gelegen hat und nun von der
anbrechenden Flut in sein Element aufgenommen wird. In diesem Sinne
ist die Vernunft das Element der Begriffe. Diese werden höchst
lebendig, verbinden sich blitzschnell mit anderen Begriffen, und so
entstehen die Urteile und die Schlüsse. Die Wissenschaft aber,
nach deren Gesetzen diese Verbindungen eintreten, heißt Logik.
Deren Sätze sind durchweg a priori und deshalb völlig
gewiß. Sie ist seit alters her das Domizil der philosophischen
Gelehrsamkeit, die mit Aristoteles beginnt; denn der hat die Logik
entdeckt. Alle Logik aber hat ihre natürliche Einteilung in die
drei Gebiete: Die Lehre von den Begriffen überhaupt; die Lehre
von den Urteilen und die Lehre von den Schlüssen (Syllogismen).
Die Begriffe aber zerfallen, kaum, daß man sie angerührt
hat, in zwei deutlich getrennte Gruppen: in empirische und
»reine Verstandesbegriffe« oder Kategorien. Die
empirischen, wenigstens die von Naturgebilden, stehen in
unmittelbarem Konnex mit den platonischen Ideen, und quer hindurch
verläuft die Achse der Natur. Die Kategorien dagegen sind, nach
Kant, der Niederschlag oder die »Entsprechung« jener vier
Gruppen von Urteilen, die von alters her als die »Tafel der
Urteile« bekannt sind (das quantitative, das qualitative, das
relative und das modale Urteil). Die Auffindung dieses Zusammenhanges
zwischen der Tafel der Urteile und den Kategorien in Kants Hauptthema
in seiner »Deduktion der Kategorien«, wodurch der Begriff
der »transzendentalen logischen Analytik« geschaffen wurde.
Ihr Resultat besteht in dem Nachweis der objektiven Giltigkeit der
Logik für Gegenstände der Erfahrung; eine Sache, die
Schopenhauer nie hat recht begreifen wollen.
Über jenes Entfliehen des empirischen Begriffes aus der
anschaulichen Welt in die Vernunft sind NIETZSCHE einige
verführerisch-schöne Sätze gelungen: »Alles, was
Philosophen seit Jahrtausenden gehandhabt haben, waren
Begriffs-Mumien; es kam nichts Wirkliches lebendig aus ihren
Händen.«...»Sie setzen das, was am Ende kommt, -
leider! denn es sollte gar nicht kommen! - die Çhöchsten
Begriffeë, das heißt die allgemeinsten, die leersten
Begriffe, den letzten Hauch der verdunstenden Realität (von mir
gesperrt) an den Anfang als Anfang.« (Götzendämmerung:
»Die Vernunft in der Philosophie«.) Es geht NIETZSCHE da um
einen Angriff auf »ihren stupenden Begriff
ÇGottë...Das Letzte, Dünnste, Leerste wird als
Erstes gesetzt, als Ursache an sich, als ens realissimum...Daß
die Menschheit die Gehirnleiden kranker Spinneweber hat ernst nehmen
müssen!« - Es ist ein Axthieb, dessen Führung er von
Schopenhauer gelernt hat und der an der Wurzel sitzt. Freilich trifft
er nur die Philosophie, nicht aber die Propheten. Jener Satz aber vom
»letzten Hauch der verdunstenden Realität« zeugt von
einem ungeheuer klaren Blick auf die Entstehungsstelle der Begriffe;
für Nietzsches Auge ist es so, als ob die Dinge rauchten und so
sich allmählich - unter Waltung einer falschen Philosophie - zu
Begriffen verflüchtigten. Nur dem Genius ist es erlaubt, so
groß und so falsch zu denken. Dies Bild muß einmal einen
Augenblick gesehen werden, damit man es nicht wieder vergißt
und es ihm nicht vergißt; nur so erwirbt man sich das Recht,
etwas dagegen zu sagen.
Denn es ist nur ein Bild, in dem hier geredet wird, und zwar ein
vorplatonisches; es bezeichnet den Entstehungsvorgang des empirischen
Begriffes, der wie ein Rauch den realen Dingen entströmt, mit
anschaulicher Symbolik, und das ist richtig gesehen. Es erweckt aber
auch den Anschein, als ob die freigewordenen Begriffe nun auch nach
Art von Dunst und Rauch ins Wesenlose vergehen, und das ist falsch.
Denn im Augenblick, da sich der empirische Begriff fest in der Hand
der Vernunft befindet, ist er deren Gesetzen, das heißt der
Logik unterworfen, und diese dulden kein wesenloses Verdunsten. Ein
zweiter und tiefgehender Unterschied zwischen dem Aufgehen in Dunst
und Rauch und dem logischen Prozeß liegt ferner darin,
daß bei der Verdunstung reale Teile der Dinge sich
verflüchtigen, beim begrifflichen Prozeß aber springt als
erstes durch den Akt der Abstraktion ein Abbild und schließlich
eine exakte Signatur des Ganzen aus dem konkreten Zusammenhange der
anschaulichen Welt heraus. Bei einer blühenden Rose im Garten
verdunstet zunächst das ätherische Öl, durch welches
ihr Duft sich dem Sinnesorgane mitteilt, zugleich aber auch ihr
Wassergehalt, der, widerstrebend abgegeben, die Rose
schließlich zum Vertrocknen bringt, so daß sie äm
Ende keinen Widerstand gegen die Auflösung ihrer festen
Bestandteile leisten kann. Beim logischen Prozeß aber springt
der Begriff der ganzen Rose mit all ihren wesentlichen Merkmalen in
die Vernunft über, wobei es sich herausstellt, daß ich
auch in der anschaulichen Welt die Rose gar nicht als Rose verstehen
kann, wenn eben nicht dieser ihr Begriff, den die Vernunft jetzt
triumphierend in den Händen hält, vorher darin gewesen
wäre. Die Vernunft treibt also ganzes Spiel. Ihre
Grundfähigkeit der Abstraktion - ohne die sie aber nicht sein
kann - paßt also haargenau auf das, was in der anschaulichen
Welt als Form gegeben ist. Alles Anschauliche aber ist Form, und hier
saugt die Vernunft den empirischen Begriff ab. Das alles wäre
unmöglich, wenn die anschauliche Welt Ding an sich wäre,
wie es das vorplatonische Bildgleichnis Nietzsches voraussetzt; sie
ist vielmehr Erscheinung, und der Intellekt gehört dazu als ihr
subjektiver Faktor. Unser tiefes Vertrauen nun darin, daß die
empirischen Begriffe, die die Vernunft uns durch ihren
eigentümlichen Akt der Abstraktion aus der anschaulichen Welt
herauszieht, auch stimmen, daß sie keine an den Haaren
herbeigezogenen »Vorstellungen von Vorstellungen« sind,
sondern objektive Giltigkeit haben, daß sie wirklich von der
Natur reden können - denn sie setzen ja sofort Sprache an -,
dieses Vertrauen haben wir daher, daß jener herausziehende
Vorgang in der Vernunft der echte Widerhall jenes älteren ist,
den der Demiurgos vollzog, als er in völlig undurchdringlicher
Weise die Materie mit der prägenden Kraft der Ideen verband.
Dieses Prägende zieht die Vernunft als Begriff wieder aus den
Dingen heraus, und darum stimmt es.
Die »Verdunstung« geht nun weiter; aber wir bemerken
sofort, daß das nicht ein bloßes Abnehmen der Dichte ist,
wie in Nietzsches Bild, sondern, daß hier die Vernunft mit
einem neuen, ihr ganz eigentümlichen Akte eingreift; die Logik
nennt ihn die Subsumtion.* Während durch den Akt der Abstraktion
des empirischen Begriffes nichts weiter gesichert wird, als daß
ich seinen Gegenstand nicht mit einem andern verwechsle, wird durch
die Subsumtion das Gebiet des Naturgesetzes beschritten. Die Vernunft
ordnet einen Begriff einem andern mit größerem Umfange
unter. So etwa den Begriff »Pferd« und den des
»Huftieres«. Hier geschieht etwas: es entsteht fühlbar
Wissenschaft. Und wir wollen im voraus verraten, daß alle, auch
die größten Entdeckungen, sich im Kerne stets auf
Subsumtion zurückführen lassen. Es gibt richtige und
falsche, gelungene und mißratene, je nachdem die Natur dabei
mitspielte. Der Begriff »Huftier« nun ist ein
Gruppenbegriff, der alle diejenigen Tiere umfaßt, deren
Füße die Hufform angenommen haben; sage ich: »Das
Pferd ist ein Huftier«, so habe ich den Artbegriff Pferd unter
den Gruppenbegriff Huftier subsumiert und in die assertorische
Urteilsform gebracht. Ich hätte ja aber auch andere auffallende
Merkmale herausnehmen und etwa den Begriff »Langohrtiere«
bilden können; nichts steht dieser Begriffsbildung im Wege. Dann
wäre das Pferd, das ja auch lange Ohren hat, in eine Gruppe mit
den Hasen geraten. Allein man spürt sofort das Befremdliche
dieser Einordnung. Denn der Huf steht mit dem Schicksal des Pferdes,
seinem Charakter und seiner Lebensart in einer weit tieferen
Beziehung als seine Ohren; der Huf, das wissen wir jetzt, ist ein
Entwicklungsprodukt ganz spezifischer Art; er entstand durch die
Verkümmerung der übrigen vier Zehen eines ehemals
fünfzehigen Waldtieres, das auf die Steppe geriet und hier einer
Anpassung unterlag; diese führte zur Verkümmerung der
übrigen Zehen zugunsten einer, die nun als Huf die beherrschende
Stellung einnimmt. Das geschah aber freilich nicht so, wie es sich
Lamarck und Darwin dachten; bei ihnen ist der Druck der Umwelt der
Souverän, der die Arten (»die es nicht gibt!«)
»entstehen« läßt, und das, worauf sie
drückt, ist eine amorphe Lebensenergie, die nichts zu sagen hat,
sondern nur nachgibt. In Wirklichkeit aber trifft der Druck der
Umwelt auf den Archetypus der Arten, welcher der eigentliche
Souverän einer Tierart ist. Jedes Tier aber, das leben kann und
sich fortpflanzt, ist angepaßt; ändert sich seine Umwelt,
so werden an die Anpassung Forderungen gestellt, und diesen wird
allemal so weit nachgegeben, wie der Archetypus es zuläßt,
und nicht weiter. Dieser also hat den Primat. Alle Umbildungen von
Organen aber oder Gliedmaßen sind daher Kompromisse zwischen
der Umweltsforderung und der archetypischen Entscheidung; nur in
diesem Sinne gibt es Entwicklung. Wenn also das Pferd, das im
Mesozoikum ganz anders aussah als heute, gemeinsam mit anderen
Tierarten die Entwicklung vom Zehentier zum Huftier durchgemacht hat,
so liegt in der Bezeichnung »Huftier« eine
Schicksalsgemeinschaft verborgen, von welcher der Erfinder dieses
Gruppenbegriffes nicht einmal etwas gewußt zu haben braucht,
während der Begriff »Langohrtier« schicksallos ist und
ins Leere stößt; bei ihm spielt die Natur nicht mit.
Die bloße Vernunft also kann ganz beliebige Merkmale von
Tierarten zu einem Gruppenbegriff durch eine rein logische Operation
zusammenwerfen, ohne daß damit wesentliche Merkmale getroffen
werden. Damit dies geschieht, bedarf es des Eingriffes einer anderen
Erkenntnisfunktion: der Urteilskraft, die in diesem Falle
transzendentale Urteilskraft heißt und die ihre Kraft vom Wesen
selber her bezieht. Nur durch sie findet eine gelungene Subsumtion
statt, die wirklich etwas aussagt, die objektive Giltigkeit hat und
dadurch Wissenschaft begründet. Kant sagt, Vernunft habe jeder,
Urteilskraft aber nicht, und er spricht von einer Art
»Mutterwitz«, der hier eingreift, um giltige Subsumtionen
zu erwirken. Die höchste Manifestation der Urteilskraft aber
findet im Genius statt.
Nun kann die Vernunft den Akt der Subsumtion zunächst beliebig
fortsetzen, nach allen Richtungen hin, und sie kann vor allem die
Oberbegriffe erweitern; das ist ihr alltägliches Geschäft,
das kein sonderliches Aufsehen erregt. Über das Huftier also
kann sie noch den Begriff Säugetier setzen, dann Wirbeltier,
weiter Tier und schließlich bloß Lebewesen; dadurch
werden die Oberbegriffe immer allgemeiner, keineswegs aber
abstrakter, ihr Umfang nimmt zu, aber die Urteile sagen immer weniger
aus; denn zweifellos enthält das Urteil: »das Pferd ist ein
Huftier« mehr Erkenntnisinhalt als das Urteil: »das Pferd
ist ein Lebewesen«. Versuche ich nun aber, über den
Oberbegriff Lebewesen hinaus noch einen Schritt weiter zu gehen, und
sage ich: »Das Pferd ist ein Seiendes« - so macht die Natur
nicht mehr mit. Diese Subsumtion nämlich ist keine unter einen
noch allgemeineren empirischen Oberbegriff, sondern unter einen
reinen Verstandesbegriff; denn bei diesem Subsumtionsakt sind wir auf
die Kategorie der Realität gestoßen; die aber stak schon
unbemerkt in allen empirischen Begriffen bis herab auf
»Pferd«. Denn die Kategorie der Realität ist a priori
und gehört, neben den andern ihrer Art, zu den konstituierenden
Stammbegriffen der anschaulichen Welt. Ich hatte sie bereits
mitgedacht, als ich den Begriff Pferd aus der anschaulichen Welt
entband. Man sieht also deutlich: von dem empirischen Begriff
Lebewesen kann ich mir immer noch eine, wenn auch noch so
schemenhafte, aber doch eine Vorstellung machen; vom Begriff
»Sein« dagegen nicht. Er steckt indessen in allen
empirischen Begriffen, sowie in allen Gegenständen der
anschaulichen Welt; er ist, als Kategorie, die Entsprechung für
das bejahende Urteil in der reinen Logik, und wenn es eine solche
transzendentale Entsprechung nicht gäbe, so gäbe es auch
keine Möglichkeit des begrifflichen Verstehens in der Welt; mit
andern Worten: es gäbe keine Wissenschaft.
Es ist also nichts mit jenem allmählichen Verdunsten und
Verrauchen der Dinge, bei dem am Schluß die allgemeinsten und
dünnsten Begriffe herauskommen; sondern diese befanden sich
schon vorher, ehe das vorgebliche Verdunsten losging, a priori in den
Dingen; mit ihnen aber das Verdunsten selber, und zwar in den
gröbsten und handgreiflichsten sowohl als in den feinsten. Das
aber macht: die Welt ist Erscheinung, also auch jeder Klotz;
wäre sie Ding an sich, so wäre sie unverständlich. Sie
ist aber verständlich und begreiflich, das gibt jedermann zu;
und sie ist es deshalb, weil Verstand und Vernunft in sie eingebettet
sind und einen Bestandteil von ihr ausmachen. Das ist die Bedeutung
der Kantischen Doktrin »Transzendentale logische
Analytik«.
2. DIE KATEGORIEN
Alle Gegenstände der anschaulichen Welt enthalten drei Elemente,
die untereinander gänzlich verschieden sind, die auch
verschiedene Herkunft habe und die doch zusammen miteinander den
empirischen Gegenstand ausmachen. Es sind das:
1. die Sinneseindrücke,
2. die (generellen und individuellen) Formen,
3. der »Gegenstand überhaupt« oder der
»transzendentale Gegenstand«.
Die anschauliche Welt allein aus dem ersten zu erklären,
unternahm der Sensualismus; er hat keine großen Namen
hervorgebracht; denn man darf John Locke nicht zu dieser Schule
rechnen. Aus den Formen aber unternahm es Platon, und das dritte ist
ein charakteristischer Lehrbegriff der Philosophie Kants.
Nun besteht von alters her ein consensus omnium, daß die
anschauliche Welt verständlich und durch Wissenschaft
begreiflich ist. Wollte man das nicht zugestehen, so hätte es
keinen Sinn, auch nur einen einfachen Aussagesatz zu bilden und ihn
durch Worte mitzuteilen. Denn jeder assertorische Satz enthält
den stillschweigenden Anspruch, daß er sich auf einen
objektiven Gegenstand beziehe und dort giltig sei. Andernfalls
schwirrten nur Worte, die auch nur Naturlaute wären, aus dem
Munde der Menschen, die wiederum dann gar nicht sprächen,
sondern nur Geräusche machten. Da aber das Umgekehrte vorliegt,
so muß der consensus richtig sein, das heißt, es
muß eine feste Beziehung zwischen Denkakten geben und den
Gegenständen der anschaulichen Welt; das müßte auch
dann so sein, wenn alle Urteile, die bisher über sie
gefällt worden sind, falsch gewesen wären. Die Basis aller
Urteile wird dadurch nicht berührt.
Sich auf einen consensus omnium zu berufen, erscheint auf den ersten
Blick als ein unerlaubtes Verfahren; allein das ist es nur, wenn es
sich um empirische Dinge handelt. Der antike consensus über die
Erdgestalt war falsch. Auch transzendentale Themata durch ihm
beweisen zu wollen, geht nicht an, so der von Cicero hervorgeholte
über das Dasein der Götter. Allein, wo es sich um
transzendentale Dinge handelt, da bedeutet der consensus nichts
anderes als »a priori und notwendig«, und er selber ist nur
ein Ausdruck dafür. David Hume hat diesen Begriff des consensus
in seinem berühmten Aufsatz über »Notwendigkeit und
Freiheit« verwendet, indem er darauf hinwies, daß in
puncto beider Begriffe, wenn man sie richtig versteht, kein Mensch
jemals eine andere Ansicht gehabt haben kann; eben deshalb nicht,
fügen wir hinzu, weil der transzendentale Druck, der auf ihnen
ruht, das nicht zuläßt.
Es ist in der Tat unmöglich, an der Giltigkeit der Denkgesetze
zu zweifeln; man kann gerade eben den Satz bilden: »Die
Denkgesetze können bezweifelt werden«, die Sprache gibt das
her, und die Logik hat auch nichts gegen ihn einzuwenden; denn er
hält den Satz vom Widerspruch ein. Allein, wenn es um den
Vollzug dieses Zweifels geht, wenn er begangen werden soll, so zeigt
es sich, daß das nicht gelingt; denn er müßte ja mit
denselben Denkgesetzen vollzogen werden, deren Giltigkeit bestritten
wird. Der Zweifel müßte begründet werden: das aber
geht nur mit dem Satz vom Grunde, dem Könige der Denkgesetze.
Wären diese nun anthropologisch, wie der naive Naturalismus
meint, oder ein »Gehirnphänomen«, wie Schopenhauer, so
würde sich der Zweifel möglicherweise vollziehen lassen;
aber sie sind a priori und kommen, transzendental werdend, am
subjektiven Pol der Naturachse zu liegen. Diese aber kann man so
wenig ins Wanken bringen, wie man den Nordpol der Erdachse
abschrauben kann. »Der Mensch« spielt bei alledem gar keine
Rolle.
Nun haben die Denkgesetze und mit ihnen die reine Logik das eine mit
den Zahlen gemeinsam, daß sie unabhängig von jedwedem
Gegenstande sind. Wie es gleichgiltig ist, was ich zähle, so ist
es gleichgiltig, von welchen Gegenständen die reine Logik gilt;
sie arbeitet daher ebenso wie die Algebra mit Buchstaben. Beide
Wissenschaften also, Arithmetik und reine Logik, sind durchaus
abstrakt und ohne jeden Anflug von Anschaulichkeit. Nun aber gibt es
doch das, was der Volksmund so gern »Logik der Dinge«
nennt; jedermann ist davon überzeugt, daß der Verlauf
empirischer Dinge »logisch« sein müsse, ohne freilich
darüber Rechenschaft geben zu können, wie das hergeht. Jede
Einfädelung der Logik in das Teppichgewebe der anschaulichen
Welt versucht der naive Realismus sich gewöhnlich so
vorzustellen, daß der leitende Gedanke die Dinge am Bändel
hat, wie der Zwirnsfaden die Perlen in einer Stickerei. Allein diese
Vorstellung ist in Wahrheit unvollziehbar, wie alle Philosopheme des
Naturalismus, weil ja die anschauliche Welt in der Tat von der Logik
quasi imprägniert ist; es gibt in ihr nicht den kleinsten Teil,
der nicht logisch wäre, so wie ein feuchter Schwamm an keiner
Stelle ohne Nässe ist, und das ist unbegreiflich mit den Mitteln
des Naturalismus. Wie kommt die Logik, die wir sonst nur als
abstrakte Denkgesetze kennen, und zwar ganz genau, in die Dinge
hinein, so, daß diese durch sie verständlich und
später - in der Wissenschaft - begreiflich werden? Das ist die
Frage der transzendentalen Logik. Nun hat aber die Philosophie
inzwischen gefunden, daß die anschauliche Welt verstandene Welt
ist, und darum sollte es verboten sein, von ihr als von der
bloßen »Sinnenwelt« zu reden. Denn die Sinne
vermögen niemals das zu erzeugen, was man mit Fug und Recht als
»Welt« anreden kann; sie ergeben immer nur Empfindungen,
die weder wahr noch falsch sind, sondern angenehm oder nicht. Man
kann da jeden beliebigen Grad von Verfeinerung erdenken oder ihre
Zahl beliebig steigern: niemals kommt eine Welt aus ihnen hervor.
Wenn ich dagegen von der anschaulichen Welt rede und ihr den Beinamen
der verstandenen gebe, so habe ich damit eine genaue und verbindliche
Anrede geleistet.
So genau muß man freilich in allen Dingen sein, und es ziemt
sich daher nicht, »Wahrnehmung« und »Sinnesempfindung
miteinander zu verwechseln, wie man das vielfach auch in der
seriösen Litteratur findet. Alle Gegenstände der
anschaulichen Welt sind durchweg Wahrnehmungen. Ich sehe niemals
bloß grün, sondern allemal grüne Blätter und
grüne Wiesen; denn alle Gegenstände der anschaulichen Welt
sind geformt und passieren daher den unvermeidlichen Gang von der
Urform zu Form in den empirischen Begriff. Dieser aber hat immer
Wahrheitsgehalt, so daß jeder Gegenstand heimlich an ihm
gemessen wird. Ob das Wort »Wahrnehmung« etymologisch etwas
mit »wahr« zu tun hat oder nicht: es will aber aussagen,
daß hier ein Ding unter dem Siegel von wahr oder falsch steht.
Das grüne Blatt erhebt einen heimlichen Wahrheitsanspruch, und
darum nennt man es eine Wahrnehmung. - Dagegen kommen
Sinnesempfindungen in der anschaulichen Welt nicht vor; sie
müssen vielmehr künstlich hergestellt werden. Wenn ich
»grün« als reine Sinnesempfindung erleben will, so
muß ich es eliminieren, was etwa dadurch geschieht, daß
ich vor eine dunkle Röhre ein grünes Glas setze und dies
auf mein Auge wirken lasse. Sinnesempfindungen tragen demnach
keinerlei Wahrheitsanspruch in sich, und also darf man sie auch nicht
so benennen.
Die anschauliche Welt aber ist bewegte Welt. Aristoteles hat die
Bewegung ((kinhsis)) für eine Kategorie gehalten, das
heißt, er zählte sie zu den logischen Fundamenten der
Erfahrung. Das ist aber ein Irrtum, auf den Kant hinwies; denn ich
kann mir sehr wohl eine anschauliche Welt ohne Bewegung vorstellen.
Nur ist es eben so, daß sie tatsächlich bewegt ist, das
heißt, die Bewegung ist rein empirischer Natur und trägt
nicht den Stempel der Notwendigkeit an sich. Das aber wäre
erforderlich, um ihr den Rang der Kategorie zu verleihen. Anders
ausgedrückt: die Bewegung gehört nicht zum transzendentalen
Gegenstand. Und da es nun so ist, daß »alles
fließt«, so nehmen wir es uns heraus, zwei Arten von
Bewegung zum Zwecke der transzendentalen Verständnisses zu
unterscheiden: die eine, die zwischen zwei Gegenständen spielt,
und die andere, die sich an einem und demselben abspielt. Also: die
ziehende Wolke, die durch den Druck der Luft in Bewegung gerät,
gehört zur ersten Art, der gründende, blühende,
fruchtende, welkende Baum zur zweiten. Denn offenbar sind das beides
Bewegungsvorgänge, wobei sich die Bewegung am Baum nur durch
ihre Langsamkeit der unmittelbaren Beobachtung entzieht. Unser Auge
könnte das Blatt wachsen sehen, wenn es nicht, aus biologischen
Gründen, an einen bestimmten Schnelligkeitsgrad angepaßt
wäre. - Der Physiker kann diese Einteilung unbeachtet beiseite
lassen, ja, er mag ihre Berechtigung abstreiten: indessen bei einer
transzendentalen Untersuchung tut sie ihre guten Dienste; es springen
nämlich bei ihr bald und sichtbar die beiden großen
Grundkategorien der anschaulichen Welt und der Erfahrung heraus, die
alles tragen: die Kategorie der Kausalität und die der Substanz.
Diese stehen in der transzendentalen Logik da, wie die beiden
Könige in Sparta mit ihrem doppelten Stimmrecht.
3. DER ALLGEMEINE KAUSALSATZ
Eine ziehende Wolke und jeder andere bewegte Gegenstand ist
keineswegs ein bloßer Sinneseindruck. Was die Sinne von ihr
liefern, ist nur eine helle Stelle am unteren Rande der Retina, die,
wenn dieser geringe Reiz nicht unterhalb der Empfindungsschwelle
läge, nur angenehm oder unangenehm wirken könnte.
Verstanden als ziehende Wolke wird jener Fleck erst dadurch,
daß ich über den empirischen Begriff »Wolke«
hinweg deren Bewegung als notwendig verursacht erkenne. Dieser Akt
des Verstandes ist momentan, geschieht unmittelbar und ohne Worte.
Und so überhaupt ist jener Teil des Intellektes gebaut, den wir
»Verstand« nennen müssen - im Gegensatz zur Vernunft
-, daß seine »Schlüsse« keine Zeit in Anspruch
nehmen, daß sie nicht syllogistisch sind und daß sie
stets ohne Sprache geschehen. Trotzdem sind sie so, als ob sie das
täten. - Durch die Kategorie der Kausalität also wird der
bloße Sinneseindruck (den es empirisch nur beim menschlichen
Säugling und bei der sogenannten »Agnosie« gibt) zur
verstandenen Welt erhoben, momentan und wortlos. Die ziehende Wolke
wird als solche verstanden. Keineswegs aber wird damit begriffen,
welches die Ursache ihrer Bewegung ist. Auch die Katze versteht die
springende Maus, wenn sie sie sieht; denn sie hat, wie alle Tiere,
Verstand, aber sie begreift nicht, warum sie springt; denn sie hat
keine Vernunft. Um die Verknüpfung von Ursache und Wirkung im
einzelnen Falle zu begreifen, dazu gehören allemal zwei ganz
neue Elemente der Erkenntnis: die abstrakten Begriffe und der
Entdeckungsakt. Das aber ist Sache der Wissenschaft, und durch sie
entsteht die begriffliche Welt, die niemals anschaulich ist, sich
aber immer auf die anschauliche Welt bezieht.
Es geht also bei den Kategorien genau so her wie bei den empirischen
Begriffen; diese sind konkret in der anschaulichen Welt enthalten,
wurzeln nach dem Objekte zu in den Archetypen, nach dem Subjekte zu
im Verstande. Bei der Arbeitsweise des ersten Namengebers der
Tierarten haben wir das herausbekommen. Durch den Akt der Abstraktion
nun, den nur die Vernunft begehen kann, werden die empirischen
Begriffe aus ihrer Verwachsung herausgelöst und zu abstrakten
erhoben; hierdurch erhalten sie die Fähigkeit, durch Subsumtion
in ein Ordnungssystem der Wissenschaft einzugehen. Bei den Kategorien
nun, jedenfalls zunächst bei der Kausalität und der
Substanz, die an der Bewegung beteiligt sind, vollzieht sich derselbe
Vorgang. Ich habe eine ziehende Wolke erst verstanden, und sie
gehört erst dadurch der anschaulichen Welt an, daß ich
ihre Bewegung als Wirkung verstehe, die mit einem Bewegenden als
Ursache durch die Notwendigkeit verbunden ist. Dabei wird die Ursache
selber niemals mitverstanden als Gegenstand der Anschauung, weil man
es natürlich keinem Dinge ansehen kann, daß es Ursache
ist, aber es jedem ansehen muß, das es Wirkung ist; dies gilt
auch dann, wenn die Bewegung zum Stillstande kam. Es ist gar nicht zu
leugnen, daß eine Bewegung, die nicht vom Verstande mit ihrer
Ursache verbunden wäre, eben unverstanden bliebe; die ziehende
Wolke wäre dann nichts als ein feines Rumoren auf der Netzhaut
des Auges, dem keinerlei Merkmale der Erkenntnis zukämen. Diese
bekommt sie erst durch die Kategorie der Kausalität, die sich
spontan einschaltet und gewissermaßen eingebettet in der
anschaulichen Welt ständig wirksam ist. Sie kann nicht einen
Augenblick ausgelassen werden; denn sofort fiele die verstandene Welt
auseinander und ließe einen Haufen sinnloser
Sinneseindrücke zurück. So hat auch KANT, der Gründer
der Kategorienlehre, diese begriffen, indem er sie in seiner
umständlichen Art definiert: »Sie sind Begriffe von einem
Gegenstande überhaupt, dadurch dessen Anschauung in Ansehung
einer der logischen Funktionen zu Urteilen als bestimmt angesehen
wird.« (K. R. V., Seite 128 der zweiten Auflage von 1787.)
