Achtes Kapitel

DIE ORDNUNG DES INTELLEKTES

 

1. DIE ANSCHAULICHE UND DIE GEDACHTE WELT
Die Philosophie - wenn sie wieder einmal eine Sprache haben will - hat es nicht in der Hand, ihre Fachausdrücke beliebig zu wählen, sondern sie ist darauf angewiesen, was die Natur ihr sagt; sie darf sich nichts aus den Fingern saugen. Da ist es denn der Mißbrauch der Worte »Verstand« und »Vernunft« vor allem und deren wechselseitige Vertauschung, die es immer wieder verhindern, daß ein Weltbild zustande kommt. Es ist Schopenhauers unvergängliches Verdienst, hier Ordnung geschaffen, mindestens aber angebahnt zu haben. Er hatte ein Auge für die Natur, das Kant fehlte, und darum sah er sie besser. Zunächst wenigsten; sein späteres Versagen stammt daher, daß er nicht verstehen wollte, was »transzendentale Logik« heißt. Schopenhauer nun bemerkte, was die Philosophie bisher übersehen hatte, daß die Erscheinungswelt sich mir in zwei deutlich geschiedenen Arten darbietet, nämlich als angeschaute und als gedachte Welt. Das heißt, ich kann mich einem verwickelten Gedankengang über irgendein Thema hingeben; gleichzeitig aber bleibt die Welt der Anschauung vor meinen offnen Augen in unberührbarer Vollständigkeit erhalten. Auch wenn ich ein Buch lese und von dessen Gedankengängen eingenommen bin, so bleibt zu gleicher Zeit das Buch selbst, seine Schriftzeichen, ferner die Umgebung, der Tisch, die Blumenvase, die Bilder und die weiter Tiefe des Zimmers ohne jede Einschränkung als anschauliche Welt in meinem Bewußtsein, nur freilich mehr oder minder abgeblaßt, weil mein Intellekt sich gerade eben nicht mit ihr, sondern mit dem Gedankengehalt des Buches beschäftigt. Und dabei ist jene anschauliche Welt keineswegs etwa bloß Sinnesempfindung, sondern verstandene Welt. - Daß nun jener Denkvorgang intellektuell ist, versteht sich von selbst, daß es aber die anschauliche Welt auch ist, wenigstens zum entscheidenden Teile, das ist bestritten worden und bedurfte des Beweises.
Den aber hat schon das Altertum erbracht. Und zwar geschah es durch ein paar Worte des Sokrates im Gespräche mit Theätet. Dieser nämlich hatte die Behauptung aufgestellt, Erkenntnis sei Sinnesempfindung ((aisthsis)), und SOKRATES hat das in seiner ironischen Art gelobt, dann aber gleich die Gegenfrage gestellt, die den Satz zu Fall bringt: »Sollen wir also sagen: ehe wir die Sprache der Barbaren erlernt hätten, hörten wir nicht, was sie sprächen, oder hörten wir und verstünden auch, was sie sagten ...?« Aber es kommt noch schlimmer: »Gibt es so etwas wie Erinnerung ? - doch ohne Zweifel: ja. Also dessen, was man gesehen hat, erinnert man sich doch manchmal ... nicht? - Und auch, wenn man die Augen zumacht - oder hat man es dann vergessen ...?«*
Mehr zu sagen ist durchaus nicht nötig, um die gesamte sensualistische These zum Einsturz zu bringen. Sokrates meint also: die Tatsache, daß es Erinnerung gibt, beweist, daß in einem gesehenen Gegenstande außer dem Sinneseindruck noch ein anderes Element enthalten sein muß, das uns nicht durch die Sinne geliefert wird; denn sonst müßte es aufhören, wenn der Sinneseindruck erlischt. Dieses andere Element aber liefern wir, und es heißt nouw oder Verstand. So war das Altertum in vollem Besitze des Beweises für die Intellektualität der Anschauung und damit dafür, daß die Natur nicht mehr auf der Straße liegt. Das Subjekt ist an ihr beteiligt und dadurch wird sie Erscheinung. Schopenhauer zitiert EPICHARM: »Der Verstand sieht und der Verstand hört - das andere ist blind und taub.« Das ist genau Kants Satz von der Blindheit der Anschauung »ohne Begriffe«.
Die Natur selber aber betont diesen Tatbestand, indem sie ihm einen Abdruck in der Materie verleiht; das heißt, die Gehirnphysiologie lehrt die deutliche Trennung des Zentrums der Empfindung von dem des Intellekts. Schopenhauer zitiert den französischen Physiologen FLOURENS, welcher schreibt: »Il faut faire une grande distinction entre les sens et líintelligence. Líablation díun tubercule détermine la perte de la sensation ... líablation díun lobe cérébral laisse la sensation...elle ne détruit que la perception seule...La sensibilité níest donc pas líintelligence, penser níest pas sentir« (SCHOPENHAUER, »Satz vom Grunde«, § 21, Griesebach). Also: die Empfindung hat ihre besondere Stelle im Gehirn und der Intellekt auch; und nur aus dem Zusammenwirken dieser beiden entsteht die anschauliche, verstandene Welt. Wenn also jemand ein Buch schreibt, das etwa lautet: »Über den Ursprung unserer Erkenntnis aus den Sinnesempfindungen«, so kann man es - so dick es auch sein möge - getrost beiseite legen; denn der Autor kann sein Wort doch nicht halten. Der grünende Baum, den ich vor mir sehe, ist ebenso, nicht mehr und nicht weniger, durch die Sinnesempfindungen bestimmt, die ihn füllen, wie durch den Intellekt, der ihn versteht. Die wenigen Worte die Sokrates an Theätet haben bereits alles entschieden.
Wenn die Natur einen von der Philosophie entdeckten Tatbestand in der Materie unterstreicht, so ist das ein Zeichen dafür, daß es ihr Ernst damit ist. Die Philosophie hat ihre Unterscheidung von Sinnesempfindungen und Intellekt nicht ins Blaue hinein fabuliert, sondern sie hat einen Naturbefund aufgedeckt, der so und nicht anders angeredet werden muß. Es geht aber noch weiter: die Natur betont nicht nur den Unterschied von Sinnlichkeit und Intellekt, sondern auch den von Verstand und Vernunft, und sie hat die gleichen materiellen Mittel angewandt, um ihn zu sichern. Die Philosophie aber hat bisher im Unsichern getappt, und die Unterscheidung, die ebenso sicher im Gehirn manifestiert ist, nicht mit Klarheit vollzogen. (Wir bringen den Beweis an späterer Stelle). Der einzige, der es überzeugend tat, war Arthur Schopenhauer.
Es hat seinen Sinn, daß die anschauliche Welt, deren subjektives Korrelat im Intellekt der Verstand ist, erhalten bleibt, während sich die Denkakte der begrifflichen Welt, die von der Vernunft vollzogen werden, abspielen; denn die anschauliche Welt ist die bessere, mindestens aber das Symbol für etwas, das man so nennen kann. Sie ist stets unmittelbar und unschuldig, sie ist die Quelle und der Boden aller freudigen Erregung und damit der bildenden Kunst, sowie der Dichtung, ja, sie behauptet ihren unverlierbaren Platz in der Religion und verwahrt sich stets und mit Sicherheit gegen verstiegene Anmaßungen der Wissenschaft. Die gedachte Welt der Vernunft wird durch alle Kasus der Grammatik durchgehechelt; die anschauliche steht immer im vollen Nominativ da. Die Vernunft ist stets »diskursiv«, das heißt »davonlaufend«; der Verstand stets intuitiv, das heißt »im Anblick verstehend«. Wir wollen aber im übrigen dieses Wort vermeiden, nicht nur wegen seiner Häßlichkeit, sondern wegen des Mißbrauches, den man mit ihm trieb; denn man verstand darunter »höhere« Einsichten, und es kam zu einem unlegitimierten Intuitiefsinn. Der Verstand aber ist von erhabener Nüchternheit und konstitutiv; er ist am Bau der anschaulichen Welt als dessen intellektueller Faktor beteiligt.
Unter der anschaulichen Welt verstehe ich das, was vor mir liegt, wenn ich die Augen aufmache; aber auch, was ich höre, taste, schmecke und rieche, gehört dazu, und es ist nur der offenbare Vorrang des Auges vor allen anderen Sinnesorganen, der die Sprache dazu gebracht hat, hier ganz richtig das Wort »Anschauung« zu bilden. Diese anschauliche Welt darf ich nicht »meine Vorstellung« nennen; denn Vorstellung ist das, was übrigbleibt, wenn ich die Augen schließe. Der gewöhnliche Sprachgebrauch behält hier recht und geht auf die Irreführung nicht ein, die Anschauung und Vorstellung in eines setzt. Die Vorstellung ist ein reproduktiver Akt, der einsetzt, wenn der Zustrom der Sinnlichkeit versiegt ist; sie entsteht durch die Einbildungskraft und ist stets durch die Tätigkeit der Phantasie gefährdet. Phantasie aber gibt es in drei Arten: die pseudologische, die künstlerische und die exakte, Goethes berühmter Begriff, nach dem er lebte und dachte. Die anschauliche Welt aber ist das alles nicht, sondern sie ist stets rein objektiv; sie trägt das unverletzbare Siegel der verbürgten Realität in des Wortes engster Bedeutung. Wohl aber ist sie »Erscheinung«, wodurch nichts von ihrer Realität fortgenommen wird - abgesehen von den Vorstellungen, die der naive Realismus von der Realität hat. Ein vorgestelltes Pferd also unterscheidet sich von einem gesehenen dadurch, daß ihm keine Materie zugrunde liegt - wobei der transzendentale Charakter der Materie vorläufig noch ungeklärt bleibt; es gehört der bloßen Vorstellungswelt an, die ihren Inhalt aus der anschaulichen geliehen hat. Das gesehene Pferd aber ist das wirkliche der anschaulichen Welt. Die eingreifende Phantasie aber kann in ihrer pseudologischen Phase etwa ein goldenes Pferd machen, in der künstlerischen den Pegasus oder den Kentauren und den »Turm der blauen Pferde«, während die exakte Phantasie etwa die Entwicklungsgeschichte des Pferdes aus einem vierzehigen kleinen Waldtier bis zum einhufigen Steppenbewohner sieht. Hierbei aber springt bereits ein drittes ein, das gedachte Pferd oder sein Begriff, ohne welchen es keine Wissenschaft gibt.
Damit aber ist das Gebiet der anschaulichen Welt bereits verlassen, und man ist in die gedachte eingetreten, deren Basis die Vernunft ist. Die gedachte Welt besteht nur aus Begriffen, empirischen und reinen, die durch das Band der Logik zusammengehalten werden. Es ist falsch und irreführend, wenn SCHOPENHAUER die empirischen Begriffe »Vorstellungen von Vorstellungen« nennt; denn gerade das ist ihr Merkmal, daß sie den Ballast der Sinnlichkeit abgeworfen haben, von der die anschauliche Welt durchtränkt ist. Zwischen ihnen und der Anschauung liegt der entscheidende, sich übergangslos abspielende Akt der Abstraktion. Alle Begriffe sind abstrakt; die Vernunft hat aus der Anschauung deren intellektuellen Bestandteil allein herausgezogen (abstrahere), was ohne jeden Rest vor sich geht, und hat hierdurch die Möglichkeit geschaffen, über einen Gegenstand zu denken. Die Unterscheidung zwischen »abstrakten« und »konkreten« Begriffen muß also anders vorgenommen werden als das gewöhnlich geschieht. »Konkret« ist ein Begriff solange noch, als er mit seinem Gegenstande zusammengewachsen ist; das aber gibt es nur in der anschaulichen Welt, will sagen im Verstande. Im gesehenen Pferde steckt der Begriff »Pferd« konkret, im gedachten Pferde, dem Gegenstande der Vernunft und der Wissenschaft, ist er abstrahiert oder herausgezogen, wobei ihm dann im »diskursiven« Denken Gelegenheit gegeben wird, »davonzulaufen«. Das geschieht bekanntlich manchmal so weit, daß ein Zurückfinden zur Welt der Anschauung in Frage gestellt wird. Aber auch die Idee des Pferdes ist ein Angehöriger der anschaulichen Welt, niemals aber der gedachten. Nur ist der intellektuelle Faktor bei ihr eben der Verstandesanteil der anschaulichen Welt, nicht aber die Vernunft, und man kann an dieser Stelle wieder einmal deutlich sehen, wie nötig es ist, beides zu trennen. Von hier aus wäre vielleicht auch PLATONS »Erschauen« der Ideen zu retten.
Anstelle der Sinnlichkeit nun, die im Momente der Abstraktion abgeworfen wird, tritt sofort als Füllung für das entstandene Vakuum die Sprache. Denken ist immer mit Sprache verbunden, ganz gleich, ob ich zum andern rede oder zu mir selbst. Die Verbindung des Denkens mit der Sprache ist aber keine ontische, so daß man sagen könnte: Sprache ist die akustische Seite des Denkens; denn dann gäbe es nur eine Sprache, und diese wäre mit dem Denken im Einklang. Es ist also nicht so, wie bei der Beziehung von Wille und Materie, wo das zweite die Außenseite des ersten ist. Sondern Sprache und Denken leben in Symbiose miteinander, und zwar in einer unauflösbaren. Beide Elemente aber haben durchaus verschiedene Herkunftswege; sie stammen beide von den Dingen. Die Sprache vom Zauberwort, das ganz dicht an den Dingen anliegt und, wie ich vermute, akustisch das ist, was optisch das empirische »Schema« in Kants Sinne. Die Begriffe aber stammen von den Archetypen der Dinge. Kein Wunder also, daß diese tiefe und seltsame Verknüpfung einen so aufrührenden Schauder über den Denkprozeß wirft; man müßte eigentlich großen Respekt vor ihr haben.
Es ist auch eine ganz falsche und herabwürdigende Auffassung Schopenhauers und einiger der Psychologie verfallener Denker, die vorgebliche »Entstehung« der empirischen Begriffe durch »Weglassen unwesentlicher Merkmale«, womöglich gar »allmähliches Weglassen« zu erklären. Es muß vielmehr heißen: »im Begriff sind alle unwesentlichen Merkmale weggelassen« - denn woher wüßte ich denn, welche Merkmale »wesentliche« sind und welche nicht? Das entscheidet ja allein das Wesen selber, nämlich die Idee, ehe ich Zeit habe, darüber nachzudenken. Im Akte der Abstraktion vielmehr und durch ihn, den die Vernunft momentan vollzieht, wird unter dem Druck der Idee der Intellekt gezwungen, den Begriff abzulösen, und man kann sich wahrlich darauf verlassen, daß dieser Geburtsakt der Logik sich perfekt vollzieht. Fix und fertig springt der Begriff aus der bildhaften Anschauung heraus in die Vernunft, wie Pallas Athene aus dem Haupte des Zeus, und hinterher erst erkennt der Intellekt, was am empirischen Gegenstande wesentlich ist und was nicht. Der Rang aber des einzelnen Menschen, der den Intellekt benutzt, entscheidet darüber, wieviel ihm vom Wesentlichen durch den Begriff erschlossen wird. Wir haben daher die empirischen Begriffe exakte Signaturen der Dinge genannt.
Man will es immer nicht wahrhaben, daß alle empirischen Begriffe, eingeschlossen die Individualbegriffe, auch nicht die leiseste Spur eines anschaulichen Elementes enthalten, das heißt, daß sie durchweg abstrakt sind und daß es von diesem Worte »abstrakt« keinen Komparativ gibt. Die Täuschung entsteht dadurch, daß in der Rede so lange es um leicht vorstellbare Dinge geht, diese sich auch einzuschleichen pflegen. Rede ich von Ochsen und Schafen, so fliegt unvermeidlich ein flüchtiges Vorstellungsbild als »Schema« ein; das hört aber auf, wenn ich allgemeinere Begriffe verwende, wie Säugetier oder Lebewesen. Ich kann wohl Vorstellungen in die Rede einfließen lassen; aber ich brauche es nicht, und ich kann über Sokrates denken, ohne an ihn zu denken. Das eben ist ja der Vorteil der Rede und des Denkens, daß ich blitzschnell vorwärts komme, was unmöglich wäre, wenn ich den Ballast der anschaulichen Vorstellungen mit mir herumschleppen müßte. Nur freilich, wenn sich ein Gespräch in Allgemeinheiten versteigt, die Vernunft also in ihrer diskursiven Leidenschaft durchgegangen ist, dann ist es gut, wenn jemand mahnt: ob man sich das, wovon man redet, auch noch vorstellen könne? Die anschauliche Welt soll immer die Heimat bleiben, zu der die sich verlaufen habende Vernunft zurückgeführt werden kann; denn in ihr ist sie zu Hause.
In dem Augenblicke, da der Akt der Abstraktion vollzogen ist, das heißt, da die Vernunft den empirischen Begriff aus seiner Umklammerung durch die anschauliche Welt befreit hat, in dem Augenblicke schon benimmt sich der Begriff ähnlich wie ein Fisch, der lange Zeit auf dem Trocknen gelegen hat und nun von der anbrechenden Flut in sein Element aufgenommen wird. In diesem Sinne ist die Vernunft das Element der Begriffe. Diese werden höchst lebendig, verbinden sich blitzschnell mit anderen Begriffen, und so entstehen die Urteile und die Schlüsse. Die Wissenschaft aber, nach deren Gesetzen diese Verbindungen eintreten, heißt Logik. Deren Sätze sind durchweg a priori und deshalb völlig gewiß. Sie ist seit alters her das Domizil der philosophischen Gelehrsamkeit, die mit Aristoteles beginnt; denn der hat die Logik entdeckt. Alle Logik aber hat ihre natürliche Einteilung in die drei Gebiete: Die Lehre von den Begriffen überhaupt; die Lehre von den Urteilen und die Lehre von den Schlüssen (Syllogismen). Die Begriffe aber zerfallen, kaum, daß man sie angerührt hat, in zwei deutlich getrennte Gruppen: in empirische und »reine Verstandesbegriffe« oder Kategorien. Die empirischen, wenigstens die von Naturgebilden, stehen in unmittelbarem Konnex mit den platonischen Ideen, und quer hindurch verläuft die Achse der Natur. Die Kategorien dagegen sind, nach Kant, der Niederschlag oder die »Entsprechung« jener vier Gruppen von Urteilen, die von alters her als die »Tafel der Urteile« bekannt sind (das quantitative, das qualitative, das relative und das modale Urteil). Die Auffindung dieses Zusammenhanges zwischen der Tafel der Urteile und den Kategorien in Kants Hauptthema in seiner »Deduktion der Kategorien«, wodurch der Begriff der »transzendentalen logischen Analytik« geschaffen wurde. Ihr Resultat besteht in dem Nachweis der objektiven Giltigkeit der Logik für Gegenstände der Erfahrung; eine Sache, die Schopenhauer nie hat recht begreifen wollen.
Über jenes Entfliehen des empirischen Begriffes aus der anschaulichen Welt in die Vernunft sind NIETZSCHE einige verführerisch-schöne Sätze gelungen: »Alles, was Philosophen seit Jahrtausenden gehandhabt haben, waren Begriffs-Mumien; es kam nichts Wirkliches lebendig aus ihren Händen.«...»Sie setzen das, was am Ende kommt, - leider! denn es sollte gar nicht kommen! - die Çhöchsten Begriffeë, das heißt die allgemeinsten, die leersten Begriffe, den letzten Hauch der verdunstenden Realität (von mir gesperrt) an den Anfang als Anfang.« (Götzendämmerung: »Die Vernunft in der Philosophie«.) Es geht NIETZSCHE da um einen Angriff auf »ihren stupenden Begriff ÇGottë...Das Letzte, Dünnste, Leerste wird als Erstes gesetzt, als Ursache an sich, als ens realissimum...Daß die Menschheit die Gehirnleiden kranker Spinneweber hat ernst nehmen müssen!« - Es ist ein Axthieb, dessen Führung er von Schopenhauer gelernt hat und der an der Wurzel sitzt. Freilich trifft er nur die Philosophie, nicht aber die Propheten. Jener Satz aber vom »letzten Hauch der verdunstenden Realität« zeugt von einem ungeheuer klaren Blick auf die Entstehungsstelle der Begriffe; für Nietzsches Auge ist es so, als ob die Dinge rauchten und so sich allmählich - unter Waltung einer falschen Philosophie - zu Begriffen verflüchtigten. Nur dem Genius ist es erlaubt, so groß und so falsch zu denken. Dies Bild muß einmal einen Augenblick gesehen werden, damit man es nicht wieder vergißt und es ihm nicht vergißt; nur so erwirbt man sich das Recht, etwas dagegen zu sagen.
Denn es ist nur ein Bild, in dem hier geredet wird, und zwar ein vorplatonisches; es bezeichnet den Entstehungsvorgang des empirischen Begriffes, der wie ein Rauch den realen Dingen entströmt, mit anschaulicher Symbolik, und das ist richtig gesehen. Es erweckt aber auch den Anschein, als ob die freigewordenen Begriffe nun auch nach Art von Dunst und Rauch ins Wesenlose vergehen, und das ist falsch. Denn im Augenblick, da sich der empirische Begriff fest in der Hand der Vernunft befindet, ist er deren Gesetzen, das heißt der Logik unterworfen, und diese dulden kein wesenloses Verdunsten. Ein zweiter und tiefgehender Unterschied zwischen dem Aufgehen in Dunst und Rauch und dem logischen Prozeß liegt ferner darin, daß bei der Verdunstung reale Teile der Dinge sich verflüchtigen, beim begrifflichen Prozeß aber springt als erstes durch den Akt der Abstraktion ein Abbild und schließlich eine exakte Signatur des Ganzen aus dem konkreten Zusammenhange der anschaulichen Welt heraus. Bei einer blühenden Rose im Garten verdunstet zunächst das ätherische Öl, durch welches ihr Duft sich dem Sinnesorgane mitteilt, zugleich aber auch ihr Wassergehalt, der, widerstrebend abgegeben, die Rose schließlich zum Vertrocknen bringt, so daß sie äm Ende keinen Widerstand gegen die Auflösung ihrer festen Bestandteile leisten kann. Beim logischen Prozeß aber springt der Begriff der ganzen Rose mit all ihren wesentlichen Merkmalen in die Vernunft über, wobei es sich herausstellt, daß ich auch in der anschaulichen Welt die Rose gar nicht als Rose verstehen kann, wenn eben nicht dieser ihr Begriff, den die Vernunft jetzt triumphierend in den Händen hält, vorher darin gewesen wäre. Die Vernunft treibt also ganzes Spiel. Ihre Grundfähigkeit der Abstraktion - ohne die sie aber nicht sein kann - paßt also haargenau auf das, was in der anschaulichen Welt als Form gegeben ist. Alles Anschauliche aber ist Form, und hier saugt die Vernunft den empirischen Begriff ab. Das alles wäre unmöglich, wenn die anschauliche Welt Ding an sich wäre, wie es das vorplatonische Bildgleichnis Nietzsches voraussetzt; sie ist vielmehr Erscheinung, und der Intellekt gehört dazu als ihr subjektiver Faktor. Unser tiefes Vertrauen nun darin, daß die empirischen Begriffe, die die Vernunft uns durch ihren eigentümlichen Akt der Abstraktion aus der anschaulichen Welt herauszieht, auch stimmen, daß sie keine an den Haaren herbeigezogenen »Vorstellungen von Vorstellungen« sind, sondern objektive Giltigkeit haben, daß sie wirklich von der Natur reden können - denn sie setzen ja sofort Sprache an -, dieses Vertrauen haben wir daher, daß jener herausziehende Vorgang in der Vernunft der echte Widerhall jenes älteren ist, den der Demiurgos vollzog, als er in völlig undurchdringlicher Weise die Materie mit der prägenden Kraft der Ideen verband. Dieses Prägende zieht die Vernunft als Begriff wieder aus den Dingen heraus, und darum stimmt es.
Die »Verdunstung« geht nun weiter; aber wir bemerken sofort, daß das nicht ein bloßes Abnehmen der Dichte ist, wie in Nietzsches Bild, sondern, daß hier die Vernunft mit einem neuen, ihr ganz eigentümlichen Akte eingreift; die Logik nennt ihn die Subsumtion.* Während durch den Akt der Abstraktion des empirischen Begriffes nichts weiter gesichert wird, als daß ich seinen Gegenstand nicht mit einem andern verwechsle, wird durch die Subsumtion das Gebiet des Naturgesetzes beschritten. Die Vernunft ordnet einen Begriff einem andern mit größerem Umfange unter. So etwa den Begriff »Pferd« und den des »Huftieres«. Hier geschieht etwas: es entsteht fühlbar Wissenschaft. Und wir wollen im voraus verraten, daß alle, auch die größten Entdeckungen, sich im Kerne stets auf Subsumtion zurückführen lassen. Es gibt richtige und falsche, gelungene und mißratene, je nachdem die Natur dabei mitspielte. Der Begriff »Huftier« nun ist ein Gruppenbegriff, der alle diejenigen Tiere umfaßt, deren Füße die Hufform angenommen haben; sage ich: »Das Pferd ist ein Huftier«, so habe ich den Artbegriff Pferd unter den Gruppenbegriff Huftier subsumiert und in die assertorische Urteilsform gebracht. Ich hätte ja aber auch andere auffallende Merkmale herausnehmen und etwa den Begriff »Langohrtiere« bilden können; nichts steht dieser Begriffsbildung im Wege. Dann wäre das Pferd, das ja auch lange Ohren hat, in eine Gruppe mit den Hasen geraten. Allein man spürt sofort das Befremdliche dieser Einordnung. Denn der Huf steht mit dem Schicksal des Pferdes, seinem Charakter und seiner Lebensart in einer weit tieferen Beziehung als seine Ohren; der Huf, das wissen wir jetzt, ist ein Entwicklungsprodukt ganz spezifischer Art; er entstand durch die Verkümmerung der übrigen vier Zehen eines ehemals fünfzehigen Waldtieres, das auf die Steppe geriet und hier einer Anpassung unterlag; diese führte zur Verkümmerung der übrigen Zehen zugunsten einer, die nun als Huf die beherrschende Stellung einnimmt. Das geschah aber freilich nicht so, wie es sich Lamarck und Darwin dachten; bei ihnen ist der Druck der Umwelt der Souverän, der die Arten (»die es nicht gibt!«) »entstehen« läßt, und das, worauf sie drückt, ist eine amorphe Lebensenergie, die nichts zu sagen hat, sondern nur nachgibt. In Wirklichkeit aber trifft der Druck der Umwelt auf den Archetypus der Arten, welcher der eigentliche Souverän einer Tierart ist. Jedes Tier aber, das leben kann und sich fortpflanzt, ist angepaßt; ändert sich seine Umwelt, so werden an die Anpassung Forderungen gestellt, und diesen wird allemal so weit nachgegeben, wie der Archetypus es zuläßt, und nicht weiter. Dieser also hat den Primat. Alle Umbildungen von Organen aber oder Gliedmaßen sind daher Kompromisse zwischen der Umweltsforderung und der archetypischen Entscheidung; nur in diesem Sinne gibt es Entwicklung. Wenn also das Pferd, das im Mesozoikum ganz anders aussah als heute, gemeinsam mit anderen Tierarten die Entwicklung vom Zehentier zum Huftier durchgemacht hat, so liegt in der Bezeichnung »Huftier« eine Schicksalsgemeinschaft verborgen, von welcher der Erfinder dieses Gruppenbegriffes nicht einmal etwas gewußt zu haben braucht, während der Begriff »Langohrtier« schicksallos ist und ins Leere stößt; bei ihm spielt die Natur nicht mit.
Die bloße Vernunft also kann ganz beliebige Merkmale von Tierarten zu einem Gruppenbegriff durch eine rein logische Operation zusammenwerfen, ohne daß damit wesentliche Merkmale getroffen werden. Damit dies geschieht, bedarf es des Eingriffes einer anderen Erkenntnisfunktion: der Urteilskraft, die in diesem Falle transzendentale Urteilskraft heißt und die ihre Kraft vom Wesen selber her bezieht. Nur durch sie findet eine gelungene Subsumtion statt, die wirklich etwas aussagt, die objektive Giltigkeit hat und dadurch Wissenschaft begründet. Kant sagt, Vernunft habe jeder, Urteilskraft aber nicht, und er spricht von einer Art »Mutterwitz«, der hier eingreift, um giltige Subsumtionen zu erwirken. Die höchste Manifestation der Urteilskraft aber findet im Genius statt.
Nun kann die Vernunft den Akt der Subsumtion zunächst beliebig fortsetzen, nach allen Richtungen hin, und sie kann vor allem die Oberbegriffe erweitern; das ist ihr alltägliches Geschäft, das kein sonderliches Aufsehen erregt. Über das Huftier also kann sie noch den Begriff Säugetier setzen, dann Wirbeltier, weiter Tier und schließlich bloß Lebewesen; dadurch werden die Oberbegriffe immer allgemeiner, keineswegs aber abstrakter, ihr Umfang nimmt zu, aber die Urteile sagen immer weniger aus; denn zweifellos enthält das Urteil: »das Pferd ist ein Huftier« mehr Erkenntnisinhalt als das Urteil: »das Pferd ist ein Lebewesen«. Versuche ich nun aber, über den Oberbegriff Lebewesen hinaus noch einen Schritt weiter zu gehen, und sage ich: »Das Pferd ist ein Seiendes« - so macht die Natur nicht mehr mit. Diese Subsumtion nämlich ist keine unter einen noch allgemeineren empirischen Oberbegriff, sondern unter einen reinen Verstandesbegriff; denn bei diesem Subsumtionsakt sind wir auf die Kategorie der Realität gestoßen; die aber stak schon unbemerkt in allen empirischen Begriffen bis herab auf »Pferd«. Denn die Kategorie der Realität ist a priori und gehört, neben den andern ihrer Art, zu den konstituierenden Stammbegriffen der anschaulichen Welt. Ich hatte sie bereits mitgedacht, als ich den Begriff Pferd aus der anschaulichen Welt entband. Man sieht also deutlich: von dem empirischen Begriff Lebewesen kann ich mir immer noch eine, wenn auch noch so schemenhafte, aber doch eine Vorstellung machen; vom Begriff »Sein« dagegen nicht. Er steckt indessen in allen empirischen Begriffen, sowie in allen Gegenständen der anschaulichen Welt; er ist, als Kategorie, die Entsprechung für das bejahende Urteil in der reinen Logik, und wenn es eine solche transzendentale Entsprechung nicht gäbe, so gäbe es auch keine Möglichkeit des begrifflichen Verstehens in der Welt; mit andern Worten: es gäbe keine Wissenschaft.
Es ist also nichts mit jenem allmählichen Verdunsten und Verrauchen der Dinge, bei dem am Schluß die allgemeinsten und dünnsten Begriffe herauskommen; sondern diese befanden sich schon vorher, ehe das vorgebliche Verdunsten losging, a priori in den Dingen; mit ihnen aber das Verdunsten selber, und zwar in den gröbsten und handgreiflichsten sowohl als in den feinsten. Das aber macht: die Welt ist Erscheinung, also auch jeder Klotz; wäre sie Ding an sich, so wäre sie unverständlich. Sie ist aber verständlich und begreiflich, das gibt jedermann zu; und sie ist es deshalb, weil Verstand und Vernunft in sie eingebettet sind und einen Bestandteil von ihr ausmachen. Das ist die Bedeutung der Kantischen Doktrin »Transzendentale logische Analytik«.
 