Begehe ich nun an dem empirischen Vorgange der Bewegung, der mir
durch die anschauliche Welt gegeben wird, den Akt der Abstraktion,
indem ich aber jenen hellen Vorstoß der Vernunft gegen den
Verstand und die Sinnlichkeit nicht an der Bewegung selber ansetze,
sondern an jenes Band der Notwendigkeit, durch das Bewegtes (motum)
und Bewegendes (movens) miteinander verknüpft sind, löse
ich also aus dem unmittelbar durch die Kategorie der Kausalität
verstandenen Bewegungsvorgang dessen rein logischen Teil heraus, so
erhalte ich auf einmal und ganz plötzlich anstelle der
automatisch in der Natur waltenden Kategorie den allgemeinen
Kausalsatz; dieser aber übt, wie ich sofort bemerke, ein
doppeltes Stimmrecht aus, nämlich
1. als Gesetz von Ursache und Wirkung, welches lautet: »Nichts
geschieht ohne zureichende Ursache« (causa fiendi) und
2. als Satz vom zureichenden Grunde, welcher lautet: »Nichts
wird erkannt ohne zureichenden Grund« (ratio cognoscendi).
Ich weiß, wenn ich diesen Akt der Abstraktion mit voller
Bereitschaft begehe, ganz plötzlich und ganz sicher, daß
es dieselbe Unverbrüchlichkeit ist, mit der in der reinen Logik
etwa die Konklusion aus den Prämissen folgt, und mit der jeder
Vorgang in der Natur, also jede Bewegung, Wirkung ist und, unter dem
Zwange der Notwendigkeit, aus der Ursache erfolgt. Damit weiß
ich aber auch, daß das soeben durch Abstraktion gewonnene
Gesetz des reinen Denkens und die konkrete, das heißt mit der
anschaulichen Welt zusammengewachsene Kategorie eine und dieselbe
Sache sind, aus demselben Stoffe bestehen, nämlich aus dem
Intellekt, der in zwei verschiedenen Aggregatzuständen auftritt.
Das ist es, was Kant die »transzendentale Deduktion der
Kategorien« nannte, und die wir hier in einem sehr viel
einfacheren Verfahren gewonnen haben.
Das beste und einfachste, voll überzeugende Bild für den
Allgemeinen Kausalsatz ist das Zeichen für die Zahl 8. Hierbei
muß man sich den unteren Kreis mit Materie gefüllt denken.
Der obere bedeutet den »Satz vom Grunde«, der untere die
»Kategorie der Kausalität«, im Schnittpunkte der
Schleifen habe sie miteinander einen gemeinsamen Ort. Eines ist
dasselbe wie das andere, nur dieses andere ist fest gebunden durch
die Materie oder aber den Willen, das erste ist frei und nur im
Denken. Oben, im Denken, kann ich sagen: Weil die
Quecksilbersäule steigt, deshalb (d. h. daraus schließe
ich) wird es wärmer; aber ich kann auch umgekehrt sagen: weil es
wärmer wird, deshalb muß die Quecksilbersäule
steigen; daß ist der Erkenntnisgrund. Unten aber, bei der
Kategorie der Kausalität, kann ich nicht umkehren, sondern ich
muß sagen: erst ist die Erwärmung da und dann, als ihre
Wirkung, das Steigen der Quecksilbersäule. Das ist die Ursache.
Hier hat die Natur eingegriffen, und die Kategorie zeigt das
unerbittlich an. Daher steckt der allgemeine Kausalsatz in der
anschaulichen Welt, zugleich aber im Denken. Der Satz vom Grunde ist
die Abstraktion des Kausalsatzes. So sieht transzendentale Logik
aus.
4. DIE BEIDEN AGGREGATZUSTNDE DES INTELLEKTES
Das Verhalten des Intellektes, nämlich sein ständiges
Auftreten in zwei verschiedenen Aggregatzuständen, wobei der
Verstand der feste, die Vernunft aber der flüssige oder auch
gasige ist, erinnert an die Aggregatzustände der Materie. Da
diese nun durchaus nicht das ist, was die Physiker sich unter ihr
vorstellen - die sie ständig mit den Stoffen verwechseln -,
sondern vielmehr selber von transzendentalem Charakter ist mit
Eigenschaften a priori, so darf der Satz von den zwei
Aggregatzuständen des Intellektes nicht als ein bloßer
Vergleich angesehen werden, der zu didaktischen Zwecken gesucht
wurde, sondern als derselbe Vorgang an zwei verschiedenen Stellen der
Natur; denn diese arbeitet stets mit denselben Mitteln und beachtet
die lex parsimoniae.
Nun ist es nicht etwa so, daß Verstand und Vernunft, als die
zwei Aggregatzustände des Intellekts, wie in zwei verschiedenen
Schubfächern nebeneinanderliegen; das tun sie nur in der
begrifflichen Trennung. Im Gebrauch aber wechseln sie sich
ständig ab und gehen ineinander über. Es ist so, wie wenn
über einer Eisfläche eine dünne Dunstwolke aufsteigt,
die von der wärmeren Luft nach oben geführt wird, die aber
jeden Augenblick, wenn sie in kältere Zonen kommt, als Schnee
wieder zurückfallen kann. Es ist dasselbe Wasser, das hier einen
Kreislauf von festen in den gasigen und dann wieder zurück in
den festen Aggregatzustand begeht; es hört nie auf, Wasser zu
sein, seine chemischen Qualitäten bleiben dieselben, aber die
physikalischen unterliegen einem gesetzmäßigen Wandel. So
steht auch der Intellekt niemals still, und sein Leben besteht gerade
darin, daß ein ständiger Wechsel zwischen Verstand und
Vernunft vor sich geht. Das kann auch nicht anders sein, da die Natur
ein transzendentales Kontinuum ist, das sich mit der Achse im Innern
bewegt. Ein ständiger Wechsel im Vorgange aber rechtfertigt
nicht eine ständige Verwechslung in der Wissenschaft.
SCHOPENHAUER, der als erster Bresche in diese herkömmliche
Verwechslung geschlagen hat, nannte den Verstand das »allgemeine
Merkmal der Tierheit«. Beim Menschen aber wird der Verstand
dauernd umflimmert und beunruhigt durch die ständig nach der
Ursache fragende Vernunft, die keinen Augenblick stillestehen will
und ihre flüssige, quecksilbrige Natur ohne Unterlaß in
Szene setzt. Durch ihren diskursiven Charakter wird der Verstand des
Menschen in einen ständigen Reizzustand versetzt, der schon
oftmals beklagt wurde, der aber - das ist nun einmal so - das
vehiculum der Wissenschaft ist. Der Mensch will die Welt nicht nur
verstehen, sondern auch begreifen. Ich kann aber sehr wohl jenem
Ansturm der Vernunft Widerstand leisten, mich beharrlich auf die
anschauliche Welt zurückziehen und mich ihr anvertrauen, indem
ich mich betrachtenderweise ihrem Anblick hingebe. Dann verbürgt
mir die Kategorie der Kausalität das Sinnvolle der Bewegung,
aber auch der Ruhe, ihre deutende Kraft verhindert es, daß eine
dahinziehende Wolke in der Landschaft eine bloße Verdeckung des
Blau dahinter ist. Aber das Tier kommt nicht in die Verlegenheit,
sich gegen den Ansturm der Vernunft wehren zu müssen, und darum
steht der Verstand des Menschen um einen Grad höher im Range.
Ihm kommt denn auch in einer solchen Lage die Möglichkeit einer
künstlerischen Betrachtung zu Hilfe, wie sie Schopenhauer im
dritten Buche seines Hauptwerkes dargestellt hat, so daß man
die Schönheit als ein Heilmittel der Natur auffassen kann, durch
das der Mensch von den meist qualvollen Fragen der Vernunft saniert
werden soll.
5. DIE BEGRÜNDUNG DER WISSENSCHAFT
Die Wissenschaft dagegen räumt mit dem allen auf, und man
könnte sehr um ihre Legitimität besorgt sein, wenn es etwa
nicht gelänge, sie aus den Quellen abzuleiten, denen man sie -
nämlich die Legitimität - nicht gut versagen kann. Legitim
aber heißt hier, wie immer: seinen Grund in der Natur haben. In
der anschaulichen Welt wird jeder bewegte Gegenstand als Wirkung
verstanden, dabei aber bleibt die Ursache stets unter dem Horizont.
Die ziehende Wolke sehe ich schon und verstehe sie als bewirkte
Bewegung, die bewegende Luft vermag ich wohl zu fühlen, durch
den Tastsinn, aber als Ursache für die Bewegung fühle ich
sie weder, noch verstehe ich sie. Die Kategorie der Kausalität
aber sorgt dafür, daß das Band der notwendigen
Verknüpfung mit der Ursache nicht abreißt. Während
ich jeden Gegenstand der anschaulichen Welt jederzeit mit
Notwendigkeit als Wirkung verstehen muß, gibt es keinen
einzigen, von dem ich weder im Verstande noch in der Vernunft sagen
könnte, er sei Ursache, das heißt, er sei mit
Notwendigkeit mit etwas anderem, das nach ihm folgt, verbunden. Ein
Feldstein auf dem Acker ist sofort in jeder seiner Bestimmungen als
bewirkt verständlich und von der Vernunft begreifbar, aber
daß er von irgend etwas Ursache sein müsse, davon steht
nichts in ihm geschrieben. Die Ursache ist also ein durch und durch
problematischer Begriff. Die Vernunft forscht nach ihr, indem sie
gewissermaßen die Richtigkeit der anschaulichen Welt
kontrolliert; sie fragt: Warum bewegt sich die Wolke? Solange sie
nun, Ding an Ding reihend, sagt: durch den Wind und der durch die
Wärme und die durch das Feuer, das Feuer aber kommt vom Stein
oder vom Blitz usw., solange ist noch keine Wissenschaft da, sondern
nur jener berühmte regressus in infinitum, dem die Vernunft,
faul und müde geworden, schließlich eine »prima
causa« als Anfang setzt. Unklare Gemüter nennen diese nun
gar noch »Gott« und halten so etwas für Religion. Das
Band der Notwendigkeit, das durch dieses Springen der Vernunft von
Ding zu Ding in infinitum entsteht, ist aber nur das der Befriedigung
ihrer selbst, also subjektiv; es ist nicht die Naturnotwendigkeit,
welche anzeigt, daß zwei Dinge »im Objekt verbunden«
sind (KANT). Die Wolke kann auch, statt vom Winde gestoßen,
etwa von einem Sog bewegt werden oder vom Gotte Aiolos oder
magnetisch; in alledem liegt keine Notwendigkeit kategorialer Art,
sondern nur, daß sie überhaupt von etwas bewegt wird,
diese Forderung a priori der Vernunft wird hier befolgt. Und nur die
unruhevolle Neugier ist der Antreiber dieses Prozesses. Wissenschaft
aber kommt auf diese Weise niemals zustande. Diese entsteht vielmehr
erst im Augenblick, da nicht die jeweilige causa occasionalis
angegeben wird, sondern der Grund ((ousia)) und das Gesetz.
Ich zitiere aus der Doktor-Dissertation von Konrad Wilutzky (Leipzig
1930)* die mir bisher als die klarste erschienene Definition der
Wissenschaft. WILUTZKY schreibt Seite 29 über »Die
Unterscheidung von Ursache und Grund bei Aristoteles«:
»Schon Aristoteles unterscheidet in der Metaphysik (VII, 17)
zween Arten von Kausalität.: Ursache ((aitia)) und Grund
((ousia)) und sagt von dem letzteren, daß er tiefer in die
Dinge eindringt, daß er darum eine vollkommenere Erkenntnis
bewirkt und auch allein Notwendigkeit mit sich führt, weil er
den Dingen innerlich ist.« - Ich muß gestehen, daß
ich bei der Lektüre des griechischen Originales des Aristoteles
diesen Gedankengang nicht recht habe herauslesen können, was
aber vielleicht in meiner Ungeübtheit in dem spezifisch
aristotelischen Sprachgebrauch liegt;** - indessen sei dem, wie ihm
wolle, und sei es so, daß dem Aristoteles die Urheberschaft an
dieser wichtigen Unterscheidung gebührt, bei Wilutzky kommt es
jedenfalls in voller Klarheit heraus. Nur muß man wieder auf
eine Gefahr hinweisen, die der Sprachgeiz heraufbeschwört, und
darf das deutsche Wort »Grund« hier nicht im Sinne von
Erkenntnisgrund = ratio verstehen, sondern objektiv etwa im Sinne von
»auf den Grund kommen«. WILUTZKY schreibt hierzu S. 32
weiter: »Der Grund zeigt mithin die den Dingen selbst
innewohnende Wesenheit, ihre innere Struktur, ihr Schema auf, welches
Çnur für das geistige Auge sichtbar durch den Vorgang
hindurchscheintë; und wir begreifen, daß nur dem aus dem
Wesen des Objektes selbst entsteigenden Urteil Notwendigkeit zukommen
kann.« Gemeint ist also hier von Wilutzky die echte
Naturnotwendigkeit, die transzendentale, nicht die logische, die der
Apriorität der Denkgesetze entstammt. Und nun die völlig
überzeugenden Beispiele für diesen Gedankengang (S. 31
unten): »Wenn ich sage: Das Glas zerspringt infolge seiner
Sprödigkeit, so ist das der Grund; sage ich aber: das Glas
zersprang, weil es auf die Erde fiel, so ist das die Ursache, welche
immer Gelegenheitsursache ist und keine Notwendigkeit bei sich
führt. Wenn ich sage: Der Apfel fällt zur Erde infolge
seiner Schwere, so ist das der Grund; sage ich aber: der Apfel fiel
zur Erde, weil der Wind den Baum schüttelte, so ist das die
Ursache. Der Satz: Infolge seiner Schwere fällt der Apfel zur
Erde, ist synthetisch a priori, er besitzt Notwendigkeit, er ist eine
Prophezeiung, die immer eintrifft, während die möglichen
Ursachen, die den Apfel zu Hinfallen bringen, zufällig und
unbestimmt sind« (HUCH 56)*. Wenn mir also jemand die Kette der
Ursachen bis auf Adam hin nennen könnte, warum ich hier sitze
und schriebe, so wäre er doch, trotz der Erstaunlichkeit seines
Gedächtnisses nur ein Anekdotensammler ohne jede Wissenschaft;
wenn er mir aber sagen könnte, aus welchem Grunde heraus ich
schreibe, so besäße er Wissenschaft; denn auch die
Freiheit gehört zu den Gründen, niemals zu den
Ursachen.
Wir erkennen also jetzt genau, wodurch Wissenschaft entsteht und
wodurch die bloß logische Notwendigkeit der Denkgesetze, also
des Satzes vom zureichenden Grunde, zur Kategorie der Kausalität
wird, also zur Naturnotwendigkeit, die im Objekte ruht, nämlich
durch solche Begriffe, wie etwa »die Schwere« einer ist. -
Empirische Begriffe sowohl als reine Verstandesbegriffe entstehen auf
automatischem Wege durch den Gang der Natur von selbst; die ersten in
unendlicher Zahl, die zweiten in sehr beschränkter. Aber
jedermann, auch der Irre, hat sie stets mit Sicherheit zur
Verfügung. Sie verlaufen längs der Natur. Die Grundbegriffe
der Wissenschaft aber werden entdeckt, und zwar durch den Genius; sie
verlaufen quer hindurch, längs der Achse der Natur.
Die Kausalität ist aber keine Kraft, die die Dinge bewegt, wie
sich das der naive Realismus vorstellt, denn dann unterläge sie
dem Energiegesetz und würde verbraucht werden. Die
Kausalität wird aber nicht verbraucht, sondern ist immer und
ewig da, solang die Welt besteht. Sie ist auch nicht ein Produkt der
Gewöhnung, also der Anpassung, wie sie David Hume versteht, denn
durch eine solche Auffassung würde man wohl ihr ziemlich
sicheres Funktionieren verständlich machen, nicht jedoch ihre
Notwendigkeit. Diese aber gerade ist ihr wesentliches Merkmal. In die
Irre geht auch Schopenhauers Doktrin, bei dem sie ein
»Gehirnphänomen« ist, vermöge welchem wir die
Welt der Erscheinung - die unter der Hand zu bloßem Schein wird
- wie durch eine Brille betrachten ohne Berührung mit den Dingen
selber. Schopenhauer hat zwar in seiner sehr lesenswerten Abhandlung
über die »Vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden
Grunde« ein sehr lebendiges Bild von der Tätigkeit des
allgemeinen Kausalsatzes gegeben, wie wir sie sonst bei keinem
Philosophen, besonders bei Kant nicht, finden. Aber an dem zentralen
Problem des Transzendentalen ist er vorbeigegangen, weil er das
überhaupt nicht verstand. Die Kausalität, wie er sie
begriff, entbehrt der Giltigkeit, und die Wissenschaft würde
demzufolge keine Dignität besitzen. Das aber gerade ist es,
wodurch sie ihren Rang erwirbt und ihren Beitrag zur Erhöhung
des Menschentumes leistet. Nur Kant sah es richtig mit seinem Begriff
des Transzendentalen. Die Kausalität ist durch und durch
Intellekt, und die Dinge selber verfangen sich in einer im
übrigen rätselhaften Weise in sie. Die Kausalität ist
daher mit Recht das »crux metaphysicorum« genannt worden.
Die Ordnung des Intellektes wird zugleich eine Ordnung der Dinge
selber, sofern sie Erfahrung werden. Diese Erfahrung aber, deren es
nur eine gibt, ist durch und durch Erscheinung. Der Intellekt aber
gehört mit derselben Sicherheit und Unabkömmlichkeit zur
Welt der Erfahrung wie die Materie. Daß beide in
Aggregatzuständen auftreten, ist daher offenbar kein Zufall,
sondern gehört zur Ordnung der Welt. So wie man die Frage nicht
beantworten kann, zu welchem Teile der »8« der
Indifferenzpunkt gehört, in welchem die Schleifen sich kreuzen,
zum oberen oder zum unteren, so kann man auch die Frage nicht
beantworten, an welcher Weltstelle die causa fiendi und die ratio
cognoscendi miteinander verbunden sind. Sie sind aber miteinander
verbunden, denn sonst wäre die Welt weder verständlich,
noch begreiflich, noch könnte sie überhaupt Erfahrung sein.
Sie ist aber Erfahrung. - Es hieße nun bereits Metaphysik
treiben, wollte man darauf Antwort geben, zu welchem der beiden
Aggregatzustände des Intellektes die Dinge selber eine innigere
Verwandtschaft und Zugehörigkeit hätten, mit welchem sie
sich lieber einließen. Ein gewisser metaphysischer Instinkt
aber sagt uns, daß es der Verstand sei und nicht die Vernunft.
Denn jenes intellektuelle Element, das in der anschaulichen Welt
enthalten ist, verfügt über größere Macht und
Eindringlichkeit. Die Vernunft kann man ausschalten, den Verstand
nicht. Die ganze Tierheit ist in seinem Vollbesitze, und der Mensch
hat oft genug die Vernunft als einen Störer des Friedens
verworfen. Auch mahnt uns die bildende Kunst daran, daß der
Verstand und die Sinnlichkeit den Dingen näherstünden als
die Vernunft. Indessen: Vernunft ist Menschenschicksal und muß
durchgehalten werden.
6. ÜBER DIE TRANSZENDENTALE STRUKTUR DES GENIUS
Unter dem Genius darf nichts Schwärmerisches verstanden werden,
was in der Philosophie ohnehin verboten ist, auch nichts Unbestimmtes
und Vages; sondern der geniale Akt, dessen Träger der Genius
ist, besteht in einem ganz sichergestellten Vorgang in der
transzendentalen Logik, den man nicht durch einen anderen ersetzen
kann. Und an ihm erweist es sich erst, daß diese keine
Kapitelüberschrift Kants ist, die auch hätte anders lauten
können, sondern daß es das in Wirklichkeit gibt. Der
Genius hat, jedenfalls an der Stelle seiner entscheidenden
Wirksamkeit, einen bestimmten Bau, den man aufzeigen kann, und durch
den, wenn das gelingt, sein Schema hervortritt. Ich sage daher: Der
geniale Akt wird vollzogen durch die paradoxe Subsumtion oder die
Gleichsetzung zweier empirischer Begriffe, wodurch ein dritter
entsteht, der das Gesetz enthält. Eine »paradoxe
Subsumtion« wird auch begangen, wenn jemand zwei empirische
Begriffe, die offenbar nichts miteinander zu tun haben, etwa den
Begriff »Kanarienvogel« und den Begriff »Baum«
einander unterstellt. Wer so etwas tut, den bezeichnet man mit Fug
und Recht als einen Irren. Der paradoxen Subsumtion steht die
katadoxe gegenüber, die reguläre, bei der ein empirischer
Begriff unter einen ihm übergeordneten gestellt wird, also etwa
der Begriff »Kanarienvogel« unter den Begriff
»Fink« (fingilla). Die katadoxen laden dauernd ein und
befriedigen das Gemüt durch ihre ruhig ordnende Kraft; die
paradoxen dagegen gefährden und zerstören es. Dies nur in
dem einen Falle nicht, in dem die Subsumtion vom Genius vollzogen
wird und ein Gesetz enthält, das durch eben diese Subsumtion
durchbricht. Hier wird das Gemüt erhöht.
Ich gebe Beispiele der genialen paradoxen Subsumtion:
1. Isaak Newton begreift den irdischen Fall eines Körpers auf
die Erde und den Lauf des Mondes als ein und denselben Vorgang, und
indem er das tut, wird der gewöhnliche empirische Begriff des
Falles oder aber der Schwere in den übergeordneten
Wissenschaftsbegriff der Gravitation verwandelt, der beide
»Fälle« in sich schließt.
2. Torricelli nennt die Luft einen Körper.
3. Kopernikus nennt die Erde einen Planeten.
4. Ein Pythagoräer nennt die Erde eine Kugel.
5. Robert Mayer nennt die Wärme Bewegung.
6. Kant nennt die Welt Erscheinung.
7. Lavoisier nennt das Brennen, das Rosten, das Faulen eine und
dieselbe Sache und gründet damit den chemischen
Wissenschaftsbegriff der »Oxydation«.
Da ich kein Kompendium schreibe, so ist es nicht meine Aufgabe, von
allen mir zugänglichen genialen Akten den hier vorgetragenen
Verlauf zu demonstrieren. Ich bin nur zutiefst davon überzeugt,
daß sie sich alle miteinander, vielleicht oft nach einigen
Umformungen wie bei Kopernikus, auf die Formel von der paradoxen
Subsumtion zurückführen lassen. Hat man aber einen richtig
erkannt, so erkennt man alle. Und man wird zugeben müssen,
daß alle hier angeführten Beispiele paradoxe Behauptungen
enthalten, die es auch bleiben, bis zum Augenblick der Konzeption im
Gemüte des Genius; ja, sie blieben es für diesen selber bis
eine Sekunde davor. Am deutlichsten sieht man das im Falle
Torricelli; die Behauptung, Luft sei ein Körper, hatte für
den Menschen seines Zeitalters, also auch für ihn selber, etwas
derartig Absurdes und Herausforderndes an sich, daß die Drohung
mit dem Irrenhaus oder dem Scheiterhaufen recht nahe lag. Ganz
gleichgültig ist dabei für unsere Gedankenführung, ob
die paradoxe Subsumtion in Worten ausgesprochen wurde oder nicht. Es
handelt sich auch ja nicht etwa um die berühmte Alltagsmeinung
vom »verkannten Genie«, dessen Wert man erst nach seinem
Tode verstehe, sondern der Begriff der paradoxen Subsumtion
gehört in die transzendentale Logik. Das Paradoxe entsteht hier
nicht durch die anderslaufende Volksmeinung, sondern durch die
geheime Gesetzesspannung, die in ihm liegt, die auch dem Genius
unbekannt bleibt, bis eben diese der Logik immanente Spannung durch
den genialen Akt aufgelöst wird. Der aber verläuft in
Richtung vom Objekt zum Subjekt (nie umgekehrt!). Auch die
nüchternsten Geister haben das stets als Inspiration
angesprochen.
Paradox im volkspsychologischen Sinne aber bleiben die
Grunderkenntnisse des Genius auch nach dem vollzogenen Akt. Denn wenn
auch eben jene Wissenschaftsgründung ex natura erfolgt, also
legitim ist, so verläuft doch die Verbreitung der Wissenschaft
unter den Menschen nach den Gesetzen des Massenwahns. Schopenhauer
hat völlig recht, wenn er sagt, daß er Abstand des Genius
von dieser übrigen Menschheit stets der gleiche bleibt und sich
auch in den Zeitaltern nicht ändert. Erst seit der Gedanke eines
»Fortschrittes der Menschheit« aufgekommen ist, setzt jener
Säkularisierungsprozeß ein, der die Wissenschaft jedem
zugänglich machen will. Aber jede beliebige Stichprobe beweist,
daß heute genau so wenig begründetes Wissen etwa über
die Erdbewegung herrscht wie zu jeder anderen Zeit auch. Denn wer
kennt denn den Grund, weshalb der Mond nicht auf die Erde
fällt?! Es ist ja kein Kennen und Wissen, wenn dafür in den
Lehrbüchern die Gravitation angegeben wird, die »es
macht«. Ganz unwillkürlich wird dabei die Gravitation als
Ursache betrachtet, so ähnlich wie der Dampf bei der Lokomotive,
und das Unglück ist geschehen. Man hält die Entdeckung der
Gravitation für gleichrangig mit der des Radiums oder der
Kathodenstrahlen, zu denen Fachkenntnis erforderlich war, aber keine
Genialität. Bei dieser Art subordinierter Entdeckungen ist nie
eine paradoxe Subsumtion beteiligt gewesen, nie hat die
transzendentale Logik dabei in ihr eignes Arsenal gegriffen, so wenig
wie bei der Entdeckung Amerikas.
Im Gegensatz zu alledem führt der von Isaak Newton gefundene
Wissenschaftsbegriff der Schwere tief in das Wurzelgefüge der
Natur selber hinein, er mündet an einer Stelle der
transzendentalen Logik. Und man kann an der Struktur des
Entdeckungsvorganges nachweisen, ob man es mit einem echten Genius zu
tun hat oder nur mit einem sogenannten Erfindergenie. So wie der
Chemiker durch die Lackmus-Tinktur entscheidet, ob er eine saure oder
alkalische Lösung vor sich hat, so kann man durch
transzendentale Untersuchung feststellen, ob organhafte
Genialität vorliegt oder nicht.
Diese transzendentale Untersuchung steht nun zu dem, was Kant
darunter verstand, im Verhältnis der dritten Dimension zur
zweiten, ist aber im übrigen dieselbe Sache, und die Methode
Kants bleibt ausdrücklich gewahrt. Nur handelt es sich bei ihm
um die Frage, was »Erfahrung überhaupt« ist; hier
dagegen darum, wie im besonderen Falle, im »Einfalle«, der
geniale Prozeß zustande kommt, ohne den es auch Kants eigne
Theorie der Erfahrung und schließlich diese selbst nicht gibt.
Denn Kant ist selber Genie. Und die Natur ist ein transzendentales
Kontinuum. In gleichem Sinne nun wie Kant behauptet, daß die
zwölf Urteilsformen die genauen Entsprechungen zu den zwölf
Kategorien der Erfahrung sind, genau so behaupten wir, daß die
paradoxe Subsumtion der subjektive logische Prozeß ist, der auf
den genialen Vorgang zielt, und der durch ihn, vom Objekte her, zum
Gesetz aufgelöst wird. Der Unterschied liegt nur eben darin,
daß die gewöhnliche Erfahrung, deren Theorie Kant
schreibt, immer und automatisch in Gang gerät, während bei
den Gründungsakten der Wissenschaft die Natur ihr eigenes und
freies Spiel nach dem Gesetz von Verschwendung und Auswahl treibt.
Ich nenne diesen Vorgang analog zu einer kantischen Formel die
»transzendentale Synthesis des Gesetzes«.
Es gibt vom Genius ein Schema, wie von allen andern Gegenständen
der Erfahrung auch, das uns bestimmte, stets wiederkehrende
Grundzüge seines Wesens verrät. Ich verstehe hier unter
Schema eben jene »Monogramme der Einbildungskraft«, von
denen Kant in dem Kapitel über den »Schematismus der reinen
Verstandesbegriffe« redet. Nur ziehe ich es vor, sie
»Monogramme der Natur in der Einbildungskraft« zu nennen,
denn es sind ja eben keine bloßen Einbildungen im Sinne der
pseudologia phantastica, sondern Abdrücke der Natur, in der
»exakten sinnlichen Phantasie«; sie haben Bezug auf die
Realität und stammen aus ihr. Das Schema des Genius nun hat es
zuwege gebracht, daß man von ihm, wenn auch verworren, eine
zwischen Begriff und Bild schwebende Vorstellung hat, aus der sich
aber einige Grundeigenschaften mit großer Klarheit herausheben.
Das Wirken des Schemas erspart es uns, Biographien zu durchsuchen,
und nötigt uns, an deren Statt die Augen aufzutun und mit dem
inneren Gefühl auch das innerlich Notwendige unmittelbar zu
ergreifen. Freilich gehört dazu die vielgerühmte
Urteilskraft. Es ist aber durch eben dieses Eingreifen des Schemas
eine Art communis opinio über den Genius entstanden, die zwei
wesentliche Merkmale als ihm allein zugehörig anerkennt. Das
eine lautet: der Genius kommt zu seinem Ergebnis niemals auf dem Wege
der Schlüsse, also der Vernunft, sondern immer durch den
plötzlichen Einfall. Wenn ein so nüchterner Gelehrter wie
Alois Riehl, dem die Klarheit des Denkens zum Charakter geworden war,
von dem nüchternsten aller Genien, von Robert Mayer sagt, er
habe seine Entdeckung durch »Inspiration« erhalten, so
können wir ihm wahrlich glauben. Es ist nämlich immer so
und kann nicht anders sein; und auch, wenn es in den Biographien
nicht stünde, so wäre es doch so, weil das Schema des
Genius es erfordert. Drücken wir das Wort Inspiration aber noch
nüchterner aus, so heißt es nichts weiter als »vom
Objekte stammend« oder »im Objekt verbunden«. Es ist
dann nebenbei kein Wunder, wenn wir diesen charakteristischen Zug
allenthalben und immer wieder finden. - Als zweites Wesensmerkmal
zeigt das Schema an, daß jener Einfall stets beim Anblick eines
Gegenstandes oder eines Vorganges erfolgt, der mit dem Gesetz, das
hier durchbrechen will, im Zusammenhang steht. Es ist also immer die
anschauliche Welt, die das Stichwort gibt, nie die gedachte. Man
könnte diesen Zusammenhang assoziativ nennen, wenn man es dabei
vermeidet, an Psychologisches zu denken, sondern vielmehr an eine
innere Assoziation der Dinge selber. Es war ein Lufthieb, den
Schopenhauer führte, als er den berühmten »fallenden
Apfel« in Newtons Garten eine abgeschmackte Fabel nannte, die
Voltaire aufgebracht habe. Solche Fabeln sind immer richtig, weil das
Schema sie fordert. Ob biographische Notizen darüber richtig
sind oder nicht, das steht dahin. Diese pfel fallen immer und
notwendig. Auch das arterielle Blut, dessen überraschend
hellrote Farbe Robert Mayer das Gesetz vom Wärmeäquivalent
der Bewegung erschloß, auch dieses Blut fließt immer und
notwendig; zufällig aber ist, daß es in der Biographie
verzeichnet wurde. Torricelli wußte als erster, daß die
Luft ein Körper sei und ein Gewicht habe, als er bemerkte,
daß das Wasser im geschlossenen Brunnenrohr beim Pumpen nie
höher stieg als zehn Meter. Diese Anblicke sind jedesmal das
auslösende Moment, das die paradoxe Subsumtion zur Erkenntnis
des Gesetzes erhebt. Sie haben also eine feste Funktion im genialen
Vorgang und können nicht ausbleiben, sonst würde der Genius
in der bedrängten Lage seiner Paradoxien steckenbleiben und eben
kein Genius werden. - Hier schließt sich nun noch ein drittes
Merkmal an, das sogar Popularität errungen hat, nämlich die
Synthese von »Genie und Wahnsinn«. Dieses Schlagwort stammt
bekanntlich von Lombroso, der weder vom Genie noch vom Wahnsinn etwas
verstand und auch persönlich weder an dem einen noch am andern
Anteil hatte. Trotzdem ist die Synthese richtig.*
Was also das Merkmal »Genie und Wahnsinn« betrifft, so wird
es ohnehin, außerhalb der Psychiatrie, die unzuständig
ist, vom Schema des Genius gefordert, und es ist bereits von Platon
gesehen worden, als er den Sokrates jene Unterscheidung von
göttlichem und menschlichem Wahnsinn machen ließ. Das
Vorkommen beider Formen ist, auch wenn die biographischen Notizen
versagen, innerlich notwendig, weil vom Schema gefordert. Auch wenn
wir nicht wüßten, daß Robert Mayer im Irrenhaus
gesessen hat und daß Newton zeitweise
»geistesgestört« war, so könnte es doch nicht
anders sein; denn der geniale Akt ist ein Durchbruch vom Objekt her
zum Subjekt, und dieser kann so wenig ohne Zertrümmerungen
ablaufen, als ein Pilz aus dem Boden schießen kann, ohne die
Erdschicht zu zerreißen. Wenn wir, wie bei Schopenhauer, eine
so offenbar gesunde Statur vorfinden, so liegt das daran, daß
der actus demonstrandi ein Heilungsvorgang ist, der hier so schnell
und sicher einsetzte, daß die Manie nicht mitkam. Bei Goethe
kriselt es schon erheblich stärker, und man darf sich nicht
durch die von Eckermann zur Schau gestellte Exzellenzenfigur
darüber täuschen lassen, daß seine Natur sich
ständig in erheblicher Gefahr befand.
Das hellste Bild nun, das wir von einem Gründungsvorgang in der
Wissenschaft haben, gibt uns Isaak Newtons Entdeckung des
Gravitationsgesetzes. Was ging hier eigentlich vor, und welche
Elemente waren im Spiel? Ich halte in der Hand einen Stein und
spüre an dem Widerstand, zu dem meine Muskeln aufgefordert
werden, daß er zur Erde fallen würde, gäbe ich diesen
Widerstand auf. Das ist die Schwere im gewöhnlichen Sinne. Jetzt
sehe ich den Mond am Himmel, und der fällt nicht, obwohl er doch
auch ein großer Stein ist. Dieses Nichtfallen des Mondes ist
schon ein Gedanke, den die Vernunft hereinreicht, und kein
ursprünglich sinnliches Erlebnis. Aber er ist ein
unruhestiftender Gedanke. Die Vernunft ist es auch, die das zweite
Element in den Entdeckungsvorgang einbringt; ich kann nämlich
mit einer charakteristischen Umkehrung sagen statt: »der Stein
fällt auf die Erde«, »die Erde zieht den Stein
an« (gravitas = attractio). Diese Formel gab es schon vor
Newton. Solche Umkehrungen finden sich auch gelegentlich bei anderen
Entdeckungsakten; sie lenken vom bloß Empirischen ab und
verbreiten ein gewisses erstes Licht über das jeweilige Problem.
So sagte SILVIO GESELL: »statt zu sagen Çvier
Brötchen kosten einen Groschenë, kann ich auch sagen:
Çein Groschen kostet vier Brötchenë«. Dadurch
wird mit einem Schlage der Begriff des »Geldpreises«
geklärt, unter dem die Volkswirtschaftslehre vor ihm (und
selbstverständlich auch nach ihm) irrtümlicherweise den
Zins versteht, der für das Leihkapital gezahlt wird; womit jeder
Hoffnung, dem Wesen des Geldes auf die Spur zu kommen, die Tür
verriegelt wird. Durch jene Umkehrung wird der Blick vom ersten und
unmittelbaren Eindruck, nämlich der Schwere des Steines,
abgelenkt zur Erde hin, die nun - was dasselbe ist -
»anzieht«. Aber man tappt noch im Dämmrigen; denn der
Mond wird ja eben - scheintís - nicht angezogen, fällt
nicht, obwohl er auch ein Stein ist und Schwere hat. Hier greift nun,
schon als ein Vorspiel für die paradoxe Subsumtion, das
gleichfalls paradoxe Urteil ein: »der Fall des Steines auf die
Erde und das Nichtfallen des Mondes ist dieselbe Sache«. Das
hängt aber in der Luft, kann nicht leben und nicht sterben und
beunruhigt das Gemüt des Forschers bis an die Grenze des
Wahnsinnes. In diesem Stadium bleiben die meisten Naturgrübler
stecken und kommen nicht durch. Bei Newton aber fiel in einem
entscheidenden Augenblicke jener berühmte Apfel, und alles wurde
klar. Er fiel zwar auch, wie die unzähligen vor ihm, ganz
regulär zur Erde, er plumpste ganz wacker empirisch: aber
außerdem fiel er in der mythischen Ebene der Erkenntnis. Und
das kommt nur je einmal vor. In diesem Augenblicke, dem eigentlichen
momentum concipiendi, stand Newton zu der Kraftbeziehung
ErdeóMond in demselben Verhältnis wie vorher zu der
Beziehung ErdeóStein: das heißt, er spürte
unmittelbar, und als zur anschaulichen Welt gehörig, die
»Gravitation«, die in diesem Augenblicke entdeckt war. Die
Gravitation ist die Schwere höherer Ordnung, durch welche die
gewöhnliche Schwerkraft, die jeder kennt in den Rang eines
Naturgesetzes erhoben wird. Von nun an wohnt ihr Notwendigkeit inne,
das aber heißt allemal: sie gerät in die transzendentale
Schicht der Erkenntnis.
Da dieser Vorgang der Nobilitierung sich bei Newton abspielte und bei
niemand anderem, der Apfel bei ihm, statt in der empirischen in der
mythischen Ebene fiel, so war er nicht nur vor dem Wahnsinn
geschützt, sondern auch befugt, blitzartig schnell die ersten
Fundamente für das Werk zu legen, also den actus demonstrandi zu
vollziehen, ohne den das Genie verkommt. Aus dem bloßen
assertorischen Urteil, wonach der Fall des Steines und der Nicht-Fall
des Mondes dieselbe Sache seien, konnte nun die volle paradoxe
Subsumtion vollzogen werden, indem beides als Modifikation der neu
entdeckten Schwere im wissenschaftlichen Sinne begriffen wurde. Damit
aber wird die Paradoxie wieder aufgelöst. Die Gravitation wird
zum Oberbegriff für die beiden Fälle von »Fall«
und (nunmehr scheinbarem) »Nichtfall«. Von hier an gab es
kein Halten mehr. Newton begriff, daß diese Schwere oder anders
ausgedrückt »die allgemeine Anziehung der Massen« im
Quadratverhältnis zur Entfernung abnehmen müsse; denn: die
Erde ist eine Kugel, und die Körper fallen in Richtung der
Radien auf den Erdmittelpunkt zu; denke ich mir nun die Schwerkraft
gleichmäßig um den Mittelpunkt verteilt und einen
Körper, sagen wir, um die Länge eines Erdradius von der
Oberfläche entfernt, so unterliegt dieser nicht, wie man
zunächst annehmen möchte, einer um die Entfernung
proportional geminderten Schwerkraft, sondern die Minderung
beträgt das Quadrat der Entfernung, was aus der Formel für
die Kugeloberfläche 4 ((p)) r2 folgt. Die Bahn des Mondes
verläuft also stets so, daß sie ein ständiges
»Fallen« ist, das durch die geradlinige Eigenbewegung - die
er von irgendwoher hat - ständig gehemmt wird. Diese
Eigenbewegung also tut dasselbe, was meine Muskeln tun, die den Stein
auf meiner Hand am Fallen hindern.
7. DER TRANSZENDENTALE BEGRIFF DER MATERIE UND SEINE
BEGRÜNDUNG
DURCH IMMANUEL KANT
Der Physiker kann mit Fug und Recht als den Träger der
Gravitation den Begriff der »Masse« bilden und sie als Ding
an sich betrachten; das reicht für seine Zwecke aus. Auf die
sonstige Struktur dieses Trägers - nämlich seine
transzendentale Bedeutung - braucht er nicht einzugehen. Die
Philosophie aber nennt das »Materie« und hat durch den
bloßen Gebrauch dieses inhaltsschweren Wortes ein neues Gebiet
erschlossen, das tiefer in die Natur der Dinge und damit der
Erkenntnis hineinreicht. Es ist eines der größten
Beispiele für den Einfuß der Naturforschung auf die
Philosophie, daß Kant das Problem der Schwere aufnahm, und zwar
im Anschluß an Newton. Man hört gegen diesen vielfach den
Vorwurf, er habe zwar das Gesetz der Gravitation entdeckt, aber nicht
verraten, was denn diese geheimnisvolle Kraft »an sich«
sei. Das hat er nun allerdings nicht »verraten« und hat
auch nicht danach geforscht, ganz einfach deshalb nicht, weil diese
Frage falsch gestellt ist. Denn niemand weiß, was etwas
»an sich« sei. Und es bedeutet zudem ein Verkennen des
ganzen Problems, wenn man die Schwere etwa mit der Elektrizität
- wie das heute so in Mode ist - oder dem Magnetismus in eine
verwandtschaftliche Beziehung bringt. Weil nämlich beide
»auch« anziehen. Mit keinem von beiden aber verknüpft
sie ein verwandtschaftliches Band; sie gehört nicht in eine
Reihe mit diesen empirischen Naturkräften, die ebensogut nicht
sein könnten, sondern sie ist art- und rangverschieden von
ihnen; - sie gehört nämlich zum »transzendentalen
Gegenstand«. Hier setzt KANT ein. Seine Bewunderung für
Newton ist so gewaltig, daß man sagen kann: ohne ihn wäre
die ganze transzendentale Logik nicht zustande gekommen, von der
»Theorie des Himmels« und den »Metaphysischen
Anfangsgründen der Naturwissenschaft« ganz zu schweigen.
Das kann man etwa daraus erkennen, daß sein wuchtigster und
»befremdlichster« Satz, bei dem man fast die Achse der
Natur dröhnen hört, nämlich der Satz »Der
Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur,
sondern schreibt sie dieser vor« (Prolegomena § 36),
daß dieser Satz im Anschluß an Newtons Entdeckung
erwiesen wird. Kant schreibt in wundervollem und klaren Deutsch in
den Prolegomena § 38:
»Gehen wir von da noch weiter, nämlich zu den Grundlehren
der physischen Astronomie, so zeigt sich ein über die ganze
materielle Natur verbreitetes physisches Gesetz der wechselseitigen
Attraktionen, deren Regel ist, daß sie umgekehrt mit dem
Quadrat der Entfernungen von jedem anziehenden Punkt ebenso abnehmen,
welche als notwendig in der Natur der Dinge selbst zu liegen scheint,
und daher auch a priori erkennbar vorgetragen zu werden pflegt. So
einfach nun auch die Quellen dieses Gesetzes seyn, indem sie blos auf
dem Verhältnisse der Kugelfläche von verschiedenen
Halbmessern beruhen, so ist doch die Folge davon so vortrefflich in
Ansehung der Mannigfaltigkeit ihrer Zusammenstimmung und
Regelmäßigkeit derselben, daß nicht allein alle
möglichen Bahnen der Himmelskörper in Kegelschnitten,
sondern auch ein solches Verhältnis derselben untereinander
erfolgt, daß kein ander Gesetz der Attraktion, als das des
umgekehrten Quadratverhältnisses der Entfernungen zu einem
Weltsystem als schicklich erdacht werden kann. Hier ist also Natur,
die auf Gesetzen beruht, welche der Verstand a priori erkennt, und
zwar vornehmlich aus allgemeinen Bestimmungen der Prinzipien des
Raumes. Nun frage ich: Liegen diese Naturgesetze im Raume, und lernt
sie der Verstand, indem er den reichhaltigen Sinn, der in jenem
liegt, blos zu erforschen sucht, oder liegen sie im Verstande und in
der Art, wie dieser Raum nach den Bedingungen der synthetischen
Einheit, darauf seine Begriffe insgesamt auslaufen, bestimmt«
(Sperrung von mir).
Was Kant hier den »Verstand« nennt, würden wir als
»Intellekt in seinen beiden Aggregatzuständen, Verstand und
Vernunft« bezeichnen.
Und genau so ist es auch; von dem Augenblicke an, da statt
»Masse« das Wort »Materie« fällt, ist das
Problem der Philosophie hinübergeschwenkt, wo denn ein neues
Schauspiel beginnt. Das aber nimmt den folgenden Verlauf: Kant
fügt der anziehenden Kraft der Schwere eine abstoßende
(repulsive) hinzu, weil er erkennt, daß, gäbe es nur die
Schwere, sich dann alle Materie zusammenballen müßte und
es kein gegliedertes Weltall gäbe. Die Repulsionskraft ist nun
kein so einheitlicher Singular wie die Schwere mit ihrer gesicherten
Gesetzmäßigkeit, sondern sie besteht aus einer Gruppe
zusammenwirkender Kräfte, die rein empirisch sind und die wir an
den Körpern durch Erfahrung aufzeigen: die Zentrifugalkraft,
ferner die in Elektrizität und Magnetismus wirksamen, dann die
thermischen und auch die Wachstumskräfte der organischen Natur.
Daß durch Kompression Wärme entsteht und diese die
Körper ausdehnt, also der Schwere entgegenwirkt, das ist
durchweg nur a posteriori zu erfahren; man könnte sich auch
andere Repulsionskräfte vorstellen. Niemals aber kann man weder
denken noch sich vorstellen, daß die Materie ohne Schwere und
demnach überhaupt ohne abstoßende Kräfte sei, denn
damit wäre nicht nur das Weltall ein Chaos, sondern es wäre
überhaupt keines da. Das aber heißt nicht mehr und nicht
weniger als: die Schwere gehört als notwendige Eigenschaft der
Materie dem transzendentalen Gegenstande an und ist demnach a priori.
Es ist aber eine andere Klasse der Apriorität als bei den
Denkgesetzen, deren Giltigkeit ich ohne jede Erfahrung nachweisen
kann: die Schwere muß einmal auf der flachen Hand erprobt sein,
daß heißt, sie hat Zugang in Richtung auf die
Sinnlichkeit, dann aber verläuft alles synthetisch und a priori
mit Notwendigkeit. Wegen dieses unterschiedlichen Merkmales hat KANT
den Ausdruck »Prädikabilie der Materie«
geprägt.
Ich gebrauche den terminus »transzendentaler Gegenstand« in
genau dem gleichen Sinne wie Kant den vom »Gegenstand
überhaupt«; da er aber bei ihm auch im Sinne von »Ding
an sich« vorkommt, so möchte ich das hier ausdrücklich
vermeiden. Auch die populäre Ansicht über die Wortbedeutung
von »transzendental« geht ja bekanntlich in Richtung auf
»transzendent-metaphysisch«. Aber gerade das bedeutet ja
transzendental nicht. Und, um die Richtigstellung herauszufordern,
habe ich den Begriff »transzendentaler Gegenstand« =
»Gegenstand überhaupt« gesetzt. Denn transzendental
ist alles, was, obwohl a priori und subjektiv, trotzdem »im
Objekt verbunden« und also für Dinge der Erfahrung giltig
ist. So ist das bloße Denkgesetz, das in der Beziehung von
Grund und Folge in der reinen Logik steckt, keineswegs
transzendental, sondern nur a priori, wohl aber sind es Ursache und
Wirkung, d. h. die Kategorie der Kausalität, durch welche die
anschauliche Welt gefügt wird. Ebenso ist die Beziehung von
Subjekt zu Prädikat im assertorischen Urteil nicht
transzendental, wohl aber in der Kategorie der Substanz, deren
Entsprechung sie ist. Schopenhauer hat das alles nicht begriffen;
denn bei ihm sind alle Sätze a priori vorgeblich deshalb
transzendental, weil sie a priori sind; dadurch entsteht eine falsche
Welt, die man durch einen Vorgang im Willen annullieren kann. Die
Summe nun aller dieser wirklich transzendentalen Begriffe,
einschließlich die Prädikabilien der Materie, bildet den
transzendentalen Gegenstand. Dabei ist zu beachten, daß hier,
wie bei allen Gebilden der Natur, der Satz des Aristoteles gilt,
daß die Einheit eines Dinges mehr ist als die Summe seiner
Teile. Im transzendentalen Gegenstand werden die Denkgesetze - oder
doch einige unter ihnen - »einheimisch«; diese herrliche
Übersetzung des hartnäckig-schwierigen Fremdwortes gelang
KANT in den Prolegomena, gilt aber nur für diese Stelle. Das
Gegenteil davon ist »überschwänglich« =
»transzendent«; hier wird der Mutterboden der anschaulichen
Welt zugunsten eines Scheingebildes der Vernunft verlassen; es
entsteht eine falsche Religion mit ihrem »stupenden Begriff
Gott«. Das Transzendentale aber hat mit alledem nichts zu tun
und besteht in eigner nachweisbarer Sicherheit als Hauptbegriff der
transzendentalen Logik. Alle Gegenstände der Erfahrung
müssen sich den Forderungen des transzendentalen Gegenstandes
fügen, oder sie hören selbst auf, Erfahrung zu sein. - Dies
alles müßte Kant, läse er es, m. E. unterschreiben;
denn es stammt durchweg aus seinem Gedankengut. Ich halte es daher
für verfehlt, den Ausdruck »transzendentaler
Gegenstand« für das »Ding an sich« zu gebrauchen,
das man ab besten überhaupt nicht mehr inkommodiert.
Hierfür würde sich besser »transzendentales
Objekt« eignen, das aber in der hier vorgetragenen Philosophie
den Gegenpol (nicht nur das Gegenteil) für das transzendentale
Subjekt bezeichnet, das heißt aber den objektiven Pol der Achse
der Natur.
Die Materie selber aber ist »der allgemeine Gegenstand der
Empfindung« - man sieht, daß KANT, dem diese Definition
entnommen ist, die Materie schon mit dem ersten Griff nicht als
empirisch anpackt wie die Physiker, sondern transzendental, und wir
werden erfahren, daß hiermit allein durchzukommen ist. Dabei
liegt der Hauptton auf »allgemein«. Die Materie ist also
nicht der Gegenstand einer einzelnen, spezifischen Sinnesempfindung,
auch nicht des Tastsinnes, sondern aller in einem. Sie kann also
weder gesehen, noch gehört, noch geschmeckt, noch gerochen, noch
auch nur getastet werden. Die bevorzugte Stellung, die der Tastsinn
bei ihr einzunehmen scheint, bezieht sich nicht auf eine ihrer
Qualitäten, sondern er verbürgt uns nur die
vorzügliche Weise die Anwendung der Kategorie der Realität
auf die Materie. Der Tastsinn ist das prägnanteste Korrelat der
Materie im Subjekt; er ist auf sie ausgerichtet. - Wenn ich mit
meinem Finger auf einen Gegenstand stoße, so kann ich ihn als
hart oder weich, glatt oder rauh, feucht oder trocken empfinden;
damit aber ist nicht die Materie getroffen, sondern eine
zufällige Eigenschaft des Stoffes, den ich gerade vor mir habe,
und die kann sich ändern. Daß mir aber, wenn ich weiter
drücke, ein unendlicher Widerstand in Richtung auf das Objekt zu
geleistet wird, das bedingt die transzendentale Eigenschaft der
Materie, nämlich die Prädikabilie der Undurchdringlichkeit
(solidity). Ich weiß (d. h. ich muß denken), daß,
auch wenn ich statt des kümmerlichen Druckes meines Fingers den
des Mondes und der Erde ansetzten würde, drüben aber
stünden Jupiter und Saturn mit ihrer Masse - ich weiß,
daß ich mit diesem Drucke so wenig wie mit jedem andern auch
nur ein Staubkörnchen zwingen kann, jenen letzten Widerstand
aufzugeben, der in seiner Materie unverbrüchlich verankert
liegt. Das muß ich denken und zwar notwendig und a priori, und
die Sinnesempfindung ist nur die Repräsentation dieser
transzendentalen Verknüpfung.
Der gemeine Mann hat also recht mit seinem unbekümmerten
Alltagsverstande, wenn er sagt: stoße ich mit dem Kopf gegen
die Wand, so ist das ein untrügliches Zeichen für die
Existenz der Außenwelt, nämlich der Wand - aber auch
meines Kopfes. Man kann nicht sagen: weil ich jenen Druck
»nur« als Empfindung in meinen Sinnesorganen wahrnehme,
deshalb ist die Existenz der Außenwelt unsicher. Denn dieser
Druck hat Stromrichtung vom Objekt zum Subjekt, und das allein
verbürgt Realität. Der common sense wehrt mit seiner
richtigen These in der ihm eignen Natursicherheit jene ganze
entartete Philosophie ab, die behauptet: weil ich die Materie nur als
Empfindung in meinen Organen wahrnehme, deshalb ist es zwar
völlig sicher, daß die Welt in mir besteht, daß sie
es aber auch außerhalb meiner tut, das bedarf des Beweises. An
diesen Gedankengang hängen sich dann die verschiedenartigsten,
als »materieller Idealismus« von KANT bezeichneten Systeme,
deren Tendenz es ist, die reale Außenwelt zu bezweifeln mit dem
Ziel, sie durch einen Vorgang im Intellekt oder auch im Willen
aufzuheben; einen Prozeß, den man dort fälschlicherweise
»Erlösung« nennt.
Bei alledem ist es denn eine recht absonderliche Tatsache, daß
gerade Schopenhauer, dem doch an der bloßen Scheinbarkeit der
Außenwelt etwas liegt, einen der stichhaltigsten Beweise
für deren Realität geliefert hat, indem er sagt, daß
jener Sprung von der bloßen Sinnesempfindung zur Erkenntnis der
realen Außenwelt dadurch geschieht, daß der Verstand
(nicht die Vernunft) den Sinneseindruck vermöge des Gesetzes der
Kausalität unmittelbar auf seine Ursache außer ihm
zurückführt, indem er ein Gefühl in den Fingerspitzen,
das ja auch ein bloßes Jucken sein könnte, von einem von
außen kommenden Eindruck unterscheidet. Das ist nun freilich
kein Beweis durch Schlüsse der Vernunft, sondern der unmittelbar
gefundene Erweis durch den der Natur sehr viel näher liegenden
Verstand. Auf dieses verläßt sich, ohne es zu wissen, der
einfache Mann, und er tut recht daran. Weil er nun, unkritisch, wie
er ist, jenen primären Verstandesakt, der von der
Sinnesempfindung auf die Ursache schließt, nicht bemerkt,
deshalb bleibt ihm der transzendentale Charakter der Materie
verborgen, und er hält sie für ein Ding an sich. Von dieser
Stelle her stammt SCHOPENHAUERs gelungener Ausdruck vom »naiven
Realismus«. Der aber behält sein gutes Recht im
Alltagsleben, zu dem auch alle Einzelwissenschaften gehören. Es
wäre ebenso abgeschmackt, wollte ein Chemiker bei seinen
Experimenten erwägen, daß seine Stoffe ja eigentlich nicht
die Dinge selber sind, sondern bloße Erscheinungen, wie es
lächerlich wäre, wenn ein Gemüsehändler seinen
Kohlkopf ehrlicherweise als bloße Erscheinung zum Verkauf
anbieten würde. Es besteht hier in der Tat kein Unterschied, wie
weit man es auch mit der Naturwissenschaft treiben möge. Von dem
Augenblicke an aber, wo ein Physiker oder Biologe - die Fortschritte
seiner Wissenschaft für solche der Menschheit haltend - beginnt,
neue Religionen und Weltanschauungen zu gründen (Haeckels
»Welträtsel«), eine neue Ethik zu verkünden
(Ostwalds »Energetischer Imperativ«), über Kunst zu
reden oder auch das Wesen der Wissenschaft und Wahrheit zu erforschen
(du Bois-Reymonds »Ignorabimus«), von da an gebietet die
Philosophie Halt, und sie kann das nur, indem sie den naiven
Realismus durch den kritischen ersetzt, der von Kant begründet
wurde. Dabei wird es sich stets herausstellen, daß jene
voreiligen Propheten sich über das transzendentale Wesen der
Materie irren und sie stillschweigend als Ding an sich betrachten.
Die Philosophie aber steht hier auf völlig sicherem Boden und
braucht nicht mit der Wimper zu zucken. Sie hat das untrügliche
Mittel in der Hand, aufzuzeigen, daß der Weg, den die
eigentlichen Güter der Menschheit gehen, an denen sie gewogen
und zu leicht befunden wird, daß dieser Weg, und zwar auch der
innere Weg der Wissenschaft, nicht über die Einzeldisziplinen
führt, sondern vom transzendentalen Objekt her auf den
transzendentalen Gegenstand zu und von da in die Erfahrung. Um ihn
aber gehen zu können, dazu bedarf es des Genius im präzisen
Sinne unseres Denkens.
Die volkstümlichste aller Prädikabilien der Materie ist
ihre Unzerstörbarkeit. Während die empirischen Formen der
Dinge einem dauernden Wandel unterworfen sind, bleibt die Materie
stets die gleiche. Von einem Stück Holz, das verbrennt und seine
Form aufzugeben genötigt wird, weiß ich a priori,
daß von seiner Materie nichts verloren geht; ebenso wie ich
weiß, daß die Materie, die einst den Leib des Sokrates
gebildet hat, heute noch da ist und immer da sein wird. Würde
ich das bestreiten, so gäbe ich damit zu, daß die Natur
ein Loch hat, in welches im Laufe der Zeit sie selber ganz
verschwinden würde. Schopenhauer hat einmal die begründete
Zuversicht, mit der der Intellekt die Unverlierbarkeit der Materie in
sich trägt und besiegelt, am Beispiele der
Zauberkunststücke erläutert, bei denen ein Gegenstand, z.
B. ein Ei, zum Verschwinden gebracht wird; die verblüffende
Wirkung dieser Spielereien, sagt er, beruht darin, daß der
Intellekt sich hier übertölpeln läßt und etwas
zuzugeben scheint, was er, bei ruhiger Überlegung, niemals
konzendieren kann; also eine Art transzendentaler Witz.
Die Materie darf man nicht - was die Physiker so oft tun - mit den
Stoffen verwechseln. Diese, deren Zahl unendlich ist, sind allemal
durch und durch geformt, auch die Atome. Es gibt in der Natur kein
ungeformtes Vakuum. Dieses Geformte aber wird bezogen von den Ideen;
die Materie dagegen, das durchweg Ungeformte, ist die transzendentale
Stütze, die sich niemals entzieht. Man kann aber nicht sagen:
hier liegt ein Stück Materie! Sondern es liegt immer ein Stoff
da. Es scheint mir so, als ob dem Namen »materia« die
Vorstellung zugrunde liege, daß sie die Mutter aller Stoffe
sei; - nicht zu verwechseln mit den Müttern, als welche die
platonischen Ideen sind. Diese sind metaphysisch, jene ist
transzendental; die Stoffe aber sind empirisch.