2. DIE KATEGORIEN
Alle Gegenstände der anschaulichen Welt enthalten drei Elemente, die untereinander gänzlich verschieden sind, die auch verschiedene Herkunft habe und die doch zusammen miteinander den empirischen Gegenstand ausmachen. Es sind das:

1. die Sinneseindrücke,
2. die (generellen und individuellen) Formen,
3. der »Gegenstand überhaupt« oder der »transzendentale Gegenstand«.

Die anschauliche Welt allein aus dem ersten zu erklären, unternahm der Sensualismus; er hat keine großen Namen hervorgebracht; denn man darf John Locke nicht zu dieser Schule rechnen. Aus den Formen aber unternahm es Platon, und das dritte ist ein charakteristischer Lehrbegriff der Philosophie Kants.
Nun besteht von alters her ein consensus omnium, daß die anschauliche Welt verständlich und durch Wissenschaft begreiflich ist. Wollte man das nicht zugestehen, so hätte es keinen Sinn, auch nur einen einfachen Aussagesatz zu bilden und ihn durch Worte mitzuteilen. Denn jeder assertorische Satz enthält den stillschweigenden Anspruch, daß er sich auf einen objektiven Gegenstand beziehe und dort giltig sei. Andernfalls schwirrten nur Worte, die auch nur Naturlaute wären, aus dem Munde der Menschen, die wiederum dann gar nicht sprächen, sondern nur Geräusche machten. Da aber das Umgekehrte vorliegt, so muß der consensus richtig sein, das heißt, es muß eine feste Beziehung zwischen Denkakten geben und den Gegenständen der anschaulichen Welt; das müßte auch dann so sein, wenn alle Urteile, die bisher über sie gefällt worden sind, falsch gewesen wären. Die Basis aller Urteile wird dadurch nicht berührt.
Sich auf einen consensus omnium zu berufen, erscheint auf den ersten Blick als ein unerlaubtes Verfahren; allein das ist es nur, wenn es sich um empirische Dinge handelt. Der antike consensus über die Erdgestalt war falsch. Auch transzendentale Themata durch ihm beweisen zu wollen, geht nicht an, so der von Cicero hervorgeholte über das Dasein der Götter. Allein, wo es sich um transzendentale Dinge handelt, da bedeutet der consensus nichts anderes als »a priori und notwendig«, und er selber ist nur ein Ausdruck dafür. David Hume hat diesen Begriff des consensus in seinem berühmten Aufsatz über »Notwendigkeit und Freiheit« verwendet, indem er darauf hinwies, daß in puncto beider Begriffe, wenn man sie richtig versteht, kein Mensch jemals eine andere Ansicht gehabt haben kann; eben deshalb nicht, fügen wir hinzu, weil der transzendentale Druck, der auf ihnen ruht, das nicht zuläßt.
Es ist in der Tat unmöglich, an der Giltigkeit der Denkgesetze zu zweifeln; man kann gerade eben den Satz bilden: »Die Denkgesetze können bezweifelt werden«, die Sprache gibt das her, und die Logik hat auch nichts gegen ihn einzuwenden; denn er hält den Satz vom Widerspruch ein. Allein, wenn es um den Vollzug dieses Zweifels geht, wenn er begangen werden soll, so zeigt es sich, daß das nicht gelingt; denn er müßte ja mit denselben Denkgesetzen vollzogen werden, deren Giltigkeit bestritten wird. Der Zweifel müßte begründet werden: das aber geht nur mit dem Satz vom Grunde, dem Könige der Denkgesetze. Wären diese nun anthropologisch, wie der naive Naturalismus meint, oder ein »Gehirnphänomen«, wie Schopenhauer, so würde sich der Zweifel möglicherweise vollziehen lassen; aber sie sind a priori und kommen, transzendental werdend, am subjektiven Pol der Naturachse zu liegen. Diese aber kann man so wenig ins Wanken bringen, wie man den Nordpol der Erdachse abschrauben kann. »Der Mensch« spielt bei alledem gar keine Rolle.
Nun haben die Denkgesetze und mit ihnen die reine Logik das eine mit den Zahlen gemeinsam, daß sie unabhängig von jedwedem Gegenstande sind. Wie es gleichgiltig ist, was ich zähle, so ist es gleichgiltig, von welchen Gegenständen die reine Logik gilt; sie arbeitet daher ebenso wie die Algebra mit Buchstaben. Beide Wissenschaften also, Arithmetik und reine Logik, sind durchaus abstrakt und ohne jeden Anflug von Anschaulichkeit. Nun aber gibt es doch das, was der Volksmund so gern »Logik der Dinge« nennt; jedermann ist davon überzeugt, daß der Verlauf empirischer Dinge »logisch« sein müsse, ohne freilich darüber Rechenschaft geben zu können, wie das hergeht. Jede Einfädelung der Logik in das Teppichgewebe der anschaulichen Welt versucht der naive Realismus sich gewöhnlich so vorzustellen, daß der leitende Gedanke die Dinge am Bändel hat, wie der Zwirnsfaden die Perlen in einer Stickerei. Allein diese Vorstellung ist in Wahrheit unvollziehbar, wie alle Philosopheme des Naturalismus, weil ja die anschauliche Welt in der Tat von der Logik quasi imprägniert ist; es gibt in ihr nicht den kleinsten Teil, der nicht logisch wäre, so wie ein feuchter Schwamm an keiner Stelle ohne Nässe ist, und das ist unbegreiflich mit den Mitteln des Naturalismus. Wie kommt die Logik, die wir sonst nur als abstrakte Denkgesetze kennen, und zwar ganz genau, in die Dinge hinein, so, daß diese durch sie verständlich und später - in der Wissenschaft - begreiflich werden? Das ist die Frage der transzendentalen Logik. Nun hat aber die Philosophie inzwischen gefunden, daß die anschauliche Welt verstandene Welt ist, und darum sollte es verboten sein, von ihr als von der bloßen »Sinnenwelt« zu reden. Denn die Sinne vermögen niemals das zu erzeugen, was man mit Fug und Recht als »Welt« anreden kann; sie ergeben immer nur Empfindungen, die weder wahr noch falsch sind, sondern angenehm oder nicht. Man kann da jeden beliebigen Grad von Verfeinerung erdenken oder ihre Zahl beliebig steigern: niemals kommt eine Welt aus ihnen hervor. Wenn ich dagegen von der anschaulichen Welt rede und ihr den Beinamen der verstandenen gebe, so habe ich damit eine genaue und verbindliche Anrede geleistet.
So genau muß man freilich in allen Dingen sein, und es ziemt sich daher nicht, »Wahrnehmung« und »Sinnesempfindung miteinander zu verwechseln, wie man das vielfach auch in der seriösen Litteratur findet. Alle Gegenstände der anschaulichen Welt sind durchweg Wahrnehmungen. Ich sehe niemals bloß grün, sondern allemal grüne Blätter und grüne Wiesen; denn alle Gegenstände der anschaulichen Welt sind geformt und passieren daher den unvermeidlichen Gang von der Urform zu Form in den empirischen Begriff. Dieser aber hat immer Wahrheitsgehalt, so daß jeder Gegenstand heimlich an ihm gemessen wird. Ob das Wort »Wahrnehmung« etymologisch etwas mit »wahr« zu tun hat oder nicht: es will aber aussagen, daß hier ein Ding unter dem Siegel von wahr oder falsch steht. Das grüne Blatt erhebt einen heimlichen Wahrheitsanspruch, und darum nennt man es eine Wahrnehmung. - Dagegen kommen Sinnesempfindungen in der anschaulichen Welt nicht vor; sie müssen vielmehr künstlich hergestellt werden. Wenn ich »grün« als reine Sinnesempfindung erleben will, so muß ich es eliminieren, was etwa dadurch geschieht, daß ich vor eine dunkle Röhre ein grünes Glas setze und dies auf mein Auge wirken lasse. Sinnesempfindungen tragen demnach keinerlei Wahrheitsanspruch in sich, und also darf man sie auch nicht so benennen.
Die anschauliche Welt aber ist bewegte Welt. Aristoteles hat die Bewegung ((kinhsis)) für eine Kategorie gehalten, das heißt, er zählte sie zu den logischen Fundamenten der Erfahrung. Das ist aber ein Irrtum, auf den Kant hinwies; denn ich kann mir sehr wohl eine anschauliche Welt ohne Bewegung vorstellen. Nur ist es eben so, daß sie tatsächlich bewegt ist, das heißt, die Bewegung ist rein empirischer Natur und trägt nicht den Stempel der Notwendigkeit an sich. Das aber wäre erforderlich, um ihr den Rang der Kategorie zu verleihen. Anders ausgedrückt: die Bewegung gehört nicht zum transzendentalen Gegenstand. Und da es nun so ist, daß »alles fließt«, so nehmen wir es uns heraus, zwei Arten von Bewegung zum Zwecke der transzendentalen Verständnisses zu unterscheiden: die eine, die zwischen zwei Gegenständen spielt, und die andere, die sich an einem und demselben abspielt. Also: die ziehende Wolke, die durch den Druck der Luft in Bewegung gerät, gehört zur ersten Art, der gründende, blühende, fruchtende, welkende Baum zur zweiten. Denn offenbar sind das beides Bewegungsvorgänge, wobei sich die Bewegung am Baum nur durch ihre Langsamkeit der unmittelbaren Beobachtung entzieht. Unser Auge könnte das Blatt wachsen sehen, wenn es nicht, aus biologischen Gründen, an einen bestimmten Schnelligkeitsgrad angepaßt wäre. - Der Physiker kann diese Einteilung unbeachtet beiseite lassen, ja, er mag ihre Berechtigung abstreiten: indessen bei einer transzendentalen Untersuchung tut sie ihre guten Dienste; es springen nämlich bei ihr bald und sichtbar die beiden großen Grundkategorien der anschaulichen Welt und der Erfahrung heraus, die alles tragen: die Kategorie der Kausalität und die der Substanz. Diese stehen in der transzendentalen Logik da, wie die beiden Könige in Sparta mit ihrem doppelten Stimmrecht.
 

3. DER ALLGEMEINE KAUSALSATZ
Eine ziehende Wolke und jeder andere bewegte Gegenstand ist keineswegs ein bloßer Sinneseindruck. Was die Sinne von ihr liefern, ist nur eine helle Stelle am unteren Rande der Retina, die, wenn dieser geringe Reiz nicht unterhalb der Empfindungsschwelle läge, nur angenehm oder unangenehm wirken könnte. Verstanden als ziehende Wolke wird jener Fleck erst dadurch, daß ich über den empirischen Begriff »Wolke« hinweg deren Bewegung als notwendig verursacht erkenne. Dieser Akt des Verstandes ist momentan, geschieht unmittelbar und ohne Worte. Und so überhaupt ist jener Teil des Intellektes gebaut, den wir »Verstand« nennen müssen - im Gegensatz zur Vernunft -, daß seine »Schlüsse« keine Zeit in Anspruch nehmen, daß sie nicht syllogistisch sind und daß sie stets ohne Sprache geschehen. Trotzdem sind sie so, als ob sie das täten. - Durch die Kategorie der Kausalität also wird der bloße Sinneseindruck (den es empirisch nur beim menschlichen Säugling und bei der sogenannten »Agnosie« gibt) zur verstandenen Welt erhoben, momentan und wortlos. Die ziehende Wolke wird als solche verstanden. Keineswegs aber wird damit begriffen, welches die Ursache ihrer Bewegung ist. Auch die Katze versteht die springende Maus, wenn sie sie sieht; denn sie hat, wie alle Tiere, Verstand, aber sie begreift nicht, warum sie springt; denn sie hat keine Vernunft. Um die Verknüpfung von Ursache und Wirkung im einzelnen Falle zu begreifen, dazu gehören allemal zwei ganz neue Elemente der Erkenntnis: die abstrakten Begriffe und der Entdeckungsakt. Das aber ist Sache der Wissenschaft, und durch sie entsteht die begriffliche Welt, die niemals anschaulich ist, sich aber immer auf die anschauliche Welt bezieht.
Es geht also bei den Kategorien genau so her wie bei den empirischen Begriffen; diese sind konkret in der anschaulichen Welt enthalten, wurzeln nach dem Objekte zu in den Archetypen, nach dem Subjekte zu im Verstande. Bei der Arbeitsweise des ersten Namengebers der Tierarten haben wir das herausbekommen. Durch den Akt der Abstraktion nun, den nur die Vernunft begehen kann, werden die empirischen Begriffe aus ihrer Verwachsung herausgelöst und zu abstrakten erhoben; hierdurch erhalten sie die Fähigkeit, durch Subsumtion in ein Ordnungssystem der Wissenschaft einzugehen. Bei den Kategorien nun, jedenfalls zunächst bei der Kausalität und der Substanz, die an der Bewegung beteiligt sind, vollzieht sich derselbe Vorgang. Ich habe eine ziehende Wolke erst verstanden, und sie gehört erst dadurch der anschaulichen Welt an, daß ich ihre Bewegung als Wirkung verstehe, die mit einem Bewegenden als Ursache durch die Notwendigkeit verbunden ist. Dabei wird die Ursache selber niemals mitverstanden als Gegenstand der Anschauung, weil man es natürlich keinem Dinge ansehen kann, daß es Ursache ist, aber es jedem ansehen muß, das es Wirkung ist; dies gilt auch dann, wenn die Bewegung zum Stillstande kam. Es ist gar nicht zu leugnen, daß eine Bewegung, die nicht vom Verstande mit ihrer Ursache verbunden wäre, eben unverstanden bliebe; die ziehende Wolke wäre dann nichts als ein feines Rumoren auf der Netzhaut des Auges, dem keinerlei Merkmale der Erkenntnis zukämen. Diese bekommt sie erst durch die Kategorie der Kausalität, die sich spontan einschaltet und gewissermaßen eingebettet in der anschaulichen Welt ständig wirksam ist. Sie kann nicht einen Augenblick ausgelassen werden; denn sofort fiele die verstandene Welt auseinander und ließe einen Haufen sinnloser Sinneseindrücke zurück. So hat auch KANT, der Gründer der Kategorienlehre, diese begriffen, indem er sie in seiner umständlichen Art definiert: »Sie sind Begriffe von einem Gegenstande überhaupt, dadurch dessen Anschauung in Ansehung einer der logischen Funktionen zu Urteilen als bestimmt angesehen wird.« (K. R. V., Seite 128 der zweiten Auflage von 1787.)
Begehe ich nun an dem empirischen Vorgange der Bewegung, der mir durch die anschauliche Welt gegeben wird, den Akt der Abstraktion, indem ich aber jenen hellen Vorstoß der Vernunft gegen den Verstand und die Sinnlichkeit nicht an der Bewegung selber ansetze, sondern an jenes Band der Notwendigkeit, durch das Bewegtes (motum) und Bewegendes (movens) miteinander verknüpft sind, löse ich also aus dem unmittelbar durch die Kategorie der Kausalität verstandenen Bewegungsvorgang dessen rein logischen Teil heraus, so erhalte ich auf einmal und ganz plötzlich anstelle der automatisch in der Natur waltenden Kategorie den allgemeinen Kausalsatz; dieser aber übt, wie ich sofort bemerke, ein doppeltes Stimmrecht aus, nämlich
1. als Gesetz von Ursache und Wirkung, welches lautet: »Nichts geschieht ohne zureichende Ursache« (causa fiendi) und
2. als Satz vom zureichenden Grunde, welcher lautet: »Nichts wird erkannt ohne zureichenden Grund« (ratio cognoscendi).
Ich weiß, wenn ich diesen Akt der Abstraktion mit voller Bereitschaft begehe, ganz plötzlich und ganz sicher, daß es dieselbe Unverbrüchlichkeit ist, mit der in der reinen Logik etwa die Konklusion aus den Prämissen folgt, und mit der jeder Vorgang in der Natur, also jede Bewegung, Wirkung ist und, unter dem Zwange der Notwendigkeit, aus der Ursache erfolgt. Damit weiß ich aber auch, daß das soeben durch Abstraktion gewonnene Gesetz des reinen Denkens und die konkrete, das heißt mit der anschaulichen Welt zusammengewachsene Kategorie eine und dieselbe Sache sind, aus demselben Stoffe bestehen, nämlich aus dem Intellekt, der in zwei verschiedenen Aggregatzuständen auftritt. Das ist es, was Kant die »transzendentale Deduktion der Kategorien« nannte, und die wir hier in einem sehr viel einfacheren Verfahren gewonnen haben.
Das beste und einfachste, voll überzeugende Bild für den Allgemeinen Kausalsatz ist das Zeichen für die Zahl 8. Hierbei muß man sich den unteren Kreis mit Materie gefüllt denken. Der obere bedeutet den »Satz vom Grunde«, der untere die »Kategorie der Kausalität«, im Schnittpunkte der Schleifen habe sie miteinander einen gemeinsamen Ort. Eines ist dasselbe wie das andere, nur dieses andere ist fest gebunden durch die Materie oder aber den Willen, das erste ist frei und nur im Denken. Oben, im Denken, kann ich sagen: Weil die Quecksilbersäule steigt, deshalb (d. h. daraus schließe ich) wird es wärmer; aber ich kann auch umgekehrt sagen: weil es wärmer wird, deshalb muß die Quecksilbersäule steigen; daß ist der Erkenntnisgrund. Unten aber, bei der Kategorie der Kausalität, kann ich nicht umkehren, sondern ich muß sagen: erst ist die Erwärmung da und dann, als ihre Wirkung, das Steigen der Quecksilbersäule. Das ist die Ursache. Hier hat die Natur eingegriffen, und die Kategorie zeigt das unerbittlich an. Daher steckt der allgemeine Kausalsatz in der anschaulichen Welt, zugleich aber im Denken. Der Satz vom Grunde ist die Abstraktion des Kausalsatzes. So sieht transzendentale Logik aus.
 

4. DIE BEIDEN AGGREGATZUSTƒNDE DES INTELLEKTES
Das Verhalten des Intellektes, nämlich sein ständiges Auftreten in zwei verschiedenen Aggregatzuständen, wobei der Verstand der feste, die Vernunft aber der flüssige oder auch gasige ist, erinnert an die Aggregatzustände der Materie. Da diese nun durchaus nicht das ist, was die Physiker sich unter ihr vorstellen - die sie ständig mit den Stoffen verwechseln -, sondern vielmehr selber von transzendentalem Charakter ist mit Eigenschaften a priori, so darf der Satz von den zwei Aggregatzuständen des Intellektes nicht als ein bloßer Vergleich angesehen werden, der zu didaktischen Zwecken gesucht wurde, sondern als derselbe Vorgang an zwei verschiedenen Stellen der Natur; denn diese arbeitet stets mit denselben Mitteln und beachtet die lex parsimoniae.
Nun ist es nicht etwa so, daß Verstand und Vernunft, als die zwei Aggregatzustände des Intellekts, wie in zwei verschiedenen Schubfächern nebeneinanderliegen; das tun sie nur in der begrifflichen Trennung. Im Gebrauch aber wechseln sie sich ständig ab und gehen ineinander über. Es ist so, wie wenn über einer Eisfläche eine dünne Dunstwolke aufsteigt, die von der wärmeren Luft nach oben geführt wird, die aber jeden Augenblick, wenn sie in kältere Zonen kommt, als Schnee wieder zurückfallen kann. Es ist dasselbe Wasser, das hier einen Kreislauf von festen in den gasigen und dann wieder zurück in den festen Aggregatzustand begeht; es hört nie auf, Wasser zu sein, seine chemischen Qualitäten bleiben dieselben, aber die physikalischen unterliegen einem gesetzmäßigen Wandel. So steht auch der Intellekt niemals still, und sein Leben besteht gerade darin, daß ein ständiger Wechsel zwischen Verstand und Vernunft vor sich geht. Das kann auch nicht anders sein, da die Natur ein transzendentales Kontinuum ist, das sich mit der Achse im Innern bewegt. Ein ständiger Wechsel im Vorgange aber rechtfertigt nicht eine ständige Verwechslung in der Wissenschaft.
SCHOPENHAUER, der als erster Bresche in diese herkömmliche Verwechslung geschlagen hat, nannte den Verstand das »allgemeine Merkmal der Tierheit«. Beim Menschen aber wird der Verstand dauernd umflimmert und beunruhigt durch die ständig nach der Ursache fragende Vernunft, die keinen Augenblick stillestehen will und ihre flüssige, quecksilbrige Natur ohne Unterlaß in Szene setzt. Durch ihren diskursiven Charakter wird der Verstand des Menschen in einen ständigen Reizzustand versetzt, der schon oftmals beklagt wurde, der aber - das ist nun einmal so - das vehiculum der Wissenschaft ist. Der Mensch will die Welt nicht nur verstehen, sondern auch begreifen. Ich kann aber sehr wohl jenem Ansturm der Vernunft Widerstand leisten, mich beharrlich auf die anschauliche Welt zurückziehen und mich ihr anvertrauen, indem ich mich betrachtenderweise ihrem Anblick hingebe. Dann verbürgt mir die Kategorie der Kausalität das Sinnvolle der Bewegung, aber auch der Ruhe, ihre deutende Kraft verhindert es, daß eine dahinziehende Wolke in der Landschaft eine bloße Verdeckung des Blau dahinter ist. Aber das Tier kommt nicht in die Verlegenheit, sich gegen den Ansturm der Vernunft wehren zu müssen, und darum steht der Verstand des Menschen um einen Grad höher im Range. Ihm kommt denn auch in einer solchen Lage die Möglichkeit einer künstlerischen Betrachtung zu Hilfe, wie sie Schopenhauer im dritten Buche seines Hauptwerkes dargestellt hat, so daß man die Schönheit als ein Heilmittel der Natur auffassen kann, durch das der Mensch von den meist qualvollen Fragen der Vernunft saniert werden soll.
 

5. DIE BEGRÜNDUNG DER WISSENSCHAFT
Die Wissenschaft dagegen räumt mit dem allen auf, und man könnte sehr um ihre Legitimität besorgt sein, wenn es etwa nicht gelänge, sie aus den Quellen abzuleiten, denen man sie - nämlich die Legitimität - nicht gut versagen kann. Legitim aber heißt hier, wie immer: seinen Grund in der Natur haben. In der anschaulichen Welt wird jeder bewegte Gegenstand als Wirkung verstanden, dabei aber bleibt die Ursache stets unter dem Horizont. Die ziehende Wolke sehe ich schon und verstehe sie als bewirkte Bewegung, die bewegende Luft vermag ich wohl zu fühlen, durch den Tastsinn, aber als Ursache für die Bewegung fühle ich sie weder, noch verstehe ich sie. Die Kategorie der Kausalität aber sorgt dafür, daß das Band der notwendigen Verknüpfung mit der Ursache nicht abreißt. Während ich jeden Gegenstand der anschaulichen Welt jederzeit mit Notwendigkeit als Wirkung verstehen muß, gibt es keinen einzigen, von dem ich weder im Verstande noch in der Vernunft sagen könnte, er sei Ursache, das heißt, er sei mit Notwendigkeit mit etwas anderem, das nach ihm folgt, verbunden. Ein Feldstein auf dem Acker ist sofort in jeder seiner Bestimmungen als bewirkt verständlich und von der Vernunft begreifbar, aber daß er von irgend etwas Ursache sein müsse, davon steht nichts in ihm geschrieben. Die Ursache ist also ein durch und durch problematischer Begriff. Die Vernunft forscht nach ihr, indem sie gewissermaßen die Richtigkeit der anschaulichen Welt kontrolliert; sie fragt: Warum bewegt sich die Wolke? Solange sie nun, Ding an Ding reihend, sagt: durch den Wind und der durch die Wärme und die durch das Feuer, das Feuer aber kommt vom Stein oder vom Blitz usw., solange ist noch keine Wissenschaft da, sondern nur jener berühmte regressus in infinitum, dem die Vernunft, faul und müde geworden, schließlich eine »prima causa« als Anfang setzt. Unklare Gemüter nennen diese nun gar noch »Gott« und halten so etwas für Religion. Das Band der Notwendigkeit, das durch dieses Springen der Vernunft von Ding zu Ding in infinitum entsteht, ist aber nur das der Befriedigung ihrer selbst, also subjektiv; es ist nicht die Naturnotwendigkeit, welche anzeigt, daß zwei Dinge »im Objekt verbunden« sind (KANT). Die Wolke kann auch, statt vom Winde gestoßen, etwa von einem Sog bewegt werden oder vom Gotte Aiolos oder magnetisch; in alledem liegt keine Notwendigkeit kategorialer Art, sondern nur, daß sie überhaupt von etwas bewegt wird, diese Forderung a priori der Vernunft wird hier befolgt. Und nur die unruhevolle Neugier ist der Antreiber dieses Prozesses. Wissenschaft aber kommt auf diese Weise niemals zustande. Diese entsteht vielmehr erst im Augenblick, da nicht die jeweilige causa occasionalis angegeben wird, sondern der Grund ((ousia)) und das Gesetz.
Ich zitiere aus der Doktor-Dissertation von Konrad Wilutzky (Leipzig 1930)* die mir bisher als die klarste erschienene Definition der Wissenschaft. WILUTZKY schreibt Seite 29 über »Die Unterscheidung von Ursache und Grund bei Aristoteles«: »Schon Aristoteles unterscheidet in der Metaphysik (VII, 17) zween Arten von Kausalität.: Ursache ((aitia)) und Grund ((ousia)) und sagt von dem letzteren, daß er tiefer in die Dinge eindringt, daß er darum eine vollkommenere Erkenntnis bewirkt und auch allein Notwendigkeit mit sich führt, weil er den Dingen innerlich ist.« - Ich muß gestehen, daß ich bei der Lektüre des griechischen Originales des Aristoteles diesen Gedankengang nicht recht habe herauslesen können, was aber vielleicht in meiner Ungeübtheit in dem spezifisch aristotelischen Sprachgebrauch liegt;** - indessen sei dem, wie ihm wolle, und sei es so, daß dem Aristoteles die Urheberschaft an dieser wichtigen Unterscheidung gebührt, bei Wilutzky kommt es jedenfalls in voller Klarheit heraus. Nur muß man wieder auf eine Gefahr hinweisen, die der Sprachgeiz heraufbeschwört, und darf das deutsche Wort »Grund« hier nicht im Sinne von Erkenntnisgrund = ratio verstehen, sondern objektiv etwa im Sinne von »auf den Grund kommen«. WILUTZKY schreibt hierzu S. 32 weiter: »Der Grund zeigt mithin die den Dingen selbst innewohnende Wesenheit, ihre innere Struktur, ihr Schema auf, welches Çnur für das geistige Auge sichtbar durch den Vorgang hindurchscheintë; und wir begreifen, daß nur dem aus dem Wesen des Objektes selbst entsteigenden Urteil Notwendigkeit zukommen kann.« Gemeint ist also hier von Wilutzky die echte Naturnotwendigkeit, die transzendentale, nicht die logische, die der Apriorität der Denkgesetze entstammt. Und nun die völlig überzeugenden Beispiele für diesen Gedankengang (S. 31 unten): »Wenn ich sage: Das Glas zerspringt infolge seiner Sprödigkeit, so ist das der Grund; sage ich aber: das Glas zersprang, weil es auf die Erde fiel, so ist das die Ursache, welche immer Gelegenheitsursache ist und keine Notwendigkeit bei sich führt. Wenn ich sage: Der Apfel fällt zur Erde infolge seiner Schwere, so ist das der Grund; sage ich aber: der Apfel fiel zur Erde, weil der Wind den Baum schüttelte, so ist das die Ursache. Der Satz: Infolge seiner Schwere fällt der Apfel zur Erde, ist synthetisch a priori, er besitzt Notwendigkeit, er ist eine Prophezeiung, die immer eintrifft, während die möglichen Ursachen, die den Apfel zu Hinfallen bringen, zufällig und unbestimmt sind« (HUCH 56)*. Wenn mir also jemand die Kette der Ursachen bis auf Adam hin nennen könnte, warum ich hier sitze und schriebe, so wäre er doch, trotz der Erstaunlichkeit seines Gedächtnisses nur ein Anekdotensammler ohne jede Wissenschaft; wenn er mir aber sagen könnte, aus welchem Grunde heraus ich schreibe, so besäße er Wissenschaft; denn auch die Freiheit gehört zu den Gründen, niemals zu den Ursachen.
Wir erkennen also jetzt genau, wodurch Wissenschaft entsteht und wodurch die bloß logische Notwendigkeit der Denkgesetze, also des Satzes vom zureichenden Grunde, zur Kategorie der Kausalität wird, also zur Naturnotwendigkeit, die im Objekte ruht, nämlich durch solche Begriffe, wie etwa »die Schwere« einer ist. - Empirische Begriffe sowohl als reine Verstandesbegriffe entstehen auf automatischem Wege durch den Gang der Natur von selbst; die ersten in unendlicher Zahl, die zweiten in sehr beschränkter. Aber jedermann, auch der Irre, hat sie stets mit Sicherheit zur Verfügung. Sie verlaufen längs der Natur. Die Grundbegriffe der Wissenschaft aber werden entdeckt, und zwar durch den Genius; sie verlaufen quer hindurch, längs der Achse der Natur.
Die Kausalität ist aber keine Kraft, die die Dinge bewegt, wie sich das der naive Realismus vorstellt, denn dann unterläge sie dem Energiegesetz und würde verbraucht werden. Die Kausalität wird aber nicht verbraucht, sondern ist immer und ewig da, solang die Welt besteht. Sie ist auch nicht ein Produkt der Gewöhnung, also der Anpassung, wie sie David Hume versteht, denn durch eine solche Auffassung würde man wohl ihr ziemlich sicheres Funktionieren verständlich machen, nicht jedoch ihre Notwendigkeit. Diese aber gerade ist ihr wesentliches Merkmal. In die Irre geht auch Schopenhauers Doktrin, bei dem sie ein »Gehirnphänomen« ist, vermöge welchem wir die Welt der Erscheinung - die unter der Hand zu bloßem Schein wird - wie durch eine Brille betrachten ohne Berührung mit den Dingen selber. Schopenhauer hat zwar in seiner sehr lesenswerten Abhandlung über die »Vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde« ein sehr lebendiges Bild von der Tätigkeit des allgemeinen Kausalsatzes gegeben, wie wir sie sonst bei keinem Philosophen, besonders bei Kant nicht, finden. Aber an dem zentralen Problem des Transzendentalen ist er vorbeigegangen, weil er das überhaupt nicht verstand. Die Kausalität, wie er sie begriff, entbehrt der Giltigkeit, und die Wissenschaft würde demzufolge keine Dignität besitzen. Das aber gerade ist es, wodurch sie ihren Rang erwirbt und ihren Beitrag zur Erhöhung des Menschentumes leistet. Nur Kant sah es richtig mit seinem Begriff des Transzendentalen. Die Kausalität ist durch und durch Intellekt, und die Dinge selber verfangen sich in einer im übrigen rätselhaften Weise in sie. Die Kausalität ist daher mit Recht das »crux metaphysicorum« genannt worden. Die Ordnung des Intellektes wird zugleich eine Ordnung der Dinge selber, sofern sie Erfahrung werden. Diese Erfahrung aber, deren es nur eine gibt, ist durch und durch Erscheinung. Der Intellekt aber gehört mit derselben Sicherheit und Unabkömmlichkeit zur Welt der Erfahrung wie die Materie. Daß beide in Aggregatzuständen auftreten, ist daher offenbar kein Zufall, sondern gehört zur Ordnung der Welt. So wie man die Frage nicht beantworten kann, zu welchem Teile der »8« der Indifferenzpunkt gehört, in welchem die Schleifen sich kreuzen, zum oberen oder zum unteren, so kann man auch die Frage nicht beantworten, an welcher Weltstelle die causa fiendi und die ratio cognoscendi miteinander verbunden sind. Sie sind aber miteinander verbunden, denn sonst wäre die Welt weder verständlich, noch begreiflich, noch könnte sie überhaupt Erfahrung sein. Sie ist aber Erfahrung. - Es hieße nun bereits Metaphysik treiben, wollte man darauf Antwort geben, zu welchem der beiden Aggregatzustände des Intellektes die Dinge selber eine innigere Verwandtschaft und Zugehörigkeit hätten, mit welchem sie sich lieber einließen. Ein gewisser metaphysischer Instinkt aber sagt uns, daß es der Verstand sei und nicht die Vernunft. Denn jenes intellektuelle Element, das in der anschaulichen Welt enthalten ist, verfügt über größere Macht und Eindringlichkeit. Die Vernunft kann man ausschalten, den Verstand nicht. Die ganze Tierheit ist in seinem Vollbesitze, und der Mensch hat oft genug die Vernunft als einen Störer des Friedens verworfen. Auch mahnt uns die bildende Kunst daran, daß der Verstand und die Sinnlichkeit den Dingen näherstünden als die Vernunft. Indessen: Vernunft ist Menschenschicksal und muß durchgehalten werden.
 

6. ÜBER DIE TRANSZENDENTALE STRUKTUR DES GENIUS
Unter dem Genius darf nichts Schwärmerisches verstanden werden, was in der Philosophie ohnehin verboten ist, auch nichts Unbestimmtes und Vages; sondern der geniale Akt, dessen Träger der Genius ist, besteht in einem ganz sichergestellten Vorgang in der transzendentalen Logik, den man nicht durch einen anderen ersetzen kann. Und an ihm erweist es sich erst, daß diese keine Kapitelüberschrift Kants ist, die auch hätte anders lauten können, sondern daß es das in Wirklichkeit gibt. Der Genius hat, jedenfalls an der Stelle seiner entscheidenden Wirksamkeit, einen bestimmten Bau, den man aufzeigen kann, und durch den, wenn das gelingt, sein Schema hervortritt. Ich sage daher: Der geniale Akt wird vollzogen durch die paradoxe Subsumtion oder die Gleichsetzung zweier empirischer Begriffe, wodurch ein dritter entsteht, der das Gesetz enthält. Eine »paradoxe Subsumtion« wird auch begangen, wenn jemand zwei empirische Begriffe, die offenbar nichts miteinander zu tun haben, etwa den Begriff »Kanarienvogel« und den Begriff »Baum« einander unterstellt. Wer so etwas tut, den bezeichnet man mit Fug und Recht als einen Irren. Der paradoxen Subsumtion steht die katadoxe gegenüber, die reguläre, bei der ein empirischer Begriff unter einen ihm übergeordneten gestellt wird, also etwa der Begriff »Kanarienvogel« unter den Begriff »Fink« (fingilla). Die katadoxen laden dauernd ein und befriedigen das Gemüt durch ihre ruhig ordnende Kraft; die paradoxen dagegen gefährden und zerstören es. Dies nur in dem einen Falle nicht, in dem die Subsumtion vom Genius vollzogen wird und ein Gesetz enthält, das durch eben diese Subsumtion durchbricht. Hier wird das Gemüt erhöht.
Ich gebe Beispiele der genialen paradoxen Subsumtion:
1. Isaak Newton begreift den irdischen Fall eines Körpers auf die Erde und den Lauf des Mondes als ein und denselben Vorgang, und indem er das tut, wird der gewöhnliche empirische Begriff des Falles oder aber der Schwere in den übergeordneten Wissenschaftsbegriff der Gravitation verwandelt, der beide »Fälle« in sich schließt.
2. Torricelli nennt die Luft einen Körper.
3. Kopernikus nennt die Erde einen Planeten.
4. Ein Pythagoräer nennt die Erde eine Kugel.
5. Robert Mayer nennt die Wärme Bewegung.
6. Kant nennt die Welt Erscheinung.
7. Lavoisier nennt das Brennen, das Rosten, das Faulen eine und dieselbe Sache und gründet damit den chemischen Wissenschaftsbegriff der »Oxydation«.
Da ich kein Kompendium schreibe, so ist es nicht meine Aufgabe, von allen mir zugänglichen genialen Akten den hier vorgetragenen Verlauf zu demonstrieren. Ich bin nur zutiefst davon überzeugt, daß sie sich alle miteinander, vielleicht oft nach einigen Umformungen wie bei Kopernikus, auf die Formel von der paradoxen Subsumtion zurückführen lassen. Hat man aber einen richtig erkannt, so erkennt man alle. Und man wird zugeben müssen, daß alle hier angeführten Beispiele paradoxe Behauptungen enthalten, die es auch bleiben, bis zum Augenblick der Konzeption im Gemüte des Genius; ja, sie blieben es für diesen selber bis eine Sekunde davor. Am deutlichsten sieht man das im Falle Torricelli; die Behauptung, Luft sei ein Körper, hatte für den Menschen seines Zeitalters, also auch für ihn selber, etwas derartig Absurdes und Herausforderndes an sich, daß die Drohung mit dem Irrenhaus oder dem Scheiterhaufen recht nahe lag. Ganz gleichgültig ist dabei für unsere Gedankenführung, ob die paradoxe Subsumtion in Worten ausgesprochen wurde oder nicht. Es handelt sich auch ja nicht etwa um die berühmte Alltagsmeinung vom »verkannten Genie«, dessen Wert man erst nach seinem Tode verstehe, sondern der Begriff der paradoxen Subsumtion gehört in die transzendentale Logik. Das Paradoxe entsteht hier nicht durch die anderslaufende Volksmeinung, sondern durch die geheime Gesetzesspannung, die in ihm liegt, die auch dem Genius unbekannt bleibt, bis eben diese der Logik immanente Spannung durch den genialen Akt aufgelöst wird. Der aber verläuft in Richtung vom Objekt zum Subjekt (nie umgekehrt!). Auch die nüchternsten Geister haben das stets als Inspiration angesprochen.
Paradox im volkspsychologischen Sinne aber bleiben die Grunderkenntnisse des Genius auch nach dem vollzogenen Akt. Denn wenn auch eben jene Wissenschaftsgründung ex natura erfolgt, also legitim ist, so verläuft doch die Verbreitung der Wissenschaft unter den Menschen nach den Gesetzen des Massenwahns. Schopenhauer hat völlig recht, wenn er sagt, daß er Abstand des Genius von dieser übrigen Menschheit stets der gleiche bleibt und sich auch in den Zeitaltern nicht ändert. Erst seit der Gedanke eines »Fortschrittes der Menschheit« aufgekommen ist, setzt jener Säkularisierungsprozeß ein, der die Wissenschaft jedem zugänglich machen will. Aber jede beliebige Stichprobe beweist, daß heute genau so wenig begründetes Wissen etwa über die Erdbewegung herrscht wie zu jeder anderen Zeit auch. Denn wer kennt denn den Grund, weshalb der Mond nicht auf die Erde fällt?! Es ist ja kein Kennen und Wissen, wenn dafür in den Lehrbüchern die Gravitation angegeben wird, die »es macht«. Ganz unwillkürlich wird dabei die Gravitation als Ursache betrachtet, so ähnlich wie der Dampf bei der Lokomotive, und das Unglück ist geschehen. Man hält die Entdeckung der Gravitation für gleichrangig mit der des Radiums oder der Kathodenstrahlen, zu denen Fachkenntnis erforderlich war, aber keine Genialität. Bei dieser Art subordinierter Entdeckungen ist nie eine paradoxe Subsumtion beteiligt gewesen, nie hat die transzendentale Logik dabei in ihr eignes Arsenal gegriffen, so wenig wie bei der Entdeckung Amerikas.
Im Gegensatz zu alledem führt der von Isaak Newton gefundene Wissenschaftsbegriff der Schwere tief in das Wurzelgefüge der Natur selber hinein, er mündet an einer Stelle der transzendentalen Logik. Und man kann an der Struktur des Entdeckungsvorganges nachweisen, ob man es mit einem echten Genius zu tun hat oder nur mit einem sogenannten Erfindergenie. So wie der Chemiker durch die Lackmus-Tinktur entscheidet, ob er eine saure oder alkalische Lösung vor sich hat, so kann man durch transzendentale Untersuchung feststellen, ob organhafte Genialität vorliegt oder nicht.
Diese transzendentale Untersuchung steht nun zu dem, was Kant darunter verstand, im Verhältnis der dritten Dimension zur zweiten, ist aber im übrigen dieselbe Sache, und die Methode Kants bleibt ausdrücklich gewahrt. Nur handelt es sich bei ihm um die Frage, was »Erfahrung überhaupt« ist; hier dagegen darum, wie im besonderen Falle, im »Einfalle«, der geniale Prozeß zustande kommt, ohne den es auch Kants eigne Theorie der Erfahrung und schließlich diese selbst nicht gibt. Denn Kant ist selber Genie. Und die Natur ist ein transzendentales Kontinuum. In gleichem Sinne nun wie Kant behauptet, daß die zwölf Urteilsformen die genauen Entsprechungen zu den zwölf Kategorien der Erfahrung sind, genau so behaupten wir, daß die paradoxe Subsumtion der subjektive logische Prozeß ist, der auf den genialen Vorgang zielt, und der durch ihn, vom Objekte her, zum Gesetz aufgelöst wird. Der Unterschied liegt nur eben darin, daß die gewöhnliche Erfahrung, deren Theorie Kant schreibt, immer und automatisch in Gang gerät, während bei den Gründungsakten der Wissenschaft die Natur ihr eigenes und freies Spiel nach dem Gesetz von Verschwendung und Auswahl treibt. Ich nenne diesen Vorgang analog zu einer kantischen Formel die »transzendentale Synthesis des Gesetzes«.
Es gibt vom Genius ein Schema, wie von allen andern Gegenständen der Erfahrung auch, das uns bestimmte, stets wiederkehrende Grundzüge seines Wesens verrät. Ich verstehe hier unter Schema eben jene »Monogramme der Einbildungskraft«, von denen Kant in dem Kapitel über den »Schematismus der reinen Verstandesbegriffe« redet. Nur ziehe ich es vor, sie »Monogramme der Natur in der Einbildungskraft« zu nennen, denn es sind ja eben keine bloßen Einbildungen im Sinne der pseudologia phantastica, sondern Abdrücke der Natur, in der »exakten sinnlichen Phantasie«; sie haben Bezug auf die Realität und stammen aus ihr. Das Schema des Genius nun hat es zuwege gebracht, daß man von ihm, wenn auch verworren, eine zwischen Begriff und Bild schwebende Vorstellung hat, aus der sich aber einige Grundeigenschaften mit großer Klarheit herausheben. Das Wirken des Schemas erspart es uns, Biographien zu durchsuchen, und nötigt uns, an deren Statt die Augen aufzutun und mit dem inneren Gefühl auch das innerlich Notwendige unmittelbar zu ergreifen. Freilich gehört dazu die vielgerühmte Urteilskraft. Es ist aber durch eben dieses Eingreifen des Schemas eine Art communis opinio über den Genius entstanden, die zwei wesentliche Merkmale als ihm allein zugehörig anerkennt. Das eine lautet: der Genius kommt zu seinem Ergebnis niemals auf dem Wege der Schlüsse, also der Vernunft, sondern immer durch den plötzlichen Einfall. Wenn ein so nüchterner Gelehrter wie Alois Riehl, dem die Klarheit des Denkens zum Charakter geworden war, von dem nüchternsten aller Genien, von Robert Mayer sagt, er habe seine Entdeckung durch »Inspiration« erhalten, so können wir ihm wahrlich glauben. Es ist nämlich immer so und kann nicht anders sein; und auch, wenn es in den Biographien nicht stünde, so wäre es doch so, weil das Schema des Genius es erfordert. Drücken wir das Wort Inspiration aber noch nüchterner aus, so heißt es nichts weiter als »vom Objekte stammend« oder »im Objekt verbunden«. Es ist dann nebenbei kein Wunder, wenn wir diesen charakteristischen Zug allenthalben und immer wieder finden. - Als zweites Wesensmerkmal zeigt das Schema an, daß jener Einfall stets beim Anblick eines Gegenstandes oder eines Vorganges erfolgt, der mit dem Gesetz, das hier durchbrechen will, im Zusammenhang steht. Es ist also immer die anschauliche Welt, die das Stichwort gibt, nie die gedachte. Man könnte diesen Zusammenhang assoziativ nennen, wenn man es dabei vermeidet, an Psychologisches zu denken, sondern vielmehr an eine innere Assoziation der Dinge selber. Es war ein Lufthieb, den Schopenhauer führte, als er den berühmten »fallenden Apfel« in Newtons Garten eine abgeschmackte Fabel nannte, die Voltaire aufgebracht habe. Solche Fabeln sind immer richtig, weil das Schema sie fordert. Ob biographische Notizen darüber richtig sind oder nicht, das steht dahin. Diese ƒpfel fallen immer und notwendig. Auch das arterielle Blut, dessen überraschend hellrote Farbe Robert Mayer das Gesetz vom Wärmeäquivalent der Bewegung erschloß, auch dieses Blut fließt immer und notwendig; zufällig aber ist, daß es in der Biographie verzeichnet wurde. Torricelli wußte als erster, daß die Luft ein Körper sei und ein Gewicht habe, als er bemerkte, daß das Wasser im geschlossenen Brunnenrohr beim Pumpen nie höher stieg als zehn Meter. Diese Anblicke sind jedesmal das auslösende Moment, das die paradoxe Subsumtion zur Erkenntnis des Gesetzes erhebt. Sie haben also eine feste Funktion im genialen Vorgang und können nicht ausbleiben, sonst würde der Genius in der bedrängten Lage seiner Paradoxien steckenbleiben und eben kein Genius werden. - Hier schließt sich nun noch ein drittes Merkmal an, das sogar Popularität errungen hat, nämlich die Synthese von »Genie und Wahnsinn«. Dieses Schlagwort stammt bekanntlich von Lombroso, der weder vom Genie noch vom Wahnsinn etwas verstand und auch persönlich weder an dem einen noch am andern Anteil hatte. Trotzdem ist die Synthese richtig.*
Was also das Merkmal »Genie und Wahnsinn« betrifft, so wird es ohnehin, außerhalb der Psychiatrie, die unzuständig ist, vom Schema des Genius gefordert, und es ist bereits von Platon gesehen worden, als er den Sokrates jene Unterscheidung von göttlichem und menschlichem Wahnsinn machen ließ. Das Vorkommen beider Formen ist, auch wenn die biographischen Notizen versagen, innerlich notwendig, weil vom Schema gefordert. Auch wenn wir nicht wüßten, daß Robert Mayer im Irrenhaus gesessen hat und daß Newton zeitweise »geistesgestört« war, so könnte es doch nicht anders sein; denn der geniale Akt ist ein Durchbruch vom Objekt her zum Subjekt, und dieser kann so wenig ohne Zertrümmerungen ablaufen, als ein Pilz aus dem Boden schießen kann, ohne die Erdschicht zu zerreißen. Wenn wir, wie bei Schopenhauer, eine so offenbar gesunde Statur vorfinden, so liegt das daran, daß der actus demonstrandi ein Heilungsvorgang ist, der hier so schnell und sicher einsetzte, daß die Manie nicht mitkam. Bei Goethe kriselt es schon erheblich stärker, und man darf sich nicht durch die von Eckermann zur Schau gestellte Exzellenzenfigur darüber täuschen lassen, daß seine Natur sich ständig in erheblicher Gefahr befand.
Das hellste Bild nun, das wir von einem Gründungsvorgang in der Wissenschaft haben, gibt uns Isaak Newtons Entdeckung des Gravitationsgesetzes. Was ging hier eigentlich vor, und welche Elemente waren im Spiel? Ich halte in der Hand einen Stein und spüre an dem Widerstand, zu dem meine Muskeln aufgefordert werden, daß er zur Erde fallen würde, gäbe ich diesen Widerstand auf. Das ist die Schwere im gewöhnlichen Sinne. Jetzt sehe ich den Mond am Himmel, und der fällt nicht, obwohl er doch auch ein großer Stein ist. Dieses Nichtfallen des Mondes ist schon ein Gedanke, den die Vernunft hereinreicht, und kein ursprünglich sinnliches Erlebnis. Aber er ist ein unruhestiftender Gedanke. Die Vernunft ist es auch, die das zweite Element in den Entdeckungsvorgang einbringt; ich kann nämlich mit einer charakteristischen Umkehrung sagen statt: »der Stein fällt auf die Erde«, »die Erde zieht den Stein an« (gravitas = attractio). Diese Formel gab es schon vor Newton. Solche Umkehrungen finden sich auch gelegentlich bei anderen Entdeckungsakten; sie lenken vom bloß Empirischen ab und verbreiten ein gewisses erstes Licht über das jeweilige Problem. So sagte SILVIO GESELL: »statt zu sagen Çvier Brötchen kosten einen Groschenë, kann ich auch sagen: Çein Groschen kostet vier Brötchenë«. Dadurch wird mit einem Schlage der Begriff des »Geldpreises« geklärt, unter dem die Volkswirtschaftslehre vor ihm (und selbstverständlich auch nach ihm) irrtümlicherweise den Zins versteht, der für das Leihkapital gezahlt wird; womit jeder Hoffnung, dem Wesen des Geldes auf die Spur zu kommen, die Tür verriegelt wird. Durch jene Umkehrung wird der Blick vom ersten und unmittelbaren Eindruck, nämlich der Schwere des Steines, abgelenkt zur Erde hin, die nun - was dasselbe ist - »anzieht«. Aber man tappt noch im Dämmrigen; denn der Mond wird ja eben - scheintís - nicht angezogen, fällt nicht, obwohl er auch ein Stein ist und Schwere hat. Hier greift nun, schon als ein Vorspiel für die paradoxe Subsumtion, das gleichfalls paradoxe Urteil ein: »der Fall des Steines auf die Erde und das Nichtfallen des Mondes ist dieselbe Sache«. Das hängt aber in der Luft, kann nicht leben und nicht sterben und beunruhigt das Gemüt des Forschers bis an die Grenze des Wahnsinnes. In diesem Stadium bleiben die meisten Naturgrübler stecken und kommen nicht durch. Bei Newton aber fiel in einem entscheidenden Augenblicke jener berühmte Apfel, und alles wurde klar. Er fiel zwar auch, wie die unzähligen vor ihm, ganz regulär zur Erde, er plumpste ganz wacker empirisch: aber außerdem fiel er in der mythischen Ebene der Erkenntnis. Und das kommt nur je einmal vor. In diesem Augenblicke, dem eigentlichen momentum concipiendi, stand Newton zu der Kraftbeziehung ErdeóMond in demselben Verhältnis wie vorher zu der Beziehung ErdeóStein: das heißt, er spürte unmittelbar, und als zur anschaulichen Welt gehörig, die »Gravitation«, die in diesem Augenblicke entdeckt war. Die Gravitation ist die Schwere höherer Ordnung, durch welche die gewöhnliche Schwerkraft, die jeder kennt in den Rang eines Naturgesetzes erhoben wird. Von nun an wohnt ihr Notwendigkeit inne, das aber heißt allemal: sie gerät in die transzendentale Schicht der Erkenntnis.
Da dieser Vorgang der Nobilitierung sich bei Newton abspielte und bei niemand anderem, der Apfel bei ihm, statt in der empirischen in der mythischen Ebene fiel, so war er nicht nur vor dem Wahnsinn geschützt, sondern auch befugt, blitzartig schnell die ersten Fundamente für das Werk zu legen, also den actus demonstrandi zu vollziehen, ohne den das Genie verkommt. Aus dem bloßen assertorischen Urteil, wonach der Fall des Steines und der Nicht-Fall des Mondes dieselbe Sache seien, konnte nun die volle paradoxe Subsumtion vollzogen werden, indem beides als Modifikation der neu entdeckten Schwere im wissenschaftlichen Sinne begriffen wurde. Damit aber wird die Paradoxie wieder aufgelöst. Die Gravitation wird zum Oberbegriff für die beiden Fälle von »Fall« und (nunmehr scheinbarem) »Nichtfall«. Von hier an gab es kein Halten mehr. Newton begriff, daß diese Schwere oder anders ausgedrückt »die allgemeine Anziehung der Massen« im Quadratverhältnis zur Entfernung abnehmen müsse; denn: die Erde ist eine Kugel, und die Körper fallen in Richtung der Radien auf den Erdmittelpunkt zu; denke ich mir nun die Schwerkraft gleichmäßig um den Mittelpunkt verteilt und einen Körper, sagen wir, um die Länge eines Erdradius von der Oberfläche entfernt, so unterliegt dieser nicht, wie man zunächst annehmen möchte, einer um die Entfernung proportional geminderten Schwerkraft, sondern die Minderung beträgt das Quadrat der Entfernung, was aus der Formel für die Kugeloberfläche 4 ((p)) r2 folgt. Die Bahn des Mondes verläuft also stets so, daß sie ein ständiges »Fallen« ist, das durch die geradlinige Eigenbewegung - die er von irgendwoher hat - ständig gehemmt wird. Diese Eigenbewegung also tut dasselbe, was meine Muskeln tun, die den Stein auf meiner Hand am Fallen hindern.
 