8. ANTOINE LAVOISIER UND DIE NOBILITIERUNG DER CHEMIE
Die Wissenschaft von den Stoffen und ihren Wandlungen heißt
Chemie, und deren Gründungsakt fällt in das Leben von
Antoine Lavoisier. Es heißt wieder einmal zu kurz gesprungen,
wenn man ihn als den Entdecker des Sauerstoffs feiert und in eine
Linie mit Robert Koch, Madame Curie, Röntgen usw. setzt, denen
jede wissenschaftsgründende Befugnis abgeht. Was Lavoisier tat,
trägt den unverkennbaren Stempel des Genius. Vor ihm galt die
Stahlsche Phlogistontheorie, wonach bei der (flammenden) Verbrennung
eines Körpers aus diesem ein feiner Stoff, eben das Phlogiston,
entweicht, der die Flammenerscheinung bewirke. Es wird hier also
etwas abgezogen. Da es nun nicht gelang, diesen hypothetischen Stoff
als Materie dingfest zu machen, er eben dauernd nur entwich, so
bedeutete das, obwohl es gar nicht so gemeint war, doch eben eine
Verletzung der Prädikabilien der Materie, die ja keine Verluste
erleiden kann. Hier greift nun Lavoisier ein. Die Materie kommt dem
gewöhnlichen Menschen nur über Sinnlichkeit und Verstand
auf der einen und über die Vernunft auf der andern Seite zum
Bewußtsein; beides liegt nebeneinander, wie zwei Stoffe im
Gemenge. Lavoisier dagegen verstand die Materie im Geist, das
heißt aber, diese drei Elemente Sinnlichkeit, Verstand und
Vernunft schossen im genialen Augenblick in eines zusammen und
erglühten gewissermaßen, so wie Eisen und Schwefel
während ihrer chemischen Verbindung zu Schwefeleisen (in statu
nascendi). LAVOISIER erlebte den transzendentalen Charakter der
Materie, und das eben ist ein geistiger Vorgang. Aus diesem aber
entsprangen die entscheidenden Sätze: in der Chemie gibt es nur
Verbindungen und deren Auflösung, aber kein freies
Fortströmen ins Nichts. »Verbrennung« ist nicht, wie
der Augenschein zu lehren scheint, eine Subtraktion von Etwas aus dem
brennbaren Stoffe, sondern immer eine Addition. Die Stoffe werden
daher durch die Verbrennung notwendig schwerer. Verbrennung ist
Verbindung mit Sauerstoff, einem feststellbaren Element materieller
Natur. Daher ist Verbrennung nicht bloß die populär
bekannte Flammenerscheinung, sondern jede andere Verbindung mit
Sauerstoff auch, also etwa das Rosten des Eisens sowie das Verfaulen
organischer Stoffe. Chemisch ausgedrückt heißt Verbrennung
Oxydation. - Man sieht an diesem Gedankengang wieder die typischen
Anzeichen des genialen Prozesses, die Umkehrung und die paradoxe
Subsumtion. Unwesentlich ist dabei, wer zuerst den Sauerstoff
dargestellt hat, welches Verdienst wohl dem Chemiker Scheele 1774
gebührt. Der echte Entdeckungsakt, der damals schon vorbei war,
besagt, daß dieses Element Sauerstoff ein wirklicher
materieller Stoff sein müsse ohne jede Merkmale hypothetischer
Natur, wie etwa in der Physik der »ther«. Lavoisier
ist somit der Anwalt der Materie in der Chemie geworden, indem er sie
- ohne das zu bemerken zu müssen - im richtigen Sinne, d. h.
transzendental gebrauchte. Es ist seitdem niemand mehr auf den
Gedanken gekommen, es könne sich einmal im dauernden chemischen
Prozeß etwas auf Nimmerwiedersehen verflüchtigen nach
Phlogiston-Manier.
Im übrigen ist es auch falsch zu sagen, die Chemie habe sich aus
der Alchymie »entwickelt«; davon kann gar keine Rede sein.
Alchymie ist etwas völlig anderes. Die volle
Selbständigkeit der Chemie wie jeder anderen Wissenschaft wird
durch den legitimierenden Charakter der genialen Akte erwiesen, mit
denen sie beginnen; man braucht nur hinzusehen, um zu erkennen, wie
die Quellen selbständig aufbrechen. Mögen immerhin
abergläubische Vorstellungen einer verkommenen Alchymie als
Reize auf das Gemüt der Entdecker gewirkt haben. Auch die
Astronomie hat sich nicht aus der Astrologie »entwickelt«,
sondern bricht aus eigner Quelle und mit einem eignen Thema auf. -
Würde übrigens Lavoisier seinen Kopf, den er auf der
Guillotine verloren hat, wieder aufsetzen können und lesen, was
ich hier über ihn geschrieben habe, so würde er mir
zweifellos in allem, was seine Ergebnisse anlangt, recht geben;
über den Passus aber von der Materie und ihrem »Erleben im
Geiste«, den genialen Kernvorgang also, würde er
wahrscheinlich sagen: davon wüßte er nichts. Dafür
ist er auch Franzose, wie Lamarck. Er würde auch das Wort
»transzendental« gar nicht begreifen. Allein es ist doch so
gewesen wie ich gesagt habe, weil es notwendig so sein muß und
der Ordnung des Intellekts entspricht. Gerade weil er nichts davon
weiß, deshalb war es so. Denn der geniale Akt ist ein
Naturvorgang, und der spielt sich an seiner Wurzel stets im
Unbewußten ab. Bewußt würde er gar nicht gelingen,
und niemand kann durch die Befolgung der hier vorgetragenen
Begebenheiten einen genialen Akt vollziehen. Es ist genau dasselbe,
wie jemand, dem seine Mahlzeit mundet, nicht weiß, nach welchen
chemischen Gesetzen sich die Verdauung in seinem Magen vollzieht; und
wenn er es wüßte, so würde ihm wahrscheinlich der
Appetit vergehen.
9. ÜBER DEN KULMINIERENDEN PUNKT DER MATERIE
Ohne die Unzerstörbarkeit der Materie gäbe es keine
Wandlung der Stoffe in der Welt. Diese bestünde vielmehr nur aus
den Elementen, die als ein physikalisches Gemenge in den drei
Aggregatzuständen durcheinanderlägen. Eine Verbindung
zweier Elemente zu einem dritten Stoff ist nur dadurch möglich,
daß zwischen beiden eine transzendentale Brücke besteht,
die weder der eine noch der andere Stoff ist, wohl aber die
Stütze beider nach dem Objekt hin. Im übrigen ist die
Unzerstörbarkeit der Materie als Prädikabilie nichts weiter
als eine andere Seite der Undurchdringlichkeit, so daß auch die
physikalische Welt ohne sie nicht bestehen würde.
Wenn ich in einem Reagenzglas Eisen und Schwefel in Pulverform innig
mische, so liegen die beiden Stoffe zunächst unverändert
durcheinander und bilden ein physikalisches Gemenge; jeder aber
behält aber seine unverminderte Natur. Erwärme ich nun
langsam, so hebt, zunächst noch nicht sichtbar, in jedem der
beiden Stoffe ein Prozeß an, der ihre Natur gefährdet. Das
Eisen sowohl als der Schwefel könnten von jetzt an nicht mehr
mit voller Zuversicht sagen: »Ich bin in alle Ewigkeit
Eisen« und »ich bin Schwefel« - die chemischen
Kräfte der Affinität erschüttern diese Sicherheit jede
vom andern her gegenseitig. Nimmt die Erwärmung zu, so tritt
dann an einem bestimmten Punkte mit Naturnotwendigkeit der
unaufhaltsame Übertritt des einen zum andern ein: unter
Aufglühen des Gemenges verbindet sich Eisen mit Schwefel zu dem
völlig andersartigen Schwefelkies. Dies mag als Vorbild für
alle chemischen Prozesse dienen. Es heißt, die Natur wirklich
richtig anreden und einen Schlüssel zur Enträtselung dieser
großen Hieroglyphe liefern, wenn Arthur Schopenhauer hier sagt:
das Eisen »will« zunächst einmal Eisen bleiben, ebenso
der Schwefel. Nur dürfen hier zwei Fehler nicht begangen werden;
der erste, dem Kant und alle Kantianer verfallen, indem sie sagen: es
gäbe nur bewußten Willen; - und der zweite, den
Schopenhauer selbst beging, indem er den »Willen in der
Natur«, statt ihn transzendental zu verstehen, metaphysisch nahm
und ihn für das »Ding an sich« erklärte. Die
Folge des kantischen Fehlers war, daß der Blick für die
Natur verkürzt wurde und kein rechtes Weltbild entstand, obwohl
gerade sein System dazu vorbestimmt war, es zu schaffen; der Fehler
Schopenhauers aber führte dazu, an eine echt »Verneinung
des Willens zum Dasein« - objektiv gemeint und nicht nur als
Schrulle - zu glauben. Im Umweg über den »Heiligen«,
so meinte er, könne die Welt aus den Angeln gehoben werden.
Unter Vermeidung beider Fehler nun sage ich indessen: das Eisen
»will« Eisen bleiben, indem es zunächst einem
modifizierten Trägheitsgesetz gehorcht. Der »Wille«,
den ich durchaus von Schopenhauer übernehme und nicht von Kant,
bleibt dabei in genauer Augenhöhe mit der Materie und hat
dieselben Prädikabilien wie sie; denn er ist die Materie von
innen gesehen. Hiermit ist die Grenze von Schopenhauers Konzeption,
ohne die keine Philosophie mehr auskommt, genau gesetzt. Ich kann mir
nun im gedanklichen Experiment das Eisen und den Schwefel mit
Bewußtsein begabt vorstellen, und nun frage ich es:
»Willst du Eisen bleiben?« Und das Eisen antwortet klar und
verbindlich: »Ja!« Denn es gibt objektiv keine
»Verneinung des Willens zum Dasein«, sondern nur subjektiv
als psychologische Folge des Mißmutes.
Das Eisen also, das zunächst einmal, wie jedes andere Naturwesen
- den Menschen eingeschlossen - nur den Willen zur Selbstbehauptung
seines spezifischen Daseins hat, wird durch die bedrohliche Nähe
des Schwefels und gemäß den chemischen Kräften der
Affinität in ihnen beiden, in die Not gebracht, diese seine
Natur aufgeben zu müssen. Und wie in der Welt der Mechanik die
Materie von anziehenden und abstoßenden Kräften bestimmt
wird, so in der chemischen von selbstbehauptenden (trägen) und
verbindenden (affinen); nur drängen sich die verbindenden dem
beobachtenden Auge unmittelbar auf, während man die trägen
erst erschließen muß. Einmal aber muß in jenem
Kampfe der Punkt erreicht sein, da im Falle, daß die chemische
Verbindung zustande kommt, die Not der trägen Kräfte aufs
höchste gestiegen und der Sieg der verbindenden entschieden ist.
Es ist die Stelle, an der es kein Zurück mehr gibt. Nun frage
ich: Liegt dieser Punkt in den einzelnen spezifischen Stoffen oder
liegt er in der ständig stützenden, unzerstörbaren
Materie? Läge er in den Stoffen, so wäre er empirisch und
würde bei jedem anders liegen, wie die Siedepunkte. Es wäre
dann nicht einzusehen, wie auf dieser Basis die neue Ordnung eines
neuen Stoffes zustande kommen könnte. Siede- und Gefrierpunkte
verändern ja die Natur ihrer Stoffe nicht, sondern nur die
Aggregatzustände. Hier aber kommen zwei Stoffe in Not, ihrer
Natur zugunsten eines dritten aufzugeben, und dieser Vorgang kann
sich nur in der transzendentalen Brücke beider abspielen, also
in der Materie, der Mutter der Stoffe. Ich nenne daher jenen Punkt,
von dem an es kein Zurück in beiden Stoffen mehr gibt, den
kulminierenden Punkt der Materie.
Dieser Begriff gehört mit zu den Prädikabilien der Materie;
denn ohne ist deren Wirksamkeit undenkbar. Da jeder chemische
Prozeß eine Zeit in Anspruch nimmt, wenn auch oft eine sehr
kurze, so muß es für jeden der Stoffe, der in Not
gerät, einen Augenblick geben, in welchem er weder das eine noch
das andere ist. Dieser Moment kann aber, in unserem Falle, weder ein
Erlebnis des Eisens, noch des Schwefeleisens sein (denn das eine ist
nicht mehr, das andere aber noch nicht), sondern nur eines der
Materie, ihres transzendentalen Bandes. Die Alchymisten, obwohl sie
etwas gänzlich anderes wollten - wenigstens in ihrer
großen Zeit - hatten hierfür den Ausdruck »reductio
in primam materiam«, der sagen wollte, daß die
empirischen, stets formbaren Stoffe für einen Augenblick in die
Hände der formlosen und unzerstörbaren Materie gelegt
werden, um neu wieder aufzuerstehen. Die Materie spielt also hier die
Rolle eines Treuhänders; sie garantiert dafür, daß
nie etwas verloren geht und alles Zerstörte wieder aufgefangen
wird.
10. NATURZWANG UND NOTWENDIGKEIT
Außerdem aber ist der kulminierende Punkt der Materie der
sichere Garant für das objektive Bestehen des Naturzwanges; denn
wenn er erreicht ist, dann spricht die Natur ihr letztes Wort in der
Kette der empirischen Vorgänge, und es gibt kein Zurück
mehr. Im Empirischen kann man sich ein solches Zurück immer noch
denken; hier aber handelt es sich um Urszenen, die sich im
transzendentalen Gefüge der Erfahrung abspielen, für
welches alles Empirische die freilich sehr dichte Umhüllung ist;
sie werden nur vom Auge der kritischen Philosophie durchschaut.
Der Sprachstil in transzendentalen Dingen ist ein sehr eigner, und
Kant hat darin z. B. in den Prolegomena eine hohe Meisterschaft
erreicht, während die »Kritik der reinen Vernunft«
sehr zurücksteht, schon wegen ihrer Unverständlichkeit; es
ist gar nicht leicht, ihn wieder zurückzugewinnen, so daß
das Thema vor den Augen des Lesers förmlich aufglüht. Aber
man erinnert sich wohl, welchen Eindruck es machte, als NIETZSCHE das
Wort »Notwendigkeit« sinnvoll teilte und
»Not-Wendigkeit« schrieb. Er traf dabei mit seinem sicheren
aber kritisch ungeschulten Blick - er hat Kant nie recht gelesen -
genau den Angelpunkt des Vorganges. Denn die »Not«, in die
das Eisen in unserem Beispiele gerät, »wendet sich« in
dem Augenblicke, in dem es sich den wahlverwandten chemischen
Kräften des Schwefels doch wohl mit einer Art Lustgefühl
entgegenwirft - wir stoßen hier auf Goethesche Gedankenwelt -:
dieser Augenblick aber ist durch die Materie gedeckt, zu deren
Prädikabilien der kulminierende Punkt gehört. So sieht die
»Notwendigkeit« in der objektiven Sphäre aus, und ihre
genaue Entsprechung ist der reine Begriff der Notwendigkeit, der im
apodiktischen Urteil der Logik steckt; ihre letzte noch erkennbare
Wurzel ist der kulminierende Punkt der Materie.
Redet man so viel und so leichtfertig von den »Wundern der
Natur«, so sollte man mit noch viel größerer Inbrunst
von diesem transzendentalen Wunder der Erkenntnis sprechen, von dem
man wie SKOTUS ERIGENA sagen könnte: »mirabili et
ineffabili modo creatur.« EURIPIDES sprach einmal davon, als er
in den »Troerinnen« die kriegsgefangene Königin Hekuba
den Zeus im Gebet also anreden ließ:
»Du Halt der Welt, auf Erdenlanden Thronender!
Wer du auch seist, du Unergründlicher!
Zeus, Menschendenkegeist - Naturnotwendigkeit,
Dich ruf ich an! - Denn stille Pfade schweifend
Lenkst du dem Recht gemäß der Menschen
Schicksalslos« (H. B.)
(Troades 885 ff)
Im Hintergrunde brennt Troja. Menelaos stürmt racheschnaubend
über die Bühne, - und die Königin Hekuba wird vom
Problem der transzendentalen Logik durchrüttelt! Hier
»Menschendenkegeist« ((nous broton)), dort
»Naturnotwendigkeit« ((anagkh phuseos)). Menelaos bleibt
einen Augenblick stehen ob dieser Sprache und sagt nur
verwundert:
»Was für ein neuer Klang im
Götterflehn..!«
Der kulminierende Punkt der Materie ist ein Theorem der kritischen
Philosophie, welches beweist, daß die anschauliche Welt der
Erfahrung nach Gesetzen der Logik verlaufen muß und nicht etwa
bloß nach ihnen erkannt wird. Denn die Notwendigkeit in der
Logik durchzieht alle Denkgesetze, und sie wurzelt zugleich als
Prädikabilie in der Materie, wo sie als Naturnotwendigkeit
auftritt. Die gesamte anschauliche Welt aber ist materiell, und die
Materie selber ist das letzte Spürbare vor den Dingen selber.
Man kann also auch sagen: die logische Notwendigkeit ist letzten
Endes durch die Materie erklärt - was aber nicht heißt,
daß sie »materialistisch« erklärbar ist. Denn
Materie ist - Kants großem Griff zufolge - durch und durch
transzendental und nicht empirisch, wie die großen Atomistiker
des Altertums meinten, von den kleinen des neunzehnten Jahrhunderts
lieber nicht zu reden.
11. DER KULMINIERENDE PUNKT DES WILLENS
Da die Materie von innen gesehen Wille ist, so muß es auch
einen kulminierenden Punkt des Willens geben, durch den das Band der
Notwendigkeit auch für die Vorgänge im organischen Reich
der Natur einschließlich der Handlungen des Menschen und
einschließlich seiner sittlichen gesichert wird.
Schopenhauer hat durch seinen Begriff des »Willens« bei
unverkennbarer paradoxer Subsumtion eine geniale Erweiterung des
volkstümlichen Begriffes vollzogen, so ähnlich wie Newton
durch seinen Begriff der Gravitation den des gewöhnlichen Falles
in die Ebene der Wissenschaft erhob. Denn es ist natürlich
paradox zu sagen: die Schwere, die Kristallisation, die chemische
Affinität, das Wachstum, der Stoffwechsel, die Anpassung, der
Hunger und der Geschlechtstrieb - dies alles in Klammern und davor
den »Willen zum Dasein« -, dies alles sei ein und dasselbe;
und es ist genial zu sagen: das sei der Schlüssel zur
Enträtselung der Hieroglyphe der Natur. Nur ist es freilich
nötig, hier bei ihm den ARISTOTELES zu spielen, denn »Plato
mihi amicus, magis amica veritas«. Seinen Kardinalfehler, den
Willen für das von Kant vorgeblich gesuchte Ding an sich zu
halten, lassen wir hier füglich beiseite; das ist schon zu oft
behandelt worden. Immerhin steht und fällt mit dieser
dogmatischen These seine ganze Erlösungslehre; das heißt,
sie fällt. Mit Metaphysik hat der Wille nichts zu tun, wohl aber
mit dem transzendentalen Gegenstand, und an ihm wird sich die
Fruchtbarkeit des Gedankens erweisen.
Man muß es geradezu in algebraischer Form hinschreiben, um
genau zu erkennen, welche Staffelungen hier vorliegen. Vor der
Klammer kommt zu stehen: »Wille zum Dasein«; in die Klammer
aber »Kristallisation«, »Affinität«,
»Wachstum«, »Hunger«,
»Geschlechtstrieb« usw. Klammer zu. Was in der Klammer
steht, ist empirisch, was vor ihr, transzendental. Man wird sofort,
wenn man eine gute Zunge hat, bemerken, daß das anders
schmeckt. »Wille zu Dasein«: das ist jener völlig
unbeherrschbare Einspruch, den auch der Selbstmörder gegen
seinen Tod erhebt, wenn er in die von ihm selbst bisher
gewünschte Nähe rückt; obwohl er - vorgeblich - nicht
leben will, so will es doch ich ihm leben. Er ruft um Hilfe. Die
Todesangst ist der eigentliche Exponent des Willens zum Dasein. Und
zwar ist dieser Wille stets spezifisch und bezieht sich auf die
Person, nicht auf die Individualität. Beim Eisen haben wir ihn
als jene »Trägheit« kennengelernt, die sich gegen das
Aufgeben der spezifischen Qualität sträubt und Eisen
bleiben »will«. Da aber die chemische Affinität zum
Schwefel wirksam wird und zu reizen beginnt, nämlich zur
Vereinigung, so tritt ein Moment ein, in welchem das Eisen seinen
ursprünglichen Daseinswillen aufgibt und Schwefeleisen werden
will. Dieser Moment aber ist der kulminierende Punkt des Willens. Er
ist gleichzeitig und identisch mit jenem Akt der Materie, in dem
diese das Eisen freigibt zugunsten des Schwefeleisens. So wie die
Materie beide verbindet, da sie beider Mutter ist und selber nur im
kulminierenden Punkte für einen Augenblick gewissermaßen
nur Mutter, reine transzendentale Materie ist - so auch beim Willen
zum Dasein, der nur im Augenblicke des status nascendi sive moribundi
reiner transzendentaler Wille ist. In der Todesangst des Menschen
tritt dieser Moment dann ein, wenn das bisherige individuelle Dasein
aufgegeben wird zugunsten eines wenn auch unbekannten andern. So
findet man in den Zügen Verstorbener, bei denen sich dieser
Prozeß wohlgelungen abgespielt hat, statt der Grimasse der
Todesangst den Stempel der Seligkeit, den man immer dann bemerkt,
wenn ein innerer Vorgang des Menschen sich ohne Störung
vollzog.
Man ersieht aus dieser Gedankenführung, daß der Wille und
die Materie völlig konform gehen, daß sie daher dasselbe
sind, je nachdem, ob man die Welt von außen oder von innen
betrachtet; sie müssen demnach auch die gleichen
Prädikabilien haben. Würde es daher in der Welt auch nur
ein Sandkorn geben, das nicht dasein will und dies auch wirklich
»wollen kann«, so würde die ganze Welt
zusammenbrechen, gerade als ob dieses Sandkorn für einen
Augenblick nicht Materie zu sein vermöchte. Die Welt lebt von
der unterbrechungslosen transzendentalen Kontinuität von Wille
und Materie, genau so wie sie von der unterbrechungslosen Einheit der
transzendentalen Logik lebt. Hätte der Mensch die Macht, durch
Akte seines Intellektes oder seines Willens, etwa durch Askese,
seinen transzendentalen Willen zum Dasein von Grund auf zu
vernichten, so daß er wirklich nicht mehr dasein will und auch
keine Wiedergeburten mehr erleidet, so könnte man aus solch
einem Vorgang - der sich unter dem Boddhi-Baume abgespielt haben soll
- freilich einen objektiv giltigen Heilsweg für die Menschheit
und die gesamte Kreatur herauslesen. Diese Macht ist aber dem
Menschen nicht gegeben, und die vorgebliche »Verneinung des
Willens zum Dasein« spielt sich lediglich im Psychologischen ab,
ohne je die transzendentale Schicht zu treffen, geschweige denn die
metaphysische.
Ein historischer Beleg hierfür ist die frühe
Glaubens-Spaltung, die im Buddhismus einsetzte und noch heute wirksam
ist. Nach der alten orthodoxen Lehre des ceylonischen
Hinayana-Buddhismus ist es dem letzten Buddha Gotama gelungen, jenen
Akt zu vollziehen, so daß er, ohne Wiedergeburt,
tatsächlich ganz und gar und ohne Rest verschwunden ist (wie das
Phlogiston), damit den Weg für jeden öffnend, gleichfalls
zu verschwinden (»ins Nirwana einzugehen«). Hiergegen
richtet sich nun der völlig richtige Instinkt des
Mahayana-Buddhismus auf, der in sehr schöner Weise lehrt: der
letzte Buddha Gotama sei tatsächlich nicht verschwunden, sondern
wurde kurz vor seiner siegreichen Vollendung von Mitleid für die
leidende Kreatur ergriffen, verzichtete freiwillig auf die Seligkeit
des Nirwana und ging wieder, als Boddhisatwa, in den Kreis der
Wiedergeburten ein, um den Menschen die Lehre zu schenken, die ja nur
er, der Erhabene, wahrhaft lehren kann. So entstand der Lamaismus in
Tibet. Die endgiltige Auflösung der Welt aber wird damit - wie
es ja auch recht und billig ist - ad kalendas graecas vertagt. Der
Wille und die Materie aber sind unzerstörbar. Das ewige
Lächeln des Buddhas aber scheint mir eines jener
Auguren-Lächeln zu sein, die einen heimlichen Betrug verbergen,
Christus lächelt nie.
Schopenhauers dunkles Gemüt hat ihn verhindert, jene so
notwendige Unterscheidung zwischen dem transzendentalen und dem
empirischen Willen zu machen, die wir oben im algebraischen Gleichnis
veranschaulichten. Hätte er das gesehen, so wäre ihm der
Weg ins Nichts, auf den es ihm letzten Endes ankam, verlegt worden.
So aber faßte er beides unbesehen in eines zusammen; das
schadete seinem Genius nicht, ja man kann beinahe vermuten, daß
er ohne dieses Übersehen nicht zu seiner großen Konzeption
der Willenslehre gekommen wäre. Zu sage: Mund; Speiseröhre,
Darm sind der »objektivierte Hunger«, die Genitalien aber
der »Geschlechtstrieb« von außen gesehen«, das
heißt in der Tat dem Menschen einen Schlüssel reichen zur
Enträtselung der Hieroglyphe der Natur. Man kann die Benutzung
dieses Schlüssels freilich unter allerhand Gründen
ablehnen, die sich aus irgendeiner erkenntnistheoretischen Ecke
heraus immer finden lassen; das tun etwa die Kantianer, die noch
immer behaupten, es gäbe nur bewußten Willen (Alois
Riehl); ich kann nur sagen, daß ich den Schlüssel
angenommen habe.
Aber ich füge hinzu, und ohne das käme ich nicht weiter,
daß der empirische Wille stets seine Stütze und Basis im
Transzendentalen hat und daß er sich zu diesem genau so
verhält, wie die Stoffe zur Materie. So wenig also je ein Stoff
ohne Materie sein kann, so wenig der empirische Willen ohne den
transzendentalen; andrerseits aber wird eben der transzendentale
Wille niemals empirisch, so wenig, wie man ein Stück Materie auf
den Tisch legen kann, das nur Materie ist. Die genaue Grenzscheide
zwischen je beiden sind deren kulminierende Punkte.
Diese Auffassung muß Schopenhauer im stillen aber doch geteilt
haben, auch wenn er sie expressis verbis nicht ausspricht; denn sonst
wäre seine - völlig richtige - Vorstellung von der
menschlichen Handlung nicht möglich gewesen. Hier ragt bei ihm
der gesunde Ast der Alchymie in die Ethik hinein. Denn in der Tat:
jede menschliche Handlung ist das Produkt aus zwei Faktoren; der eine
ist der angeborene Charakter (»was einer ist«), der andere
aber eine Vorstellung, die Motiv wird. Motiv-werden aber heißt
nichts anderes als: den kulminierenden Punkt des Willens erreichen.
Ist das geschehen, so erfolgt die Handlung mit der gleichen
Naturnotwendigkeit wie eine chemische Verbindung, wenn der
kulminierende Punkt der Materie da ist. Damit ist die volle
Lückenlosigkeit des Geschehens, auch in der Ethik, bewiesen
(vgl. hierzu Schopenhauers Preisschrift über »Die Freiheit
des Willens«).
12. ÜBER DIE FREIHEIT
»Lückenlosigkeit des Geschehens« - das ist in der Tat
der bessere, positiv gestimmte Ausdruck für das, was man sonst
»Unfreiheit des Willens« (servum arbitrium) nennt und was
stets in uns eine schiefe Ebene erzeugt. Das menschliche Tun ist in
der Sphäre der Ethik ein alchymistischer Prozeß, der
fortschreitet, sich ereignet, grad wie ein chemischer, ohne jede
Verschiedenheit in der kategorialen Struktur. Denn wollte man
zugeben, daß es im menschlichen Tun und Lassen auch nur die
kleinste Begebenheit gäbe, die nicht durch das Band der
Notwendigkeit mit ihrer Ursache und ihrem Grunde verbunden wäre,
so gäbe man damit zugleich zu, daß sie nicht Erfahrung
wäre; denn zu deren Wesen gehört es nun einmal,
lückenlos der Kausalität zu unterliegen. Gäbe es
Hohlräume im Tun des Menschen, die durch einen vorgeblichen
»freien Willen« bestimmt wären, so träte, ganz im
Gegensatz zu der freudigen Erwartung, die dieses Wort erregt, der
entsetzliche Zustand ein, daß ein Mensch Charakterstücke
in sich enthielte, die nicht sein Eigentum wären und die,
völlig aus dem Chaos geboren, sein Wesen jeden Augenblick
zerstören könnten. Es wäre das alles weit schlimmer
als das, was die Geisteskrankheiten hin und wieder am Menschen
zustande bringen; denn bei ihnen liegt prinzipiell immer die
Möglichkeit der Heilung vor und damit das Zusammenwachsen
getrennter Charakterstücke: hier aber, bei dieser
transzendentalen Pathologie, würden die Festen der Erfahrung
selber versinken - es ist in der Tat nicht einmal auszusprechen, und
ich bemerke, daß ich den Gedanken nicht zu Ende führen
kann. Statt dieses bösen Traumes aber festigt das trostreiche
Band der Notwendigkeit die Menschennatur und läßt sie
nicht im Bodenlosen versinken.
Die meisten Menschen kommt ein unbehagliches Gefühl an, wenn sie
hören, daß alle ihre Taten an das Band der Notwendigkeit
geknüpft sind und nichts geschieht, auch durch sie nicht, ohne
zureichenden Grund ((ousia)) und Ursache. Sie fragen sich dann: Gibt
es überhaupt das Gute? Oder umgekehrt: Ist das Böse dann
nicht entschuldbar? Diese Frage tritt unvermeidlich auf, weil vorher
eine ebenso unvermeidliche Verwechslung des transzendentalen
Begriffes der Notwendigkeit mit dem Zwang stattgefunden hat. Man
glaubt, man werde in der Art zu seinen Handlungen genötigt, wie
es etwa in der Hypnose geschieht oder in milderer Form bei den
Zwangshandlungen der Psychopathen. Andernfalls glaubt man auch, die
einzelnen Handlungen seien »vorherbestimmt«, wie der Lauf
der beiden Uhrzeiger, so daß man sich gar nicht um sie zu
bemühen brauche und, im Falle des Versagens, keiner
Entschuldigung bedarf. Hier wird, wie gesagt, der empirische Zwang
mit der Notwendigkeit verwechselt, die dem transzendentalen
Gegenstande angehört, diesmal dem inneren, also meiner selbst.