7. DER TRANSZENDENTALE BEGRIFF DER MATERIE UND SEINE BEGRÜNDUNG
DURCH IMMANUEL KANT
Der Physiker kann mit Fug und Recht als den Träger der Gravitation den Begriff der »Masse« bilden und sie als Ding an sich betrachten; das reicht für seine Zwecke aus. Auf die sonstige Struktur dieses Trägers - nämlich seine transzendentale Bedeutung - braucht er nicht einzugehen. Die Philosophie aber nennt das »Materie« und hat durch den bloßen Gebrauch dieses inhaltsschweren Wortes ein neues Gebiet erschlossen, das tiefer in die Natur der Dinge und damit der Erkenntnis hineinreicht. Es ist eines der größten Beispiele für den Einfuß der Naturforschung auf die Philosophie, daß Kant das Problem der Schwere aufnahm, und zwar im Anschluß an Newton. Man hört gegen diesen vielfach den Vorwurf, er habe zwar das Gesetz der Gravitation entdeckt, aber nicht verraten, was denn diese geheimnisvolle Kraft »an sich« sei. Das hat er nun allerdings nicht »verraten« und hat auch nicht danach geforscht, ganz einfach deshalb nicht, weil diese Frage falsch gestellt ist. Denn niemand weiß, was etwas »an sich« sei. Und es bedeutet zudem ein Verkennen des ganzen Problems, wenn man die Schwere etwa mit der Elektrizität - wie das heute so in Mode ist - oder dem Magnetismus in eine verwandtschaftliche Beziehung bringt. Weil nämlich beide »auch« anziehen. Mit keinem von beiden aber verknüpft sie ein verwandtschaftliches Band; sie gehört nicht in eine Reihe mit diesen empirischen Naturkräften, die ebensogut nicht sein könnten, sondern sie ist art- und rangverschieden von ihnen; - sie gehört nämlich zum »transzendentalen Gegenstand«. Hier setzt KANT ein. Seine Bewunderung für Newton ist so gewaltig, daß man sagen kann: ohne ihn wäre die ganze transzendentale Logik nicht zustande gekommen, von der »Theorie des Himmels« und den »Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft« ganz zu schweigen. Das kann man etwa daraus erkennen, daß sein wuchtigster und »befremdlichster« Satz, bei dem man fast die Achse der Natur dröhnen hört, nämlich der Satz »Der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor« (Prolegomena § 36), daß dieser Satz im Anschluß an Newtons Entdeckung erwiesen wird. Kant schreibt in wundervollem und klaren Deutsch in den Prolegomena § 38:
»Gehen wir von da noch weiter, nämlich zu den Grundlehren der physischen Astronomie, so zeigt sich ein über die ganze materielle Natur verbreitetes physisches Gesetz der wechselseitigen Attraktionen, deren Regel ist, daß sie umgekehrt mit dem Quadrat der Entfernungen von jedem anziehenden Punkt ebenso abnehmen, welche als notwendig in der Natur der Dinge selbst zu liegen scheint, und daher auch a priori erkennbar vorgetragen zu werden pflegt. So einfach nun auch die Quellen dieses Gesetzes seyn, indem sie blos auf dem Verhältnisse der Kugelfläche von verschiedenen Halbmessern beruhen, so ist doch die Folge davon so vortrefflich in Ansehung der Mannigfaltigkeit ihrer Zusammenstimmung und Regelmäßigkeit derselben, daß nicht allein alle möglichen Bahnen der Himmelskörper in Kegelschnitten, sondern auch ein solches Verhältnis derselben untereinander erfolgt, daß kein ander Gesetz der Attraktion, als das des umgekehrten Quadratverhältnisses der Entfernungen zu einem Weltsystem als schicklich erdacht werden kann. Hier ist also Natur, die auf Gesetzen beruht, welche der Verstand a priori erkennt, und zwar vornehmlich aus allgemeinen Bestimmungen der Prinzipien des Raumes. Nun frage ich: Liegen diese Naturgesetze im Raume, und lernt sie der Verstand, indem er den reichhaltigen Sinn, der in jenem liegt, blos zu erforschen sucht, oder liegen sie im Verstande und in der Art, wie dieser Raum nach den Bedingungen der synthetischen Einheit, darauf seine Begriffe insgesamt auslaufen, bestimmt« (Sperrung von mir).
Was Kant hier den »Verstand« nennt, würden wir als »Intellekt in seinen beiden Aggregatzuständen, Verstand und Vernunft« bezeichnen.
Und genau so ist es auch; von dem Augenblicke an, da statt »Masse« das Wort »Materie« fällt, ist das Problem der Philosophie hinübergeschwenkt, wo denn ein neues Schauspiel beginnt. Das aber nimmt den folgenden Verlauf: Kant fügt der anziehenden Kraft der Schwere eine abstoßende (repulsive) hinzu, weil er erkennt, daß, gäbe es nur die Schwere, sich dann alle Materie zusammenballen müßte und es kein gegliedertes Weltall gäbe. Die Repulsionskraft ist nun kein so einheitlicher Singular wie die Schwere mit ihrer gesicherten Gesetzmäßigkeit, sondern sie besteht aus einer Gruppe zusammenwirkender Kräfte, die rein empirisch sind und die wir an den Körpern durch Erfahrung aufzeigen: die Zentrifugalkraft, ferner die in Elektrizität und Magnetismus wirksamen, dann die thermischen und auch die Wachstumskräfte der organischen Natur. Daß durch Kompression Wärme entsteht und diese die Körper ausdehnt, also der Schwere entgegenwirkt, das ist durchweg nur a posteriori zu erfahren; man könnte sich auch andere Repulsionskräfte vorstellen. Niemals aber kann man weder denken noch sich vorstellen, daß die Materie ohne Schwere und demnach überhaupt ohne abstoßende Kräfte sei, denn damit wäre nicht nur das Weltall ein Chaos, sondern es wäre überhaupt keines da. Das aber heißt nicht mehr und nicht weniger als: die Schwere gehört als notwendige Eigenschaft der Materie dem transzendentalen Gegenstande an und ist demnach a priori. Es ist aber eine andere Klasse der Apriorität als bei den Denkgesetzen, deren Giltigkeit ich ohne jede Erfahrung nachweisen kann: die Schwere muß einmal auf der flachen Hand erprobt sein, daß heißt, sie hat Zugang in Richtung auf die Sinnlichkeit, dann aber verläuft alles synthetisch und a priori mit Notwendigkeit. Wegen dieses unterschiedlichen Merkmales hat KANT den Ausdruck »Prädikabilie der Materie« geprägt.
Ich gebrauche den terminus »transzendentaler Gegenstand« in genau dem gleichen Sinne wie Kant den vom »Gegenstand überhaupt«; da er aber bei ihm auch im Sinne von »Ding an sich« vorkommt, so möchte ich das hier ausdrücklich vermeiden. Auch die populäre Ansicht über die Wortbedeutung von »transzendental« geht ja bekanntlich in Richtung auf »transzendent-metaphysisch«. Aber gerade das bedeutet ja transzendental nicht. Und, um die Richtigstellung herauszufordern, habe ich den Begriff »transzendentaler Gegenstand« = »Gegenstand überhaupt« gesetzt. Denn transzendental ist alles, was, obwohl a priori und subjektiv, trotzdem »im Objekt verbunden« und also für Dinge der Erfahrung giltig ist. So ist das bloße Denkgesetz, das in der Beziehung von Grund und Folge in der reinen Logik steckt, keineswegs transzendental, sondern nur a priori, wohl aber sind es Ursache und Wirkung, d. h. die Kategorie der Kausalität, durch welche die anschauliche Welt gefügt wird. Ebenso ist die Beziehung von Subjekt zu Prädikat im assertorischen Urteil nicht transzendental, wohl aber in der Kategorie der Substanz, deren Entsprechung sie ist. Schopenhauer hat das alles nicht begriffen; denn bei ihm sind alle Sätze a priori vorgeblich deshalb transzendental, weil sie a priori sind; dadurch entsteht eine falsche Welt, die man durch einen Vorgang im Willen annullieren kann. Die Summe nun aller dieser wirklich transzendentalen Begriffe, einschließlich die Prädikabilien der Materie, bildet den transzendentalen Gegenstand. Dabei ist zu beachten, daß hier, wie bei allen Gebilden der Natur, der Satz des Aristoteles gilt, daß die Einheit eines Dinges mehr ist als die Summe seiner Teile. Im transzendentalen Gegenstand werden die Denkgesetze - oder doch einige unter ihnen - »einheimisch«; diese herrliche Übersetzung des hartnäckig-schwierigen Fremdwortes gelang KANT in den Prolegomena, gilt aber nur für diese Stelle. Das Gegenteil davon ist »überschwänglich« = »transzendent«; hier wird der Mutterboden der anschaulichen Welt zugunsten eines Scheingebildes der Vernunft verlassen; es entsteht eine falsche Religion mit ihrem »stupenden Begriff Gott«. Das Transzendentale aber hat mit alledem nichts zu tun und besteht in eigner nachweisbarer Sicherheit als Hauptbegriff der transzendentalen Logik. Alle Gegenstände der Erfahrung müssen sich den Forderungen des transzendentalen Gegenstandes fügen, oder sie hören selbst auf, Erfahrung zu sein. - Dies alles müßte Kant, läse er es, m. E. unterschreiben; denn es stammt durchweg aus seinem Gedankengut. Ich halte es daher für verfehlt, den Ausdruck »transzendentaler Gegenstand« für das »Ding an sich« zu gebrauchen, das man ab besten überhaupt nicht mehr inkommodiert. Hierfür würde sich besser »transzendentales Objekt« eignen, das aber in der hier vorgetragenen Philosophie den Gegenpol (nicht nur das Gegenteil) für das transzendentale Subjekt bezeichnet, das heißt aber den objektiven Pol der Achse der Natur.
Die Materie selber aber ist »der allgemeine Gegenstand der Empfindung« - man sieht, daß KANT, dem diese Definition entnommen ist, die Materie schon mit dem ersten Griff nicht als empirisch anpackt wie die Physiker, sondern transzendental, und wir werden erfahren, daß hiermit allein durchzukommen ist. Dabei liegt der Hauptton auf »allgemein«. Die Materie ist also nicht der Gegenstand einer einzelnen, spezifischen Sinnesempfindung, auch nicht des Tastsinnes, sondern aller in einem. Sie kann also weder gesehen, noch gehört, noch geschmeckt, noch gerochen, noch auch nur getastet werden. Die bevorzugte Stellung, die der Tastsinn bei ihr einzunehmen scheint, bezieht sich nicht auf eine ihrer Qualitäten, sondern er verbürgt uns nur die vorzügliche Weise die Anwendung der Kategorie der Realität auf die Materie. Der Tastsinn ist das prägnanteste Korrelat der Materie im Subjekt; er ist auf sie ausgerichtet. - Wenn ich mit meinem Finger auf einen Gegenstand stoße, so kann ich ihn als hart oder weich, glatt oder rauh, feucht oder trocken empfinden; damit aber ist nicht die Materie getroffen, sondern eine zufällige Eigenschaft des Stoffes, den ich gerade vor mir habe, und die kann sich ändern. Daß mir aber, wenn ich weiter drücke, ein unendlicher Widerstand in Richtung auf das Objekt zu geleistet wird, das bedingt die transzendentale Eigenschaft der Materie, nämlich die Prädikabilie der Undurchdringlichkeit (solidity). Ich weiß (d. h. ich muß denken), daß, auch wenn ich statt des kümmerlichen Druckes meines Fingers den des Mondes und der Erde ansetzten würde, drüben aber stünden Jupiter und Saturn mit ihrer Masse - ich weiß, daß ich mit diesem Drucke so wenig wie mit jedem andern auch nur ein Staubkörnchen zwingen kann, jenen letzten Widerstand aufzugeben, der in seiner Materie unverbrüchlich verankert liegt. Das muß ich denken und zwar notwendig und a priori, und die Sinnesempfindung ist nur die Repräsentation dieser transzendentalen Verknüpfung.
Der gemeine Mann hat also recht mit seinem unbekümmerten Alltagsverstande, wenn er sagt: stoße ich mit dem Kopf gegen die Wand, so ist das ein untrügliches Zeichen für die Existenz der Außenwelt, nämlich der Wand - aber auch meines Kopfes. Man kann nicht sagen: weil ich jenen Druck »nur« als Empfindung in meinen Sinnesorganen wahrnehme, deshalb ist die Existenz der Außenwelt unsicher. Denn dieser Druck hat Stromrichtung vom Objekt zum Subjekt, und das allein verbürgt Realität. Der common sense wehrt mit seiner richtigen These in der ihm eignen Natursicherheit jene ganze entartete Philosophie ab, die behauptet: weil ich die Materie nur als Empfindung in meinen Organen wahrnehme, deshalb ist es zwar völlig sicher, daß die Welt in mir besteht, daß sie es aber auch außerhalb meiner tut, das bedarf des Beweises. An diesen Gedankengang hängen sich dann die verschiedenartigsten, als »materieller Idealismus« von KANT bezeichneten Systeme, deren Tendenz es ist, die reale Außenwelt zu bezweifeln mit dem Ziel, sie durch einen Vorgang im Intellekt oder auch im Willen aufzuheben; einen Prozeß, den man dort fälschlicherweise »Erlösung« nennt.
Bei alledem ist es denn eine recht absonderliche Tatsache, daß gerade Schopenhauer, dem doch an der bloßen Scheinbarkeit der Außenwelt etwas liegt, einen der stichhaltigsten Beweise für deren Realität geliefert hat, indem er sagt, daß jener Sprung von der bloßen Sinnesempfindung zur Erkenntnis der realen Außenwelt dadurch geschieht, daß der Verstand (nicht die Vernunft) den Sinneseindruck vermöge des Gesetzes der Kausalität unmittelbar auf seine Ursache außer ihm zurückführt, indem er ein Gefühl in den Fingerspitzen, das ja auch ein bloßes Jucken sein könnte, von einem von außen kommenden Eindruck unterscheidet. Das ist nun freilich kein Beweis durch Schlüsse der Vernunft, sondern der unmittelbar gefundene Erweis durch den der Natur sehr viel näher liegenden Verstand. Auf dieses verläßt sich, ohne es zu wissen, der einfache Mann, und er tut recht daran. Weil er nun, unkritisch, wie er ist, jenen primären Verstandesakt, der von der Sinnesempfindung auf die Ursache schließt, nicht bemerkt, deshalb bleibt ihm der transzendentale Charakter der Materie verborgen, und er hält sie für ein Ding an sich. Von dieser Stelle her stammt SCHOPENHAUERs gelungener Ausdruck vom »naiven Realismus«. Der aber behält sein gutes Recht im Alltagsleben, zu dem auch alle Einzelwissenschaften gehören. Es wäre ebenso abgeschmackt, wollte ein Chemiker bei seinen Experimenten erwägen, daß seine Stoffe ja eigentlich nicht die Dinge selber sind, sondern bloße Erscheinungen, wie es lächerlich wäre, wenn ein Gemüsehändler seinen Kohlkopf ehrlicherweise als bloße Erscheinung zum Verkauf anbieten würde. Es besteht hier in der Tat kein Unterschied, wie weit man es auch mit der Naturwissenschaft treiben möge. Von dem Augenblicke an aber, wo ein Physiker oder Biologe - die Fortschritte seiner Wissenschaft für solche der Menschheit haltend - beginnt, neue Religionen und Weltanschauungen zu gründen (Haeckels »Welträtsel«), eine neue Ethik zu verkünden (Ostwalds »Energetischer Imperativ«), über Kunst zu reden oder auch das Wesen der Wissenschaft und Wahrheit zu erforschen (du Bois-Reymonds »Ignorabimus«), von da an gebietet die Philosophie Halt, und sie kann das nur, indem sie den naiven Realismus durch den kritischen ersetzt, der von Kant begründet wurde. Dabei wird es sich stets herausstellen, daß jene voreiligen Propheten sich über das transzendentale Wesen der Materie irren und sie stillschweigend als Ding an sich betrachten. Die Philosophie aber steht hier auf völlig sicherem Boden und braucht nicht mit der Wimper zu zucken. Sie hat das untrügliche Mittel in der Hand, aufzuzeigen, daß der Weg, den die eigentlichen Güter der Menschheit gehen, an denen sie gewogen und zu leicht befunden wird, daß dieser Weg, und zwar auch der innere Weg der Wissenschaft, nicht über die Einzeldisziplinen führt, sondern vom transzendentalen Objekt her auf den transzendentalen Gegenstand zu und von da in die Erfahrung. Um ihn aber gehen zu können, dazu bedarf es des Genius im präzisen Sinne unseres Denkens.
Die volkstümlichste aller Prädikabilien der Materie ist ihre Unzerstörbarkeit. Während die empirischen Formen der Dinge einem dauernden Wandel unterworfen sind, bleibt die Materie stets die gleiche. Von einem Stück Holz, das verbrennt und seine Form aufzugeben genötigt wird, weiß ich a priori, daß von seiner Materie nichts verloren geht; ebenso wie ich weiß, daß die Materie, die einst den Leib des Sokrates gebildet hat, heute noch da ist und immer da sein wird. Würde ich das bestreiten, so gäbe ich damit zu, daß die Natur ein Loch hat, in welches im Laufe der Zeit sie selber ganz verschwinden würde. Schopenhauer hat einmal die begründete Zuversicht, mit der der Intellekt die Unverlierbarkeit der Materie in sich trägt und besiegelt, am Beispiele der Zauberkunststücke erläutert, bei denen ein Gegenstand, z. B. ein Ei, zum Verschwinden gebracht wird; die verblüffende Wirkung dieser Spielereien, sagt er, beruht darin, daß der Intellekt sich hier übertölpeln läßt und etwas zuzugeben scheint, was er, bei ruhiger Überlegung, niemals konzendieren kann; also eine Art transzendentaler Witz.
Die Materie darf man nicht - was die Physiker so oft tun - mit den Stoffen verwechseln. Diese, deren Zahl unendlich ist, sind allemal durch und durch geformt, auch die Atome. Es gibt in der Natur kein ungeformtes Vakuum. Dieses Geformte aber wird bezogen von den Ideen; die Materie dagegen, das durchweg Ungeformte, ist die transzendentale Stütze, die sich niemals entzieht. Man kann aber nicht sagen: hier liegt ein Stück Materie! Sondern es liegt immer ein Stoff da. Es scheint mir so, als ob dem Namen »materia« die Vorstellung zugrunde liege, daß sie die Mutter aller Stoffe sei; - nicht zu verwechseln mit den Müttern, als welche die platonischen Ideen sind. Diese sind metaphysisch, jene ist transzendental; die Stoffe aber sind empirisch.

 
8. ANTOINE LAVOISIER UND DIE NOBILITIERUNG DER CHEMIE
Die Wissenschaft von den Stoffen und ihren Wandlungen heißt Chemie, und deren Gründungsakt fällt in das Leben von Antoine Lavoisier. Es heißt wieder einmal zu kurz gesprungen, wenn man ihn als den Entdecker des Sauerstoffs feiert und in eine Linie mit Robert Koch, Madame Curie, Röntgen usw. setzt, denen jede wissenschaftsgründende Befugnis abgeht. Was Lavoisier tat, trägt den unverkennbaren Stempel des Genius. Vor ihm galt die Stahlsche Phlogistontheorie, wonach bei der (flammenden) Verbrennung eines Körpers aus diesem ein feiner Stoff, eben das Phlogiston, entweicht, der die Flammenerscheinung bewirke. Es wird hier also etwas abgezogen. Da es nun nicht gelang, diesen hypothetischen Stoff als Materie dingfest zu machen, er eben dauernd nur entwich, so bedeutete das, obwohl es gar nicht so gemeint war, doch eben eine Verletzung der Prädikabilien der Materie, die ja keine Verluste erleiden kann. Hier greift nun Lavoisier ein. Die Materie kommt dem gewöhnlichen Menschen nur über Sinnlichkeit und Verstand auf der einen und über die Vernunft auf der andern Seite zum Bewußtsein; beides liegt nebeneinander, wie zwei Stoffe im Gemenge. Lavoisier dagegen verstand die Materie im Geist, das heißt aber, diese drei Elemente Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft schossen im genialen Augenblick in eines zusammen und erglühten gewissermaßen, so wie Eisen und Schwefel während ihrer chemischen Verbindung zu Schwefeleisen (in statu nascendi). LAVOISIER erlebte den transzendentalen Charakter der Materie, und das eben ist ein geistiger Vorgang. Aus diesem aber entsprangen die entscheidenden Sätze: in der Chemie gibt es nur Verbindungen und deren Auflösung, aber kein freies Fortströmen ins Nichts. »Verbrennung« ist nicht, wie der Augenschein zu lehren scheint, eine Subtraktion von Etwas aus dem brennbaren Stoffe, sondern immer eine Addition. Die Stoffe werden daher durch die Verbrennung notwendig schwerer. Verbrennung ist Verbindung mit Sauerstoff, einem feststellbaren Element materieller Natur. Daher ist Verbrennung nicht bloß die populär bekannte Flammenerscheinung, sondern jede andere Verbindung mit Sauerstoff auch, also etwa das Rosten des Eisens sowie das Verfaulen organischer Stoffe. Chemisch ausgedrückt heißt Verbrennung Oxydation. - Man sieht an diesem Gedankengang wieder die typischen Anzeichen des genialen Prozesses, die Umkehrung und die paradoxe Subsumtion. Unwesentlich ist dabei, wer zuerst den Sauerstoff dargestellt hat, welches Verdienst wohl dem Chemiker Scheele 1774 gebührt. Der echte Entdeckungsakt, der damals schon vorbei war, besagt, daß dieses Element Sauerstoff ein wirklicher materieller Stoff sein müsse ohne jede Merkmale hypothetischer Natur, wie etwa in der Physik der »ƒther«. Lavoisier ist somit der Anwalt der Materie in der Chemie geworden, indem er sie - ohne das zu bemerken zu müssen - im richtigen Sinne, d. h. transzendental gebrauchte. Es ist seitdem niemand mehr auf den Gedanken gekommen, es könne sich einmal im dauernden chemischen Prozeß etwas auf Nimmerwiedersehen verflüchtigen nach Phlogiston-Manier.
Im übrigen ist es auch falsch zu sagen, die Chemie habe sich aus der Alchymie »entwickelt«; davon kann gar keine Rede sein. Alchymie ist etwas völlig anderes. Die volle Selbständigkeit der Chemie wie jeder anderen Wissenschaft wird durch den legitimierenden Charakter der genialen Akte erwiesen, mit denen sie beginnen; man braucht nur hinzusehen, um zu erkennen, wie die Quellen selbständig aufbrechen. Mögen immerhin abergläubische Vorstellungen einer verkommenen Alchymie als Reize auf das Gemüt der Entdecker gewirkt haben. Auch die Astronomie hat sich nicht aus der Astrologie »entwickelt«, sondern bricht aus eigner Quelle und mit einem eignen Thema auf. - Würde übrigens Lavoisier seinen Kopf, den er auf der Guillotine verloren hat, wieder aufsetzen können und lesen, was ich hier über ihn geschrieben habe, so würde er mir zweifellos in allem, was seine Ergebnisse anlangt, recht geben; über den Passus aber von der Materie und ihrem »Erleben im Geiste«, den genialen Kernvorgang also, würde er wahrscheinlich sagen: davon wüßte er nichts. Dafür ist er auch Franzose, wie Lamarck. Er würde auch das Wort »transzendental« gar nicht begreifen. Allein es ist doch so gewesen wie ich gesagt habe, weil es notwendig so sein muß und der Ordnung des Intellekts entspricht. Gerade weil er nichts davon weiß, deshalb war es so. Denn der geniale Akt ist ein Naturvorgang, und der spielt sich an seiner Wurzel stets im Unbewußten ab. Bewußt würde er gar nicht gelingen, und niemand kann durch die Befolgung der hier vorgetragenen Begebenheiten einen genialen Akt vollziehen. Es ist genau dasselbe, wie jemand, dem seine Mahlzeit mundet, nicht weiß, nach welchen chemischen Gesetzen sich die Verdauung in seinem Magen vollzieht; und wenn er es wüßte, so würde ihm wahrscheinlich der Appetit vergehen.
 

9. ÜBER DEN KULMINIERENDEN PUNKT DER MATERIE
Ohne die Unzerstörbarkeit der Materie gäbe es keine Wandlung der Stoffe in der Welt. Diese bestünde vielmehr nur aus den Elementen, die als ein physikalisches Gemenge in den drei Aggregatzuständen durcheinanderlägen. Eine Verbindung zweier Elemente zu einem dritten Stoff ist nur dadurch möglich, daß zwischen beiden eine transzendentale Brücke besteht, die weder der eine noch der andere Stoff ist, wohl aber die Stütze beider nach dem Objekt hin. Im übrigen ist die Unzerstörbarkeit der Materie als Prädikabilie nichts weiter als eine andere Seite der Undurchdringlichkeit, so daß auch die physikalische Welt ohne sie nicht bestehen würde.
Wenn ich in einem Reagenzglas Eisen und Schwefel in Pulverform innig mische, so liegen die beiden Stoffe zunächst unverändert durcheinander und bilden ein physikalisches Gemenge; jeder aber behält aber seine unverminderte Natur. Erwärme ich nun langsam, so hebt, zunächst noch nicht sichtbar, in jedem der beiden Stoffe ein Prozeß an, der ihre Natur gefährdet. Das Eisen sowohl als der Schwefel könnten von jetzt an nicht mehr mit voller Zuversicht sagen: »Ich bin in alle Ewigkeit Eisen« und »ich bin Schwefel« - die chemischen Kräfte der Affinität erschüttern diese Sicherheit jede vom andern her gegenseitig. Nimmt die Erwärmung zu, so tritt dann an einem bestimmten Punkte mit Naturnotwendigkeit der unaufhaltsame Übertritt des einen zum andern ein: unter Aufglühen des Gemenges verbindet sich Eisen mit Schwefel zu dem völlig andersartigen Schwefelkies. Dies mag als Vorbild für alle chemischen Prozesse dienen. Es heißt, die Natur wirklich richtig anreden und einen Schlüssel zur Enträtselung dieser großen Hieroglyphe liefern, wenn Arthur Schopenhauer hier sagt: das Eisen »will« zunächst einmal Eisen bleiben, ebenso der Schwefel. Nur dürfen hier zwei Fehler nicht begangen werden; der erste, dem Kant und alle Kantianer verfallen, indem sie sagen: es gäbe nur bewußten Willen; - und der zweite, den Schopenhauer selbst beging, indem er den »Willen in der Natur«, statt ihn transzendental zu verstehen, metaphysisch nahm und ihn für das »Ding an sich« erklärte. Die Folge des kantischen Fehlers war, daß der Blick für die Natur verkürzt wurde und kein rechtes Weltbild entstand, obwohl gerade sein System dazu vorbestimmt war, es zu schaffen; der Fehler Schopenhauers aber führte dazu, an eine echt »Verneinung des Willens zum Dasein« - objektiv gemeint und nicht nur als Schrulle - zu glauben. Im Umweg über den »Heiligen«, so meinte er, könne die Welt aus den Angeln gehoben werden. Unter Vermeidung beider Fehler nun sage ich indessen: das Eisen »will« Eisen bleiben, indem es zunächst einem modifizierten Trägheitsgesetz gehorcht. Der »Wille«, den ich durchaus von Schopenhauer übernehme und nicht von Kant, bleibt dabei in genauer Augenhöhe mit der Materie und hat dieselben Prädikabilien wie sie; denn er ist die Materie von innen gesehen. Hiermit ist die Grenze von Schopenhauers Konzeption, ohne die keine Philosophie mehr auskommt, genau gesetzt. Ich kann mir nun im gedanklichen Experiment das Eisen und den Schwefel mit Bewußtsein begabt vorstellen, und nun frage ich es: »Willst du Eisen bleiben?« Und das Eisen antwortet klar und verbindlich: »Ja!« Denn es gibt objektiv keine »Verneinung des Willens zum Dasein«, sondern nur subjektiv als psychologische Folge des Mißmutes.
Das Eisen also, das zunächst einmal, wie jedes andere Naturwesen - den Menschen eingeschlossen - nur den Willen zur Selbstbehauptung seines spezifischen Daseins hat, wird durch die bedrohliche Nähe des Schwefels und gemäß den chemischen Kräften der Affinität in ihnen beiden, in die Not gebracht, diese seine Natur aufgeben zu müssen. Und wie in der Welt der Mechanik die Materie von anziehenden und abstoßenden Kräften bestimmt wird, so in der chemischen von selbstbehauptenden (trägen) und verbindenden (affinen); nur drängen sich die verbindenden dem beobachtenden Auge unmittelbar auf, während man die trägen erst erschließen muß. Einmal aber muß in jenem Kampfe der Punkt erreicht sein, da im Falle, daß die chemische Verbindung zustande kommt, die Not der trägen Kräfte aufs höchste gestiegen und der Sieg der verbindenden entschieden ist. Es ist die Stelle, an der es kein Zurück mehr gibt. Nun frage ich: Liegt dieser Punkt in den einzelnen spezifischen Stoffen oder liegt er in der ständig stützenden, unzerstörbaren Materie? Läge er in den Stoffen, so wäre er empirisch und würde bei jedem anders liegen, wie die Siedepunkte. Es wäre dann nicht einzusehen, wie auf dieser Basis die neue Ordnung eines neuen Stoffes zustande kommen könnte. Siede- und Gefrierpunkte verändern ja die Natur ihrer Stoffe nicht, sondern nur die Aggregatzustände. Hier aber kommen zwei Stoffe in Not, ihrer Natur zugunsten eines dritten aufzugeben, und dieser Vorgang kann sich nur in der transzendentalen Brücke beider abspielen, also in der Materie, der Mutter der Stoffe. Ich nenne daher jenen Punkt, von dem an es kein Zurück in beiden Stoffen mehr gibt, den kulminierenden Punkt der Materie.
Dieser Begriff gehört mit zu den Prädikabilien der Materie; denn ohne ist deren Wirksamkeit undenkbar. Da jeder chemische Prozeß eine Zeit in Anspruch nimmt, wenn auch oft eine sehr kurze, so muß es für jeden der Stoffe, der in Not gerät, einen Augenblick geben, in welchem er weder das eine noch das andere ist. Dieser Moment kann aber, in unserem Falle, weder ein Erlebnis des Eisens, noch des Schwefeleisens sein (denn das eine ist nicht mehr, das andere aber noch nicht), sondern nur eines der Materie, ihres transzendentalen Bandes. Die Alchymisten, obwohl sie etwas gänzlich anderes wollten - wenigstens in ihrer großen Zeit - hatten hierfür den Ausdruck »reductio in primam materiam«, der sagen wollte, daß die empirischen, stets formbaren Stoffe für einen Augenblick in die Hände der formlosen und unzerstörbaren Materie gelegt werden, um neu wieder aufzuerstehen. Die Materie spielt also hier die Rolle eines Treuhänders; sie garantiert dafür, daß nie etwas verloren geht und alles Zerstörte wieder aufgefangen wird.
 

10. NATURZWANG UND NOTWENDIGKEIT
Außerdem aber ist der kulminierende Punkt der Materie der sichere Garant für das objektive Bestehen des Naturzwanges; denn wenn er erreicht ist, dann spricht die Natur ihr letztes Wort in der Kette der empirischen Vorgänge, und es gibt kein Zurück mehr. Im Empirischen kann man sich ein solches Zurück immer noch denken; hier aber handelt es sich um Urszenen, die sich im transzendentalen Gefüge der Erfahrung abspielen, für welches alles Empirische die freilich sehr dichte Umhüllung ist; sie werden nur vom Auge der kritischen Philosophie durchschaut.
Der Sprachstil in transzendentalen Dingen ist ein sehr eigner, und Kant hat darin z. B. in den Prolegomena eine hohe Meisterschaft erreicht, während die »Kritik der reinen Vernunft« sehr zurücksteht, schon wegen ihrer Unverständlichkeit; es ist gar nicht leicht, ihn wieder zurückzugewinnen, so daß das Thema vor den Augen des Lesers förmlich aufglüht. Aber man erinnert sich wohl, welchen Eindruck es machte, als NIETZSCHE das Wort »Notwendigkeit« sinnvoll teilte und »Not-Wendigkeit« schrieb. Er traf dabei mit seinem sicheren aber kritisch ungeschulten Blick - er hat Kant nie recht gelesen - genau den Angelpunkt des Vorganges. Denn die »Not«, in die das Eisen in unserem Beispiele gerät, »wendet sich« in dem Augenblicke, in dem es sich den wahlverwandten chemischen Kräften des Schwefels doch wohl mit einer Art Lustgefühl entgegenwirft - wir stoßen hier auf Goethesche Gedankenwelt -: dieser Augenblick aber ist durch die Materie gedeckt, zu deren Prädikabilien der kulminierende Punkt gehört. So sieht die »Notwendigkeit« in der objektiven Sphäre aus, und ihre genaue Entsprechung ist der reine Begriff der Notwendigkeit, der im apodiktischen Urteil der Logik steckt; ihre letzte noch erkennbare Wurzel ist der kulminierende Punkt der Materie.
Redet man so viel und so leichtfertig von den »Wundern der Natur«, so sollte man mit noch viel größerer Inbrunst von diesem transzendentalen Wunder der Erkenntnis sprechen, von dem man wie SKOTUS ERIGENA sagen könnte: »mirabili et ineffabili modo creatur.« EURIPIDES sprach einmal davon, als er in den »Troerinnen« die kriegsgefangene Königin Hekuba den Zeus im Gebet also anreden ließ:

 »Du Halt der Welt, auf Erdenlanden Thronender!
 Wer du auch seist, du Unergründlicher!
 Zeus, Menschendenkegeist - Naturnotwendigkeit,
 Dich ruf ich an! - Denn stille Pfade schweifend
 Lenkst du dem Recht gemäß der Menschen Schicksalslos« (H. B.)
 (Troades 885 ff)

Im Hintergrunde brennt Troja. Menelaos stürmt racheschnaubend über die Bühne, - und die Königin Hekuba wird vom Problem der transzendentalen Logik durchrüttelt! Hier »Menschendenkegeist« ((nous broton)), dort »Naturnotwendigkeit« ((anagkh phuseos)). Menelaos bleibt einen Augenblick stehen ob dieser Sprache und sagt nur verwundert:
 »Was für ein neuer Klang im Götterflehn..!«
Der kulminierende Punkt der Materie ist ein Theorem der kritischen Philosophie, welches beweist, daß die anschauliche Welt der Erfahrung nach Gesetzen der Logik verlaufen muß und nicht etwa bloß nach ihnen erkannt wird. Denn die Notwendigkeit in der Logik durchzieht alle Denkgesetze, und sie wurzelt zugleich als Prädikabilie in der Materie, wo sie als Naturnotwendigkeit auftritt. Die gesamte anschauliche Welt aber ist materiell, und die Materie selber ist das letzte Spürbare vor den Dingen selber. Man kann also auch sagen: die logische Notwendigkeit ist letzten Endes durch die Materie erklärt - was aber nicht heißt, daß sie »materialistisch« erklärbar ist. Denn Materie ist - Kants großem Griff zufolge - durch und durch transzendental und nicht empirisch, wie die großen Atomistiker des Altertums meinten, von den kleinen des neunzehnten Jahrhunderts lieber nicht zu reden.
 

11. DER KULMINIERENDE PUNKT DES WILLENS
Da die Materie von innen gesehen Wille ist, so muß es auch einen kulminierenden Punkt des Willens geben, durch den das Band der Notwendigkeit auch für die Vorgänge im organischen Reich der Natur einschließlich der Handlungen des Menschen und einschließlich seiner sittlichen gesichert wird.
Schopenhauer hat durch seinen Begriff des »Willens« bei unverkennbarer paradoxer Subsumtion eine geniale Erweiterung des volkstümlichen Begriffes vollzogen, so ähnlich wie Newton durch seinen Begriff der Gravitation den des gewöhnlichen Falles in die Ebene der Wissenschaft erhob. Denn es ist natürlich paradox zu sagen: die Schwere, die Kristallisation, die chemische Affinität, das Wachstum, der Stoffwechsel, die Anpassung, der Hunger und der Geschlechtstrieb - dies alles in Klammern und davor den »Willen zum Dasein« -, dies alles sei ein und dasselbe; und es ist genial zu sagen: das sei der Schlüssel zur Enträtselung der Hieroglyphe der Natur. Nur ist es freilich nötig, hier bei ihm den ARISTOTELES zu spielen, denn »Plato mihi amicus, magis amica veritas«. Seinen Kardinalfehler, den Willen für das von Kant vorgeblich gesuchte Ding an sich zu halten, lassen wir hier füglich beiseite; das ist schon zu oft behandelt worden. Immerhin steht und fällt mit dieser dogmatischen These seine ganze Erlösungslehre; das heißt, sie fällt. Mit Metaphysik hat der Wille nichts zu tun, wohl aber mit dem transzendentalen Gegenstand, und an ihm wird sich die Fruchtbarkeit des Gedankens erweisen.
Man muß es geradezu in algebraischer Form hinschreiben, um genau zu erkennen, welche Staffelungen hier vorliegen. Vor der Klammer kommt zu stehen: »Wille zum Dasein«; in die Klammer aber »Kristallisation«, »Affinität«, »Wachstum«, »Hunger«, »Geschlechtstrieb« usw. Klammer zu. Was in der Klammer steht, ist empirisch, was vor ihr, transzendental. Man wird sofort, wenn man eine gute Zunge hat, bemerken, daß das anders schmeckt. »Wille zu Dasein«: das ist jener völlig unbeherrschbare Einspruch, den auch der Selbstmörder gegen seinen Tod erhebt, wenn er in die von ihm selbst bisher gewünschte Nähe rückt; obwohl er - vorgeblich - nicht leben will, so will es doch ich ihm leben. Er ruft um Hilfe. Die Todesangst ist der eigentliche Exponent des Willens zum Dasein. Und zwar ist dieser Wille stets spezifisch und bezieht sich auf die Person, nicht auf die Individualität. Beim Eisen haben wir ihn als jene »Trägheit« kennengelernt, die sich gegen das Aufgeben der spezifischen Qualität sträubt und Eisen bleiben »will«. Da aber die chemische Affinität zum Schwefel wirksam wird und zu reizen beginnt, nämlich zur Vereinigung, so tritt ein Moment ein, in welchem das Eisen seinen ursprünglichen Daseinswillen aufgibt und Schwefeleisen werden will. Dieser Moment aber ist der kulminierende Punkt des Willens. Er ist gleichzeitig und identisch mit jenem Akt der Materie, in dem diese das Eisen freigibt zugunsten des Schwefeleisens. So wie die Materie beide verbindet, da sie beider Mutter ist und selber nur im kulminierenden Punkte für einen Augenblick gewissermaßen nur Mutter, reine transzendentale Materie ist - so auch beim Willen zum Dasein, der nur im Augenblicke des status nascendi sive moribundi reiner transzendentaler Wille ist. In der Todesangst des Menschen tritt dieser Moment dann ein, wenn das bisherige individuelle Dasein aufgegeben wird zugunsten eines wenn auch unbekannten andern. So findet man in den Zügen Verstorbener, bei denen sich dieser Prozeß wohlgelungen abgespielt hat, statt der Grimasse der Todesangst den Stempel der Seligkeit, den man immer dann bemerkt, wenn ein innerer Vorgang des Menschen sich ohne Störung vollzog.
Man ersieht aus dieser Gedankenführung, daß der Wille und die Materie völlig konform gehen, daß sie daher dasselbe sind, je nachdem, ob man die Welt von außen oder von innen betrachtet; sie müssen demnach auch die gleichen Prädikabilien haben. Würde es daher in der Welt auch nur ein Sandkorn geben, das nicht dasein will und dies auch wirklich »wollen kann«, so würde die ganze Welt zusammenbrechen, gerade als ob dieses Sandkorn für einen Augenblick nicht Materie zu sein vermöchte. Die Welt lebt von der unterbrechungslosen transzendentalen Kontinuität von Wille und Materie, genau so wie sie von der unterbrechungslosen Einheit der transzendentalen Logik lebt. Hätte der Mensch die Macht, durch Akte seines Intellektes oder seines Willens, etwa durch Askese, seinen transzendentalen Willen zum Dasein von Grund auf zu vernichten, so daß er wirklich nicht mehr dasein will und auch keine Wiedergeburten mehr erleidet, so könnte man aus solch einem Vorgang - der sich unter dem Boddhi-Baume abgespielt haben soll - freilich einen objektiv giltigen Heilsweg für die Menschheit und die gesamte Kreatur herauslesen. Diese Macht ist aber dem Menschen nicht gegeben, und die vorgebliche »Verneinung des Willens zum Dasein« spielt sich lediglich im Psychologischen ab, ohne je die transzendentale Schicht zu treffen, geschweige denn die metaphysische.
Ein historischer Beleg hierfür ist die frühe Glaubens-Spaltung, die im Buddhismus einsetzte und noch heute wirksam ist. Nach der alten orthodoxen Lehre des ceylonischen Hinayana-Buddhismus ist es dem letzten Buddha Gotama gelungen, jenen Akt zu vollziehen, so daß er, ohne Wiedergeburt, tatsächlich ganz und gar und ohne Rest verschwunden ist (wie das Phlogiston), damit den Weg für jeden öffnend, gleichfalls zu verschwinden (»ins Nirwana einzugehen«). Hiergegen richtet sich nun der völlig richtige Instinkt des Mahayana-Buddhismus auf, der in sehr schöner Weise lehrt: der letzte Buddha Gotama sei tatsächlich nicht verschwunden, sondern wurde kurz vor seiner siegreichen Vollendung von Mitleid für die leidende Kreatur ergriffen, verzichtete freiwillig auf die Seligkeit des Nirwana und ging wieder, als Boddhisatwa, in den Kreis der Wiedergeburten ein, um den Menschen die Lehre zu schenken, die ja nur er, der Erhabene, wahrhaft lehren kann. So entstand der Lamaismus in Tibet. Die endgiltige Auflösung der Welt aber wird damit - wie es ja auch recht und billig ist - ad kalendas graecas vertagt. Der Wille und die Materie aber sind unzerstörbar. Das ewige Lächeln des Buddhas aber scheint mir eines jener Auguren-Lächeln zu sein, die einen heimlichen Betrug verbergen, Christus lächelt nie.
Schopenhauers dunkles Gemüt hat ihn verhindert, jene so notwendige Unterscheidung zwischen dem transzendentalen und dem empirischen Willen zu machen, die wir oben im algebraischen Gleichnis veranschaulichten. Hätte er das gesehen, so wäre ihm der Weg ins Nichts, auf den es ihm letzten Endes ankam, verlegt worden. So aber faßte er beides unbesehen in eines zusammen; das schadete seinem Genius nicht, ja man kann beinahe vermuten, daß er ohne dieses Übersehen nicht zu seiner großen Konzeption der Willenslehre gekommen wäre. Zu sage: Mund; Speiseröhre, Darm sind der »objektivierte Hunger«, die Genitalien aber der »Geschlechtstrieb« von außen gesehen«, das heißt in der Tat dem Menschen einen Schlüssel reichen zur Enträtselung der Hieroglyphe der Natur. Man kann die Benutzung dieses Schlüssels freilich unter allerhand Gründen ablehnen, die sich aus irgendeiner erkenntnistheoretischen Ecke heraus immer finden lassen; das tun etwa die Kantianer, die noch immer behaupten, es gäbe nur bewußten Willen (Alois Riehl); ich kann nur sagen, daß ich den Schlüssel angenommen habe.
Aber ich füge hinzu, und ohne das käme ich nicht weiter, daß der empirische Wille stets seine Stütze und Basis im Transzendentalen hat und daß er sich zu diesem genau so verhält, wie die Stoffe zur Materie. So wenig also je ein Stoff ohne Materie sein kann, so wenig der empirische Willen ohne den transzendentalen; andrerseits aber wird eben der transzendentale Wille niemals empirisch, so wenig, wie man ein Stück Materie auf den Tisch legen kann, das nur Materie ist. Die genaue Grenzscheide zwischen je beiden sind deren kulminierende Punkte.
Diese Auffassung muß Schopenhauer im stillen aber doch geteilt haben, auch wenn er sie expressis verbis nicht ausspricht; denn sonst wäre seine - völlig richtige - Vorstellung von der menschlichen Handlung nicht möglich gewesen. Hier ragt bei ihm der gesunde Ast der Alchymie in die Ethik hinein. Denn in der Tat: jede menschliche Handlung ist das Produkt aus zwei Faktoren; der eine ist der angeborene Charakter (»was einer ist«), der andere aber eine Vorstellung, die Motiv wird. Motiv-werden aber heißt nichts anderes als: den kulminierenden Punkt des Willens erreichen. Ist das geschehen, so erfolgt die Handlung mit der gleichen Naturnotwendigkeit wie eine chemische Verbindung, wenn der kulminierende Punkt der Materie da ist. Damit ist die volle Lückenlosigkeit des Geschehens, auch in der Ethik, bewiesen (vgl. hierzu Schopenhauers Preisschrift über »Die Freiheit des Willens«).
 

12.  ÜBER DIE FREIHEIT
»Lückenlosigkeit des Geschehens« - das ist in der Tat der bessere, positiv gestimmte Ausdruck für das, was man sonst »Unfreiheit des Willens« (servum arbitrium) nennt und was stets in uns eine schiefe Ebene erzeugt. Das menschliche Tun ist in der Sphäre der Ethik ein alchymistischer Prozeß, der fortschreitet, sich ereignet, grad wie ein chemischer, ohne jede Verschiedenheit in der kategorialen Struktur. Denn wollte man zugeben, daß es im menschlichen Tun und Lassen auch nur die kleinste Begebenheit gäbe, die nicht durch das Band der Notwendigkeit mit ihrer Ursache und ihrem Grunde verbunden wäre, so gäbe man damit zugleich zu, daß sie nicht Erfahrung wäre; denn zu deren Wesen gehört es nun einmal, lückenlos der Kausalität zu unterliegen. Gäbe es Hohlräume im Tun des Menschen, die durch einen vorgeblichen »freien Willen« bestimmt wären, so träte, ganz im Gegensatz zu der freudigen Erwartung, die dieses Wort erregt, der entsetzliche Zustand ein, daß ein Mensch Charakterstücke in sich enthielte, die nicht sein Eigentum wären und die, völlig aus dem Chaos geboren, sein Wesen jeden Augenblick zerstören könnten. Es wäre das alles weit schlimmer als das, was die Geisteskrankheiten hin und wieder am Menschen zustande bringen; denn bei ihnen liegt prinzipiell immer die Möglichkeit der Heilung vor und damit das Zusammenwachsen getrennter Charakterstücke: hier aber, bei dieser transzendentalen Pathologie, würden die Festen der Erfahrung selber versinken - es ist in der Tat nicht einmal auszusprechen, und ich bemerke, daß ich den Gedanken nicht zu Ende führen kann. Statt dieses bösen Traumes aber festigt das trostreiche Band der Notwendigkeit die Menschennatur und läßt sie nicht im Bodenlosen versinken.
Die meisten Menschen kommt ein unbehagliches Gefühl an, wenn sie hören, daß alle ihre Taten an das Band der Notwendigkeit geknüpft sind und nichts geschieht, auch durch sie nicht, ohne zureichenden Grund ((ousia)) und Ursache. Sie fragen sich dann: Gibt es überhaupt das Gute? Oder umgekehrt: Ist das Böse dann nicht entschuldbar? Diese Frage tritt unvermeidlich auf, weil vorher eine ebenso unvermeidliche Verwechslung des transzendentalen Begriffes der Notwendigkeit mit dem Zwang stattgefunden hat. Man glaubt, man werde in der Art zu seinen Handlungen genötigt, wie es etwa in der Hypnose geschieht oder in milderer Form bei den Zwangshandlungen der Psychopathen. Andernfalls glaubt man auch, die einzelnen Handlungen seien »vorherbestimmt«, wie der Lauf der beiden Uhrzeiger, so daß man sich gar nicht um sie zu bemühen brauche und, im Falle des Versagens, keiner Entschuldigung bedarf. Hier wird, wie gesagt, der empirische Zwang mit der Notwendigkeit verwechselt, die dem transzendentalen Gegenstande angehört, diesmal dem inneren, also meiner selbst. Wer diesen Unterschied einmal klar gesehen hat, was nicht ganz leicht ist, der kommt mit einem Sprunge aus der beklemmenden Angst des Zwanges in die freudige Helle der Notwendigkeit.
Über das sogenannte Problem der Willensfreiheit und, darauf gründend, die Grundlegung der Ethik, sind, wie man weiß, Berge von Büchern geschrieben worden - aber nicht im Altertum -, und als deren höchste Gipfel mag man wohl mit Recht Schopenhauers Preisschriften sowie Kants Darlegungen in den einschlägigen Werken betrachten. Beide Gipfel aber sind umwölkt und stoßen nur an einigen Stellen in den blauen Himmel durch. Was soll man aber dazu sagen, daß, historisch früher und von beiden gekannt, die kurze Schrift eines bedeutenden Mannes dahintersteht, die zu dem Ergebnis kommt: die ganze Frage nach der sogenannten Willensfreiheit ist lediglich ein Streit um Worte. Es ist das Kapitel über »Freiheit und Notwendigkeit« in DAVID HUMEs Essay »Über den menschlichen Verstand«. Alle Menschen, meint Hume, sind sich von jeher und ausnahmelos darüber einig gewesen, daß die Handlungen des Menschen mit Notwendigkeit aus ihren Ursachen (und Gründen) hervorgehen; denn alle Menschen handeln immer nach diesem Grundsatz. Wenn man an einem mordverdächtigen Tatort ein blutiges Messer findet, so ist zunächst jedermann davon überzeugt, daß es der Mörder fallen gelassen hat und daß man es als corpus delicti für die Auffindung des Täters benutzen kann; es führt möglicherweise eine direkte Kausalkette zu ihm hin; hier wirkt also der »Satz vom Grunde«, ratio cognoscendi. Es kann aber auch absichtlich fallengelassen worden sein, dann dient es zur Ablenkung; ferner können die Blutspuren Kaninchenblut sein, und dann läge das Messer im Bezug auf den Mord zufällig da, in Bezug auf das Kaninchenschlachten aber kausal verbunden und notwendig. Nie aber liegt es ohne zureichenden Grund und Ursache da: das ist die objektive Kausalkette (causa fiendi). Denn wollte man das annehmen, so wäre die Mordkommission eine überflüssige Sache. Aus diesem Beispiel, das nicht von Hume selber stammt, geht hervor, daß der Mensch immer das ständige Walten der Kausalität voraussetzt, auch bei den menschlichen Handlungen; er ist ebenso davon überzeugt, daß er mit Fug und Recht von jedem Begebnis aus rückwärts auf seine Ursache schließen kann, wie diese Begebnisse selber - und darum eben - nur am Bande der Kausalität entstanden sein können. Und zwar deshalb, weil diese Kausalität genau so wie das Wachstum eine unvermeidliche Gewohnheit des Menschen sei - meint Hume -, der er gar nicht ausweichen kann, selbst wenn er wollte. Es steht hier nicht zur Rede, daß diese geistvolle Kausalitätstherorie Humes durch die tiefere transzendentale Untersuchung Kants überboten wurde, der die Kausalität als Kategorie der Erfahrung überhaupt a priori feststellte, sondern nur dies, daß alle Welt sich im Effekt darüber einig ist, daß es nur Notwendigkeit und keinen »freien Willen« gibt, d. h. daß die Natur nirgends ein Loch hat. - Ebenso sicher fundiert aber - fährt Hume fort - ist bei allen Menschen die Überzeugung, daß meine Handlungen sittlich bewertbar sind; jeder Mensch weiß, daß er dies zu tun und jenes zu lassen hat, und zwar unbedingt, und daß er die Freiheit dazu mitbekommen hat. Er weiß auch, daß er sich mit irgendwelcher »Notwendigkeit«, die hier oder dort, womöglich gar in seinem Charakter (»ich bin nun einmal so«) wurzelt, keineswegs entschuldigen kann, vielmehr voll verantwortlich bleibt. Diese Maxime wird jedermann von jeher gegen sich selbst, besonders gern aber gegen andere, angewandt, und sie ist niemals in Zweifel gezogen worden. Der common sense befindet sich hier in sicherer Position; seine Behauptungen, sowohl über die Notwendigkeit wie über Freiheit, sind beide richtig, woraus hervorgeht, daß zwischen beiden kein Problem besteht. Da nun aber in der philosophischen Litteratur - und zwar erst von der christlichen an - die Stellung der beiden Gebiete zueinander doch als Frage behandelt wurde, so muß entweder der common sense doch irgendwie unzuständig sein, oder aber - und das ist Humes Lösung: es handelt sich um einen bloßen Streit der Worte.
Diese zweite nun ist zunächst ganz augenfällig. Die Sprache hat dem Denken hier wieder einmal einen bösen Streich gespielt, indem sie, die lex parsimoniae der Natur befolgend, in einem geradezu aufreizenden Anfall von Sprachgeiz, für zwei so gänzlich verschiedene Dinge wie
1. das Gegenteil von Notwendigkeit, das heißt »Freiheit« von der Kausalität, und
2. das Medium der Ethik, in dem diese schwingt, wie der Ton in den Luftwellen,
indem sie für diese beiden gänzlich verschiedenen Dinge, die schlechterdings nichts miteinander zu tun haben, in fast allen Sprachen ein und dasselbe Wort »Freiheit«, »libertas«, »liberté«, »liberty« gebraucht. Das erste nun, die »Freiheit des Willens«, gibt es nicht, das zweite aber, die Freiheit, »kommt vor« (WILUTZKY). Nun hat unter den europäischen Kultursprachen es merkwürdigerweise die sonst so sparsame englische zustande gebracht, hier zwei Worte zu bilden, nämlich »liberty« und »freedom«; aber das Unglück wollte es, daß diese Lockerung des Sprachgeizes nicht in die Philosophie aufgenommen wurde. »Freedom« kommt, wie ich mir habe berichten lassen, nur in der Kirchensprache und der angeschlossenen Poesie vor, und auch Hume sagt immer »liberty«. Die aus dem Englischen stammende Chance also, durch richtige Sprachführung einen großen Tel des vorgeblichen Problemes zu kupieren, ist durch Humes Nichtgebrauch von »freedom« vertan worden. Es bleibt aber die Möglichkeit offen, einen festen Sprachgebrauch einzuführen - was in der Philosophie überhaupt dringend nötig wäre -, indem die negative Seite des Problems mit »freier Wille« oder »Freiheit des Willens« ausgedrückt wird, während man sich für die positive das Wort »Freiheit« immer nur als Substantiv und Singular, niemals aber adjektiviert, vorbehält. Freiheit ist das Medium der Ethik, und diese gibt es, sie kommt vor, sie ist da; denn sonst würde Ethik nicht dasein können. Der »freie Wille« aber kommt nicht vor, es sei denn, daß man es freien Willen nennen will, wenn man sagt: ich habe heute frei und kann machen, was ich will. Natürlich kann ich das. Oder, wenn man den »Willen an sich«, der wiederum empirisch nicht vorkommt, sondern nur gedacht werden kann, »ewig frei« nennen will, wie das Schopenhauer tut: dann habe ich aber eine hohle Nuß in der Hand und das ist soviel, als wenn ich ein X vor der Klammer »an sich« betrachten will, ohne auf seine algebraische Beziehung zu ihrem Inhalte zu achten, und dieses nun ein »freies X nenne.
Hume hat also recht: es handelt sich um einen Streit um Worte; wenigsten wird ein erheblicher Teil des vorliegenden Problems stillgelegt, wenn man ihn durchschaut und durch konsequente Sprachführung nicht wieder aufkommen läßt. Natürlich ist die Freiheit »un mystère«; sie paßt nämlich so wenig in das, was man gewöhnlich »Natur« nennt, und was auch Kant so nennt, hinein, wie ein sphärisches Dreieck in einen Kreis. Das sphärische Dreieck nimmt die dritte Dimension in Anspruch, und eben das tut auch die Freiheit. Hieraus aber folgt nicht etwa, wie der naive Naturalismus meint, daß »alles Natur« sei, sondern es folgt daraus, daß die Natur eine Tiefendimension hat, die der dritten in der Stereometrie entspricht. Oder - es gibt keine Ethik. Tertium non datur. KANT hat das, wenigstens mit einem Auge, durchschaut, indem er den Ausdruck »Kausalität durch Freiheit« prägte, das heißt also, die Freiheit substantivisch und real nahm. Was aber unter den Tisch fällt, das ist der ganze nötige Aufwand mit der vorgeblichen »Antinomie der reinen Vernunft«; denn es besteht gar kein Widerstreit zwischen Kausalität der Natur und Freiheit; der ist erst durch den Sprachgeiz hineingekommen und kann durch richtige Führung der Worte getilgt werden ohne Bezug auf die »transzendentale Dialektik«.
KANT verwendet außer dem terminus »Kausalität durch Freiheit« noch die anderen »Kausalität der Vernunft« und »eine Kette von Handlungen von selbst anfangen« oder auch »sponte« - das ist alles dasselbe, und er verweist damit den Leser an den richtigen Ort. Schopenhauer, der nicht verstand, wie Kant das meinte, legte hier heftigen Protest ein und behauptet, das sei eine unzulässige Unterbrechung der Kausalkette: es könne nichts »von selbst« anfangen. Aber Kant hat doch recht, und man sieht aus diesem Beispiel wieder einmal, daß Schopenhauer weder von der Freiheit noch von der Kausalität eine zulängliche Vorstellung hat. Charakteristisch hierfür ist jene Anekdote aus seinem Leben, die er erzählt: eines Tages hätte er beim Schreiben an seinem Pult, statt zum Sandfaß zum Tintenfaß gegriffen, so daß die Tinte über seine Handschrift und auf den Boden geflossen sei. Seine Reinmachefrau, die das aufwischen sollte, habe dabei erstaunt ausgerufen: genau das habe seine Haushälterin die vorige Nacht geträumt, daß der Herr Doktor sich das Tintenfaß über das Pult gießen würde, und so sei es auch eingetroffen. Schopenhauer erkundigt sich bei seiner Haushälterin und richtig: genau so hatte sie die Nacht vorher geträumt. Wieder ein Beweis, meint er, für die »strenge Necessität alles Geschehens!« Man fragt sich erstaunt, wie ein so gelehrter Kopf diesen Vorgang für einen Beweis des Kausalsatzes halten kann, wo er doch nichts weiter ist als ein Beleg für das Vorkommen von prophetischen Träumen! Wer solch eine Verwechslung begehen kann, der beweist in der Tat damit, daß er unmöglich die Doktrin der transzendentalen Logik verstanden haben kann und damit das Kerngebilde von Kants Theorie der Erfahrung. Trotz der Reichhaltigkeit und des vielen Neuen, das in seiner »Vierfachen Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde« steht, begreift er doch nicht, was transzendental und was »Giltigkeit« ist. Wie aber einer von der Freiheit spricht, daran kann man ermessen, wieviel er davon versteht. Bei KANT heißt es (KRV, Anmerkung zur dritten Antinomie, Thesis): »Wenn ich jetzt (zum Beyspiel) völlig frey und ohne den notwendig bestimmten Einfluß der Naturursachen, von meinem Stuhle aufstehe, so fängt in dieser Begebenheit samt deren natürlichen Folgen ins Unendliche eine neue Reihe schlechthin an, obgleich der Zeit nach diese Begebenheit nur die Fortsetzung einer vorhergehenden Reihe ist. Denn diese Entschließung und That liegt gar nicht in der Abfolge bloßer Naturwirkungen, und ist nicht eine bloße Fortsetzung derselben, sondern die bestimmenden Naturursachen hören oberhalb derselben, in Ansehung dieser Eräugnis, ganz auf, die zwar auf jene folgt, aber daraus nicht erfolgt, und daher zwar nicht der Zeit nach, aber doch in Ansehung der Causalität, ein schlechthin erster Anfang einer Reihe von Erscheinungen genannt werden muß« (Sperrung von mir).
Daß das eine richtige Beobachtung ist, das zu erkennen, ist Sache der transzendentalen Urteilskraft, die in diesem Falle bei Schopenhauer versagte. Es gibt also Handlungen, die von selbst, besser »vom Selbst« anfangen, und die von der Freiheit heraufbefördert werden. Hierüber hat es im Grunde, würde Hume sagen, niemals zweierlei Meinungen gegeben. Nun ist aber, sich in Freiheit vom Stuhle zu erheben, auch wenn es Kant tut, keine sittliche Handlung, sie enthält keinen Konfliktstoff mit ihrem Gegenteil; die Freiheit, aus der heraus sie geschieht, ist demnach keine sittliche Freiheit; sie enthält das Element der Verantwortung nicht. Handelt es sich um eine gute Tat, die geschehen soll, so muß sich im Gemüte des Täters noch etwas ganz anderes abspielen, als die bloße Wahl zwischen Aufstehen und Sitzenbleiben.
Kant war ja nun, wie wir wissen, der Meinung, daß diese gesollten Werte ihren Ursprung in der Vernunft haben, die für diesen Fall die praktische heißt. Wir haben aber gesehen, daß das nicht haltbar ist, und daß vielmehr die Inhalte, das eigentlich Seiende am Gesollten, genau so gegeben werden, wie die empirischen Dinge für die Erkenntnis, nur aus anderem Orte und auf anderem Wege. Wir fügen jetzt hinzu: während die Welt der Erkenntnis zweimal aufgefangen wird, als anschauliche Welt durch den Verstand und als begriffene durch die Vernunft, haben die sittlichen Mächte, die der Ethik zum Grunde liegen, nur die Affinität zur Vernunft. Anders ausgedrückt: während die Vernunft in der theoretischen Erkenntnis immer abstrakt ist, ist sie im Sittlichen immer konkret. Das spürte Kant und sprach daher von der »praktischen Vernunft«: aber - das Sittengebot, das hier entsteht, ist eben nicht das eintönige Elaborat dieser praktischen Vernunft, sondern ein Produkt aus zwei ganz verschiedenen Elementen, deren eines willenhaft, das zweite aber erkenntnishaft ist. Und da es nun in der Ethik keine anschauliche Welt gibt, in welcher die Hälfte der Erkenntnisenergie wie durch ein Staubecken aufgefangen wird, sondern sich alles, was da ist, sofort in die Vernunft ergießt, so erklärt sich damit ein Teil der gewaltigen Leidenschaftlichkeit, mit der die Ethik auftritt. Ein wissenschaftlicher Massenwahn (der immer eine Verkümmerung der anschaulichen Welt enthält) ist eine leidlich erträgliche und meist rein litterarische Sache; in einen ethischen Massenwahn aber hineinzugeraten, möchte man auch seinem besten Feinde nicht wünschen. Es ist noch heute ein Rätsel, wie es im Jahre 1789 der stürmenden Volksmenge mit ihren mangelhaften Instrumenten gelingen konnte, eines der festesten Schlösser des Königs, die Bastille, geradezu zu pulverisieren. Natürlich kommt hier noch der spezielle politische Dämon hinzu, der in allen Revolutionen wirkt.
Würde es das nicht geben, was KANT nennt »eine Reihe von Handlungen von selbst anfangen«, so gäbe es weder Kultur noch Ethik, und niemand könnte von selbst vom Stuhl aufstehen. In diesem letzten Falle arbeitet die Freiheit gewissermaßen im Tagebau, in den andern holt sie aus der Tiefe der Natur herauf.
Da die Freiheit eine Kraft ist, die realiter vorkommt und wirkt, so hat sie auch die Fähigkeit, den Willen an seinen kulminierenden Punkt zu treiben; in diesem Augenblicke aber wird die Handlung genau so unausbleiblich, gibt es genau so wenig ein Zurück wie bei der chemischen Verbindung des Eisens mit dem Schwefel im Augenblicke des kulminierenden Punktes der Materie. Beim Willen aber wird dieser als ein beseligender Zwang empfunden, der der Ausdruck für die Notwendigkeit ist. Menschliche Handlungen sind demnach durchweg, wie Schopenhauer richtig erkannte, nach dem Schema des chemischen Prozesses angelegt, der in diesem Falle alchymistisch ist; sie kommen zustande und sind eindeutig bestimmt durch den angebornen Charakter und durch diejenige Vorstellung, welche Motiv wird, das heißt den kulminierenden Punkt des Willens erzwingt.
Als LUTHER im Jahre 1521 auf dem Reichstage zu Worms den Widerruf seiner Lehre verweigerte, gab er seiner Haltung den letzten Akzent mit den Worten: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen!« Es spielt keine Rolle, ob diese Worte tatsächlich so gefallen sind oder nicht, sondern nur, daß sie den Charakter seines Tuns betonen. »Ich kann nicht anders!« - das aber heißt: Ich stehe unter Zwang; aber nicht unter psychischem Zwange, sondern unter dem der Freiheit. »Zwang durch Freiheit« aber, dieses tiefsinnige Oxymoron, ist der höchste Ort, an den ein Mensch gelangen kann. Würde diese Szene im Alten Testament gespielt haben, wozu sie durchaus das Format hat, so würde der Text hier zweifellos weitergehen: »Und der Engel Gottes sprach zu ihm: von nun an sollst du Martin Luther heißen.« Denn in der Tat: nur dadurch, daß er ablehnte, wurde er in Wahrheit Martin Luther. Das aber ist ein Geschehen unter dem Zwange der Freiheit und unter dem Schilde der Notwendigkeit. Was heißt dem gegenüber die kümmerliche Frage: ob der Mensch einen »freien Willen« habe...?
Luther hatte vor der Entscheidung, soweit wir das übersehen können, die Wahl zwischen dreierlei: entweder widerrufen und als schlichter Augustinermönch in seine Zelle zurückzukehren, oder: seine Sache einem Gremium zu übertragen und sich dessen Spruch zu beugen (das bot man ihm mit günstiger Zusammensetzung an), oder eben: die ganze Verantwortung auf seine Person allein zu übernehmen. Zweifellos befand er sich - Mensch, der er war - in einem Gewissenskampf. Daß unter diesen drei Möglichkeiten die dritte Motiv wurde und die Tat hervorbrachte, das lag daran, daß sein innerster Charakter, sein eigentliches Wesen, sein »MARTIN LUTHER« eben mit diesem dritten im tiefsten verwandt war und sich nach dem Beispiel der chemischen Affinität mit ihm und nicht mit einem andern verband; nur dieser Imperativ war kategorisch. Nur durch diese Wahl, die unter dem Zwange der Freiheit geschah, und also ohne freien Willen frei war, wurde er Martin Luther. Man sieht daraus, daß da berühmte PINDAR-Wort: »Werde, der du bist!« keinen bloßen Wachstumsvorgang bedeutet, sondern einen ethischen. Eigentlich durfte ein Grieche solch ein Wort gar nicht aussprechen; da es aber geschehen ist, muß man sagen, daß der Grieche es in seiner Tiefe nicht verstanden hat. - Freiheit aber hat Stromrichtung vom Objekt zum Subjekt, nie umgekehrt, und erfüllt daher die Voraussetzung des Realen.
Hätte man Luther nach seiner Tat gefragt, ob seine Entscheidung aus freien Stücken, das heißt von ihm aus als sein fertiges Eigentum und sein Verdienst gefallen sei, so hätte er den Fragenden unwirsch angefahren und ihm geantwortet, daß er hieran keinerlei Verdienst habe, daß er nichts sei als ein sündiger Mensch, zu nichts Gutem fähig und, wenn er es doch täte, dies ohne jeden Rest geschenkt bekommen habe. Das aber ist die tiefste Überzeugung aller redlichen Menschen, die je etwas Gutes getan haben; sie lassen sich deshalb ungern darauf anreden und werden verlegen, wenn man es dennoch tut. Es ist die Entdeckung des Christentums, daß alles Gute geschenkt ist. Das Altertum sowohl wie die hohe Schule der Pharisäer steckte sich das Verdienst in die eigne Tasche. An dieser Stele liegt der Geburtsort der Frage nach »Freiheit und Notwendigkeit«, die es daher im Altertum nicht gab. Sie ist der philosophische Ausdruck für die durch das Christentum so heftig beunruhigte Menschennatur.