Wer diesen Unterschied einmal klar gesehen hat, was nicht ganz leicht
ist, der kommt mit einem Sprunge aus der beklemmenden Angst des
Zwanges in die freudige Helle der Notwendigkeit.
Über das sogenannte Problem der Willensfreiheit und, darauf
gründend, die Grundlegung der Ethik, sind, wie man weiß,
Berge von Büchern geschrieben worden - aber nicht im Altertum -,
und als deren höchste Gipfel mag man wohl mit Recht
Schopenhauers Preisschriften sowie Kants Darlegungen in den
einschlägigen Werken betrachten. Beide Gipfel aber sind
umwölkt und stoßen nur an einigen Stellen in den blauen
Himmel durch. Was soll man aber dazu sagen, daß, historisch
früher und von beiden gekannt, die kurze Schrift eines
bedeutenden Mannes dahintersteht, die zu dem Ergebnis kommt: die
ganze Frage nach der sogenannten Willensfreiheit ist lediglich ein
Streit um Worte. Es ist das Kapitel über »Freiheit und
Notwendigkeit« in DAVID HUMEs Essay »Über den
menschlichen Verstand«. Alle Menschen, meint Hume, sind sich von
jeher und ausnahmelos darüber einig gewesen, daß die
Handlungen des Menschen mit Notwendigkeit aus ihren Ursachen (und
Gründen) hervorgehen; denn alle Menschen handeln immer nach
diesem Grundsatz. Wenn man an einem mordverdächtigen Tatort ein
blutiges Messer findet, so ist zunächst jedermann davon
überzeugt, daß es der Mörder fallen gelassen hat und
daß man es als corpus delicti für die Auffindung des
Täters benutzen kann; es führt möglicherweise eine
direkte Kausalkette zu ihm hin; hier wirkt also der »Satz vom
Grunde«, ratio cognoscendi. Es kann aber auch absichtlich
fallengelassen worden sein, dann dient es zur Ablenkung; ferner
können die Blutspuren Kaninchenblut sein, und dann läge das
Messer im Bezug auf den Mord zufällig da, in Bezug auf das
Kaninchenschlachten aber kausal verbunden und notwendig. Nie aber
liegt es ohne zureichenden Grund und Ursache da: das ist die
objektive Kausalkette (causa fiendi). Denn wollte man das annehmen,
so wäre die Mordkommission eine überflüssige Sache.
Aus diesem Beispiel, das nicht von Hume selber stammt, geht hervor,
daß der Mensch immer das ständige Walten der
Kausalität voraussetzt, auch bei den menschlichen Handlungen; er
ist ebenso davon überzeugt, daß er mit Fug und Recht von
jedem Begebnis aus rückwärts auf seine Ursache
schließen kann, wie diese Begebnisse selber - und darum eben -
nur am Bande der Kausalität entstanden sein können. Und
zwar deshalb, weil diese Kausalität genau so wie das Wachstum
eine unvermeidliche Gewohnheit des Menschen sei - meint Hume -, der
er gar nicht ausweichen kann, selbst wenn er wollte. Es steht hier
nicht zur Rede, daß diese geistvolle Kausalitätstherorie
Humes durch die tiefere transzendentale Untersuchung Kants
überboten wurde, der die Kausalität als Kategorie der
Erfahrung überhaupt a priori feststellte, sondern nur dies,
daß alle Welt sich im Effekt darüber einig ist, daß
es nur Notwendigkeit und keinen »freien Willen« gibt, d. h.
daß die Natur nirgends ein Loch hat. - Ebenso sicher fundiert
aber - fährt Hume fort - ist bei allen Menschen die
Überzeugung, daß meine Handlungen sittlich bewertbar sind;
jeder Mensch weiß, daß er dies zu tun und jenes zu lassen
hat, und zwar unbedingt, und daß er die Freiheit dazu
mitbekommen hat. Er weiß auch, daß er sich mit
irgendwelcher »Notwendigkeit«, die hier oder dort,
womöglich gar in seinem Charakter (»ich bin nun einmal
so«) wurzelt, keineswegs entschuldigen kann, vielmehr voll
verantwortlich bleibt. Diese Maxime wird jedermann von jeher gegen
sich selbst, besonders gern aber gegen andere, angewandt, und sie ist
niemals in Zweifel gezogen worden. Der common sense befindet sich
hier in sicherer Position; seine Behauptungen, sowohl über die
Notwendigkeit wie über Freiheit, sind beide richtig, woraus
hervorgeht, daß zwischen beiden kein Problem besteht. Da nun
aber in der philosophischen Litteratur - und zwar erst von der
christlichen an - die Stellung der beiden Gebiete zueinander doch als
Frage behandelt wurde, so muß entweder der common sense doch
irgendwie unzuständig sein, oder aber - und das ist Humes
Lösung: es handelt sich um einen bloßen Streit der
Worte.
Diese zweite nun ist zunächst ganz augenfällig. Die Sprache
hat dem Denken hier wieder einmal einen bösen Streich gespielt,
indem sie, die lex parsimoniae der Natur befolgend, in einem geradezu
aufreizenden Anfall von Sprachgeiz, für zwei so gänzlich
verschiedene Dinge wie
1. das Gegenteil von Notwendigkeit, das heißt
»Freiheit« von der Kausalität, und
2. das Medium der Ethik, in dem diese schwingt, wie der Ton in den
Luftwellen,
indem sie für diese beiden gänzlich verschiedenen Dinge,
die schlechterdings nichts miteinander zu tun haben, in fast allen
Sprachen ein und dasselbe Wort »Freiheit«,
»libertas«, »liberté«, »liberty«
gebraucht. Das erste nun, die »Freiheit des Willens«, gibt
es nicht, das zweite aber, die Freiheit, »kommt vor«
(WILUTZKY). Nun hat unter den europäischen Kultursprachen es
merkwürdigerweise die sonst so sparsame englische zustande
gebracht, hier zwei Worte zu bilden, nämlich »liberty«
und »freedom«; aber das Unglück wollte es, daß
diese Lockerung des Sprachgeizes nicht in die Philosophie aufgenommen
wurde. »Freedom« kommt, wie ich mir habe berichten lassen,
nur in der Kirchensprache und der angeschlossenen Poesie vor, und
auch Hume sagt immer »liberty«. Die aus dem Englischen
stammende Chance also, durch richtige Sprachführung einen
großen Tel des vorgeblichen Problemes zu kupieren, ist durch
Humes Nichtgebrauch von »freedom« vertan worden. Es bleibt
aber die Möglichkeit offen, einen festen Sprachgebrauch
einzuführen - was in der Philosophie überhaupt dringend
nötig wäre -, indem die negative Seite des Problems mit
»freier Wille« oder »Freiheit des Willens«
ausgedrückt wird, während man sich für die positive
das Wort »Freiheit« immer nur als Substantiv und Singular,
niemals aber adjektiviert, vorbehält. Freiheit ist das Medium
der Ethik, und diese gibt es, sie kommt vor, sie ist da; denn sonst
würde Ethik nicht dasein können. Der »freie
Wille« aber kommt nicht vor, es sei denn, daß man es
freien Willen nennen will, wenn man sagt: ich habe heute frei und
kann machen, was ich will. Natürlich kann ich das. Oder, wenn
man den »Willen an sich«, der wiederum empirisch nicht
vorkommt, sondern nur gedacht werden kann, »ewig frei«
nennen will, wie das Schopenhauer tut: dann habe ich aber eine hohle
Nuß in der Hand und das ist soviel, als wenn ich ein X vor der
Klammer »an sich« betrachten will, ohne auf seine
algebraische Beziehung zu ihrem Inhalte zu achten, und dieses nun ein
»freies X nenne.
Hume hat also recht: es handelt sich um einen Streit um Worte;
wenigsten wird ein erheblicher Teil des vorliegenden Problems
stillgelegt, wenn man ihn durchschaut und durch konsequente
Sprachführung nicht wieder aufkommen läßt.
Natürlich ist die Freiheit »un mystère«; sie
paßt nämlich so wenig in das, was man gewöhnlich
»Natur« nennt, und was auch Kant so nennt, hinein, wie ein
sphärisches Dreieck in einen Kreis. Das sphärische Dreieck
nimmt die dritte Dimension in Anspruch, und eben das tut auch die
Freiheit. Hieraus aber folgt nicht etwa, wie der naive Naturalismus
meint, daß »alles Natur« sei, sondern es folgt
daraus, daß die Natur eine Tiefendimension hat, die der dritten
in der Stereometrie entspricht. Oder - es gibt keine Ethik. Tertium
non datur. KANT hat das, wenigstens mit einem Auge, durchschaut,
indem er den Ausdruck »Kausalität durch Freiheit«
prägte, das heißt also, die Freiheit substantivisch und
real nahm. Was aber unter den Tisch fällt, das ist der ganze
nötige Aufwand mit der vorgeblichen »Antinomie der reinen
Vernunft«; denn es besteht gar kein Widerstreit zwischen
Kausalität der Natur und Freiheit; der ist erst durch den
Sprachgeiz hineingekommen und kann durch richtige Führung der
Worte getilgt werden ohne Bezug auf die »transzendentale
Dialektik«.
KANT verwendet außer dem terminus »Kausalität durch
Freiheit« noch die anderen »Kausalität der
Vernunft« und »eine Kette von Handlungen von selbst
anfangen« oder auch »sponte« - das ist alles dasselbe,
und er verweist damit den Leser an den richtigen Ort. Schopenhauer,
der nicht verstand, wie Kant das meinte, legte hier heftigen Protest
ein und behauptet, das sei eine unzulässige Unterbrechung der
Kausalkette: es könne nichts »von selbst« anfangen.
Aber Kant hat doch recht, und man sieht aus diesem Beispiel wieder
einmal, daß Schopenhauer weder von der Freiheit noch von der
Kausalität eine zulängliche Vorstellung hat.
Charakteristisch hierfür ist jene Anekdote aus seinem Leben, die
er erzählt: eines Tages hätte er beim Schreiben an seinem
Pult, statt zum Sandfaß zum Tintenfaß gegriffen, so
daß die Tinte über seine Handschrift und auf den Boden
geflossen sei. Seine Reinmachefrau, die das aufwischen sollte, habe
dabei erstaunt ausgerufen: genau das habe seine Haushälterin die
vorige Nacht geträumt, daß der Herr Doktor sich das
Tintenfaß über das Pult gießen würde, und so
sei es auch eingetroffen. Schopenhauer erkundigt sich bei seiner
Haushälterin und richtig: genau so hatte sie die Nacht vorher
geträumt. Wieder ein Beweis, meint er, für die
»strenge Necessität alles Geschehens!« Man fragt sich
erstaunt, wie ein so gelehrter Kopf diesen Vorgang für einen
Beweis des Kausalsatzes halten kann, wo er doch nichts weiter ist als
ein Beleg für das Vorkommen von prophetischen Träumen! Wer
solch eine Verwechslung begehen kann, der beweist in der Tat damit,
daß er unmöglich die Doktrin der transzendentalen Logik
verstanden haben kann und damit das Kerngebilde von Kants Theorie der
Erfahrung. Trotz der Reichhaltigkeit und des vielen Neuen, das in
seiner »Vierfachen Wurzel des Satzes vom zureichenden
Grunde« steht, begreift er doch nicht, was transzendental und
was »Giltigkeit« ist. Wie aber einer von der Freiheit
spricht, daran kann man ermessen, wieviel er davon versteht. Bei KANT
heißt es (KRV, Anmerkung zur dritten Antinomie, Thesis):
»Wenn ich jetzt (zum Beyspiel) völlig frey und ohne den
notwendig bestimmten Einfluß der Naturursachen, von meinem
Stuhle aufstehe, so fängt in dieser Begebenheit samt deren
natürlichen Folgen ins Unendliche eine neue Reihe schlechthin
an, obgleich der Zeit nach diese Begebenheit nur die Fortsetzung
einer vorhergehenden Reihe ist. Denn diese Entschließung und
That liegt gar nicht in der Abfolge bloßer Naturwirkungen, und
ist nicht eine bloße Fortsetzung derselben, sondern die
bestimmenden Naturursachen hören oberhalb derselben, in Ansehung
dieser Eräugnis, ganz auf, die zwar auf jene folgt, aber daraus
nicht erfolgt, und daher zwar nicht der Zeit nach, aber doch in
Ansehung der Causalität, ein schlechthin erster Anfang einer
Reihe von Erscheinungen genannt werden muß« (Sperrung von
mir).
Daß das eine richtige Beobachtung ist, das zu erkennen, ist
Sache der transzendentalen Urteilskraft, die in diesem Falle bei
Schopenhauer versagte. Es gibt also Handlungen, die von selbst,
besser »vom Selbst« anfangen, und die von der Freiheit
heraufbefördert werden. Hierüber hat es im Grunde,
würde Hume sagen, niemals zweierlei Meinungen gegeben. Nun ist
aber, sich in Freiheit vom Stuhle zu erheben, auch wenn es Kant tut,
keine sittliche Handlung, sie enthält keinen Konfliktstoff mit
ihrem Gegenteil; die Freiheit, aus der heraus sie geschieht, ist
demnach keine sittliche Freiheit; sie enthält das Element der
Verantwortung nicht. Handelt es sich um eine gute Tat, die geschehen
soll, so muß sich im Gemüte des Täters noch etwas
ganz anderes abspielen, als die bloße Wahl zwischen Aufstehen
und Sitzenbleiben.
Kant war ja nun, wie wir wissen, der Meinung, daß diese
gesollten Werte ihren Ursprung in der Vernunft haben, die für
diesen Fall die praktische heißt. Wir haben aber gesehen,
daß das nicht haltbar ist, und daß vielmehr die Inhalte,
das eigentlich Seiende am Gesollten, genau so gegeben werden, wie die
empirischen Dinge für die Erkenntnis, nur aus anderem Orte und
auf anderem Wege. Wir fügen jetzt hinzu: während die Welt
der Erkenntnis zweimal aufgefangen wird, als anschauliche Welt durch
den Verstand und als begriffene durch die Vernunft, haben die
sittlichen Mächte, die der Ethik zum Grunde liegen, nur die
Affinität zur Vernunft. Anders ausgedrückt: während
die Vernunft in der theoretischen Erkenntnis immer abstrakt ist, ist
sie im Sittlichen immer konkret. Das spürte Kant und sprach
daher von der »praktischen Vernunft«: aber - das
Sittengebot, das hier entsteht, ist eben nicht das eintönige
Elaborat dieser praktischen Vernunft, sondern ein Produkt aus zwei
ganz verschiedenen Elementen, deren eines willenhaft, das zweite aber
erkenntnishaft ist. Und da es nun in der Ethik keine anschauliche
Welt gibt, in welcher die Hälfte der Erkenntnisenergie wie durch
ein Staubecken aufgefangen wird, sondern sich alles, was da ist,
sofort in die Vernunft ergießt, so erklärt sich damit ein
Teil der gewaltigen Leidenschaftlichkeit, mit der die Ethik auftritt.
Ein wissenschaftlicher Massenwahn (der immer eine Verkümmerung
der anschaulichen Welt enthält) ist eine leidlich
erträgliche und meist rein litterarische Sache; in einen
ethischen Massenwahn aber hineinzugeraten, möchte man auch
seinem besten Feinde nicht wünschen. Es ist noch heute ein
Rätsel, wie es im Jahre 1789 der stürmenden Volksmenge mit
ihren mangelhaften Instrumenten gelingen konnte, eines der festesten
Schlösser des Königs, die Bastille, geradezu zu
pulverisieren. Natürlich kommt hier noch der spezielle
politische Dämon hinzu, der in allen Revolutionen wirkt.
Würde es das nicht geben, was KANT nennt »eine Reihe von
Handlungen von selbst anfangen«, so gäbe es weder Kultur
noch Ethik, und niemand könnte von selbst vom Stuhl aufstehen.
In diesem letzten Falle arbeitet die Freiheit gewissermaßen im
Tagebau, in den andern holt sie aus der Tiefe der Natur herauf.
Da die Freiheit eine Kraft ist, die realiter vorkommt und wirkt, so
hat sie auch die Fähigkeit, den Willen an seinen kulminierenden
Punkt zu treiben; in diesem Augenblicke aber wird die Handlung genau
so unausbleiblich, gibt es genau so wenig ein Zurück wie bei der
chemischen Verbindung des Eisens mit dem Schwefel im Augenblicke des
kulminierenden Punktes der Materie. Beim Willen aber wird dieser als
ein beseligender Zwang empfunden, der der Ausdruck für die
Notwendigkeit ist. Menschliche Handlungen sind demnach durchweg, wie
Schopenhauer richtig erkannte, nach dem Schema des chemischen
Prozesses angelegt, der in diesem Falle alchymistisch ist; sie kommen
zustande und sind eindeutig bestimmt durch den angebornen Charakter
und durch diejenige Vorstellung, welche Motiv wird, das heißt
den kulminierenden Punkt des Willens erzwingt.
Als LUTHER im Jahre 1521 auf dem Reichstage zu Worms den Widerruf
seiner Lehre verweigerte, gab er seiner Haltung den letzten Akzent
mit den Worten: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott
helfe mir, Amen!« Es spielt keine Rolle, ob diese Worte
tatsächlich so gefallen sind oder nicht, sondern nur, daß
sie den Charakter seines Tuns betonen. »Ich kann nicht
anders!« - das aber heißt: Ich stehe unter Zwang; aber
nicht unter psychischem Zwange, sondern unter dem der Freiheit.
»Zwang durch Freiheit« aber, dieses tiefsinnige Oxymoron,
ist der höchste Ort, an den ein Mensch gelangen kann. Würde
diese Szene im Alten Testament gespielt haben, wozu sie durchaus das
Format hat, so würde der Text hier zweifellos weitergehen:
»Und der Engel Gottes sprach zu ihm: von nun an sollst du Martin
Luther heißen.« Denn in der Tat: nur dadurch, daß er
ablehnte, wurde er in Wahrheit Martin Luther. Das aber ist ein
Geschehen unter dem Zwange der Freiheit und unter dem Schilde der
Notwendigkeit. Was heißt dem gegenüber die
kümmerliche Frage: ob der Mensch einen »freien Willen«
habe...?
Luther hatte vor der Entscheidung, soweit wir das übersehen
können, die Wahl zwischen dreierlei: entweder widerrufen und als
schlichter Augustinermönch in seine Zelle zurückzukehren,
oder: seine Sache einem Gremium zu übertragen und sich dessen
Spruch zu beugen (das bot man ihm mit günstiger Zusammensetzung
an), oder eben: die ganze Verantwortung auf seine Person allein zu
übernehmen. Zweifellos befand er sich - Mensch, der er war - in
einem Gewissenskampf. Daß unter diesen drei Möglichkeiten
die dritte Motiv wurde und die Tat hervorbrachte, das lag daran,
daß sein innerster Charakter, sein eigentliches Wesen, sein
»MARTIN LUTHER« eben mit diesem dritten im tiefsten
verwandt war und sich nach dem Beispiel der chemischen Affinität
mit ihm und nicht mit einem andern verband; nur dieser Imperativ war
kategorisch. Nur durch diese Wahl, die unter dem Zwange der Freiheit
geschah, und also ohne freien Willen frei war, wurde er Martin
Luther. Man sieht daraus, daß da berühmte PINDAR-Wort:
»Werde, der du bist!« keinen bloßen Wachstumsvorgang
bedeutet, sondern einen ethischen. Eigentlich durfte ein Grieche
solch ein Wort gar nicht aussprechen; da es aber geschehen ist,
muß man sagen, daß der Grieche es in seiner Tiefe nicht
verstanden hat. - Freiheit aber hat Stromrichtung vom Objekt zum
Subjekt, nie umgekehrt, und erfüllt daher die Voraussetzung des
Realen.
Hätte man Luther nach seiner Tat gefragt, ob seine Entscheidung
aus freien Stücken, das heißt von ihm aus als sein
fertiges Eigentum und sein Verdienst gefallen sei, so hätte er
den Fragenden unwirsch angefahren und ihm geantwortet, daß er
hieran keinerlei Verdienst habe, daß er nichts sei als ein
sündiger Mensch, zu nichts Gutem fähig und, wenn er es doch
täte, dies ohne jeden Rest geschenkt bekommen habe. Das aber ist
die tiefste Überzeugung aller redlichen Menschen, die je etwas
Gutes getan haben; sie lassen sich deshalb ungern darauf anreden und
werden verlegen, wenn man es dennoch tut. Es ist die Entdeckung des
Christentums, daß alles Gute geschenkt ist. Das Altertum sowohl
wie die hohe Schule der Pharisäer steckte sich das Verdienst in
die eigne Tasche. An dieser Stele liegt der Geburtsort der Frage nach
»Freiheit und Notwendigkeit«, die es daher im Altertum
nicht gab. Sie ist der philosophische Ausdruck für die durch das
Christentum so heftig beunruhigte Menschennatur.
Wenn die Materie dasselbe ist wie der »Wille von außen
gesehen« und umgekehrt, so müssen sich alle ihre
Prädikabilien auch auf den Willen anwenden lassen und vice
versa. Demnach gibt es einen »freien Willen« genau so
wenig, wie es »freie Materie« gibt. Beide sind, da
Erscheinung, durchweg determiniert nach der Kategorie der
Kausalität, aber auch determinierbar durch die Freiheit. Und so
wie der Wille durch die Freiheit in jenen seligen Zustand gerät,
der ihm zu sagen scheint, daß nichts ihm etwas anhaben kann,
auch nicht der Tod, so muß auch die Materie durch die Freiheit
verändert werden können. Es ist daher durchaus kein
Aberglaube schlechthin, wenn wir in Heiligengeschichten - die
Echtheit des Heiligen vorausgesetzt - gelegentlich lesen, daß
ihr Leichnam einen lieblichen Duft ausströmte und kein
Verwesungsgeruch aufkam. Auch, wenn man in den ersten christlichen
Jahrhunderten davon sprach, daß die Christen ein »drittes
Geschlecht« seien, körperlich unterschieden von Juden und
Heiden, so ist dem Glaubwürdigkeit zuzusprechen. Es handelte
sich damals - lange hatís nicht gedauert - um einen intensiven
alchymistischen Prozeß, der sich ganz natürlicherweise in
der Materie abzeichnen mußte. Die Polemik Tertullians gegen
diese Auffassung erscheint mir unbegründet. Im bürgerlichen
Christentum von heute ist davon freilich nichts übriggeblieben.
Dagegen beruht das Dasein Israels noch heute auf jenem vererblichen
Akt des Glaubensgehorsams, durch welchen, wie wir früher
erfuhren, der »Samen Abrahams« begründet wurde. Es ist
ein Wunder, aber kein Rätsel. Ein Wunder aber verbreitet dann
seine größte Kraft, wenn wir erkennen, daß es mit
natürlichen Dingen zugeht, das heißt, wenn das Rätsel
an ihm gelöst ist.
13. DIE FALSCHE GENIALITT IM ZEITALTER DER ERFINDUNGEN
Der Intellekt bestrahlt nicht die Welt, wie der Scheinwerfer ein
Flugzeug, sondern ist Teil der Welt und durchtränkt sie ganz und
gar; denn die Logik ist, durch die Kraft der Kategorie,
transzendental. Und die Welt ist daher Erscheinung und nicht Ding an
sich. Erscheinung aber bin ich auch selbst, von innen gesehen.
Man spricht so oft von der »gegenseitigen Befruchtung« der
Wissenschaften untereinander sowohl wie mit der Philosophie. Aber
ebensowenig wie die Befruchtungsakte in der organischen Natur durch
große Teile der Hautoberfläche geschehen, sondern durch
die kleinsten, aber repräsentierenden Zellen, ebensowenig findet
jene Befruchtung zwischen Naturforschung und Philosophie in der
breiten Ebene der Fachwissenschaften statt, sondern geht nur
über die repräsentierenden, wie gründenden Elemente,
d. h. über das Genie. Hier aber wird der Intellekt Geist, und
diese Stelle muß rein gehalten werden. Es war THEODOR
DUBLERs Lieblingsgedanke, dem er in seinem
»Nordlicht« einen freilich so ungeschickten Ausdruck
verliehen hat, »daß die Erde wieder ein leuchtender Stern
werde«. Darum ist das, was in der genialen Zone der Menschheit
passiert, von so großer Wichtigkeit.
Hätte nicht Kant den ihm von Newton gereichten physikalischen
Begriff der Masse in den der Materie verwandelt: die Wissenschaft
hätte das nicht vermocht. Vor Kant stellte sich beim Worte
Materie stets die altertümliche Vorstellung mineralischer
Kleinkörperlichkeit ein, mit der gar nichts anzufangen war,
wollte man sie - und das tat man - zum Grunde aller Erscheinungen
machen und aus ihrer Bewegung Wachstum, ja Empfindung erklären.
Das ist ja das Thema des sogenannten »Materialismus«. Wie
man weiß, ist die Materie durch diese Versuche, denen sich ja
auch die Ethik anschließen mußte, in schlechten Ruf
geraten, so daß man das an sich so ehrfurchtgebietende Wort gar
nicht aussprechen durfte, ohne nicht sich selbst in Verdacht
»materieller Gesinnung« zu bringen. Durch Kant aber wurde
sie als zum transzendentalen Gegenstand gehörig erwiesen und ihr
damit die Unschuld wiedergegeben.
Wenn nun die Wissenschaft nicht dazu da ist, den Wohlstand der
Menschheit zur erhöhen - was sie in summa keineswegs kann -,
sondern den Stand und den Rang des Menschentums - was sie durchaus
vermag -, so muß auf das Sorgsamste darauf geachtet werden,
daß kein falscher Ton in den Begriff des Genius kommt. Das
Genie muß einen bestimmten Charakter haben, der sich deutlich
abhebt; und für diesen muß es Prüfsteine geben. Denn
das große Publikum ist immer geneigt, von der Größe
des Erfolges einer Entdeckung auf die Größe des Mannes zu
schließen, dem sie gelang. So entsteht leicht ein
gefälschter Begriff von Genie. Niemand bezweifelt etwa,
daß Wilhelm Röntgen ein bedeutender Mann in seinem Fache
war; aber um die berühmten Strahlen seines Namens zu entdecken,
dazu gehörte nicht die mindeste Genialität. Er fand sie
einfach beim Experimentieren mit Kathodenstrahlen, was ebensogut auch
hätte einem Assistenten passieren können. Überhaupt
hört man unter den Physikern von heute häufig die Meinung,
daß die Fülle von Entdeckungen, auch theoretischer Art,
die hier so verblüffend wirkt, beinahe nach einem ausrechenbaren
System erfolge. Man wird den Eindruck nicht los, als ob die
Entdeckertätigkeit hier, wie in anderen Spezialgebieten,
weitgehend genormt sei, von Laboratorium zu Laboratorium spiele und
wohl hohe Ansprüche an Fachwissen und Kombinationsgabe stelle,
aber gar keine an Genialität. Man versuche demgegenüber
einmal den Gedanken zu Ende zu führen, daß das
Gravitationsgesetz oder die transzendentale Logik auch ohne Newton
und ohne Kant in die Welt getreten wäre.
Wenn jemand, mit einer Drahtspule und einem Magneten spielend,
plötzlich bemerkt, daß beim Vorüberführen in der
Spule ein kurz aufwallender, dann wieder verlöschender Strom
entsteht, und wenn er nun, darüber heftig nachdenkend, den Plan
entwirft, diesen intermittierenden Strom kontinuierlich zu machen, in
dem er das Vorüberführen in denkbar kurzen Intervallen
wiederholt, und wenn er so, als Werner v. Siemens, das Modell zur
Dynamomaschine konstruiert - als einen umgekehrten Elektromotor -, so
trägt dieser Vorgang zweifellos genialische Züge, schon
deshalb, weil nicht jeder darauf verfällt, und hier sogar die
charakteristische Umkehrung eine Rolle spielt: allein dieser Typus
des Erfinders und Entdeckers, der das Jahrhundert beherrscht und das
lauteste Aufsehen erregt hat, gehört trotz offensichtlicher
Familienähnlichkeit nicht in einen Rang mit dem echten Genius
der Erkenntnis, von dem bislang die Rede war. Denn dieser ist Organ
der Natur, jene sind es nicht. Bei jenen vollziehen sich die
sprunghaften erfindenden Denkakte doch immer in katadoxen Bahnen; das
echte Genie aber hat zum logischen Hintergrunde seines Subjektes die
paradoxe Subsumtion; bei ihm gerät der ganze Intellekt in
Aufruhr, bei jenen nur der zum Fach gehörige Teil. Es handelt
sich bei diesen Erfindern und Entdeckern um einen gehobenen
Handwerkerstand mit starker Urteilskraft und Mutterwitz, weshalb
auch, wenn man ihre Physiognomien betrachtet, bestenfalls eine
gediegene Weltklugheit zum Ausdruck kommt, gegenüber den
großartigen Prosopen der echten Genies. Es gelingt daher auch
nicht, so sehr man sich schon darum bemüht, die Namen Aristarch
von Samos, Kopernikus, Galilei, Newton, Kant, Robert Mayer in einem
Atem zu nennen mit James Watt, Siemens, Diesel, Edison, Röntgen
und wie sie alle heißen: jedermann spürt sofort das
Ungehörige der Artvermischung.
Durch den echten Genius der Erkenntnis wird die Kontinuität der
Natur und damit die Stellung des Menschen in ihr hergestellt und
besiegelt. Geniale Akte sind es, die den Weg bahnen von der Schwere
des Steines in der Hand zur Schwere des Mondes, von da zur Materie
und ihren Prädikabilien. Hier ist der Ort erreicht, wo Kants
Satz vom Verstande, der der Natur die Gesetzte vorschreibt, seine
paradoxe Wirkung ausübt, und wodurch die Welt zur Erscheinung
wird; dann springt der Prometheusfunke über zum Willen und
seinen Prädikabilien, den kulminierenden Punkten, der
Notwendigkeit und Freiheit, um damit beim Werte und Wesen des
menschlichen Lebens angelangt zu sein. So bezieht das Menschentum
durch die genialen Akte seine Erhöhung. Die Akte der Erfinder
und Entdecker aber, die sich so gerne Wohltäter der Menschheit
nennen lassen, haben kurze Beine. Von der Dynamomaschine kommt man
nicht weiter als bis zur elektrischen Bahn. Als wer man aber
darinsitzt, darauf haben diese Taten des vorgeblichen
»Menschengeistes« keinen Einfluß. Man weiß eben
auch gar zu gut, daß jene Erfinder und Entdecker stets im
Dienste des Willens standen; sie wollten etwas, indem sie sich und
anderen vormachten, daß die Menschheit glücklicher
würde, wenn sie ihre Maschinen besäße. Man braucht
diesen prekären Irrtum heute nicht mehr zu widerlegen und die
unversehrte Leuchtkraft des echten Genies hervorzuheben, da dies die
Natur selber tut, deren Organ er ist.