Wenn die Materie dasselbe ist wie der »Wille von außen gesehen« und umgekehrt, so müssen sich alle ihre Prädikabilien auch auf den Willen anwenden lassen und vice versa. Demnach gibt es einen »freien Willen« genau so wenig, wie es »freie Materie« gibt. Beide sind, da Erscheinung, durchweg determiniert nach der Kategorie der Kausalität, aber auch determinierbar durch die Freiheit. Und so wie der Wille durch die Freiheit in jenen seligen Zustand gerät, der ihm zu sagen scheint, daß nichts ihm etwas anhaben kann, auch nicht der Tod, so muß auch die Materie durch die Freiheit verändert werden können. Es ist daher durchaus kein Aberglaube schlechthin, wenn wir in Heiligengeschichten - die Echtheit des Heiligen vorausgesetzt - gelegentlich lesen, daß ihr Leichnam einen lieblichen Duft ausströmte und kein Verwesungsgeruch aufkam. Auch, wenn man in den ersten christlichen Jahrhunderten davon sprach, daß die Christen ein »drittes Geschlecht« seien, körperlich unterschieden von Juden und Heiden, so ist dem Glaubwürdigkeit zuzusprechen. Es handelte sich damals - lange hatís nicht gedauert - um einen intensiven alchymistischen Prozeß, der sich ganz natürlicherweise in der Materie abzeichnen mußte. Die Polemik Tertullians gegen diese Auffassung erscheint mir unbegründet. Im bürgerlichen Christentum von heute ist davon freilich nichts übriggeblieben. Dagegen beruht das Dasein Israels noch heute auf jenem vererblichen Akt des Glaubensgehorsams, durch welchen, wie wir früher erfuhren, der »Samen Abrahams« begründet wurde. Es ist ein Wunder, aber kein Rätsel. Ein Wunder aber verbreitet dann seine größte Kraft, wenn wir erkennen, daß es mit natürlichen Dingen zugeht, das heißt, wenn das Rätsel an ihm gelöst ist.
 

13. DIE FALSCHE GENIALITƒT IM ZEITALTER DER ERFINDUNGEN
Der Intellekt bestrahlt nicht die Welt, wie der Scheinwerfer ein Flugzeug, sondern ist Teil der Welt und durchtränkt sie ganz und gar; denn die Logik ist, durch die Kraft der Kategorie, transzendental. Und die Welt ist daher Erscheinung und nicht Ding an sich. Erscheinung aber bin ich auch selbst, von innen gesehen.
Man spricht so oft von der »gegenseitigen Befruchtung« der Wissenschaften untereinander sowohl wie mit der Philosophie. Aber ebensowenig wie die Befruchtungsakte in der organischen Natur durch große Teile der Hautoberfläche geschehen, sondern durch die kleinsten, aber repräsentierenden Zellen, ebensowenig findet jene Befruchtung zwischen Naturforschung und Philosophie in der breiten Ebene der Fachwissenschaften statt, sondern geht nur über die repräsentierenden, wie gründenden Elemente, d. h. über das Genie. Hier aber wird der Intellekt Geist, und diese Stelle muß rein gehalten werden. Es war THEODOR DƒUBLERs Lieblingsgedanke, dem er in seinem »Nordlicht« einen freilich so ungeschickten Ausdruck verliehen hat, »daß die Erde wieder ein leuchtender Stern werde«. Darum ist das, was in der genialen Zone der Menschheit passiert, von so großer Wichtigkeit.
Hätte nicht Kant den ihm von Newton gereichten physikalischen Begriff der Masse in den der Materie verwandelt: die Wissenschaft hätte das nicht vermocht. Vor Kant stellte sich beim Worte Materie stets die altertümliche Vorstellung mineralischer Kleinkörperlichkeit ein, mit der gar nichts anzufangen war, wollte man sie - und das tat man - zum Grunde aller Erscheinungen machen und aus ihrer Bewegung Wachstum, ja Empfindung erklären. Das ist ja das Thema des sogenannten »Materialismus«. Wie man weiß, ist die Materie durch diese Versuche, denen sich ja auch die Ethik anschließen mußte, in schlechten Ruf geraten, so daß man das an sich so ehrfurchtgebietende Wort gar nicht aussprechen durfte, ohne nicht sich selbst in Verdacht »materieller Gesinnung« zu bringen. Durch Kant aber wurde sie als zum transzendentalen Gegenstand gehörig erwiesen und ihr damit die Unschuld wiedergegeben.
Wenn nun die Wissenschaft nicht dazu da ist, den Wohlstand der Menschheit zur erhöhen - was sie in summa keineswegs kann -, sondern den Stand und den Rang des Menschentums - was sie durchaus vermag -, so muß auf das Sorgsamste darauf geachtet werden, daß kein falscher Ton in den Begriff des Genius kommt. Das Genie muß einen bestimmten Charakter haben, der sich deutlich abhebt; und für diesen muß es Prüfsteine geben. Denn das große Publikum ist immer geneigt, von der Größe des Erfolges einer Entdeckung auf die Größe des Mannes zu schließen, dem sie gelang. So entsteht leicht ein gefälschter Begriff von Genie. Niemand bezweifelt etwa, daß Wilhelm Röntgen ein bedeutender Mann in seinem Fache war; aber um die berühmten Strahlen seines Namens zu entdecken, dazu gehörte nicht die mindeste Genialität. Er fand sie einfach beim Experimentieren mit Kathodenstrahlen, was ebensogut auch hätte einem Assistenten passieren können. Überhaupt hört man unter den Physikern von heute häufig die Meinung, daß die Fülle von Entdeckungen, auch theoretischer Art, die hier so verblüffend wirkt, beinahe nach einem ausrechenbaren System erfolge. Man wird den Eindruck nicht los, als ob die Entdeckertätigkeit hier, wie in anderen Spezialgebieten, weitgehend genormt sei, von Laboratorium zu Laboratorium spiele und wohl hohe Ansprüche an Fachwissen und Kombinationsgabe stelle, aber gar keine an Genialität. Man versuche demgegenüber einmal den Gedanken zu Ende zu führen, daß das Gravitationsgesetz oder die transzendentale Logik auch ohne Newton und ohne Kant in die Welt getreten wäre.
Wenn jemand, mit einer Drahtspule und einem Magneten spielend, plötzlich bemerkt, daß beim Vorüberführen in der Spule ein kurz aufwallender, dann wieder verlöschender Strom entsteht, und wenn er nun, darüber heftig nachdenkend, den Plan entwirft, diesen intermittierenden Strom kontinuierlich zu machen, in dem er das Vorüberführen in denkbar kurzen Intervallen wiederholt, und wenn er so, als Werner v. Siemens, das Modell zur Dynamomaschine konstruiert - als einen umgekehrten Elektromotor -, so trägt dieser Vorgang zweifellos genialische Züge, schon deshalb, weil nicht jeder darauf verfällt, und hier sogar die charakteristische Umkehrung eine Rolle spielt: allein dieser Typus des Erfinders und Entdeckers, der das Jahrhundert beherrscht und das lauteste Aufsehen erregt hat, gehört trotz offensichtlicher Familienähnlichkeit nicht in einen Rang mit dem echten Genius der Erkenntnis, von dem bislang die Rede war. Denn dieser ist Organ der Natur, jene sind es nicht. Bei jenen vollziehen sich die sprunghaften erfindenden Denkakte doch immer in katadoxen Bahnen; das echte Genie aber hat zum logischen Hintergrunde seines Subjektes die paradoxe Subsumtion; bei ihm gerät der ganze Intellekt in Aufruhr, bei jenen nur der zum Fach gehörige Teil. Es handelt sich bei diesen Erfindern und Entdeckern um einen gehobenen Handwerkerstand mit starker Urteilskraft und Mutterwitz, weshalb auch, wenn man ihre Physiognomien betrachtet, bestenfalls eine gediegene Weltklugheit zum Ausdruck kommt, gegenüber den großartigen Prosopen der echten Genies. Es gelingt daher auch nicht, so sehr man sich schon darum bemüht, die Namen Aristarch von Samos, Kopernikus, Galilei, Newton, Kant, Robert Mayer in einem Atem zu nennen mit James Watt, Siemens, Diesel, Edison, Röntgen und wie sie alle heißen: jedermann spürt sofort das Ungehörige der Artvermischung.
Durch den echten Genius der Erkenntnis wird die Kontinuität der Natur und damit die Stellung des Menschen in ihr hergestellt und besiegelt. Geniale Akte sind es, die den Weg bahnen von der Schwere des Steines in der Hand zur Schwere des Mondes, von da zur Materie und ihren Prädikabilien. Hier ist der Ort erreicht, wo Kants Satz vom Verstande, der der Natur die Gesetzte vorschreibt, seine paradoxe Wirkung ausübt, und wodurch die Welt zur Erscheinung wird; dann springt der Prometheusfunke über zum Willen und seinen Prädikabilien, den kulminierenden Punkten, der Notwendigkeit und Freiheit, um damit beim Werte und Wesen des menschlichen Lebens angelangt zu sein. So bezieht das Menschentum durch die genialen Akte seine Erhöhung. Die Akte der Erfinder und Entdecker aber, die sich so gerne Wohltäter der Menschheit nennen lassen, haben kurze Beine. Von der Dynamomaschine kommt man nicht weiter als bis zur elektrischen Bahn. Als wer man aber darinsitzt, darauf haben diese Taten des vorgeblichen »Menschengeistes« keinen Einfluß. Man weiß eben auch gar zu gut, daß jene Erfinder und Entdecker stets im Dienste des Willens standen; sie wollten etwas, indem sie sich und anderen vormachten, daß die Menschheit glücklicher würde, wenn sie ihre Maschinen besäße. Man braucht diesen prekären Irrtum heute nicht mehr zu widerlegen und die unversehrte Leuchtkraft des echten Genies hervorzuheben, da dies die Natur selber tut, deren Organ er ist.
Dagegen verlohnt es sich, auf ein Wort von JACOB BURCKHARDT hinzuweisen, wie die Griechen über diesen Fall dachten: »Auch von den Erfindungen waren einige auf griechischen Boden selbst daheim; die Argo war das früheste Schiff, das auf den Fluten ging; in Alesiai bei Sparta hatte Mylos (der Müller), Sohn des ersten Herrschers Lebes, die früheste Mühle, und die Athener rühmten sich sogar, sie hätten die Menschen gelehrt, Feuer anzuzünden; im allgemeinen jedoch fügt man sich in Griechenland ohne Beschwerde darin, daß Dinge, welche irgendwie an menschliche Mühsal, an das Banausische erinnern, vom Auslande entlehnt seien, im stärksten Gegensatz zu der jetzigen Welt, welche industrielle Erfindungen zum höchsten Stolze derjenigen Völker rechnet, die darauf Anspruch haben, und über Prioritäten dieser Art ernsthaft zu streiten imstande ist.« (Griech. Kulturgesch., Kröner, I, S. 24).
Robert Koch gehört zu den fleißigsten, lautesten und dabei edelmütigsten Menschen unter den Medizinern; aber seine Entdeckung des Tuberkelbazillus hat mit Genialität nicht das geringste zu tun. Wie war die Lage? Pasteur hatte den Begriff der »Infektionskrankheit« in die Medizin eingeführt. Kochs These nun war: die mit dem volkstümlichen Ausdruck »Schwindsucht« oder »Auszehrung« bezeichnete Seuche ist eine Infektionskrankheit im Sinne Pasteurs. Den Beweis hierfür zu erbringen, war der Inhalt seines Lebens, und er konnte nur erbracht werden durch Auffindung des Erregers, die ihm gelang. Dem geistigen Prozeß aber, der sich hier abspielte, fehlen schlechterdings alle Merkmale des Genialen; denn er verläuft ganz im Rahmen der katadoxen Subsumtion. Ja, wenn er schon seinen Gegner vom Fach, Rudolf Virchow, gewissermaßen im Turnier geschlagen hat, so war damit Virchows These, die Schwindsucht sei Gewebezerfall, keineswegs widerlegt; denn sie ist ja Gewebszerfall. Es hieße aber die Verwechslung von Grund und Ursache begehen, wollte man sagen, daß durch Kochs Auffindung des Erregers dieser Gewebezerfall erklärt worden sei. Nichts ist erklärt, sondern wir wissen nur seitdem, daß in einem bestimmten Stadium des schon vorher einsetzenden Zerfalles, plötzlich, wie aus heiterem Himmel, eben jene Tuberkelbazillen auftreten, die den aktiven Prozeß einleiten und das Zerstörungswerk beschleunigen. Von da an rechnet man die eigentliche Tuberkulose, was aber eine willkürliche Begrenzung ist. Ferner wissen wir seitdem, daß die Einwirkung der Tuberkelbazillen auf gesundes Gewebe dieses zur Erkrankung bringen kann, falls nicht die nötigen Widerstandskräfte im Organismus bereitliegen. Hier haben wir den Bazillus als Ursache, genau in dem Sinne, wie der Wind die Ursache für den Fall des Apfels ist, falls nicht die Widerstandskräfte in seinem Zellgewebe ihn noch halten. Für den Fall des Apfels aber - ob er eintritt oder nicht -, kennen wir den Grund, nämlich die allgemeine Schwere, und dahinter steht die wissenschaftsgründende Tat Newtons; für die Tuberkulose aber kennen wir den Grund nicht, eben weil Kochs Entdeckung keine wissenschaftsgründende, das heißt keine geniale Tat war. Der Krankheit auf den Grund gekommen ist nur Theophrastus Paracelsus, der demnach überhaupt der nobilitierende Genius der Medizin ist.
 

14. THEOPHRASTUS PARACELSUS UND SAMUEL HAHNEMANN
ALS NOBILITIERENDE GENIEN DER MEDIZIN
Es ist der Medizin im bisherigen Verlaufe ihrer Geschichte versagt geblieben, sich von der durchleuchtenden Kraft gründender Genialität durchdringen zu lassen; ich muß vermuten, kann es aber im einzelnen nicht belegen, daß all ihre Fortschritte und Entdeckungen, was ihren geistigen Gehalt anlangt, jene Grenze nicht überschritten haben, die etwa durch den Typus Robert Koch gesetzt wird, will sagen, einer gediegenen Klugheit verbunden mit redlichem Forschersinn. Das Genie aber kommt in ihr nicht vor. Es sei denn, daß man gewillt ist, sie nicht von Hippokrates über Galen, Vesal in die moderne Medizin verlaufen zu lassen, sondern ihren Angelpunkt in Theophrastus Paracelsus und Samuel Hahnemann zu verlegen. Denn in den Grundlehren dieser beiden Männer - wobei die physiognomische ƒhnlichkeit Hahnemanns mit Paracelsus fast an Rëinkarnation denken läßt - findet sich das, was wir bisher immer das Gesetz zu nennen pflegten; ihre Denkart trägt offensichtlich geniale Züge mit ihren typischen Merkmalen, und sie unterscheidet sich geflissentlich von der eben an Robert Koch und Virchow studierten. Ich übertrage daher in kurzen Zügen diese Denkart in die Sprache der Philosophie, indem ich die Erfahrungen mit einwebe, die ich selbst mit ƒrzten aus ihrer Schule gemacht habe.
Der Gedankengang würde dann lauten: Heilung ist die narbenlose und vollständige Wiederherstellung aus Kräften der Natur. Die Heilkräfte stammen aus größerer Tiefe als die Wachstumskräfte, die in ihrem Dienste stehen und die Heilung vollziehen; sie sind auch nicht immer tätig, wie die des Wachstums, sondern kommen nur herauf, wenn sie vom erkrankten Organismus angefordert werden. Würde es keine Heilkräfte, als gesonderte, eigenartige Mächte geben, so würde jedes Lebewesen, das von außen verletzt ist, daran zugrunde gehen. Der Stich eines Dornes in ein Blutgefäß würde genügen, im Laufe der Zeit den Menschen zum Ausbluten zu bringen; der einmal einsetzende Zerfall von Lungengewebe an einer einzigen Stelle würde unfehlbar zur tödlichen Lungenschwindsucht führen, ein Schnupfen würde die Lebenskraft schließlich verbrauchen und damit das Leben selbst. Das alles aber ist nicht der Fall, sondern die Natur sendet aus ihrer Tiefe herauf Heilkräfte, die dem Lebewesen zu Hilfe kommen. Die Frage der Medizin aber lautet, ob diese Kräfte vom Arzte lenkbar sind. Beantwortet man diese Frage mit Ja - was erlaubt ist -, so entsteht sofort die zweite nach der Wissenschaft. Das aber heißt: wie komme ich über die bloße Ursache der Krankheit zu ihrem Grunde? Und von den Gründen zu einem System der Heilung, das Notwendigkeit enthält? Hierzu aber ist unter allen ƒrzten nur Paracelsus gekommen.
Die gewöhnliche Meinung von den Krankheiten und ihrer Heilung - besser Bekämpfung - ist die, daß sie aus unbekannten Gründen, aber oft bekannten Ursachen im Organismus entstehen und daß draußen in der Natur gegen sie gewisse Heilmittel gewachsen sind, mit denen man sie als ihren Gegenteilen in ähnlicher Weise bekämpfen kann, wie das Feuer mit dem Wasser (ex contrario); man kann diese Heilmittel auch synthetisch auf chemischem Wege herstellen. Ihre Zahl ist unbeschränkt und unbekannt, genau wie die der Krankheiten, und beide Zahlen stehen in keinem gesetzmäßigen Verhältnis zueinander. - So sieht es zunächst auch aus, so denkt heute jeder Mediziner; es sieht ja auch so aus, als ob die Sonne sich um die Erde dreht. In Wirklichkeit aber ist es genau umgekehrt, und diese realitas medicinalis entdeckt zu haben, ist die Tat des Paracelsus.
Es gibt eine unbestimmbar große Anzahl von Pflanzen, Tieren und Mineralien; eine bestimmte Anzahl davon aber sind Heilkräuter (oder aber Tiere und Gesteine); diese haben charakteristische Merkmale und unterscheiden sich deutlich von den übrigen, so wie sich die Planeten von den Fixsternen unterscheiden. Sie sind arzeneilich. Das heißt nichts weiter, als: sie können Arzeneikrankheiten erzeugen. Das experimentum crucis hierfür hat Paracelsus, der in der Luther-Zeit mehr ein verkündender, denn ein beweisender Genius war, erst als »Samuel Hahnemann« geliefert, dem der Begriff der exakten Naturwissenschaft durch die Signatur seines Jahrhunderts geläufig geworden war. Er bewies, daß die Säfte der Heilkräuter sowie die Verreibungen der arzeneilichen Mineralien, dem gesunden Menschen einverleibt, Arzeneikrankheiten erzeugen, die zu den natürlichen im menschlichen Organismus auftretenden, in der Beziehung der ƒhnlichkeit stehen. Diese similitas medicinalis, die dem Paracelsus vollbekannt war und die auch Hippokrates erwähnt (er ließ sie aber liegen), ist keine ungefähre und unverbindliche, wie wen man sagt »dieser Mann sieht jenem andern ähnlich«, sondern sie trägt die Züge des Exakten wie in der Mathematik. ƒhnliche Dreiecke sind auch nicht aufs Geratewohl und Ungefähr ähnlich, sondern in bestimmter Weise, und ihre Winkel sind allemal gleich. So ist auch die ƒhnlichkeit, die zwischen der Arzeneikrankheit und der natürlichen besteht, eine im medizinischen Sinne exakte; Gleichheit kann es hier nicht geben, weil zwei empirische Dinge immer nur ähnlich sind. Daß aber diese similitas medicinalis eine Funktion hat und als Gesetz in die Natur eingebettet ist, das wird dadurch bewiesen, daß eine Krankheit dann und nur dann zur vollständigen narbenlosen Heilung, also zur vollen restitutio in integrum geführt wird, wenn der Kranke den Saft, desjenigen Heilkrautes zu sich nimmt, das beim Gesunden die ähnliche Arzeneikrankheit erzeugt. Daher ist der Satz »similia similibus curantur« das allein objektiv giltige Gesetz der Heilkunde, genau so, wie es das Gravitationsgesetz in der Mechanik des Himmels ist. Hahnemann hat diesen Satz, den Paracelsus verkündete und dessen innere Gesetzlichkeit ex implicite wußte, explicite als Lehre bewiesen. Er fügte dann, wie bekannt, noch die Entdeckung von der in Intervallen zunehmenden Arzeneikraft bei zunehmender Verdünnung an, die, gleichfalls ein paradoxes Phänomen, um die Grenze von 1:1030 herum vielfach den höchsten Grad von Wirksamkeit gewinnt. Hiermit ist ein Höhepunkt der Medizin erreicht, den es, um des genialen Gehaltes willen, noch zu kommentieren gilt.
Die Krankheiten kommen nach dieser Lehre also je zweimal vor, und zwar einander korrespondierend: einmal im menschlichen Organismus und ein andermal in den Arzeneien. Im Menschen werden sie subjektiv als Symptome empfunden und vom Arzte als Krankheitsbild gesehen; in den Arzeneien aber sind sie objektiv repräsentiert. Die Krankheit ist die Arzenei nach innen gewendet (»das umbewenden gibt der Artzt«, PARACELSUS). Während nun aber die Heilkräuter immer und notwendig Arzeneikrankheiten erzeugen - denn das ist ihr Amt und Wesen -, gibt es für das Entstehen der natürlichen Krankheiten keine Notwendigkeit. Ißt oder riecht der Gesunde Zwiebel (cepa), so stellt sich immer als Arzeneikrankheit »milder Tränen- und scharfer Nasenfluß« ein (nach PAUL DAHLKE), also das Simile zu dem, was man Schnupfen nennt. Es gibt aber nichts auf der Welt, wodurch ich mit Notwendigkeit einen natürlichen Schnupfen bekomme; denn wenn ich schon an einem kalten Novembertage im überfüllten Kupee mit lauter niesenden Leuten sitze und es außerdem noch »zieht«, so kann ich wohl, brauche mir aber keinen Schnupfen zu holen. Das macht: die Miasmen und der kühle Luftzug sind wohl die Ursache (causa), nicht aber der Grund (oªsia) des Schnupfens. Wenn ich in starker Verdünnung den Saft der Tollkirsche zu mir nehme, so entsteht immer und notwendig in mir die Arzeneikrankheit eine Gruppe schwerer Symptome die das Simile zu dem Krankheitsbilde sind, das der sogenannte »Scharlach« in gewissen Stadien seines Ablaufs bietet; wenn ich aber durch eine Seuchenbaracke gehe, ohne mich zu schützen, so kann ich wohl, brauche aber nicht an Scharlach zu erkranken, denn die Miasmen sind wohl die Ursache, nicht aber der Grund des Scharlachs. Die Frage also, wodurch Krankheiten überhaupt »verursacht« werden, ist niemals zu beantworten und ist auch zur Erkenntnis ihres Wesens sowie des Weges zu ihrer Heilung überflüssig; denn alle Ursachen sind occasionell. Entscheidend ist nur die Frage nach ihrem Grunde, und hier lautet die paradoxe Antwort des Paracelsus: die Krankheit stammt aus dem Grunde der Arzenei. Oder: Krankheit und Arzenei haben denselben Grund. Wohlgemerkt: nicht etwa der einzelne Tropfen Zwiebelsaft erzeugt den Schnupfen und der einzelne Tropfen Tollkirsche den Scharlach; denn diese bilden ja nur ganz flüchtige Arzeneikrankheiten, die der Organismus nicht wirklich annimmt, sondern das in der Tiefe der Natur ruhende, von daher wirkende Wesen ((ousia,  idea)) der Zwiebel oder der Tollkirsche, ihr »arcanum« ist der Grund der Krankheiten, für die sie das simile sind. Wenn es überhaupt keine Zwiebel gäbe, daß heißt, wenn das Schöpfungswort »und Gott ließ aufgehen allerhand Gewächs, ein jegliches nach seiner Art« über das »cepa« heißende Kraut nicht gesprochen wäre, so könnte kein Mensch in der Welt Schnupfen bekommen, es gäbe überhaupt keinen, mag es noch so sehr »ziehen«. Das Dasein aber der als »Scharlach« bezeichneten Krankheit ist im Dasein der Tollkirsche begründet und daran gebunden, so wie für jene schweren Melancholien, die den Menschen oft in den Selbstmord drängen, das Gold die Schuld trägt. Darum ist es auch so, daß die Zahl der Krankheiten und die Zahl der Arzeneien in einem festen Verhältnis zueinander stehen, nämlich in dem der Gleichheit. »Wer weist die Zahl der Krankheiten, denn der da weist die Zahl natürlicher Gewächs und natürlicher Arcanen? Nicht ist eins mehr dann des andern, nichts ist weniger das zu viel überbleibt als Tod allein, der in keine Zahl stehet« (Paracelsus: das Buch Paragranum, Diederichs, S. 67).
Wie es nun freilich kommt, daß der eine erkrankt und der andere nicht, daß hier der pathologische Kontakt zwischen dem Organismus und dem »Grunde der Arzenei« hergestellt wird und dort nicht, diese Frage kann niemand beantworten. Die Reihen der »Ursachen« führen ins Unendliche und geben nie echten Aufschluß, der Grund aber führt unmittelbar in die Tiefe der Natur; es sind Szenen, die sich im pathologischen Ort eines Menschen abspielen, über welchen Begriff man sich im »Traktat über die Heilkunde« orientieren möge; und wenn man hier das Wort »schicksalhaft« verwenden will, so sagt man damit auch nur, daß man nichts davon weiß. Ist aber die Krankheit ausgebrochen, so wissen wir seit Paracelsus-Hahnemann eines mit Sicherheit: wenn der Arzt zum Krankheitsbilde das simile in der Arzenei gefunden hat, so erfolgt von ihm aus die Heilung mit Notwendigkeit. Denn das simile ist nicht, wie die ƒhnlichkeit in der Geometrie, bloß mathematisch, also erkenntnishaft, sondern dynamisch.
Dadurch aber wird auch der Begriff der Notwendigkeit ins eigne Licht gesetzt. Er wird hier in derselben Bedeutung - die sich aufdrängt - gebraucht wie beim Gravitationsgesetz. Der Wind ist die Ursache dafür, daß der Apfel fällt; durch die Schwere aber fällt er mit Notwendigkeit; denn sie ist der Grund für den Fall. Erkennt der Arzt den Grund einer natürlichen Krankheit (sagt er also richtig statt: das ist »Scharlach«, »das ist morbus belladonnae«), und setzt er nun durch die empirischen Belladonna-Tropfen das Similitätsgesetz in Bewegung, stellt er also die dynamische Verbindung zwischen der Krankheit und dem Arcanum der Arzenei her, so setzt mit Notwendigkeit der Heilungsvorgang ein. Kraft seiner Schwere fällt mit Notwendigkeit der Meteor auf die Erde zu in dem Augenblick, da diese Schwerkraft die der Eigenbewegung übersteigt, der kulminierende Punkt erreicht ist: ob er aber die Erde als Ganzes erreicht, das ist eine andere Frage. Die Lufthülle der Erde tritt als hemmendes Moment entgegen, bringt die Masse des Meteoriten zur Entflammung, so daß er zu Staub verglüht und so in der Atmosphäre hängenbleibt; niemals aber hört er auf, der Schwere zu gehorchen. Ebenso kann der mit Notwendigkeit einsetzende Heilungsprozeß sein Ziel nicht erreichen, wenn vom Organismus her hemmende Gewalten auftreten. Hier sind etwa zu nennen: starke narkotische Durchsetzung, HAHNEMANNs »Psora«, oder der nur im Denken des Paracelsus beachtete ungünstige Gestirnstand; allzuweit fortgeschrittene organische Veränderung zwingt die Chirurgie zum Eingreifen, und endlich, wenn der Tod schon über den Menschen verhängt ist, so hilft kein Heilkraut mehr. Indessen ist die Wirksamkeit der Mittel, die nach dem Similegesetz richtig eingesetzt sind, weit größer, als es die gewöhnliche Medizin wahrhaben will. Man muß das mit eignen Augen gesehen haben; ich sah selbst einen etwa fünfigjährigen Mann röchelnd im Bett liegen mit den typischen Merkmalen der Agonie; nach Urteil der Mediziner hatte er eine »Lungenentzündung« und stand kurz vor dem Ableben. Ich hatte schon alle Anordnungen für diesen Fall getroffen und zweifelte keinen Augenblick an seinem baldigen Ende. Da erschien, kaum noch erwartet, doch noch der Arzt aus der Schule Paracelsus-Hahnemann, sah sich den Kranken an, der nicht mehr sprechen konnte, und sagte nur zu mir: »das ist morbus tartari emetici« und flößte ihm eine Gabe Brechweinstein (tartarus emeticus) ein. Die Wirkung war fast eine momentane zu nennen; die Symptome beruhigten sich, das Röcheln ließ nach, die Augen begannen wieder zu fixieren; jedenfalls ist der Mann nach einigen Tagen von seine Sterbelager aufgestanden und hat noch jahrelang gelebt, bis der Tod ihn, nach seinem verbrieften Rechte, von einer andern Seite packte.
Paracelsus hat erkannt, daß es nicht gleichgiltig ist, wie man eine Sache anredet, ja daß das ganze Schicksal der Wissenschaft davon abhängen kann, daß ein Ding beim richtigen Namen genannt wird. Die Benennungen der Krankheiten in der hergebrachten Medizin aber sind wahre Sackgassen. Teils besagen sie überhaupt nichts, wie etwa »Scharlach«, und könnten aus jedem Volapück-Wörterbuch aufgelesen werden; teils bezeichnen sie bloße organische Veränderungen wie »Perityphlitis«, »Pneumonie«, und man fragt sich dabei: was nun...? In diesen Namen steckt kein Gesetz, also sind sie blind und taub. Paracelsus aber erkannte, daß die Krankheiten von Natur aus »heißen«, daß sie einen richtigen Namen haben und daß dieser allein durch das Heilmittel gegeben ist, mit dem sie durch das Simile-Gesetz verbunden sind. Die hierfür maßgebende Stelle steht im Buche Paragranum, Seite 31 (Diederichs), und lautet:
»Aus dem folget nun, daß ein natürlicher wahrhaftiger Arzt spricht: Das ist Morbus Terpentinus, das ist Morbus Sileris montani, das ist morbus Hellebornius etc. Und nicht, das ist Phlegma, das ist brancha, das ist rheuma, das ist Coriza, das ist Catarrhus. Diese nammen kommen nicht aus dem grundt der Artzeney: denn gleich soll seinem gleichen mit dem namen vergleicht werden: dann aus dieser vergleichung kommen die werck das ist die arcana eröffnend sie in ihren Kranckheiten.«
Wenn ich also statt des leeren Wortes Scharlach sage: morbus belladonae, so habe ich damit das Gesetz angeredet, unter dem diese Krankheit steht, das aber heißt, daß mit dieser bloßen Umnennung auf einmal ein ganzes medizinisches Weltbild dasteht, das von da an in der Tat seine Giltigkeit hat. Es ist der selbe Vorgang, wie wenn Kopernikus die Erde einen Planeten nennt: in dem Augenblicke stand das astronomische Weltbild fest, das seitdem gilt. Man kann noch hinzufügen; die neue Namengebung des Paracelsus verläuft in Gleichklang mit der Achse der Natur, indem die Arzeneien der objektiven (makrokosmischen) Seite angehören. Das Objektive aber ist das Stärkere oder der »grundt«:
Das Schicksal der Medizin als Wissenschaft ist demnach so verlaufen, daß sie an der Stelle, wo sie am meisten ihrer eigentlichen Aufgabe, nämlich die volle restituio in integrum zu erreichen, gerecht wird, durch das Genie des Paracelsus nobilitiert worden ist. Alle ihre übrigen Gebiete kommen außerhalb der genialen Zone zu liegen und leben von der Hand in den Mund. Hier ist besonders der Chirurgie zu gedenken, die ja, wie der Name schon sagt, ein bloßes Handwerk ist, dessen wissenschaftliche Komponente Anatomie heißt. Auf diese ist niemals je das Auge des Genius gefallen, und obwohl sie beim akademischen Studium den größten Raum einnimmt, liegt ihre Hauptbedeutung doch eben darin daß der Chirurg bei der Operation richtig schneide. Daß aber eine Operation nötig war, besagt, daß die organischen Veränderungen jenen limes überschritten haben, bis zu welchem die natürliche Rückbildung in den gesunden Zustand noch möglich war. Daß dieser limes aber noch weit mehr hinaus liegt, als man im allgemeinen annimmt, das haben die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte mit der arzeneilichen Heilkunde bewiesen. Es soll hier natürlich nicht die Wichtigkeit der Anatomie bestritten werden, sondern nur ihre zentrale Stellung; sie liegt am Rande der Medizin. Angreifbarer sind schon alle diejenigen Verfahren, die es auf ein schnelles Kupieren lästiger Symptome abgesehen haben und die deren Verschwinden unter dem Druck meist chemisch hergestellter Mittel für »Heilung« halten. Allopathische Heilungen gibt es nicht. Warum es das nicht geben kann, das sieht jeder ein, der jenen Umschwung von Paracelsus-Hahnemann her verstanden und begriffen hat. Im einzelnen hat darüber Hahnemann im »Organon« geschrieben.

Die Medizin hat - so kann man es etwa ausdrücken -, um ihre Nobilitierung durch die Natur selbst wenigstens an einer Stelle durchzusetzen (die dadurch freilich ihr Zentrum wurde), sich eines Doppel-Genius bedient, des Paracelsus-Hahnemann. Ich bin zutiefst davon überzeugt, will es aber niemanden aufdrängen, daß das eine Person gewesen ist. Daß das Genie unmittelbar von der Natur belehrt wird und nicht aus Büchern, dieser Satz steht zwar fest; aber es ist doch auch wichtig zu erfahren, wie ein Thema gerade in dieses Leben und in diesen Mann hineinkommt und nicht in einen andern. Das Similie-Gesetz (similia similibus curantur) war von Hippokrates ausgesprochen worden: ((dia ta omoia nouson ginetai kai dia ta omoia prospheromena ek noseunton ugiainontai.)) Im Laufe von zweitausendvierhundert Jahren haben diesen Satz viele Tausende gelesen ohne jeden Erfolg, und auch Hahnemann las ihn. Bei ihm aber schlug er ein, und so kam es dazu, daß er, Hahnemann, den Beweis für das Similegesetz antrat, und zwar just genau dort, wo Paracelsus die Sache liegengelassen hatte. Diese Stelle aber ist jene Kerbe, die beim genialen Akt zwischen dem status concipiendi und dem actus demonstrandi heimlich eingebettet liegt. Paracelsus war eine volle Natur, mit urwüchsiger Kraft geladen, seine Sprache - Lutherdeutsch - barock, ungebändigt und gewaltig; man hört hier noch die Urtöne rauschen. Hahnemanns Deutsch ist gelehrtenhaft - dünn abgemessen, sparsam, fast dürftig, aber gerade gut, um etwas zu beweisen; sein Charakter steht im Zeitalter der Aufklärung. Die Werke des Paracelsus sind weitgehend durchsetzt von Schmäh- und Schimpfkanonaden »wider die Galenische Säu«, aber das klingt alles, wie wenn Falstaff über die Bühne tobt. Auch Hahnemanns Schriften sind polemisch, aber eben nur dies; er hält Maß, soweit es geht. Aber er steckt in nuce darin doch schon jener Ton, den der Chorus kleiner Homöopathiker später anstimmen wird; man wittert Sektierergeifer. Des Paracelsus Frömmigkeit ist mittelalterlich mit einer offenen Tür zu Luther hin - im Zweifelsfalle also lutherisch. Hahnemann aber ist schon überzeugter Protestant, was bei ihm eine entscheidende Schwächung des Religiösen bedeutet.
Indessen, all diese unter dem Druck der Zeitsignatur herausgekommenen Verdünnungen und Verkühlungen des Geistigen sind gerade eben das, was nötig ist, um einen actus demonstrandi zu vollziehen. Das aber kann man nur, wenn der Stoff, der den status concipiendi erfüllt, da ist. Nun war Paracelsus gerade so weit gekommen, den großen durchbrechenden Vorstoß zu machen, jene kopernikanische Umwendung und Verlegung des Standortes, also die Hauptsache an der Entdeckung des Similegesetzes: die Benennung der Krankheiten nach den Heilmitteln. Er ist daher der Träger des status nascendi und auf ihm liegt der Schwerpunkt; er wußte natürlich alles, aber er brachte es nur zur Verkündung, weil seinem Jahrhundert die Denkart des exakten Beweises nicht geläufig war. Nun frage ich: wie kam eigentlich Samuel Hahnemann dazu, im Jahre 1790 - wie seine Schüler sagen - das Similegesetz zu »entdecken«? Oder, wie ich einschränkend sage: den actus demonstrandi, also den zweiten Akt eines genialen Prozesses, zu vollziehen? Etwa weil er jene Worte bei Hippokrates gelesen hatte? Das wäre bestenfalls die Ursache, aber nicht der Grund: Oder weil er die Werke des Paracelsus gelesen hatte? Er hat das kaum getan, und wenn doch. So konnte er, im Denkstil des achtzehnten Jahrhunderts befangen, daran gar keinen Geschmack finden. Sondern er konnte den actus demonstrandi an dem Torso des Paracelsus deshalb vollziehen, weil er - Paracelsus war. In ihm, in seinem Unbewußten war das aufgehoben geblieben, was damals vor Jahrhunderten, aus Denkstil-Gründen, nicht konnte vollzogen werden. So trat Samuel Hahnemann ein Erbe an, das von ihm selber stammte.*
 

15. EPILOG ÜBER NATÜRLICHE RELIGION
Durch den nobilitierenden Akt des Genius wird aus einem rohen Wissensgebiet Wissenschaft. Bei Platon heißt dieser Unterschied doxa gegen episteme, im Russischen prawda gegen istina («prawda ó das ist: kann sein, kann aber auch sein nicht; istina ó das ist: muß so sein!«, so erläuterte mir einst in meinem Garten ein russischer Soldat den Unterschied mit leuchtenden Augen)...In der Medizin hat der Genius eingegriffen durch das Doppelgestirn des Paracelsus-Hahnemann. Die Medizin aber - und darum verlohnt sich unser langer Aufenthalt - ist auf das engste und im Innersten verwandt mit der Religion. Jene hat es mit dem Organismus des Menschen zu tun, die Religion aber mit dem Menschen selber. Sie faßt ihn daher im Ganzen als krank auf und stellt die Frage nach der gratias medicinalis. Gibt es, von der Natur selber gereicht, ein Mittel, durch das der Mensch im selben Sinne eine restitutio in integrum erlebt - die hier »Vergebung der Sünden« heißt - wie jene narbenlose Wiederherstellung des Organismus? Dabei ist die Krankheit des ganzen Menschen eben keine organische, sondern eine metaphysische durch Schuld und Unglück, die aber weit peinigender ist als jene; Orestes und Hiob sind hier die tragenden Gestalten. - Damit ist das Thema der natürlichen Religion getroffen. »Natürliche Religion« ist nicht zu verwechseln mit Naturreligion (wenn also jemand die Sonne oder das Feuer als heilig verehrt, oder die aus dem Fenster gesehene Natur überhaupt, wie das unsere braven Monisten taten), auch nicht mit einfacher, dem gemeinen Menschenverstande angepaßter Religion; sondern dieses Wort bedeutet, daß die Religion ihren Grund in der Natur habe, so wie wir es früher in der Ethik ausführten, die wir auch »natürlich« nannten. Gibt es das, so ist Religion unvermeidlich, kann gar nicht aufgehalten werden, so wenig, wie man den Heilungsvorgang im verletzten Organismus aufhalten kann. Das heilende Harz strömt weiter an die verwundete Stelle des Baumes, ob der Baum »will« oder nicht; und auch, was er etwa denken könnte, würde den Vorgang selber nicht aufhalten. - Gibt es das aber nicht und ist Religion statt dessen ein Gebilde des Intellektes (oder dessen abgeschatteten Nebengebildes, des subjektiven »Glaubens«), um das Dasein und den Sinn der Welt zu erklären, oder ethisch-religiöse Vorschriften zu erlassen »innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«, dann gibt es keine Religion; denn alle diese Gebilde sind dialektisch, das heißt also widersprüchlich, und sie wäre dann in der Tat »Opium fürs Volk«.
Bis an diese harte Grenze muß man die Frage treiben, sonst kommt keine Klarheit hinein, und die ständige Vermengung von Religion und Weltanschauung nimmt kein Ende. Weltanschauung ist das, was das Wort sagt, Religion aber ist Vorgang, reines Ereignis der Natur. Und zwar gehört er, als ein höheres genus zwar, aber doch in der Sache identisch, in eine Reihe mit den organischen Heilungsvorgängen; denn die Natur arbeitet stets mit denselben Mitteln. Zudem weiß man, daß organische Krankheiten auch unmittelbar, unter Auslassung der Medizin, durch religiösen Eingriff geheilt werden können. Nur sind freilich bei der Religion Mittel aus dem tiefsten fundus im Gange. Der organisch kranke Mensch sucht sich instinktiv die Heilkräuter, die seine Krankheit fordert, und er findet auch manchmal die richtigen, manchmal die falschen; er wendet sich auch mit Vorliebe an Personen, die für dieses Kräutersuchen besonders begabt sind; durch das Auftreten des Genius aber wird das Kräutersuchen unter das Similegesetz gestellt, das Notwendigkeit enthält. Von hier an ist Wissenschaft da, und mit ihr das Optimum an Heilerfolg erreicht. Genau so geht es mit dem metaphysisch kranken Menschen (also mit jedem). Von jeher hat er Heilung vor dem Andrange dämonischer Mächte gesucht, deren er nicht Herr werden konnte, und ist dabei auf die absonderlichsten Praktiken verfallen. Hin und wieder haben die verschiedenen Opferhandlungen, Sühnemittel, heiligen Gesänge und Zaubersprüche auch geholfen - aber bei Orestes zum Beispiel nicht. Indessen, das waren alles tastende Versuche im Bereiche der doxa. Nun ist aber auch die Religion in die geniale Phase eingetreten, genau wie die Medizin, hat »Wissenschaftscharakter« bekommen und damit ihr Optimum erreicht. Das geschah aber nicht in Indien, wo alles scheinbar so wissenschaftlich hergeht, sondern in Palästina. Damit ich nicht mißverstanden werde: da die Religion ja der Heilungsvorgang der Natur ist, so kann sie nicht Wissenschaft im gewöhnlichen partiellen Sinne sein. Aber da der geniale Vorgang historisch da ist und weil das Genie in seiner Grundstruktur immer die gleiche Qualität hat, so entstand hier doch ein religiöser Bewußtseinszustand, der gegenüber den früheren Versuchen siegreich durchdringt. Da nun jene Nobilitierung der Wissenschaft dadurch geschieht, daß die Natur von sich aus (ex objecto) in einweihender, offenbarender Weise auf den Genius drückt, diesen in Erregung versetzt, (theia mania, status nascendi) und ihn durch den actus demonstrandi nötigt, Rechenschaft zu geben, so werden wir erwarten müssen, daß auch in der Religion der Genius, welcher hier den Namen Prophet trägt, den Inhalt durch Offenbarung erfährt. Und so ist es in der Tat. Also, umgekehrt wie die gewöhnliche Meinung annimmt, sind nur diejenigen Religionen wurzelecht, die offenbart sind, und die diesen Vorgang nachweisen können. Aus der Offenbarung aber folgt ihre Bestimmtheit. Das heißt: nicht allgemeine Religiosität ist Religion, nicht frei empfundene, ersonnene oder erdachte, sondern nur offenbarte und bestimmte. Das aber heißt dogmatische. War unser Bild vom Genius richtig gezeichnet, so ergibt sich diese unzeitgemäße Folgerung unausbleiblich.
Ein tiefgreifender Unterschied aber zur Wissenschaft ist der, daß bei der Religion der actus demonstrandi die Grenze der Verkündigung nicht überschreiten darf. Die Verführung dazu ist ständig da, und die Kirche verfiel ihr, als sie jenen berühmten Auftrag an die Philosophie vergab, der sich dann als Scholastik auftat; je mehr dieser Verführung nachgegeben wird, umso mehr nimmt die Heilkraft der Religion ab. Denn in den Worten der Verkündigung, die durchweg sakraler Natur sind und nicht der Verständigung dienen, ist das Heil in gleicher Weise enthalten, wie das Arcanum in den Heilkräutern; diese aber sind nur natürlich wirksam.
Eine letzte Frage drängt sich auf: ob es in der Religion ähnlich hergegangen ist wie in der Medizin, in der bei Paracelsus-Hahnemann der volle Durchbruch gelang, so daß man sagen muß: hier ist die wahre Heilkunde, und nicht woanders. Diese Frage muß bejaht werden und zwar so, daß in den Propheten Israels, die wir als christliches Archaicum auffassen, jener Durchbruch geschah, sowie schließlich in der Person Christi selbst, die metaphysisch anders bestimmt ist als andere Personen, und die - was für ein Wort! - das experimentum crucis vollzog.
 