Dagegen verlohnt es sich, auf ein Wort von JACOB BURCKHARDT
hinzuweisen, wie die Griechen über diesen Fall dachten:
»Auch von den Erfindungen waren einige auf griechischen Boden
selbst daheim; die Argo war das früheste Schiff, das auf den
Fluten ging; in Alesiai bei Sparta hatte Mylos (der Müller),
Sohn des ersten Herrschers Lebes, die früheste Mühle, und
die Athener rühmten sich sogar, sie hätten die Menschen
gelehrt, Feuer anzuzünden; im allgemeinen jedoch fügt man
sich in Griechenland ohne Beschwerde darin, daß Dinge, welche
irgendwie an menschliche Mühsal, an das Banausische erinnern,
vom Auslande entlehnt seien, im stärksten Gegensatz zu der
jetzigen Welt, welche industrielle Erfindungen zum höchsten
Stolze derjenigen Völker rechnet, die darauf Anspruch haben, und
über Prioritäten dieser Art ernsthaft zu streiten imstande
ist.« (Griech. Kulturgesch., Kröner, I, S. 24).
Robert Koch gehört zu den fleißigsten, lautesten und dabei
edelmütigsten Menschen unter den Medizinern; aber seine
Entdeckung des Tuberkelbazillus hat mit Genialität nicht das
geringste zu tun. Wie war die Lage? Pasteur hatte den Begriff der
»Infektionskrankheit« in die Medizin eingeführt. Kochs
These nun war: die mit dem volkstümlichen Ausdruck
»Schwindsucht« oder »Auszehrung« bezeichnete
Seuche ist eine Infektionskrankheit im Sinne Pasteurs. Den Beweis
hierfür zu erbringen, war der Inhalt seines Lebens, und er
konnte nur erbracht werden durch Auffindung des Erregers, die ihm
gelang. Dem geistigen Prozeß aber, der sich hier abspielte,
fehlen schlechterdings alle Merkmale des Genialen; denn er
verläuft ganz im Rahmen der katadoxen Subsumtion. Ja, wenn er
schon seinen Gegner vom Fach, Rudolf Virchow, gewissermaßen im
Turnier geschlagen hat, so war damit Virchows These, die Schwindsucht
sei Gewebezerfall, keineswegs widerlegt; denn sie ist ja
Gewebszerfall. Es hieße aber die Verwechslung von Grund und
Ursache begehen, wollte man sagen, daß durch Kochs Auffindung
des Erregers dieser Gewebezerfall erklärt worden sei. Nichts ist
erklärt, sondern wir wissen nur seitdem, daß in einem
bestimmten Stadium des schon vorher einsetzenden Zerfalles,
plötzlich, wie aus heiterem Himmel, eben jene Tuberkelbazillen
auftreten, die den aktiven Prozeß einleiten und das
Zerstörungswerk beschleunigen. Von da an rechnet man die
eigentliche Tuberkulose, was aber eine willkürliche Begrenzung
ist. Ferner wissen wir seitdem, daß die Einwirkung der
Tuberkelbazillen auf gesundes Gewebe dieses zur Erkrankung bringen
kann, falls nicht die nötigen Widerstandskräfte im
Organismus bereitliegen. Hier haben wir den Bazillus als Ursache,
genau in dem Sinne, wie der Wind die Ursache für den Fall des
Apfels ist, falls nicht die Widerstandskräfte in seinem
Zellgewebe ihn noch halten. Für den Fall des Apfels aber - ob er
eintritt oder nicht -, kennen wir den Grund, nämlich die
allgemeine Schwere, und dahinter steht die
wissenschaftsgründende Tat Newtons; für die Tuberkulose
aber kennen wir den Grund nicht, eben weil Kochs Entdeckung keine
wissenschaftsgründende, das heißt keine geniale Tat war.
Der Krankheit auf den Grund gekommen ist nur Theophrastus Paracelsus,
der demnach überhaupt der nobilitierende Genius der Medizin
ist.
14. THEOPHRASTUS PARACELSUS UND SAMUEL HAHNEMANN
ALS NOBILITIERENDE GENIEN DER MEDIZIN
Es ist der Medizin im bisherigen Verlaufe ihrer Geschichte versagt
geblieben, sich von der durchleuchtenden Kraft gründender
Genialität durchdringen zu lassen; ich muß vermuten, kann
es aber im einzelnen nicht belegen, daß all ihre Fortschritte
und Entdeckungen, was ihren geistigen Gehalt anlangt, jene Grenze
nicht überschritten haben, die etwa durch den Typus Robert Koch
gesetzt wird, will sagen, einer gediegenen Klugheit verbunden mit
redlichem Forschersinn. Das Genie aber kommt in ihr nicht vor. Es sei
denn, daß man gewillt ist, sie nicht von Hippokrates über
Galen, Vesal in die moderne Medizin verlaufen zu lassen, sondern
ihren Angelpunkt in Theophrastus Paracelsus und Samuel Hahnemann zu
verlegen. Denn in den Grundlehren dieser beiden Männer - wobei
die physiognomische hnlichkeit Hahnemanns mit Paracelsus fast
an Rëinkarnation denken läßt - findet sich das, was
wir bisher immer das Gesetz zu nennen pflegten; ihre Denkart
trägt offensichtlich geniale Züge mit ihren typischen
Merkmalen, und sie unterscheidet sich geflissentlich von der eben an
Robert Koch und Virchow studierten. Ich übertrage daher in
kurzen Zügen diese Denkart in die Sprache der Philosophie, indem
ich die Erfahrungen mit einwebe, die ich selbst mit rzten aus
ihrer Schule gemacht habe.
Der Gedankengang würde dann lauten: Heilung ist die narbenlose
und vollständige Wiederherstellung aus Kräften der Natur.
Die Heilkräfte stammen aus größerer Tiefe als die
Wachstumskräfte, die in ihrem Dienste stehen und die Heilung
vollziehen; sie sind auch nicht immer tätig, wie die des
Wachstums, sondern kommen nur herauf, wenn sie vom erkrankten
Organismus angefordert werden. Würde es keine Heilkräfte,
als gesonderte, eigenartige Mächte geben, so würde jedes
Lebewesen, das von außen verletzt ist, daran zugrunde gehen.
Der Stich eines Dornes in ein Blutgefäß würde
genügen, im Laufe der Zeit den Menschen zum Ausbluten zu
bringen; der einmal einsetzende Zerfall von Lungengewebe an einer
einzigen Stelle würde unfehlbar zur tödlichen
Lungenschwindsucht führen, ein Schnupfen würde die
Lebenskraft schließlich verbrauchen und damit das Leben selbst.
Das alles aber ist nicht der Fall, sondern die Natur sendet aus ihrer
Tiefe herauf Heilkräfte, die dem Lebewesen zu Hilfe kommen. Die
Frage der Medizin aber lautet, ob diese Kräfte vom Arzte lenkbar
sind. Beantwortet man diese Frage mit Ja - was erlaubt ist -, so
entsteht sofort die zweite nach der Wissenschaft. Das aber
heißt: wie komme ich über die bloße Ursache der
Krankheit zu ihrem Grunde? Und von den Gründen zu einem System
der Heilung, das Notwendigkeit enthält? Hierzu aber ist unter
allen rzten nur Paracelsus gekommen.
Die gewöhnliche Meinung von den Krankheiten und ihrer Heilung -
besser Bekämpfung - ist die, daß sie aus unbekannten
Gründen, aber oft bekannten Ursachen im Organismus entstehen und
daß draußen in der Natur gegen sie gewisse Heilmittel
gewachsen sind, mit denen man sie als ihren Gegenteilen in
ähnlicher Weise bekämpfen kann, wie das Feuer mit dem
Wasser (ex contrario); man kann diese Heilmittel auch synthetisch auf
chemischem Wege herstellen. Ihre Zahl ist unbeschränkt und
unbekannt, genau wie die der Krankheiten, und beide Zahlen stehen in
keinem gesetzmäßigen Verhältnis zueinander. - So
sieht es zunächst auch aus, so denkt heute jeder Mediziner; es
sieht ja auch so aus, als ob die Sonne sich um die Erde dreht. In
Wirklichkeit aber ist es genau umgekehrt, und diese realitas
medicinalis entdeckt zu haben, ist die Tat des Paracelsus.
Es gibt eine unbestimmbar große Anzahl von Pflanzen, Tieren und
Mineralien; eine bestimmte Anzahl davon aber sind Heilkräuter
(oder aber Tiere und Gesteine); diese haben charakteristische
Merkmale und unterscheiden sich deutlich von den übrigen, so wie
sich die Planeten von den Fixsternen unterscheiden. Sie sind
arzeneilich. Das heißt nichts weiter, als: sie können
Arzeneikrankheiten erzeugen. Das experimentum crucis hierfür hat
Paracelsus, der in der Luther-Zeit mehr ein verkündender, denn
ein beweisender Genius war, erst als »Samuel Hahnemann«
geliefert, dem der Begriff der exakten Naturwissenschaft durch die
Signatur seines Jahrhunderts geläufig geworden war. Er bewies,
daß die Säfte der Heilkräuter sowie die Verreibungen
der arzeneilichen Mineralien, dem gesunden Menschen einverleibt,
Arzeneikrankheiten erzeugen, die zu den natürlichen im
menschlichen Organismus auftretenden, in der Beziehung der
hnlichkeit stehen. Diese similitas medicinalis, die dem
Paracelsus vollbekannt war und die auch Hippokrates erwähnt (er
ließ sie aber liegen), ist keine ungefähre und
unverbindliche, wie wen man sagt »dieser Mann sieht jenem andern
ähnlich«, sondern sie trägt die Züge des Exakten
wie in der Mathematik. hnliche Dreiecke sind auch nicht aufs
Geratewohl und Ungefähr ähnlich, sondern in bestimmter
Weise, und ihre Winkel sind allemal gleich. So ist auch die
hnlichkeit, die zwischen der Arzeneikrankheit und der
natürlichen besteht, eine im medizinischen Sinne exakte;
Gleichheit kann es hier nicht geben, weil zwei empirische Dinge immer
nur ähnlich sind. Daß aber diese similitas medicinalis
eine Funktion hat und als Gesetz in die Natur eingebettet ist, das
wird dadurch bewiesen, daß eine Krankheit dann und nur dann zur
vollständigen narbenlosen Heilung, also zur vollen restitutio in
integrum geführt wird, wenn der Kranke den Saft, desjenigen
Heilkrautes zu sich nimmt, das beim Gesunden die ähnliche
Arzeneikrankheit erzeugt. Daher ist der Satz »similia similibus
curantur« das allein objektiv giltige Gesetz der Heilkunde,
genau so, wie es das Gravitationsgesetz in der Mechanik des Himmels
ist. Hahnemann hat diesen Satz, den Paracelsus verkündete und
dessen innere Gesetzlichkeit ex implicite wußte, explicite als
Lehre bewiesen. Er fügte dann, wie bekannt, noch die Entdeckung
von der in Intervallen zunehmenden Arzeneikraft bei zunehmender
Verdünnung an, die, gleichfalls ein paradoxes Phänomen, um
die Grenze von 1:1030 herum vielfach den höchsten Grad von
Wirksamkeit gewinnt. Hiermit ist ein Höhepunkt der Medizin
erreicht, den es, um des genialen Gehaltes willen, noch zu
kommentieren gilt.
Die Krankheiten kommen nach dieser Lehre also je zweimal vor, und
zwar einander korrespondierend: einmal im menschlichen Organismus und
ein andermal in den Arzeneien. Im Menschen werden sie subjektiv als
Symptome empfunden und vom Arzte als Krankheitsbild gesehen; in den
Arzeneien aber sind sie objektiv repräsentiert. Die Krankheit
ist die Arzenei nach innen gewendet (»das umbewenden gibt der
Artzt«, PARACELSUS). Während nun aber die Heilkräuter
immer und notwendig Arzeneikrankheiten erzeugen - denn das ist ihr
Amt und Wesen -, gibt es für das Entstehen der natürlichen
Krankheiten keine Notwendigkeit. Ißt oder riecht der Gesunde
Zwiebel (cepa), so stellt sich immer als Arzeneikrankheit
»milder Tränen- und scharfer Nasenfluß« ein
(nach PAUL DAHLKE), also das Simile zu dem, was man Schnupfen nennt.
Es gibt aber nichts auf der Welt, wodurch ich mit Notwendigkeit einen
natürlichen Schnupfen bekomme; denn wenn ich schon an einem
kalten Novembertage im überfüllten Kupee mit lauter
niesenden Leuten sitze und es außerdem noch »zieht«,
so kann ich wohl, brauche mir aber keinen Schnupfen zu holen. Das
macht: die Miasmen und der kühle Luftzug sind wohl die Ursache
(causa), nicht aber der Grund (oªsia) des Schnupfens. Wenn ich
in starker Verdünnung den Saft der Tollkirsche zu mir nehme, so
entsteht immer und notwendig in mir die Arzeneikrankheit eine Gruppe
schwerer Symptome die das Simile zu dem Krankheitsbilde sind, das der
sogenannte »Scharlach« in gewissen Stadien seines Ablaufs
bietet; wenn ich aber durch eine Seuchenbaracke gehe, ohne mich zu
schützen, so kann ich wohl, brauche aber nicht an Scharlach zu
erkranken, denn die Miasmen sind wohl die Ursache, nicht aber der
Grund des Scharlachs. Die Frage also, wodurch Krankheiten
überhaupt »verursacht« werden, ist niemals zu
beantworten und ist auch zur Erkenntnis ihres Wesens sowie des Weges
zu ihrer Heilung überflüssig; denn alle Ursachen sind
occasionell. Entscheidend ist nur die Frage nach ihrem Grunde, und
hier lautet die paradoxe Antwort des Paracelsus: die Krankheit stammt
aus dem Grunde der Arzenei. Oder: Krankheit und Arzenei haben
denselben Grund. Wohlgemerkt: nicht etwa der einzelne Tropfen
Zwiebelsaft erzeugt den Schnupfen und der einzelne Tropfen
Tollkirsche den Scharlach; denn diese bilden ja nur ganz
flüchtige Arzeneikrankheiten, die der Organismus nicht wirklich
annimmt, sondern das in der Tiefe der Natur ruhende, von daher
wirkende Wesen ((ousia, idea)) der Zwiebel oder der
Tollkirsche, ihr »arcanum« ist der Grund der Krankheiten,
für die sie das simile sind. Wenn es überhaupt keine
Zwiebel gäbe, daß heißt, wenn das
Schöpfungswort »und Gott ließ aufgehen allerhand
Gewächs, ein jegliches nach seiner Art« über das
»cepa« heißende Kraut nicht gesprochen wäre, so
könnte kein Mensch in der Welt Schnupfen bekommen, es gäbe
überhaupt keinen, mag es noch so sehr »ziehen«. Das
Dasein aber der als »Scharlach« bezeichneten Krankheit ist
im Dasein der Tollkirsche begründet und daran gebunden, so wie
für jene schweren Melancholien, die den Menschen oft in den
Selbstmord drängen, das Gold die Schuld trägt. Darum ist es
auch so, daß die Zahl der Krankheiten und die Zahl der
Arzeneien in einem festen Verhältnis zueinander stehen,
nämlich in dem der Gleichheit. »Wer weist die Zahl der
Krankheiten, denn der da weist die Zahl natürlicher Gewächs
und natürlicher Arcanen? Nicht ist eins mehr dann des andern,
nichts ist weniger das zu viel überbleibt als Tod allein, der in
keine Zahl stehet« (Paracelsus: das Buch Paragranum, Diederichs,
S. 67).
Wie es nun freilich kommt, daß der eine erkrankt und der andere
nicht, daß hier der pathologische Kontakt zwischen dem
Organismus und dem »Grunde der Arzenei« hergestellt wird
und dort nicht, diese Frage kann niemand beantworten. Die Reihen der
»Ursachen« führen ins Unendliche und geben nie echten
Aufschluß, der Grund aber führt unmittelbar in die Tiefe
der Natur; es sind Szenen, die sich im pathologischen Ort eines
Menschen abspielen, über welchen Begriff man sich im
»Traktat über die Heilkunde« orientieren möge;
und wenn man hier das Wort »schicksalhaft« verwenden will,
so sagt man damit auch nur, daß man nichts davon weiß.
Ist aber die Krankheit ausgebrochen, so wissen wir seit
Paracelsus-Hahnemann eines mit Sicherheit: wenn der Arzt zum
Krankheitsbilde das simile in der Arzenei gefunden hat, so erfolgt
von ihm aus die Heilung mit Notwendigkeit. Denn das simile ist nicht,
wie die hnlichkeit in der Geometrie, bloß mathematisch,
also erkenntnishaft, sondern dynamisch.
Dadurch aber wird auch der Begriff der Notwendigkeit ins eigne Licht
gesetzt. Er wird hier in derselben Bedeutung - die sich
aufdrängt - gebraucht wie beim Gravitationsgesetz. Der Wind ist
die Ursache dafür, daß der Apfel fällt; durch die
Schwere aber fällt er mit Notwendigkeit; denn sie ist der Grund
für den Fall. Erkennt der Arzt den Grund einer natürlichen
Krankheit (sagt er also richtig statt: das ist »Scharlach«,
»das ist morbus belladonnae«), und setzt er nun durch die
empirischen Belladonna-Tropfen das Similitätsgesetz in Bewegung,
stellt er also die dynamische Verbindung zwischen der Krankheit und
dem Arcanum der Arzenei her, so setzt mit Notwendigkeit der
Heilungsvorgang ein. Kraft seiner Schwere fällt mit
Notwendigkeit der Meteor auf die Erde zu in dem Augenblick, da diese
Schwerkraft die der Eigenbewegung übersteigt, der kulminierende
Punkt erreicht ist: ob er aber die Erde als Ganzes erreicht, das ist
eine andere Frage. Die Lufthülle der Erde tritt als hemmendes
Moment entgegen, bringt die Masse des Meteoriten zur Entflammung, so
daß er zu Staub verglüht und so in der Atmosphäre
hängenbleibt; niemals aber hört er auf, der Schwere zu
gehorchen. Ebenso kann der mit Notwendigkeit einsetzende
Heilungsprozeß sein Ziel nicht erreichen, wenn vom Organismus
her hemmende Gewalten auftreten. Hier sind etwa zu nennen: starke
narkotische Durchsetzung, HAHNEMANNs »Psora«, oder der nur
im Denken des Paracelsus beachtete ungünstige Gestirnstand;
allzuweit fortgeschrittene organische Veränderung zwingt die
Chirurgie zum Eingreifen, und endlich, wenn der Tod schon über
den Menschen verhängt ist, so hilft kein Heilkraut mehr.
Indessen ist die Wirksamkeit der Mittel, die nach dem Similegesetz
richtig eingesetzt sind, weit größer, als es die
gewöhnliche Medizin wahrhaben will. Man muß das mit eignen
Augen gesehen haben; ich sah selbst einen etwa
fünfigjährigen Mann röchelnd im Bett liegen mit den
typischen Merkmalen der Agonie; nach Urteil der Mediziner hatte er
eine »Lungenentzündung« und stand kurz vor dem
Ableben. Ich hatte schon alle Anordnungen für diesen Fall
getroffen und zweifelte keinen Augenblick an seinem baldigen Ende. Da
erschien, kaum noch erwartet, doch noch der Arzt aus der Schule
Paracelsus-Hahnemann, sah sich den Kranken an, der nicht mehr
sprechen konnte, und sagte nur zu mir: »das ist morbus tartari
emetici« und flößte ihm eine Gabe Brechweinstein
(tartarus emeticus) ein. Die Wirkung war fast eine momentane zu
nennen; die Symptome beruhigten sich, das Röcheln ließ
nach, die Augen begannen wieder zu fixieren; jedenfalls ist der Mann
nach einigen Tagen von seine Sterbelager aufgestanden und hat noch
jahrelang gelebt, bis der Tod ihn, nach seinem verbrieften Rechte,
von einer andern Seite packte.
Paracelsus hat erkannt, daß es nicht gleichgiltig ist, wie man
eine Sache anredet, ja daß das ganze Schicksal der Wissenschaft
davon abhängen kann, daß ein Ding beim richtigen Namen
genannt wird. Die Benennungen der Krankheiten in der hergebrachten
Medizin aber sind wahre Sackgassen. Teils besagen sie überhaupt
nichts, wie etwa »Scharlach«, und könnten aus jedem
Volapück-Wörterbuch aufgelesen werden; teils bezeichnen sie
bloße organische Veränderungen wie
»Perityphlitis«, »Pneumonie«, und man fragt sich
dabei: was nun...? In diesen Namen steckt kein Gesetz, also sind sie
blind und taub. Paracelsus aber erkannte, daß die Krankheiten
von Natur aus »heißen«, daß sie einen richtigen
Namen haben und daß dieser allein durch das Heilmittel gegeben
ist, mit dem sie durch das Simile-Gesetz verbunden sind. Die
hierfür maßgebende Stelle steht im Buche Paragranum, Seite
31 (Diederichs), und lautet:
»Aus dem folget nun, daß ein natürlicher wahrhaftiger
Arzt spricht: Das ist Morbus Terpentinus, das ist Morbus Sileris
montani, das ist morbus Hellebornius etc. Und nicht, das ist Phlegma,
das ist brancha, das ist rheuma, das ist Coriza, das ist Catarrhus.
Diese nammen kommen nicht aus dem grundt der Artzeney: denn gleich
soll seinem gleichen mit dem namen vergleicht werden: dann aus dieser
vergleichung kommen die werck das ist die arcana eröffnend sie
in ihren Kranckheiten.«
Wenn ich also statt des leeren Wortes Scharlach sage: morbus
belladonae, so habe ich damit das Gesetz angeredet, unter dem diese
Krankheit steht, das aber heißt, daß mit dieser
bloßen Umnennung auf einmal ein ganzes medizinisches Weltbild
dasteht, das von da an in der Tat seine Giltigkeit hat. Es ist der
selbe Vorgang, wie wenn Kopernikus die Erde einen Planeten nennt: in
dem Augenblicke stand das astronomische Weltbild fest, das seitdem
gilt. Man kann noch hinzufügen; die neue Namengebung des
Paracelsus verläuft in Gleichklang mit der Achse der Natur,
indem die Arzeneien der objektiven (makrokosmischen) Seite
angehören. Das Objektive aber ist das Stärkere oder der
»grundt«:
Das Schicksal der Medizin als Wissenschaft ist demnach so verlaufen,
daß sie an der Stelle, wo sie am meisten ihrer eigentlichen
Aufgabe, nämlich die volle restituio in integrum zu erreichen,
gerecht wird, durch das Genie des Paracelsus nobilitiert worden ist.
Alle ihre übrigen Gebiete kommen außerhalb der genialen
Zone zu liegen und leben von der Hand in den Mund. Hier ist besonders
der Chirurgie zu gedenken, die ja, wie der Name schon sagt, ein
bloßes Handwerk ist, dessen wissenschaftliche Komponente
Anatomie heißt. Auf diese ist niemals je das Auge des Genius
gefallen, und obwohl sie beim akademischen Studium den
größten Raum einnimmt, liegt ihre Hauptbedeutung doch eben
darin daß der Chirurg bei der Operation richtig schneide.
Daß aber eine Operation nötig war, besagt, daß die
organischen Veränderungen jenen limes überschritten haben,
bis zu welchem die natürliche Rückbildung in den gesunden
Zustand noch möglich war. Daß dieser limes aber noch weit
mehr hinaus liegt, als man im allgemeinen annimmt, das haben die
Erfahrungen der letzten Jahrzehnte mit der arzeneilichen Heilkunde
bewiesen. Es soll hier natürlich nicht die Wichtigkeit der
Anatomie bestritten werden, sondern nur ihre zentrale Stellung; sie
liegt am Rande der Medizin. Angreifbarer sind schon alle diejenigen
Verfahren, die es auf ein schnelles Kupieren lästiger Symptome
abgesehen haben und die deren Verschwinden unter dem Druck meist
chemisch hergestellter Mittel für »Heilung« halten.
Allopathische Heilungen gibt es nicht. Warum es das nicht geben kann,
das sieht jeder ein, der jenen Umschwung von Paracelsus-Hahnemann her
verstanden und begriffen hat. Im einzelnen hat darüber Hahnemann
im »Organon« geschrieben.
Die Medizin hat - so kann man es etwa ausdrücken -, um ihre
Nobilitierung durch die Natur selbst wenigstens an einer Stelle
durchzusetzen (die dadurch freilich ihr Zentrum wurde), sich eines
Doppel-Genius bedient, des Paracelsus-Hahnemann. Ich bin zutiefst
davon überzeugt, will es aber niemanden aufdrängen,
daß das eine Person gewesen ist. Daß das Genie
unmittelbar von der Natur belehrt wird und nicht aus Büchern,
dieser Satz steht zwar fest; aber es ist doch auch wichtig zu
erfahren, wie ein Thema gerade in dieses Leben und in diesen Mann
hineinkommt und nicht in einen andern. Das Similie-Gesetz (similia
similibus curantur) war von Hippokrates ausgesprochen worden: ((dia
ta omoia nouson ginetai kai dia ta omoia prospheromena ek noseunton
ugiainontai.)) Im Laufe von zweitausendvierhundert Jahren haben
diesen Satz viele Tausende gelesen ohne jeden Erfolg, und auch
Hahnemann las ihn. Bei ihm aber schlug er ein, und so kam es dazu,
daß er, Hahnemann, den Beweis für das Similegesetz antrat,
und zwar just genau dort, wo Paracelsus die Sache liegengelassen
hatte. Diese Stelle aber ist jene Kerbe, die beim genialen Akt
zwischen dem status concipiendi und dem actus demonstrandi heimlich
eingebettet liegt. Paracelsus war eine volle Natur, mit
urwüchsiger Kraft geladen, seine Sprache - Lutherdeutsch -
barock, ungebändigt und gewaltig; man hört hier noch die
Urtöne rauschen. Hahnemanns Deutsch ist gelehrtenhaft -
dünn abgemessen, sparsam, fast dürftig, aber gerade gut, um
etwas zu beweisen; sein Charakter steht im Zeitalter der
Aufklärung. Die Werke des Paracelsus sind weitgehend durchsetzt
von Schmäh- und Schimpfkanonaden »wider die Galenische
Säu«, aber das klingt alles, wie wenn Falstaff über
die Bühne tobt. Auch Hahnemanns Schriften sind polemisch, aber
eben nur dies; er hält Maß, soweit es geht. Aber er steckt
in nuce darin doch schon jener Ton, den der Chorus kleiner
Homöopathiker später anstimmen wird; man wittert
Sektierergeifer. Des Paracelsus Frömmigkeit ist mittelalterlich
mit einer offenen Tür zu Luther hin - im Zweifelsfalle also
lutherisch. Hahnemann aber ist schon überzeugter Protestant, was
bei ihm eine entscheidende Schwächung des Religiösen
bedeutet.
Indessen, all diese unter dem Druck der Zeitsignatur herausgekommenen
Verdünnungen und Verkühlungen des Geistigen sind gerade
eben das, was nötig ist, um einen actus demonstrandi zu
vollziehen. Das aber kann man nur, wenn der Stoff, der den status
concipiendi erfüllt, da ist. Nun war Paracelsus gerade so weit
gekommen, den großen durchbrechenden Vorstoß zu machen,
jene kopernikanische Umwendung und Verlegung des Standortes, also die
Hauptsache an der Entdeckung des Similegesetzes: die Benennung der
Krankheiten nach den Heilmitteln. Er ist daher der Träger des
status nascendi und auf ihm liegt der Schwerpunkt; er wußte
natürlich alles, aber er brachte es nur zur Verkündung,
weil seinem Jahrhundert die Denkart des exakten Beweises nicht
geläufig war. Nun frage ich: wie kam eigentlich Samuel Hahnemann
dazu, im Jahre 1790 - wie seine Schüler sagen - das Similegesetz
zu »entdecken«? Oder, wie ich einschränkend sage: den
actus demonstrandi, also den zweiten Akt eines genialen Prozesses, zu
vollziehen? Etwa weil er jene Worte bei Hippokrates gelesen hatte?
Das wäre bestenfalls die Ursache, aber nicht der Grund: Oder
weil er die Werke des Paracelsus gelesen hatte? Er hat das kaum
getan, und wenn doch. So konnte er, im Denkstil des achtzehnten
Jahrhunderts befangen, daran gar keinen Geschmack finden. Sondern er
konnte den actus demonstrandi an dem Torso des Paracelsus deshalb
vollziehen, weil er - Paracelsus war. In ihm, in seinem
Unbewußten war das aufgehoben geblieben, was damals vor
Jahrhunderten, aus Denkstil-Gründen, nicht konnte vollzogen
werden. So trat Samuel Hahnemann ein Erbe an, das von ihm selber
stammte.*
15. EPILOG ÜBER NATÜRLICHE RELIGION
Durch den nobilitierenden Akt des Genius wird aus einem rohen
Wissensgebiet Wissenschaft. Bei Platon heißt dieser Unterschied
doxa gegen episteme, im Russischen prawda gegen istina («prawda
ó das ist: kann sein, kann aber auch sein nicht; istina
ó das ist: muß so sein!«, so erläuterte mir
einst in meinem Garten ein russischer Soldat den Unterschied mit
leuchtenden Augen)...In der Medizin hat der Genius eingegriffen durch
das Doppelgestirn des Paracelsus-Hahnemann. Die Medizin aber - und
darum verlohnt sich unser langer Aufenthalt - ist auf das engste und
im Innersten verwandt mit der Religion. Jene hat es mit dem
Organismus des Menschen zu tun, die Religion aber mit dem Menschen
selber. Sie faßt ihn daher im Ganzen als krank auf und stellt
die Frage nach der gratias medicinalis. Gibt es, von der Natur selber
gereicht, ein Mittel, durch das der Mensch im selben Sinne eine
restitutio in integrum erlebt - die hier »Vergebung der
Sünden« heißt - wie jene narbenlose Wiederherstellung
des Organismus? Dabei ist die Krankheit des ganzen Menschen eben
keine organische, sondern eine metaphysische durch Schuld und
Unglück, die aber weit peinigender ist als jene; Orestes und
Hiob sind hier die tragenden Gestalten. - Damit ist das Thema der
natürlichen Religion getroffen. »Natürliche
Religion« ist nicht zu verwechseln mit Naturreligion (wenn also
jemand die Sonne oder das Feuer als heilig verehrt, oder die aus dem
Fenster gesehene Natur überhaupt, wie das unsere braven Monisten
taten), auch nicht mit einfacher, dem gemeinen Menschenverstande
angepaßter Religion; sondern dieses Wort bedeutet, daß
die Religion ihren Grund in der Natur habe, so wie wir es früher
in der Ethik ausführten, die wir auch »natürlich«
nannten. Gibt es das, so ist Religion unvermeidlich, kann gar nicht
aufgehalten werden, so wenig, wie man den Heilungsvorgang im
verletzten Organismus aufhalten kann. Das heilende Harz strömt
weiter an die verwundete Stelle des Baumes, ob der Baum
»will« oder nicht; und auch, was er etwa denken
könnte, würde den Vorgang selber nicht aufhalten. - Gibt es
das aber nicht und ist Religion statt dessen ein Gebilde des
Intellektes (oder dessen abgeschatteten Nebengebildes, des
subjektiven »Glaubens«), um das Dasein und den Sinn der
Welt zu erklären, oder ethisch-religiöse Vorschriften zu
erlassen »innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«,
dann gibt es keine Religion; denn alle diese Gebilde sind
dialektisch, das heißt also widersprüchlich, und sie
wäre dann in der Tat »Opium fürs Volk«.
Bis an diese harte Grenze muß man die Frage treiben, sonst
kommt keine Klarheit hinein, und die ständige Vermengung von
Religion und Weltanschauung nimmt kein Ende. Weltanschauung ist das,
was das Wort sagt, Religion aber ist Vorgang, reines Ereignis der
Natur. Und zwar gehört er, als ein höheres genus zwar, aber
doch in der Sache identisch, in eine Reihe mit den organischen
Heilungsvorgängen; denn die Natur arbeitet stets mit denselben
Mitteln. Zudem weiß man, daß organische Krankheiten auch
unmittelbar, unter Auslassung der Medizin, durch religiösen
Eingriff geheilt werden können. Nur sind freilich bei der
Religion Mittel aus dem tiefsten fundus im Gange. Der organisch
kranke Mensch sucht sich instinktiv die Heilkräuter, die seine
Krankheit fordert, und er findet auch manchmal die richtigen,
manchmal die falschen; er wendet sich auch mit Vorliebe an Personen,
die für dieses Kräutersuchen besonders begabt sind; durch
das Auftreten des Genius aber wird das Kräutersuchen unter das
Similegesetz gestellt, das Notwendigkeit enthält. Von hier an
ist Wissenschaft da, und mit ihr das Optimum an Heilerfolg erreicht.
Genau so geht es mit dem metaphysisch kranken Menschen (also mit
jedem). Von jeher hat er Heilung vor dem Andrange dämonischer
Mächte gesucht, deren er nicht Herr werden konnte, und ist dabei
auf die absonderlichsten Praktiken verfallen. Hin und wieder haben
die verschiedenen Opferhandlungen, Sühnemittel, heiligen
Gesänge und Zaubersprüche auch geholfen - aber bei Orestes
zum Beispiel nicht. Indessen, das waren alles tastende Versuche im
Bereiche der doxa. Nun ist aber auch die Religion in die geniale
Phase eingetreten, genau wie die Medizin, hat
»Wissenschaftscharakter« bekommen und damit ihr Optimum
erreicht. Das geschah aber nicht in Indien, wo alles scheinbar so
wissenschaftlich hergeht, sondern in Palästina. Damit ich nicht
mißverstanden werde: da die Religion ja der Heilungsvorgang der
Natur ist, so kann sie nicht Wissenschaft im gewöhnlichen
partiellen Sinne sein. Aber da der geniale Vorgang historisch da ist
und weil das Genie in seiner Grundstruktur immer die gleiche
Qualität hat, so entstand hier doch ein religiöser
Bewußtseinszustand, der gegenüber den früheren
Versuchen siegreich durchdringt. Da nun jene Nobilitierung der
Wissenschaft dadurch geschieht, daß die Natur von sich aus (ex
objecto) in einweihender, offenbarender Weise auf den Genius
drückt, diesen in Erregung versetzt, (theia mania, status
nascendi) und ihn durch den actus demonstrandi nötigt,
Rechenschaft zu geben, so werden wir erwarten müssen, daß
auch in der Religion der Genius, welcher hier den Namen Prophet
trägt, den Inhalt durch Offenbarung erfährt. Und so ist es
in der Tat. Also, umgekehrt wie die gewöhnliche Meinung annimmt,
sind nur diejenigen Religionen wurzelecht, die offenbart sind, und
die diesen Vorgang nachweisen können. Aus der Offenbarung aber
folgt ihre Bestimmtheit. Das heißt: nicht allgemeine
Religiosität ist Religion, nicht frei empfundene, ersonnene oder
erdachte, sondern nur offenbarte und bestimmte. Das aber heißt
dogmatische. War unser Bild vom Genius richtig gezeichnet, so ergibt
sich diese unzeitgemäße Folgerung unausbleiblich.
Ein tiefgreifender Unterschied aber zur Wissenschaft ist der,
daß bei der Religion der actus demonstrandi die Grenze der
Verkündigung nicht überschreiten darf. Die Verführung
dazu ist ständig da, und die Kirche verfiel ihr, als sie jenen
berühmten Auftrag an die Philosophie vergab, der sich dann als
Scholastik auftat; je mehr dieser Verführung nachgegeben wird,
umso mehr nimmt die Heilkraft der Religion ab. Denn in den Worten der
Verkündigung, die durchweg sakraler Natur sind und nicht der
Verständigung dienen, ist das Heil in gleicher Weise enthalten,
wie das Arcanum in den Heilkräutern; diese aber sind nur
natürlich wirksam.
Eine letzte Frage drängt sich auf: ob es in der Religion
ähnlich hergegangen ist wie in der Medizin, in der bei
Paracelsus-Hahnemann der volle Durchbruch gelang, so daß man
sagen muß: hier ist die wahre Heilkunde, und nicht woanders.
Diese Frage muß bejaht werden und zwar so, daß in den
Propheten Israels, die wir als christliches Archaicum auffassen,
jener Durchbruch geschah, sowie schließlich in der Person
Christi selbst, die metaphysisch anders bestimmt ist als andere
Personen, und die - was für ein Wort! - das experimentum crucis
vollzog.
16. DIE SCHÖNHEIT IN DER ORDNUNG DES INTELLEKTES
(METAPHYSIK DER KUNST)
Echtes Organ der Natur ist der Genius auch im Falle der Dichtung, wie
überhaupt der Kunst. Nur wird hier begreiflicherweise unser
Prüfstein, vor allem die paradoxe Subsumtion der Begriffe,
versagen, eben deshalb, weil die Dichtung niemals aus den Begriffen
stammt, sondern unmittelbar aus den Ideen auf rätselhafte Weise
- mirabili et ineffabili modo - in die Sprache übergeht. Ohne
Zweifel aber gibt es auch hier sichere Kriterien dafür, ob
jemand Dichter ist oder nicht. Wenn das nicht stillschweigend
zugegeben würde, so hätte es keinen Sinn,
Litteraturgeschichten zu schreiben, die ja doch werten; auch Werke
über Malerei und Plastik würden dann soviel bedeuten wie
Bücher über gutes und schlechtes Essen. Das ist aber nicht
der Fall, sondern die Werke über Dichtung und bildende Kunst -
deren einige unsere höchste Bewunderung erregen - setzen voraus,
daß der Genius nachprüfbar ist wie das Gold beim Juwelier.
Und das ist auch der Fall, nur sind die Kriterien anderer Art wie die
beim Genius der Erkenntnis. Ein Federstrich Lionardos ist immer
Kunst, und der gleiche von einem Manne, der rührende Hirsche im
Walde getreu nach der Natur malt, ist es niemals; das geht hart auf
hart.
KANT hat in der »Kritik der Urteilskraft« den Gedanken klar
ausgedrückt: wenn ich sage: »Dieser Wein schmeckt
mir«, so verlange ich von meinem Nachbar nicht, daß er ihm
auch schmecke, sondern ich weiß, daß dieses Urteil
subjektiv ist und auf den angenehmen Empfindungen meiner Zunge
beruht, nicht seiner. Sage ich aber: »Dieses Bild ist
schön«, so spreche ich ein Geschmacksurteil aus, mit dem
ich sagen will, daß es objektive Giltigkeit habe. Während
ich also im Falle des Weines der Meinung bin, »de gustibus non
est disputandum«, meine ich das hier nicht, sondern ich halte
stillschweigend jeden für einen Banausen, der dieses Bild nicht
schön findet. Ob ich damit gerade in diesem Falle recht habe
oder nicht, ist eine andere Frage, auch die, ob es überhaupt
gelingt, einen bündigen Beweis für die Objektivität
der einzelnen Geschmacksurteile zu finden. Tatsache ist nur,
daß sie seit jeher gefällt werden, und daß in ihnen
allemal der stillschweigende Anspruch auf Objektivität enthalten
ist. Die gesamte Kunstwissenschaft (sthetik) beruht auf diesem
Anspruch, der sich sua sponte einstellt, denn sonst hätte sie
keinen Sinn. Objektive Giltigkeit aber heißt: Giltigkeit, die
vom Objekte selber stammt und von ihm besiegelt wird (heißt
nicht etwa juristische Objektivität zwischen zwei Parteien).
Darum gibt es auch keine falschere Definition der Kunst als die von
ZOLA, wonach sie Natur sei, »gesehen durch ein Temperament«
(vue à travers un temperament). Denn es ist nicht einzusehen,
wie ein bloßes Temperament, ein subjektiver Seelenzustand also,
den Maßstab für die Schönheit abgeben solle: diese
Temperamente wären doch nur Brillen »à travers«
man sich die Natur ansähe; wieso aber wäre dann das
Martyrium unzähliger Künstler, von denen wir mit
Bestimmtheit wissen, daß sie um der Kunst - nicht um ihrer
Brille - willen gehungert und gedürstet haben; das aber tut man
nicht für ein subjektives Temperament! Sondern all diese
Menschen hatten das bestimmte Bedürfnis, daß sie im
Dienste einer Sache standen, deren Grund nicht bei ihnen liegt. In
der Kunst, das weiß jeder Künstler, manifestiert sich die
Natur selber in einer besonderen Weise, die das Schöne und das
Erhabene in sich schließt, was keine Menschenseele und kein
Temperament aus sich heraus erzeugen kann. Dadurch sind ihre Genien
genau so Organe der Natur, wie es die der Wissenschaft sind. - Man
kann (und das ist geschehen) behaupten, daß es die
tiefstmögliche Weise ist, in der die Natur sich offenbart und
ausschüttet; Nietzsche und George dachten so. Dann wäre das
Moralische ein Randphänomen, das ebenso hätte ausbleiben
können und das im Altertum auch ausgeblieben ist. Man
könnte auf dieser Basis eine Renaissance des Heidentums
begründen, und etwas in uns wünscht ständig, daß
das möglich wäre. Haltbar aber wäre diese
Gründung nur dann, wenn die mit dem klassischen Altertum etwa
gleichzeitig, aber ohne Berührung mit ihm sich abspielenden
Vorgänge in Palästina bloß empirischen Ursprunges
wären und nicht reine Ereignisse der Natur.
Hier wäre nun, was die Schönheit angeht, für die
Philosophie der Ort, einen Wissenszweig abzuspalten, dessen Aufgabe
es ist, jene objektive Begründung der Kunst in der gleichen
Weise wie bei der Wissenschaft klarzulegen, und dieser Zweig
müßte den Namen »transzendentale sthetik«
tragen. Allein wie man weiß, ist dieser schon durch eine
gänzlich andere Bedeutung bei Kant in Anspruch genommen. Denn
das ist die Überschrift des ersten Buches der »Kritik der
reinen Vernunft«, »der Edelstein in Kants
Ruhmeskrone«, wie SCHOPENHAUER, etwas überschätzend,
sagt. Wir müssen also statt dessen die Bezeichnung
»Metaphysik des Schönen« annehmen, obwohl
transzendental und metaphysisch nicht dasselbe sind. Damals aber, als
Kant das schrieb, war die Bedeutung des Wortes
»sthetik« im Sinne von Kunstwissenschaft noch nicht
im Schwange, und er polemisiert sogar gegen diesen Gebrauch des
Wortes, indem er sich auf die Bedeutung beruft, die es bei den
Griechen gehabt hat; denn bei ihnen hieß
»((aisthsis))« etwa Empfindung, bestenfalls Wahrnehmung und
hat nichts mit dem Schönen zu tun. Indessen, diese zweite
Bedeutung setzte sich durch, und sieben Jahre später in der
»Kritik der Urteilskraft« nimmt er sie an; so heißt
auf einmal »ästhetische Urteilskraft« das, was wir
heute davon erwarten, nämlich Urteilskraft in Sachen der
Kunst.
Kant fügt sich also dem Sprachgebrauch und zwar sehr sinnvoll;
denn er hat inzwischen gefunden, daß jeder empirische
Gegenstand in drei verschiedenen Arten auf das Subjekt einwirken
kann: auf das Erkenntnisvermögen, das Begehrungsvermögen
(ein zopfiger Ausdruck für das, was wir seit Schopenhauer
einfach den »Willen« nennen) und auf das ästhetische
Gefühl, dessen logischer Bestandteil das Geschmacksurteil ist.
Nun zweifelt er natürlich keinen Augenblick daran, daß die
Blume wirklich da ist und nach Naturgesetzen lebt, auch nicht,
daß ihr angenehmer Duft durch reale Duftstoffe in der Nase
erzeugt wird. Sehen wir aber, wie er sich das Problem verdirbt, wo es
um die Schönheit geht! Er schreibt den herrlichen und wahrhaft
tiefsinnigen Satz: »Sagen: diese Blume ist schön,
heißt eben soviel, als ihren eignen Anspruch auf jedermanns
Wohlgefallen ihr nur nachzusagen. Durch die Annehmlichkeit ihres
Geruches hat sie gar keine Ansprüche.« (Kritik der
Urteilskraft § 32. Sperrung von mir.) Man hört ordentlich
aus diesen glasklaren Sätzen zwar nicht die einzelne Blume, aber
ihre Idee »den Anspruch stellen«, daß man ihre
Schönheit anerkenne; das aber setzt voraus, daß dem im
ästhetischen Gefühl als Schönheit Ankommenden etwas
Reales entspricht, das in der Idee enthalten ist - denn sonst
könnte es nicht ankommen. Schön aber ist, »was ohne
Begriff als Gegenstand eines notwendigen Wohlgefallens erkannt
wird« (K. U., § 22) - wieder ein Hieb, der transzendental
sitzt. Keine Metaphysik des Schönen wird je ohne diese
Kern-Sätze KANTs bestehen können. Aber nun kommt das graue
Elend: »Das Geschmacksurteil bestimmt seinen Gegenstand in
Ansehung des Wohlgefallens (als Schönheit) mit einem Anspruche
auf jedermanns Bestimmung, als ob es objektiv wäre«
(Sperrung von mir). In diesem »als ob« liegt die ganze
Wirrnis, die Kant hier und anderswo angerichtet hat. Dem
ästhetischen Gefühl entspricht also - nichts! Das sage man
einmal einem Künstler, der für seine Sache hungert und
dürstet! Es ist geradeso, als wolle man sagen: der Stein
fällt auf die Erde, »als ob« er schwer wäre,
Lionardo greift nicht zum Pinsel, »als ob« es
Schönheit gäbe, sondern weil es sie gibt, und der Stein
fällt, weil es Schwere notwendig geben muß. Oder man
muß sagen: Lionardo hat bloß Spaß gemacht, und
demgemäß sind alle seine Werke nur Ausspinnungen privater
Seelenzustände, Natur vue à travers un
tempérament.
Daß dieses »es gibt« der Schönheit nicht von
demselben Genus ist wie das der Farben, versteht sich von selbst.
Aber jene Blume Kants, die »ihren eignen Anspruch stellt«,
tut das ja auch nicht als Einzelexemplar, unter dem principium
individuationis, sondern aus dem archetypischen Potential der Natur.
Dort aber lagert die Schönheit wirklich und nicht »als
ob«, wobei alle Bemühungen der Künstler, sie im Werke
darzustellen, stets mißlingende actus demonstrandi sind. Nach
KANT aber ist die Schönheit »bloß eine Idee«.
Oder wie...? Stehen die Sphingen am Nil und die Tempel an den
Küsten des Mittelmeers, die Standbilder und die Dome deswegen
da, weil irgend jemand eine »bloße Idee« aus sich
herausgesponnen hat, die er vorher in seinem Gemüte aus
unbekanntem Stoff erzeugte? Oder: weil die Natur selber kraft eigner
Freiheit und vermittels des Genius sie schuf? Wo käme die
staunende Verehrung her, die seit Jahrtausenden diesen Werken gilt,
wenn sie nicht den wirklichen Stempeldruck der Natur in einem ihrer
tiefsten Offenbarungsakte an sich trügen, sondern irgendeinen
hergelaufenen »Als - ob« ihr Dasein verdankten? Es
verlohnte sich gar nicht, hinzusehen. Lebten Homer und Dante für
ihre eignen fixen Ideen, die sie aus sich heraus erzeugten, oder
wurden sie von der Natur her gelebt, die ihnen undurchdringliche
Aufträge gab? Aber auch die Lyrik, in der es doch dauernd
»ich« heißt, ist doch, wenn sie Kunst ist, nicht um
einen Deut weniger objektiv, als die Ilias oder der Hermes des
Praxiteles, und nur die volle Bewältigung wirklich zugeworfenen
Gutes macht die Größe und das Wunderbare an ihr aus. -
»Wir wissen von vielen der größten bildenden
Künstler, und zwar solcher, die die strenge Stilisierung, die
souveränste Umformung des Gegebenen übten, daß sie
sich für Naturalisten hielten, ausschließlich das, was sie
sahen, abzuschreiben meinten. Tatsächlich sehen sie von
vorneherein so, daß es zu dem Gegensatz innerhalb des
unkünstlerischen Lebens, zwischen der inneren Anschauung und dem
äußeren Objekt gar nicht kommt. Vermittels der
geheimnisvollen Verbindung des Genius mit dem tiefsten Wesen alles
Daseins ist sein gänzlich individuelles...Sehen...die
Ausschöpfung des objektiven Gehaltes der Dinge« (SIMMEL:
»Kant und Goethe«, S. 25). Und so ist es auch. Wir haben
allen Grund, diesen Aussagen der selbst betroffenen mehr zu glauben
als den Überlegungen eines noch so großen Mannes, der
immerhin von dem Verdachte nicht frei ist, nie eine Blume wahrhaft
schön gehalten zu haben.
Diese Art, vom Subjekte her zu philosophieren, ist es, die die
Philosophie in Verruf gebracht, ja an den Rand der
Lächerlichkeit getrieben hat. Man hat sich am Worte
»Idee« sakrilegisch vergriffen. Solche Ausdrücke wie
»Vernunftidee«, »bloß eine Idee« und deren
Variationen, wie sie bei Kant an den entscheidenden Stellen fast auf
jeder Seite vorkommen, dürften die Lippen eines Philosophen gar
nicht überschreiten können, ohne sie zu verdorren. Denn wie
kann man mehr sein als eine Idee! Auf diesem Wort liegt PLATONs
bannende Zauberformel vom »seinhaft Seienden«, womit unter
anderem das letzthin Objektive ausgedrückt ist, und jeder
Versuche, es ins Subjekt zu verlagern, hat eben jene Deklassierung
der Philosophie ins Reich der Verstiegenheiten zur Folge, die man
besonders am Beispiel des sogenannten »deutschen
Idealismus« studieren kann. Eigentlich wollte Kant das ja gerade
verhindern und in seiner Theorie der Erfahrung gelang es ihm auch,
aber in der sthetik, der Ethik und in seiner Religionslehre
treibt der »Idealismus« von neuem aus und verdirbt ihm die
Probleme. Es wird alles unnatürlich.
Nun haben z. B. die großen Engländer, Kants eigentliche
Lehrmeister, mit dem Worte »Idee« noch weit
größeren Mißbrauch getrieben. Bei John Locke ist
alles »idea«, was nur überhaupt ins Intellektuelle
schlägt: Vorstellungen, Empfindungen, Wahrnehmungen, Begriffe,
Halluzinationen - alles trägt diesen Namen wild durcheinander;
hier ist die Unordnung so weit getrieben, daß sie schon beinahe
nicht mehr auffällt. Bei David Hume liegt der Fall milder. Aber
eines haben die Engländer nie getan: sie haben nie die Vernunft,
die ja die »ideas« trägt, schöpferische
Eigenschaften beigelegt; sie haben diesem virginalen Teil des
Intellektes nie eine Parthenogenesis untergeschoben, was ja eben der
»deutsche Idealismus« tut, und wodurch jene
eigentümliche Donquichotterie entsteht, die eben nur bei ihm zu
Hause ist. Das kommt daher: die englischen Philosophen waren
Weltmänner, was man von Kant eben nicht gerade sagen kann. Sie
sind mit ihrer Philosophie, die allerdings jene Tiefenschicht nicht
erreichte, an die Kant stieß, niemals lächerlich geworden.
Zopf und Pedanterie, die den Leser bei großen Partien des
kantischen Werkes oft zur Verzweiflung bringen, sind den
Engländern fremd. Daß sie im übrigen andere
Untugenden haben, soll nicht verschwiegen werden, wie ja
überhaupt das nationale Element stets ein trübendes, nie
erleuchtendes ist. Die Philosophie soll auch keinen Erdgeruch an sich
haben, sondern nach dem Himmel schmecken, der über allen Erden
ist.
17. DER FORTSCHIRTT DER WISSENSCHAFT UND DAS ENDE DER
ASTRONOMIE
Das allgemeine Urteil über Kunst und Wissenschaft lautet so,
daß die Kunst nur solange da ist, als der Genius lebt, aus dem
sie quillt, während die Wissenschaft, einmal in der Menschheit
angeregt, einem ständigen Fortschritte unterliegt, der
unaufhaltsam ist, und den man dann mit dem Fortschritt des
Menschengeschlechtes gleichsetzt. In der Tat: die große Zeit
der antiken Plastik wird begrenzt durch Phidias, mit dem sie anhebt,
und etwa durch den Pergamenischen Altar, mit dem sie erlischt, weil
der Genius sie verließ. Das Epos ist an einzelne
Dichtergestalten gebunden, und man weiß ganz gut, daß das
reine Glücksfälle sind, von denen keiner den Homer
erreicht. Die Lyrik hat bisher am wenigsten nachgelassen, und es gibt
heute lyrische Dichter, die sich den größten an die Seite
stellen dürfen; ihr scheint in ewiges Leben verliehen. Die
tempelbauenden Mächte sind längst erlahmt; jedermann
weiß, daß man heute keine gotischen Dome mehr bauen kann,
und das Goetheanum in Dornach wird niemand für große
Architektur halten. Die Kunst also lebt davon, daß der Genius
sie nicht verläßt; damit hat das allgemeine Urteil
recht.
Bei der Wissenschaft aber liegt die Sache anders. Man kann deren
Fortschritte unmöglich leugnen, denn wir können heute weit
mehr Chemie als Lavoisier, und im Vergleich zu dem, was jeder
durchschnittliche Astronom heute vom Weltall weiß, ist
Kopernikus ein Waisenknabe. Aber irgend etwas sträubt sich in
uns, diese chemische und astronomische Vielwisserei in einen Rang mit
den wissenschaftsgründenden Genien zu setzen, von denen sie
lebt. Es gibt in der Tat Höhepunkte der Wissenschaft, so
fühlt man unwillkürliche, wenn man an die großen
Namen denkt. Dieses Gefühl könnte es aber nicht geben, wenn
die Wissenschaft in ihrer ganzen Substanz, durch jedermann
förderbar, fortschritte. Das tut sie auch nicht, sondern dieser
Trug wird vielmehr durch einen ihr - nicht der Kunst - eigenen
Mechanismus erzeugt, der ihr Bild trübt. Sie hat nämlich
die Eigentümlichkeit, in actu demonstrandi Methode abzuwerfen.
Das heißt, es entsteht sehr schnell eine systematische Ordnung,
die a priori ist und durch welche jedermann befähigt wird,
Wissenschaft zu treiben. Durch sie läuft die Wissenschaft
weiter, auch wenn der Genius sie längst verlassen hat. Jedermann
konnte den Neptun entdecken, nachdem durch das Gravitationsgesetz die
Ablenkung der Uranusbahn in festen kausalen Zusammenhang gebracht
war, und die Entdeckung des Uranus selber war die Wirkung des von
Herschel konstruierten Spiegelteleskopes. Aber beides erregte
Aufsehen. Die Planetenjagd wurde dann später als Sport
betrieben, bis sie, in der photographischen Methode,
schließlich von jedem Angestellten eines Observatoriums
durchgeführt werden konnte. Die weiter Bearbeitung
übernehmen dann die Recheninstitute, wahre Marterkammern des
Intellektes. Aber zu sagen: »Die Erde ist ein Planet« oder
»Der Mond fällt wegen seiner Schwere - nicht«. Das
konnte nicht jedermann, denn das geschah ohne Methode und vor
ihr.
Wenn man sich mit einem durchschnittlichen Astronomen der heutigen
Tage - und die Natur läßt nur noch durchschnittliche zu -
unterhält, so fällt einem das vom Erhabenen seines
Gegenstandes gänzlich Unberührte auf. Wir stoßen auf
eine gähnende Leere, eine tiefe Gelangweiltheit, die wir uns bei
den großen Astronomen der klassischen Zeit gar nicht vorstellen
können. Das kommt daher: die heutigen leben nur noch in der
Methode - die erlernbar ist -, jene aber vom Gegenstande selber, der
sich ihnen als Objekt entgegenwarf. Kann man sich den Scheiterhaufen
Giordano Brunos in dieser Phase des rapiden Fortschrittes der
Wissenschaften überhaupt nur vorstellen? Oder das »e pur si
mueve« des GALILEI? Oder kann man sich denken, daß jemand
eine umstürzende, die Natur des Menschen bedrohende Entdeckung
macht und in tiefster Besorgnis darum, ob eben diese Menschheit durch
sie nicht vielleicht ihres Seelenheiles verlustig gehen könnte,
sich ständig weigert, sie als Buch herauszugeben, bis ihm
schließlich das erste gedruckte Exemplar noch gerade eben auf
dem Sterbebette gereicht wird? So aber handelte Kopernikus. Unser
anonymus aber würde sich die Beine ausreißen, um den
besten Verleger zu finden, damit nur ja die Menschheit nicht um einen
weiteren Fortschritt der Wissenschaft betrogen werde. Das sind doch
Unterschiede, die auffallen müssen, und die sich schon sehen
lassen können. Warum ist das riesenhafte Mehr an
Wissenschaftsmaterial, das die moderne Astronomie gegenüber
ihrer klassischen Phase besitzt, in Wirklichkeit ein Weniger an
bildendem Geistesgut? Wir antworten: aus demselben Grunde, aus dem
römische Kopisten und moderne Epigonen der Antike keine Phidias
und Praxiteles sind; der Genius hat die Wissenschaft der Astronomie
genau so verlassen wie die griechische Plastik, und der Schein eines
objektiven Fortschrittes entsteht allein durch die Methode. So wie
die hohe Zeit der antiken Plastik von Phidias bis zum Pergamenischen
Altar reicht und nicht weiter, so reicht die der Astronomie von
Kopernikus bis Newton. Haarscharf hört sie hier auf, und
Herschel, der Planetenjäger, steht bereits auf der anderen
Seite. Von da an arbeitet die Astronomie im Dienste des verehrten
Publikums, zu dessen Wissensbereicherung, und damit es immer genau
weiß, wie spät es ist. Bis dahin aber hatte sie den
Auftrag, den Begriff des Unendlichen als Erlebnis in die Menschheit
einzuprägen.
Den hatten freilich schon die Griechen mit ihrem apeiron, aber sie
regten sich nicht darüber auf; ihre euklidische Seelenverfassung
hinderte sie daran. Der Abendländer aber von Luther an (der noch
nicht dazugehört) wurde durch diesen Begriff geradezu
umgewandelt. Er stürmte damals von zwei Seiten auf ihn ein: in
der anschaulichen Welt durch die Astronomie und in der begrifflichen
durch die beiden großen Mathematiker Descartes und Leibniz.
Daß hier eine vollständige Umbildung des inneren Habitus
sich vollziehen mußte, mit allen Gefahren für den
Seelenzustand und das religiöse Weltbild, das ahnte Kopernikus,
und daher kam seine Scheu vor der Preisgabe seiner
»Revolutiones«. Ob diese Gefahr bestanden wurde, das steht
heute noch in Zweifel. Denn daß das Unendliche anschaulich
unmöglich, gedacht aber notwendig ist, das ist ein Konflikt, der
nicht durchzuhalten ist, und der, einmal erlebt, seine umbildende und
hohlraumschaffende Tätigkeit nicht mehr unterbricht. Dies alles
aber, wovon wir hier reden, schafft nur die geniale Phase einer
Wissenschaft, während welcher das Objekt selber sich noch
entgegenwirft und sich seine Organe unter den hierzu
auserwählten Menschen schafft. Es ist der Gnadenzustand der
Wissenschaft, genau so wie in der Kunst; er hält an, solange die
Natur will, und er hört auf, wenn der Mensch etwas will; der
redet dann vom »Fortschritt«, und zwar von seinem. Aber er
bemerkt nicht, daß er damit in den Hohlraum fällt, der
sich, als Korrelat zum unendlichen Weltraum, in ihm aufgetan hat.
Niemand wird leugnen, daß in der Astronomie seit Newton kein
Genius mehr erstanden ist; die Vorherrschaft der Methode leistet dann
die Phase der Verbürgerlichung ein, zu der auch die
Verweltbürgerlichung gehört. Wissenschaft als Erhöher
und Versucher des Menschentums hört damit auf. Und wenn
schließlich immer noch ein Abglanz von Würde in einer
Wissenschaft verbleibt, so stammt der allemal aus jener Phase, in der
sie wirklich, vom Objekt her, an den Menschen herantrat und ihn
bedrohte, genau so wie es die Schönheit tut.
Es gibt daher eine »Geschichte der Wissenschaft« vom
Standpunkte der Methode aus gesehen. Nach dieser weiß die
Menschheit am Anfang sozusagen nichts und am Ende alles. Dann aber
gibt es noch eine andere, latente, die den wirklichen Hergang
darstellt. Diese zeigt die oft sehr dünnen und nur dem
ebenbürtigen Auge sichtbaren Brücken auf, die von einem
Genius zu andern geschlagen sind. Die Stelle, an der Kant den Begriff
der Materie aufgreift, von Newton kommend, ist eine solche
Brücke. Hier schlägt die Wissenschaft in die Philosophie
ein, beide noch in den Händen des Genius, und stärkt die
weltbildschaffende Kraft der kantischen Philosophie: ob hinreichend,
ist freilich eine andere Frage. Jedenfalls greift das newtonische
Gedankengut sowohl in die transzendentale sthetik wie in die
Logik ein und von hier aus erhebt es sich verjüngt von neuem.
Vom Standpunkte der Methodik, deren menschliche Vertretung die
Gelehrsamkeit ist, sieht es so aus, als ob die gründenden Genien
nur kleine Angestellte im namenlos fortschreitenden
Wissenschaftsprozeß seinen, in dem man dort gern auf die
Verdienste der »Vorgänger« hinweist. Und es mag auch
manchmal so scheinen, als ob das berechtigt wäre, denn wenn man
etwa sieht, was alles ausprobiert worden ist, um von der verwickelten
Epizykel-Rechnerei loszukommen, so scheint es so, als ob dem
Kopernikus nur eben gerade durch Zufall die richtige Lösung
eingefallen sei; bei Newton ist es ebenso. Allein wenn man die Sache
von nahem betrachtet, so ist es eben doch nicht so, und gerade die
Worte »Zufall« und »Einfall« sagen alles. Sie
sind ja sprachlich beinahe Übersetzung und Kommentar des Wortes
»Objekt«, das »Entgegenwurf« bedeutet. (Ein
Witzbold dagegen übersetzte etwas gewaltsam »Methode«
mit »Umweg«.) Darin aber liegt alles. Denn das Genie hat in
Wirklichkeit gar keine Vorgänger im eigenen Fach; der geniale
Prozeß spielt sich in statu nascendi nicht ab, sondern ist
natur-unmittelbar. Die Vorarbeiten anderer stehen zum Entdeckungsakt
nicht im syllogistischen Verhältnis, sondern in dem von
Reizursache und Reiz, das ist das Merkwürdige. Der
»fallende Apfel« war wichtiger als die Vorarbeiten. Ein
kluger Mann hat einmal diesen eigenartigen Zu-Fall mit dem
Konsekrations-Moment im Abendmahl verglichen, und ich muß
gestehen: so meine ich es auch. Es ist dabei gleichgiltig, was andere
Vorgänger vor ihm gedacht haben, ja was er selbst vorher dachte.
Nur deshalb nun, weil dieser Konsekrationmoment ja - da es um
Wissenschaft geht, nicht um Religion - einen actus demonstrandi hat,
dieser aber methodisch sein muß, eben, weil Wissenschaft so
beschaffen ist, nur deshalb sieht es für jemanden, der keinen
Blick für das spezifisch Geniale hat, so aus, als ob erst die
Methode da war und in ihr das »Verdienst« der großen
Entdecker. So wie beim Tauziehen schließlich durch ein Minimum
von Kraftüberlegenheit auf der einen Seite die Entscheidung
fällt, und der, von dem dieses Minimum ausging, prämiert
wird, so stellt sich die Gelehrsamkeit den genialen Akt vor. Es ist
aber nicht Verdienst, sondern Gnade, und das Ergebnis wird nicht, wie
beim Gelehrten erarbeitet, sondern geschenkt. Das Genie schwitzt
nicht. - Übrigens, wer jene unio mystica mit dem Objekte
erfahren hat, der besitzt die eigentümliche, vom Objekt selber
stammende Festigkeit in seinem Namen und seiner Gestalt, die beide
heimlich von ihm verändert werden, gegenüber den Versuchen
der Gelehrsamkeit, ihn zu prämiieren, das heißt zu
nivellieren. Nicht einmal Schopenhauer mit seiner sonst richtigen
Vorstellung vom Genie gelang es, Newtons Autorschaft am
Gravitationsgesetz fortzubeweisen und es für einen
Vorgänger zu reservieren.
Der Astronomie aber erging es nach dem Abschluß ihrer genialen
Phase wie dem Volke Israel auf seiner vierzigjährigen
Wüstenwanderung, nur daß diese heute noch nicht beendet
ist. Es ist doch merkwürdig, daß selbst Kosmologien wie
Hörbigers Glazialtheorie, die zweifellos geniale Züge
trägt, doch eben nicht ziehen; sie erregt Aufsehen bei den
Interessenten, aber sie erregt das Menschentum nicht mehr. Dies eben
deshalb nicht, weil die Aufgabe der Astronomie, das
Unendlichkeitsbewußtsein einzuprägen und den faustischen
Menschen zu schaffen, mit Newton ganz abgeschlossen ist. Sie geht
über Kant weiter und nicht über die Physik. Das
Jahrhundert, das nun folgt, kann nur säkularisieren, sonst
nichts. Es geht allen Entdeckungen, vorgeblichen neuen Weltbildern,
die in dieser Wüstenwanderungs-Zeit entstehen, trotz der
aufdringlichen Reklame, die sie oft mit sich machen, so, wie es dem
TALLEYRAND erging, als er Napoleons Tod erfuhr; er sagte: »Das
ist kein Ereignis mehr, das ist nur noch eine Nachricht!« So
sind alle astronomischen Entdeckungen, hinter denen kein Naturauftrag
in toto mehr steht, also keine privilegierte Wissenschaft, nur
Nachrichten, »prawda« und nicht »istina«.
Beschriebe man den wahren, bisher latenten Gang der »Geschichte
der Wissenschaft«, so müßte das eine Aristeia des
Ingeniums werden, und die Handlung spielte sich nur im Wirkungskreis
der genialen Zone ab; sie trüge nicht deskriptiv-methodische
Züge, also umwegige, sondern epische. Wo aber ist der vates
sacer, der das tut?
18. ANTINOMIEN DER WISSENSCHAFT ALS VORLUFER GENIALER
EREIGNISSE
Indessen zieht sich hier - am Rande der Astronomie - ein Gewitter
zusammen, von dem man noch nicht weiß, ob es niedergehen oder
sich, nach einigem Wetterleuchten, wieder verflüchtigen wird.
Ich meine die modernste theoretische Physik, in der sich drei
zunächst scheinbar disparate Disziplinen mischen: Die
Astrophysik, die Atomphysik und die nichteuklidische Geometrie. Was
bei ihnen zunächst auffällt, ist das gehäufte
Vorkommen von Antinomien der Wissenschaft. Denn es gibt offenbar
nicht nur solche der reinen Vernunft, wie sie Kant in der
transzendentalen Dialektik aufgeführt hat, sondern auch die
empirische Wissenschaft gebiert sie aus sich heraus unter gewissen
Umständen.
Das Merkmal der Antinomie ist, daß bei einwandfrei
durchgeführtem Experiment an ein- und demselben Gegenstande zwei
verschiedene, sich zunächst widersprechende Ergebnisse
herauskommen. So tritt das Atom in zwei gänzlich verschiedenen
Gestalten auf: als »Teilchen« und als »Welle«.
Das Teilchen ist uns verständlich; bei er Welle aber fragen wir
sofort: Welle von was? Aber wir erhalten hier keine Antwort, obwohl
es doch offensichtlich ist, daß eine Welle (das Bild ist vom
Wasser genommen) doch allemal an die Materie gebunden ist, deren
besonderer Bewegungszustand sie ist. Welle von nichts aber kann es so
wenig geben wie Welle an sich. hnlich antinomisch gespalten ist
das Licht, indes es einmal gequantet, also diskontinuierlich,
auftritt, das andremal wiederum als Welle. Der Begriff des Atoms
selber aber erleidet unter dem Durch der Experimente eine seltsame
Wandlung. Zunächst tritt es ganz realistisch auf; es ist der
kleinste Teil eines Stoffes, dessen weitere Teilung wohl denkbar,
aber nicht ausführbar ist ohne eine qualitative
Veränderung; es bleibt also doch seinem Namen treu. Da die
empirischen Stoffe aus diesen kleinsten Teilchen bestehen, so
müssen diese selbst in genau dem gleichen Sinn real,
körperlich, materiell sein, wie jene; anders geht es nicht. Nun
zwingen aber wiederum Experimente dazu, dem Atom eine Reihe von
Eigenschaften abzusprechen, die der empirische Großkörper
hat. Es hat keine Farbe, keinen Geruch, deinen Geschmack, keine
Wärme - wenn es sich nicht bewegt -, kurzum, man
stößt hier auf John Lockes Unterscheidung von
primären und sekundären Qualitäten. Was Farbe erzeugt,
heißt es, kann nicht selber farbig sein usw. Bisher ist alles
ohne Antinomie. Nun nötigen uns aber, wie die Atomphysiker
versichern, weitere Experimente dazu auch die Raumerfüllung zu
den sekundären Qualitäten zu rechnen, und die Folgerung
ist: »Was die Raumerfüllung bewirkt, kann nicht selber Raum
erfüllen.« - und hier ist das Ende da. Denn die
Raumerfüllung gehört zum transzendentalen Gegenstande, ist
also a priori; und wenn das Atom Gegenstand der Erfahrung sein will,
so muß es Raum erfüllen, oder es existiert nicht. Nun
scheint es aber tatsächlich so zu sein, daß der
gegenwärtige Stand der Atomphysik die Raumerfüllung als
bloße sekundäre Eigenschaft ansehen muß, und wir
finden daher auch folgerichtig das Atom auf einmal als ein
»bloßes Symbol« wieder. Es steht also ähnlich
wie mit der »Welle an sich« - und dem steht die
unwiderlegliche Sicherheit entgegen, daß ein empirischer realer
Stoff nur aus empirischen realen Stoffen zusammengesetzt sein kann,
nicht aber aus »Symbolen«. Die Antinomie ist
offensichtlich. Es liegen hier aber nicht etwa Laxheiten im Denken
vor; diese Atomphysiker sind viel zu kluge Leute, um das nicht zu
sehen, und sie haben in dieser Beziehung gar keine hnlichkeit
mit jenen Biologen um die Jahrhundertwende, die mit einem Minimum an
kritischer Begabung auskamen und die ja auch mit ihrer neuen
Weltanschauung Schiffbruch erlitten. Hier sieht es anders aus, dies
umsomehr, als wir es mit einer über die klügsten Köpfe
wie rasend hinwegsausenden Wissenschaft zu tun haben, die erhebliche
Resultate aufweisen kann. Einer von ihnen gestand mir einmal:
»Je mehr unsere Wissenschaft fortschreitet, umso unklarer werden
uns ihre Grundlagen.« Sie geht in der Tat über ihre
Köpfe hinweg - aber Köpfe sind es. Das war bei den Biologen
nicht der Fall. Es besteht auch zwischen ihnen eine merkwürdige
Einigkeit; man sollte meinen, daß jener Antinomienreichtum
Gelegenheit böte, den bekannten Gelehrtenzank untereinander zu
entfachen, besonders da wir es überwiegend mit Deutschen zu tun
haben; aber davon ist keine Rede. Es verbindet sie vielmehr ein
deutliches Gefühl der Zusammengehörigkeit.
Um auf das Atom zurückzukommen, so hat es bekanntlich noch die
Eigenschaft, sich durch den Akt der bloßen Beobachtung zu
verändern und Bewegungen zu machen, die gegenüber den sonst
so präzisen Gesetzen der Physik als willkürlich
angesprochen werden müssen. Das hat dazu geführt, daß
man hier von »akausalem Geschehen« sprach und glaubte, den
Begriff der Kausalität in Zukunft entbehren zu können als
einer Art Vorurteil, das nur für die Makro-Welt Giltigkeit habe;
an ihre Stelle trat ein »statistisches« Verfahren. Man
verwechselte hier die Anwendung des Satzes vom Grunde zum Zwecke der
Voraussage, - diese versagte wegen der willkürlichen
Atombewegungen - mit der Kategorie der Kausalität, ohne welche
es Erfahrung überhaupt nicht gibt. Denn die Bewegungen des Atoms
selber sind natürlich - ganz gleich, ob man sie voraussagen kann
oder nicht - genau so als Wirkung sowohl mit ihrer Ursache als mit
ihrem Grunde durch die Notwendigkeit verknüpft, wie alles andere
Geschehen auch. Indes, wie ich höre, hat man das wieder
abgeblasen, wenn auch sicher nicht aus Einsicht in das Wesen des
transzendentalen Gegenstandes, zu dem die Kausalität als
Kategorie gehört, sondern, weil ihnen angst und bange wurde.
Diese antinomienreichen Gedankengänge um den kleinsten
empirischen Gegenstand, das Atom, stehen nun, verbunden mit Problemen
der nichteuklidischen Geometrie, in Zusammenhang mit den
größten empirischen Gegenständen, denen des
astronomischen Weltalls. Ein Dreieck, dessen eine Spitze auf der Erde
und dessen beide anderen jenseits der Milchstraße liegen,
heißt ein transgalaktisches Dreieck. Bei der Messung dieser
Dreiecke stellt es sich nun heraus, daß ihre Winkelsumme nicht,
wie es die euklidischen Geometrie verlangt, 180 Grad ist, sondern 180
Grad + n, wobei dieses n proportional mit der Seitenlänge
zunimmt. Diese verblüffende, aber rein empirisch gefundene
Tatsache stimmt nun durch einen eigenartigen Zufall - wenn man so
sagen darf - überein mit der Grundannahme der Riemannschen
nichteuklidischen Geometrie, welche sich eben just auf der bloß
gedachten Voraussetzung aufbaut, daß die Winkelsumme im Dreieck
größer als zwei Rechte sei; dies setzt wiederum die
Aufhebung des Parallelenaxioms voraus, so daß also der
axiomatische Satz lautet: »Parallelen schneiden sich im
Endlichen.« So entsteht der mathematische Lehrbegriff des
»nichteuklidischen Riemannschen Raumes«, und die moderne
Astrophysik rechnet seitdem auf dieser und nicht auf euklidischer
Basis.
Seit Henry Poincarés »Wissenschaft und Hypothese«
hat sich nun die Meinung durchgesetzt, daß in der Mathematik
lediglich deren rein logischer Teil sowie die Zahlen und ihre Gesetze
a priori sind und synthetische Urteile a priori durch sie gebildet
werden können, also nur das Rechnerisch-Abstrakte, daß
dagegen die euklidische Geometrie a posteriori sei, das heißt
empirisch,. Ihre eigentümliche, ja keineswegs geleugnete
Sicherheit und Unvermeidlichkeit stamme aus Erbgewohnheiten durch
Anpassung, als eine ähnliche Theorie wie die David Humes
über den Kausalsatz. Das euklidische Dreieck mit seinem Satz
»Die Winkelsumme beträgt 180 Grad« ist demnach der
Grenzfall zwischen den beiden Sätzen »Die Winkelsumme im
Dreieck beträgt 180 + n Grad« (RIEMANN) und »Die
Winkelsumme im Dreieck beträgt 180 - n Grad«
(LOBATSCHWSKY); im euklidischen Dreieck ist demnach n = 0. So sieht
die Sache dann logisch und rechnerisch aus. Die euklidische Geometrie
wird dadurch zu einem Sonderfall von Physik, die auf Messung beruht,
wie bei den gyptern. Dies um so mehr, so sagt man dort, als
auch auf der andern Seite, beim Atom, sich eine ähnlich
rechnerische Begegnung mit der nichteuklidischen Geometrie angebahnt
hat.
Will man diese in sich folgerichtige Auffassung als eine Art
Selbstkonstituierung der theoretischen Physik annehmen, die sich
damit ihre Verfassung gibt, so ist dagegen nichts einzuwenden. Erhebt
man aber den Anspruch, ein Weltbild zu schaffen - und das droht immer
- so meldet sich sofort der folgende schwerwiegende Einwand: die
Messung eines transgalaktischen Dreieckes ist eine Erfahrung, an
deren physikalischer Zuverlässigkeit nicht gezweifelt werden
kann. Aber es ist eine Einzelerfahrung, die keine Notwendigkeit
enthält; es kann morgen eine andere gemacht werden, die sie
korrigiert. Darüber aber gibt es noch eine Erfahrung
überhaupt, zu der auch der messende Astronom selber gehört,
einen Begriff der Erfahrung, die Erfahrung an sich - ein Singular;
diese aber unterliegt nicht physikalischen Gesetzen, sondern
transzendentalen, und deren Theorie sagt aus, daß diese
wirkliche Welt vor uns sich im dreidimensionalen Raume ausdehnt, der,
als absoluter Raum, a priori ist, und dessen Gesetze, die der
euklidischen Geometrie, es gleichfalls sind. Es ist notwendig, einen
dreidimensionalen Raum anzuschauen, und es ist ebenso notwendig,
daß die in ihn heineinkonstruierten Figuren eben jenen Gesetzen
der Geometrie gehorchen, die uns seit der Entdeckung durch die
Griechen bekannt sind. Da aber der reine Raum a priori und der
relative Raum, der von den empirischen Dingen ausgefüllt ist,
derselbe Raum sind, so müssen sich diese Dinge nach den Gesetzen
der Geometrie, die nur synthetische Urteile a priori enthält,
richten. Das aber heißt: in Wirklichkeit ist die Winkelsumme im
transgalaktischen Dreieck genau so gleich zwei Rechten, wie in jedem
andern auch. Wenn die Messung ein anderes Ergebnis liefert, so ist
das physikalischer Schein (also doch wohl optischer, verursacht durch
Krümmung des Lichtstahles). Es steht also die transzendentale
Erscheinung = empirische Wirklichkeit gegen den physikalischen
Schein, und die Vorzugstellung, die das euklidische Dreieck
gegenüber denen der nichteuklidischen Geometrie einnimmt, ist
die, daß jene beiden, das Riemannsche und das Lobatschewskische
nur erdachte Dreiecke sind, das euklidische aber allein der
anschaulichen Welt angehört und daher von der Natur
ausdrücklich besiegelt ist. Mit ihrem Satze aber, daß die
Geometrie ein Spezialfach der Physik sein, hat sich die moderne
theoretische Physik bewußt auf den vorhellenischen Standpunkt,
also auf den »ägyptischen«*, gestellt, nach welchem
die geometrischen Ergebnisse empirisch, durch Messung entstehen. Die
Frage ist, ob man das kann.
Man kann es nicht, denn es liegt nicht in unserem Belieben, die
Mathematik hier oder da einzuordnen. Diese Ordnung schafft die Natur.
Alles Wissen, das auf Messung beruht, kann nur zur Wahrscheinlichkeit
führen und ist daher vorwissenschaftlich, wenn wir Wissenschaft
in dem hier vertretenen Sinne verstehen: denn diese trägt stets
den Stempel der Notwendigkeit. Da aber die Mathematik diesen Stempel
immer trägt, so ist sie von der Physik artverschieden. Hier
liegen geniale gründende Akte vor, die nicht mehr
rückgängig gemacht werden können. Die Geometrie
euklidischer Art hat einen natürlichen Vorrang vor der Physik,
kann also nicht eine Unterabteilung von ihr sein. Man hat in den
letzten Jahrzehnten sich daran gewöhnt, von ihr despektierlich
zu sprechen, als sei sie eine Art Primitivform; die Physiker halten
gewissermaßen nur die Dreiecke nichteuklidischer Façon
(Winkelsumme = 2 R - n und Winkelsumme = 2 R + n) für
standesgemäß, weil bei ihrer Berechnung nur die logischen
und die arithmetischen Elemente erscheinen, die - nach ihrer Meinung
- allein a priori sind, und sie halten den euklidischen Fall
»Winkelsumme gleich 2 R« für eine Art
Lausbubenstück der Natur. Vor dem Zeichen aber, das hier
aufgezogen ist, nämlich der »reinen Sinnlichkeit« und
dem »reinen Raum«, haben sie eine wahre Scheu, die ich,
nach Erfahrungen, die ich mit sehr klugen Vertretern dieser
Menschenklasse - so muß man sie fast bezeichnen - gemacht habe,
nur als Verdrängung begreifen kann. Sie wollen es nicht wahr
haben, daß es so etwas gibt, und doch ist das transzendentale
Experiment, das Kant zum ersten Male hier angestellt hat, im
Gegensatz zu allen physikalischen, auf Messung beruhenden, mit dem
Merkmale der Notwendigkeit versehen. Dieses Experiment aber wollen
die Physiker einfach nicht machen; sie gleichen darin jenem Priester,
der nicht durch das Fernrohr Galileis sehen wollte, um sich von der
Existenz der Jupitermonde zu überzeugen. Ihr Lehrer
Poincaré ist ihnen mit jener Scheu vorangegangen, indem er den
»geometrischen Raum« in eine Linie brachte mit dem
»Tastraum«, »Hörraum«, »Sehraum«,
das heißt, er verwechselte all diese psychologischen Räume
mit dem transzendentalen, den sie zur Voraussetzung haben und der
demnach art- und rangüberlegen ist. Es gehört aber, wie ich
bemerken muß, eine besonders ausgeprägte Auffassungsgabe
dazu, um das, was Kant in seiner transzendentalen sthetik
vorgetragen hat, lebendig zu begreifen; diese aber fehlt den
Astrophysikern. Sie wollen einfach nicht; schopenhauerisch gesagt:
sie können nicht wollen. Ihr Denken ist ein ausgesprochen
spezialisiertes, demgegenüber das euklidische als primitiv
gelten kann; aber in dem Sinne »primitiv«, wie die
Entwicklungslehre von einer »Primitivform« spricht
gegenüber einer spezialisierten. Die erste ist der Natur
näher, wird von ihren Kräften getragen und enthält die
zweite in nuce in sich. Die zweite aber, die spezialisierte, kann
nicht mehr rückgebildet werden und steht der Gefahr des
Aussterbens näher.
»Warum« - fragte ich den Physiker Pascual Jordan am Ende
langer und eindringlicher Gespräche -, »warum bleiben Sie
nicht auf dem gesicherten Boden der euklidischen Geometrie stehen und
ziehen bei Ihren Berechnungen jenes Plus an Winkelsumme, auf das Sie
bei den transgalaktischen Dreiecken stoßen, einfach als
Krümmungskoeffizienten des Lichtes ab? Das kann man doch. Denn
daß das Licht die einzige empirische Naturkraft sein soll, die
sich geradlinig fortpflanzt, das ist doch unwahrscheinlich, und wir
wissen zudem, daß es durch Gravitationsfelder abgelenkt wird
(sogenannter Einstein-Effekt). Statt dessen drehen Sie den
Spieß um und definieren die Çgerade Linieë als
Lichtstrahl! Das heißt aber: Sie schalten das Problem des
Lichtweges aus, indem Sie eine physikalische Kraft, das Licht, zu
einem geometrischen Gebilde machen! Hier liegt Dogmatik der
Wissenschaft vor.«
»Genau das tun wir, und wir müssen es, weil nach unserer
Meinung die Geometrie ein physikalisches Sonderfach ist.«
»Dann aber« - meinte ich - »entsteht folgende
Antinomie: da der Weg des Lichtes und die gerade Linie ein und
dieselbe Sache sind, das Licht aber eine empirische Kraft ist, so
sind alle Dreiecke Licht-Dreiecke und werden, wenn man ihre
Winkelsumme feststellen will, gemessen; das tun Sie auch stets bei
den transgalaktischen und stellen dabei jenen Überschuß
über zwei Rechten fest, der proportional mit der
Seitenlänge zunimmt. Bei einer bestimmten
Größenordnung aber, der Erde näher, hört dieser
Überschuß auf, n wird gleich 0 und das bleibt so bis auf
jenes Dreieck, das ich hier auf dem Papier zeichne. Diese Dreiecke
müßten nun aber auch gemessen werden, denn sie bestehen
genau so aus Licht, wie die ihrer gigantischen Brüder jenseits
der Milchstraße. Das aber tun Sie nicht! Sondern seit des
Thales Zeiten werden die Dreiecke konstruiert, und ihre Gesetze more
geometrico als synthetische Urteile a priori erschlossen. Das hat
nichts mit dem Licht zu tun, auch ein Blinder kann es, und so,
verehrter Herr Professor, handeln sie auch!« -
»Weil sich diese Methode, die Sie die »hellenistische«
nennen, gegenüber unserer »ägyptischen« als die
bequemere herausgestellt hat bei kleinen Dreiecken.«
»Nein, sondern weil die Natur so gebaut ist! Stellen Sie sich,
wohin Sie wollen, auf jenen transgalaktischen Stern, den Sie
anvisieren, oder wo auch immer: stets sieht die Welt gleich aus. Sie
ist immer nach allen Richtung hin dem Raume nach unendlich, und
nirgends können Sie auf einem Punkt mehr als drei Lote
errichten. Denken aber können Sie das freilich stets, und
überall können Sie nichteuklidische Geometrie
erfinden.«
»Und gerade dieser Bau der Natur ist es, über den die
Wissenschaft hinweggeht. Das, was Sie die anschauliche Welt nennen,
gerade das lösen wir in nichtanschauliche Formeln auf,
ähnlich wie Descartes die geometrischen Figuren in Gleichungen
verwandelte. Es bleibt dann allerdings, wie Sie das einmal genannt
haben, nur ein ÇEliminatë der Natur übrig; aber so
ist jede Wissenschaft beschaffen. Und, Sie müssen mir das
glauben, es gibt ein physikalisches Gefühl, einen inneren Sinn
für unsere Wissenschaft, der uns gleich einem Daimonion sagt,
wir sollen jene eigentümliche Verbindung von gedachter
Riemannscher Geometrie und gemessener Winkelsumme im
transgalaktischen Dreieck, die ja beide unabhängig voneinander
entstanden sind, ernstnehmen und diesem Wege folgen; es entsteht
hier, in Verbindung mit der Atomwelt, wo die Dinge ähnlich
liegen, ein abstraktes Ordnungssystem, das einem Nicht-Physiker nur
schwer klar zu machen ist, hinter dem aber doch, wie wir meinen, eine
Çim Objekt verbundeneë Realität steht.«
Das wäre nun abzuwarten. Jedenfalls würde das aber nicht
das Ergebnis der fortschreitenden Wissenschaft sein, sondern die Tat
des Genius. Durch sie würde plötzlich wieder die
anschauliche Welt zum Durchbruch kommen. Geschähe das, dann
wäre allerdings die Wüstenwanderung der Astronomie beendet,
und es leuchtete wieder ein echtes, von der Natur getragenes Weltbild
auf, gelöste Rätsel, aber geschaffenes Wunder. Der
Prometheus-Funke, der hier einschlagen müßte, springt aber
nicht zwischen zwei Wissenschaften über, auch nicht innerhalb
einer, sondern nur zwischen der Wissenschaft und der Philosophie.
Zwischen dem Genius Newtons und Kants fand eine Begegnung statt, die
tief befruchtend in die Philosophie eingriff. Die heutige Lage
zwischen der theoretischen Physik mit ihren antinomischen Problemen
und der zukünftigen Philosophie ist noch die, daß sich
zwei Parteien doktrinär gegenüberstehen und miteinander
nichts anzufangen wissen. Trotzdem scheint es mir gewiß,
daß die Scharmützel, die hier in den Gebieten der
transzendentalen sthetik und Logik geliefert werden, eben
gerade den Boden für eine kommende Entdeckung bereiten. Denn es
geht um dieses Territorium.
Wir stehen noch in dem Kapitel »Ordnung des Intellektes«,
und diese, die wir die natürliche nannten, ist es, von der eine
Reformation der Philosophie ausgehen wird. Ordnung schaffen aber
heißt: nie wieder zulassen, daß falsche Namen gegeben
werden, wo die Naturkraft eignen untilgbaren Stempels den richtigen
bereithält. Ordnung schaffen heißt ferner, über die
klare begriffliche Trennung hinweg noch für die richtige Lage
Sorge tragen, so daß ein Weltbild im Raum entsteht. Eine
falsche Lage des Intellektes gibt der naive Naturalismus samt
Schopenhauer; gar keine Lage, sondern nur ein begriffliches
Neben-einander gibt Kants transzendentale Logik; sie, das Kerngebilde
seiner Philosophie, ist ohne Raum und ohne Perspektive. Wir wollen
uns so stellen, daß wir, gleichwie man die Erde vom
archimedischen Punkte aus frei im Weltenraume schweben sieht, so auch
die Natur erblicken können.
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