16. DIE SCHÖNHEIT IN DER ORDNUNG DES INTELLEKTES
(METAPHYSIK DER KUNST)
Echtes Organ der Natur ist der Genius auch im Falle der Dichtung, wie überhaupt der Kunst. Nur wird hier begreiflicherweise unser Prüfstein, vor allem die paradoxe Subsumtion der Begriffe, versagen, eben deshalb, weil die Dichtung niemals aus den Begriffen stammt, sondern unmittelbar aus den Ideen auf rätselhafte Weise - mirabili et ineffabili modo - in die Sprache übergeht. Ohne Zweifel aber gibt es auch hier sichere Kriterien dafür, ob jemand Dichter ist oder nicht. Wenn das nicht stillschweigend zugegeben würde, so hätte es keinen Sinn, Litteraturgeschichten zu schreiben, die ja doch werten; auch Werke über Malerei und Plastik würden dann soviel bedeuten wie Bücher über gutes und schlechtes Essen. Das ist aber nicht der Fall, sondern die Werke über Dichtung und bildende Kunst - deren einige unsere höchste Bewunderung erregen - setzen voraus, daß der Genius nachprüfbar ist wie das Gold beim Juwelier. Und das ist auch der Fall, nur sind die Kriterien anderer Art wie die beim Genius der Erkenntnis. Ein Federstrich Lionardos ist immer Kunst, und der gleiche von einem Manne, der rührende Hirsche im Walde getreu nach der Natur malt, ist es niemals; das geht hart auf hart.
KANT hat in der »Kritik der Urteilskraft« den Gedanken klar ausgedrückt: wenn ich sage: »Dieser Wein schmeckt mir«, so verlange ich von meinem Nachbar nicht, daß er ihm auch schmecke, sondern ich weiß, daß dieses Urteil subjektiv ist und auf den angenehmen Empfindungen meiner Zunge beruht, nicht seiner. Sage ich aber: »Dieses Bild ist schön«, so spreche ich ein Geschmacksurteil aus, mit dem ich sagen will, daß es objektive Giltigkeit habe. Während ich also im Falle des Weines der Meinung bin, »de gustibus non est disputandum«, meine ich das hier nicht, sondern ich halte stillschweigend jeden für einen Banausen, der dieses Bild nicht schön findet. Ob ich damit gerade in diesem Falle recht habe oder nicht, ist eine andere Frage, auch die, ob es überhaupt gelingt, einen bündigen Beweis für die Objektivität der einzelnen Geschmacksurteile zu finden. Tatsache ist nur, daß sie seit jeher gefällt werden, und daß in ihnen allemal der stillschweigende Anspruch auf Objektivität enthalten ist. Die gesamte Kunstwissenschaft (ƒsthetik) beruht auf diesem Anspruch, der sich sua sponte einstellt, denn sonst hätte sie keinen Sinn. Objektive Giltigkeit aber heißt: Giltigkeit, die vom Objekte selber stammt und von ihm besiegelt wird (heißt nicht etwa juristische Objektivität zwischen zwei Parteien).
Darum gibt es auch keine falschere Definition der Kunst als die von ZOLA, wonach sie Natur sei, »gesehen durch ein Temperament« (vue à travers un temperament). Denn es ist nicht einzusehen, wie ein bloßes Temperament, ein subjektiver Seelenzustand also, den Maßstab für die Schönheit abgeben solle: diese Temperamente wären doch nur Brillen »à travers« man sich die Natur ansähe; wieso aber wäre dann das Martyrium unzähliger Künstler, von denen wir mit Bestimmtheit wissen, daß sie um der Kunst - nicht um ihrer Brille - willen gehungert und gedürstet haben; das aber tut man nicht für ein subjektives Temperament! Sondern all diese Menschen hatten das bestimmte Bedürfnis, daß sie im Dienste einer Sache standen, deren Grund nicht bei ihnen liegt. In der Kunst, das weiß jeder Künstler, manifestiert sich die Natur selber in einer besonderen Weise, die das Schöne und das Erhabene in sich schließt, was keine Menschenseele und kein Temperament aus sich heraus erzeugen kann. Dadurch sind ihre Genien genau so Organe der Natur, wie es die der Wissenschaft sind. - Man kann (und das ist geschehen) behaupten, daß es die tiefstmögliche Weise ist, in der die Natur sich offenbart und ausschüttet; Nietzsche und George dachten so. Dann wäre das Moralische ein Randphänomen, das ebenso hätte ausbleiben können und das im Altertum auch ausgeblieben ist. Man könnte auf dieser Basis eine Renaissance des Heidentums begründen, und etwas in uns wünscht ständig, daß das möglich wäre. Haltbar aber wäre diese Gründung nur dann, wenn die mit dem klassischen Altertum etwa gleichzeitig, aber ohne Berührung mit ihm sich abspielenden Vorgänge in Palästina bloß empirischen Ursprunges wären und nicht reine Ereignisse der Natur.
Hier wäre nun, was die Schönheit angeht, für die Philosophie der Ort, einen Wissenszweig abzuspalten, dessen Aufgabe es ist, jene objektive Begründung der Kunst in der gleichen Weise wie bei der Wissenschaft klarzulegen, und dieser Zweig müßte den Namen »transzendentale ƒsthetik« tragen. Allein wie man weiß, ist dieser schon durch eine gänzlich andere Bedeutung bei Kant in Anspruch genommen. Denn das ist die Überschrift des ersten Buches der »Kritik der reinen Vernunft«, »der Edelstein in Kants Ruhmeskrone«, wie SCHOPENHAUER, etwas überschätzend, sagt. Wir müssen also statt dessen die Bezeichnung »Metaphysik des Schönen« annehmen, obwohl transzendental und metaphysisch nicht dasselbe sind. Damals aber, als Kant das schrieb, war die Bedeutung des Wortes »ƒsthetik« im Sinne von Kunstwissenschaft noch nicht im Schwange, und er polemisiert sogar gegen diesen Gebrauch des Wortes, indem er sich auf die Bedeutung beruft, die es bei den Griechen gehabt hat; denn bei ihnen hieß »((aisthsis))« etwa Empfindung, bestenfalls Wahrnehmung und hat nichts mit dem Schönen zu tun. Indessen, diese zweite Bedeutung setzte sich durch, und sieben Jahre später in der »Kritik der Urteilskraft« nimmt er sie an; so heißt auf einmal »ästhetische Urteilskraft« das, was wir heute davon erwarten, nämlich Urteilskraft in Sachen der Kunst.
Kant fügt sich also dem Sprachgebrauch und zwar sehr sinnvoll; denn er hat inzwischen gefunden, daß jeder empirische Gegenstand in drei verschiedenen Arten auf das Subjekt einwirken kann: auf das Erkenntnisvermögen, das Begehrungsvermögen (ein zopfiger Ausdruck für das, was wir seit Schopenhauer einfach den »Willen« nennen) und auf das ästhetische Gefühl, dessen logischer Bestandteil das Geschmacksurteil ist. Nun zweifelt er natürlich keinen Augenblick daran, daß die Blume wirklich da ist und nach Naturgesetzen lebt, auch nicht, daß ihr angenehmer Duft durch reale Duftstoffe in der Nase erzeugt wird. Sehen wir aber, wie er sich das Problem verdirbt, wo es um die Schönheit geht! Er schreibt den herrlichen und wahrhaft tiefsinnigen Satz: »Sagen: diese Blume ist schön, heißt eben soviel, als ihren eignen Anspruch auf jedermanns Wohlgefallen ihr nur nachzusagen. Durch die Annehmlichkeit ihres Geruches hat sie gar keine Ansprüche.« (Kritik der Urteilskraft § 32. Sperrung von mir.) Man hört ordentlich aus diesen glasklaren Sätzen zwar nicht die einzelne Blume, aber ihre Idee »den Anspruch stellen«, daß man ihre Schönheit anerkenne; das aber setzt voraus, daß dem im ästhetischen Gefühl als Schönheit Ankommenden etwas Reales entspricht, das in der Idee enthalten ist - denn sonst könnte es nicht ankommen. Schön aber ist, »was ohne Begriff als Gegenstand eines notwendigen Wohlgefallens erkannt wird« (K. U., § 22) - wieder ein Hieb, der transzendental sitzt. Keine Metaphysik des Schönen wird je ohne diese Kern-Sätze KANTs bestehen können. Aber nun kommt das graue Elend: »Das Geschmacksurteil bestimmt seinen Gegenstand in Ansehung des Wohlgefallens (als Schönheit) mit einem Anspruche auf jedermanns Bestimmung, als ob es objektiv wäre« (Sperrung von mir). In diesem »als ob« liegt die ganze Wirrnis, die Kant hier und anderswo angerichtet hat. Dem ästhetischen Gefühl entspricht also - nichts! Das sage man einmal einem Künstler, der für seine Sache hungert und dürstet! Es ist geradeso, als wolle man sagen: der Stein fällt auf die Erde, »als ob« er schwer wäre, Lionardo greift nicht zum Pinsel, »als ob« es Schönheit gäbe, sondern weil es sie gibt, und der Stein fällt, weil es Schwere notwendig geben muß. Oder man muß sagen: Lionardo hat bloß Spaß gemacht, und demgemäß sind alle seine Werke nur Ausspinnungen privater Seelenzustände, Natur vue à travers un tempérament.
Daß dieses »es gibt« der Schönheit nicht von demselben Genus ist wie das der Farben, versteht sich von selbst. Aber jene Blume Kants, die »ihren eignen Anspruch stellt«, tut das ja auch nicht als Einzelexemplar, unter dem principium individuationis, sondern aus dem archetypischen Potential der Natur. Dort aber lagert die Schönheit wirklich und nicht »als ob«, wobei alle Bemühungen der Künstler, sie im Werke darzustellen, stets mißlingende actus demonstrandi sind. Nach KANT aber ist die Schönheit »bloß eine Idee«. Oder wie...? Stehen die Sphingen am Nil und die Tempel an den Küsten des Mittelmeers, die Standbilder und die Dome deswegen da, weil irgend jemand eine »bloße Idee« aus sich herausgesponnen hat, die er vorher in seinem Gemüte aus unbekanntem Stoff erzeugte? Oder: weil die Natur selber kraft eigner Freiheit und vermittels des Genius sie schuf? Wo käme die staunende Verehrung her, die seit Jahrtausenden diesen Werken gilt, wenn sie nicht den wirklichen Stempeldruck der Natur in einem ihrer tiefsten Offenbarungsakte an sich trügen, sondern irgendeinen hergelaufenen »Als - ob« ihr Dasein verdankten? Es verlohnte sich gar nicht, hinzusehen. Lebten Homer und Dante für ihre eignen fixen Ideen, die sie aus sich heraus erzeugten, oder wurden sie von der Natur her gelebt, die ihnen undurchdringliche Aufträge gab? Aber auch die Lyrik, in der es doch dauernd »ich« heißt, ist doch, wenn sie Kunst ist, nicht um einen Deut weniger objektiv, als die Ilias oder der Hermes des Praxiteles, und nur die volle Bewältigung wirklich zugeworfenen Gutes macht die Größe und das Wunderbare an ihr aus. - »Wir wissen von vielen der größten bildenden Künstler, und zwar solcher, die die strenge Stilisierung, die souveränste Umformung des Gegebenen übten, daß sie sich für Naturalisten hielten, ausschließlich das, was sie sahen, abzuschreiben meinten. Tatsächlich sehen sie von vorneherein so, daß es zu dem Gegensatz innerhalb des unkünstlerischen Lebens, zwischen der inneren Anschauung und dem äußeren Objekt gar nicht kommt. Vermittels der geheimnisvollen Verbindung des Genius mit dem tiefsten Wesen alles Daseins ist sein gänzlich individuelles...Sehen...die Ausschöpfung des objektiven Gehaltes der Dinge« (SIMMEL: »Kant und Goethe«, S. 25). Und so ist es auch. Wir haben allen Grund, diesen Aussagen der selbst betroffenen mehr zu glauben als den Überlegungen eines noch so großen Mannes, der immerhin von dem Verdachte nicht frei ist, nie eine Blume wahrhaft schön gehalten zu haben.
Diese Art, vom Subjekte her zu philosophieren, ist es, die die Philosophie in Verruf gebracht, ja an den Rand der Lächerlichkeit getrieben hat. Man hat sich am Worte »Idee« sakrilegisch vergriffen. Solche Ausdrücke wie »Vernunftidee«, »bloß eine Idee« und deren Variationen, wie sie bei Kant an den entscheidenden Stellen fast auf jeder Seite vorkommen, dürften die Lippen eines Philosophen gar nicht überschreiten können, ohne sie zu verdorren. Denn wie kann man mehr sein als eine Idee! Auf diesem Wort liegt PLATONs bannende Zauberformel vom »seinhaft Seienden«, womit unter anderem das letzthin Objektive ausgedrückt ist, und jeder Versuche, es ins Subjekt zu verlagern, hat eben jene Deklassierung der Philosophie ins Reich der Verstiegenheiten zur Folge, die man besonders am Beispiel des sogenannten »deutschen Idealismus« studieren kann. Eigentlich wollte Kant das ja gerade verhindern und in seiner Theorie der Erfahrung gelang es ihm auch, aber in der ƒsthetik, der Ethik und in seiner Religionslehre treibt der »Idealismus« von neuem aus und verdirbt ihm die Probleme. Es wird alles unnatürlich.
Nun haben z. B. die großen Engländer, Kants eigentliche Lehrmeister, mit dem Worte »Idee« noch weit größeren Mißbrauch getrieben. Bei John Locke ist alles »idea«, was nur überhaupt ins Intellektuelle schlägt: Vorstellungen, Empfindungen, Wahrnehmungen, Begriffe, Halluzinationen - alles trägt diesen Namen wild durcheinander; hier ist die Unordnung so weit getrieben, daß sie schon beinahe nicht mehr auffällt. Bei David Hume liegt der Fall milder. Aber eines haben die Engländer nie getan: sie haben nie die Vernunft, die ja die »ideas« trägt, schöpferische Eigenschaften beigelegt; sie haben diesem virginalen Teil des Intellektes nie eine Parthenogenesis untergeschoben, was ja eben der »deutsche Idealismus« tut, und wodurch jene eigentümliche Donquichotterie entsteht, die eben nur bei ihm zu Hause ist. Das kommt daher: die englischen Philosophen waren Weltmänner, was man von Kant eben nicht gerade sagen kann. Sie sind mit ihrer Philosophie, die allerdings jene Tiefenschicht nicht erreichte, an die Kant stieß, niemals lächerlich geworden. Zopf und Pedanterie, die den Leser bei großen Partien des kantischen Werkes oft zur Verzweiflung bringen, sind den Engländern fremd. Daß sie im übrigen andere Untugenden haben, soll nicht verschwiegen werden, wie ja überhaupt das nationale Element stets ein trübendes, nie erleuchtendes ist. Die Philosophie soll auch keinen Erdgeruch an sich haben, sondern nach dem Himmel schmecken, der über allen Erden ist.
 

17. DER FORTSCHIRTT DER WISSENSCHAFT UND DAS ENDE DER ASTRONOMIE
Das allgemeine Urteil über Kunst und Wissenschaft lautet so, daß die Kunst nur solange da ist, als der Genius lebt, aus dem sie quillt, während die Wissenschaft, einmal in der Menschheit angeregt, einem ständigen Fortschritte unterliegt, der unaufhaltsam ist, und den man dann mit dem Fortschritt des Menschengeschlechtes gleichsetzt. In der Tat: die große Zeit der antiken Plastik wird begrenzt durch Phidias, mit dem sie anhebt, und etwa durch den Pergamenischen Altar, mit dem sie erlischt, weil der Genius sie verließ. Das Epos ist an einzelne Dichtergestalten gebunden, und man weiß ganz gut, daß das reine Glücksfälle sind, von denen keiner den Homer erreicht. Die Lyrik hat bisher am wenigsten nachgelassen, und es gibt heute lyrische Dichter, die sich den größten an die Seite stellen dürfen; ihr scheint in ewiges Leben verliehen. Die tempelbauenden Mächte sind längst erlahmt; jedermann weiß, daß man heute keine gotischen Dome mehr bauen kann, und das Goetheanum in Dornach wird niemand für große Architektur halten. Die Kunst also lebt davon, daß der Genius sie nicht verläßt; damit hat das allgemeine Urteil recht.
Bei der Wissenschaft aber liegt die Sache anders. Man kann deren Fortschritte unmöglich leugnen, denn wir können heute weit mehr Chemie als Lavoisier, und im Vergleich zu dem, was jeder durchschnittliche Astronom heute vom Weltall weiß, ist Kopernikus ein Waisenknabe. Aber irgend etwas sträubt sich in uns, diese chemische und astronomische Vielwisserei in einen Rang mit den wissenschaftsgründenden Genien zu setzen, von denen sie lebt. Es gibt in der Tat Höhepunkte der Wissenschaft, so fühlt man unwillkürliche, wenn man an die großen Namen denkt. Dieses Gefühl könnte es aber nicht geben, wenn die Wissenschaft in ihrer ganzen Substanz, durch jedermann förderbar, fortschritte. Das tut sie auch nicht, sondern dieser Trug wird vielmehr durch einen ihr - nicht der Kunst - eigenen Mechanismus erzeugt, der ihr Bild trübt. Sie hat nämlich die Eigentümlichkeit, in actu demonstrandi Methode abzuwerfen. Das heißt, es entsteht sehr schnell eine systematische Ordnung, die a priori ist und durch welche jedermann befähigt wird, Wissenschaft zu treiben. Durch sie läuft die Wissenschaft weiter, auch wenn der Genius sie längst verlassen hat. Jedermann konnte den Neptun entdecken, nachdem durch das Gravitationsgesetz die Ablenkung der Uranusbahn in festen kausalen Zusammenhang gebracht war, und die Entdeckung des Uranus selber war die Wirkung des von Herschel konstruierten Spiegelteleskopes. Aber beides erregte Aufsehen. Die Planetenjagd wurde dann später als Sport betrieben, bis sie, in der photographischen Methode, schließlich von jedem Angestellten eines Observatoriums durchgeführt werden konnte. Die weiter Bearbeitung übernehmen dann die Recheninstitute, wahre Marterkammern des Intellektes. Aber zu sagen: »Die Erde ist ein Planet« oder »Der Mond fällt wegen seiner Schwere - nicht«. Das konnte nicht jedermann, denn das geschah ohne Methode und vor ihr.
Wenn man sich mit einem durchschnittlichen Astronomen der heutigen Tage - und die Natur läßt nur noch durchschnittliche zu - unterhält, so fällt einem das vom Erhabenen seines Gegenstandes gänzlich Unberührte auf. Wir stoßen auf eine gähnende Leere, eine tiefe Gelangweiltheit, die wir uns bei den großen Astronomen der klassischen Zeit gar nicht vorstellen können. Das kommt daher: die heutigen leben nur noch in der Methode - die erlernbar ist -, jene aber vom Gegenstande selber, der sich ihnen als Objekt entgegenwarf. Kann man sich den Scheiterhaufen Giordano Brunos in dieser Phase des rapiden Fortschrittes der Wissenschaften überhaupt nur vorstellen? Oder das »e pur si mueve« des GALILEI? Oder kann man sich denken, daß jemand eine umstürzende, die Natur des Menschen bedrohende Entdeckung macht und in tiefster Besorgnis darum, ob eben diese Menschheit durch sie nicht vielleicht ihres Seelenheiles verlustig gehen könnte, sich ständig weigert, sie als Buch herauszugeben, bis ihm schließlich das erste gedruckte Exemplar noch gerade eben auf dem Sterbebette gereicht wird? So aber handelte Kopernikus. Unser anonymus aber würde sich die Beine ausreißen, um den besten Verleger zu finden, damit nur ja die Menschheit nicht um einen weiteren Fortschritt der Wissenschaft betrogen werde. Das sind doch Unterschiede, die auffallen müssen, und die sich schon sehen lassen können. Warum ist das riesenhafte Mehr an Wissenschaftsmaterial, das die moderne Astronomie gegenüber ihrer klassischen Phase besitzt, in Wirklichkeit ein Weniger an bildendem Geistesgut? Wir antworten: aus demselben Grunde, aus dem römische Kopisten und moderne Epigonen der Antike keine Phidias und Praxiteles sind; der Genius hat die Wissenschaft der Astronomie genau so verlassen wie die griechische Plastik, und der Schein eines objektiven Fortschrittes entsteht allein durch die Methode. So wie die hohe Zeit der antiken Plastik von Phidias bis zum Pergamenischen Altar reicht und nicht weiter, so reicht die der Astronomie von Kopernikus bis Newton. Haarscharf hört sie hier auf, und Herschel, der Planetenjäger, steht bereits auf der anderen Seite. Von da an arbeitet die Astronomie im Dienste des verehrten Publikums, zu dessen Wissensbereicherung, und damit es immer genau weiß, wie spät es ist. Bis dahin aber hatte sie den Auftrag, den Begriff des Unendlichen als Erlebnis in die Menschheit einzuprägen.
Den hatten freilich schon die Griechen mit ihrem apeiron, aber sie regten sich nicht darüber auf; ihre euklidische Seelenverfassung hinderte sie daran. Der Abendländer aber von Luther an (der noch nicht dazugehört) wurde durch diesen Begriff geradezu umgewandelt. Er stürmte damals von zwei Seiten auf ihn ein: in der anschaulichen Welt durch die Astronomie und in der begrifflichen durch die beiden großen Mathematiker Descartes und Leibniz. Daß hier eine vollständige Umbildung des inneren Habitus sich vollziehen mußte, mit allen Gefahren für den Seelenzustand und das religiöse Weltbild, das ahnte Kopernikus, und daher kam seine Scheu vor der Preisgabe seiner »Revolutiones«. Ob diese Gefahr bestanden wurde, das steht heute noch in Zweifel. Denn daß das Unendliche anschaulich unmöglich, gedacht aber notwendig ist, das ist ein Konflikt, der nicht durchzuhalten ist, und der, einmal erlebt, seine umbildende und hohlraumschaffende Tätigkeit nicht mehr unterbricht. Dies alles aber, wovon wir hier reden, schafft nur die geniale Phase einer Wissenschaft, während welcher das Objekt selber sich noch entgegenwirft und sich seine Organe unter den hierzu auserwählten Menschen schafft. Es ist der Gnadenzustand der Wissenschaft, genau so wie in der Kunst; er hält an, solange die Natur will, und er hört auf, wenn der Mensch etwas will; der redet dann vom »Fortschritt«, und zwar von seinem. Aber er bemerkt nicht, daß er damit in den Hohlraum fällt, der sich, als Korrelat zum unendlichen Weltraum, in ihm aufgetan hat.
Niemand wird leugnen, daß in der Astronomie seit Newton kein Genius mehr erstanden ist; die Vorherrschaft der Methode leistet dann die Phase der Verbürgerlichung ein, zu der auch die Verweltbürgerlichung gehört. Wissenschaft als Erhöher und Versucher des Menschentums hört damit auf. Und wenn schließlich immer noch ein Abglanz von Würde in einer Wissenschaft verbleibt, so stammt der allemal aus jener Phase, in der sie wirklich, vom Objekt her, an den Menschen herantrat und ihn bedrohte, genau so wie es die Schönheit tut.
Es gibt daher eine »Geschichte der Wissenschaft« vom Standpunkte der Methode aus gesehen. Nach dieser weiß die Menschheit am Anfang sozusagen nichts und am Ende alles. Dann aber gibt es noch eine andere, latente, die den wirklichen Hergang darstellt. Diese zeigt die oft sehr dünnen und nur dem ebenbürtigen Auge sichtbaren Brücken auf, die von einem Genius zu andern geschlagen sind. Die Stelle, an der Kant den Begriff der Materie aufgreift, von Newton kommend, ist eine solche Brücke. Hier schlägt die Wissenschaft in die Philosophie ein, beide noch in den Händen des Genius, und stärkt die weltbildschaffende Kraft der kantischen Philosophie: ob hinreichend, ist freilich eine andere Frage. Jedenfalls greift das newtonische Gedankengut sowohl in die transzendentale ƒsthetik wie in die Logik ein und von hier aus erhebt es sich verjüngt von neuem. Vom Standpunkte der Methodik, deren menschliche Vertretung die Gelehrsamkeit ist, sieht es so aus, als ob die gründenden Genien nur kleine Angestellte im namenlos fortschreitenden Wissenschaftsprozeß seinen, in dem man dort gern auf die Verdienste der »Vorgänger« hinweist. Und es mag auch manchmal so scheinen, als ob das berechtigt wäre, denn wenn man etwa sieht, was alles ausprobiert worden ist, um von der verwickelten Epizykel-Rechnerei loszukommen, so scheint es so, als ob dem Kopernikus nur eben gerade durch Zufall die richtige Lösung eingefallen sei; bei Newton ist es ebenso. Allein wenn man die Sache von nahem betrachtet, so ist es eben doch nicht so, und gerade die Worte »Zufall« und »Einfall« sagen alles. Sie sind ja sprachlich beinahe Übersetzung und Kommentar des Wortes »Objekt«, das »Entgegenwurf« bedeutet. (Ein Witzbold dagegen übersetzte etwas gewaltsam »Methode« mit »Umweg«.) Darin aber liegt alles. Denn das Genie hat in Wirklichkeit gar keine Vorgänger im eigenen Fach; der geniale Prozeß spielt sich in statu nascendi nicht ab, sondern ist natur-unmittelbar. Die Vorarbeiten anderer stehen zum Entdeckungsakt nicht im syllogistischen Verhältnis, sondern in dem von Reizursache und Reiz, das ist das Merkwürdige. Der »fallende Apfel« war wichtiger als die Vorarbeiten. Ein kluger Mann hat einmal diesen eigenartigen Zu-Fall mit dem Konsekrations-Moment im Abendmahl verglichen, und ich muß gestehen: so meine ich es auch. Es ist dabei gleichgiltig, was andere Vorgänger vor ihm gedacht haben, ja was er selbst vorher dachte. Nur deshalb nun, weil dieser Konsekrationmoment ja - da es um Wissenschaft geht, nicht um Religion - einen actus demonstrandi hat, dieser aber methodisch sein muß, eben, weil Wissenschaft so beschaffen ist, nur deshalb sieht es für jemanden, der keinen Blick für das spezifisch Geniale hat, so aus, als ob erst die Methode da war und in ihr das »Verdienst« der großen Entdecker. So wie beim Tauziehen schließlich durch ein Minimum von Kraftüberlegenheit auf der einen Seite die Entscheidung fällt, und der, von dem dieses Minimum ausging, prämiert wird, so stellt sich die Gelehrsamkeit den genialen Akt vor. Es ist aber nicht Verdienst, sondern Gnade, und das Ergebnis wird nicht, wie beim Gelehrten erarbeitet, sondern geschenkt. Das Genie schwitzt nicht. - Übrigens, wer jene unio mystica mit dem Objekte erfahren hat, der besitzt die eigentümliche, vom Objekt selber stammende Festigkeit in seinem Namen und seiner Gestalt, die beide heimlich von ihm verändert werden, gegenüber den Versuchen der Gelehrsamkeit, ihn zu prämiieren, das heißt zu nivellieren. Nicht einmal Schopenhauer mit seiner sonst richtigen Vorstellung vom Genie gelang es, Newtons Autorschaft am Gravitationsgesetz fortzubeweisen und es für einen Vorgänger zu reservieren.
Der Astronomie aber erging es nach dem Abschluß ihrer genialen Phase wie dem Volke Israel auf seiner vierzigjährigen Wüstenwanderung, nur daß diese heute noch nicht beendet ist. Es ist doch merkwürdig, daß selbst Kosmologien wie Hörbigers Glazialtheorie, die zweifellos geniale Züge trägt, doch eben nicht ziehen; sie erregt Aufsehen bei den Interessenten, aber sie erregt das Menschentum nicht mehr. Dies eben deshalb nicht, weil die Aufgabe der Astronomie, das Unendlichkeitsbewußtsein einzuprägen und den faustischen Menschen zu schaffen, mit Newton ganz abgeschlossen ist. Sie geht über Kant weiter und nicht über die Physik. Das Jahrhundert, das nun folgt, kann nur säkularisieren, sonst nichts. Es geht allen Entdeckungen, vorgeblichen neuen Weltbildern, die in dieser Wüstenwanderungs-Zeit entstehen, trotz der aufdringlichen Reklame, die sie oft mit sich machen, so, wie es dem TALLEYRAND erging, als er Napoleons Tod erfuhr; er sagte: »Das ist kein Ereignis mehr, das ist nur noch eine Nachricht!« So sind alle astronomischen Entdeckungen, hinter denen kein Naturauftrag in toto mehr steht, also keine privilegierte Wissenschaft, nur Nachrichten, »prawda« und nicht »istina«. Beschriebe man den wahren, bisher latenten Gang der »Geschichte der Wissenschaft«, so müßte das eine Aristeia des Ingeniums werden, und die Handlung spielte sich nur im Wirkungskreis der genialen Zone ab; sie trüge nicht deskriptiv-methodische Züge, also umwegige, sondern epische. Wo aber ist der vates sacer, der das tut?
 

18. ANTINOMIEN DER WISSENSCHAFT ALS VORLƒUFER GENIALER EREIGNISSE
Indessen zieht sich hier - am Rande der Astronomie - ein Gewitter zusammen, von dem man noch nicht weiß, ob es niedergehen oder sich, nach einigem Wetterleuchten, wieder verflüchtigen wird. Ich meine die modernste theoretische Physik, in der sich drei zunächst scheinbar disparate Disziplinen mischen: Die Astrophysik, die Atomphysik und die nichteuklidische Geometrie. Was bei ihnen zunächst auffällt, ist das gehäufte Vorkommen von Antinomien der Wissenschaft. Denn es gibt offenbar nicht nur solche der reinen Vernunft, wie sie Kant in der transzendentalen Dialektik aufgeführt hat, sondern auch die empirische Wissenschaft gebiert sie aus sich heraus unter gewissen Umständen.
Das Merkmal der Antinomie ist, daß bei einwandfrei durchgeführtem Experiment an ein- und demselben Gegenstande zwei verschiedene, sich zunächst widersprechende Ergebnisse herauskommen. So tritt das Atom in zwei gänzlich verschiedenen Gestalten auf: als »Teilchen« und als »Welle«. Das Teilchen ist uns verständlich; bei er Welle aber fragen wir sofort: Welle von was? Aber wir erhalten hier keine Antwort, obwohl es doch offensichtlich ist, daß eine Welle (das Bild ist vom Wasser genommen) doch allemal an die Materie gebunden ist, deren besonderer Bewegungszustand sie ist. Welle von nichts aber kann es so wenig geben wie Welle an sich. ƒhnlich antinomisch gespalten ist das Licht, indes es einmal gequantet, also diskontinuierlich, auftritt, das andremal wiederum als Welle. Der Begriff des Atoms selber aber erleidet unter dem Durch der Experimente eine seltsame Wandlung. Zunächst tritt es ganz realistisch auf; es ist der kleinste Teil eines Stoffes, dessen weitere Teilung wohl denkbar, aber nicht ausführbar ist ohne eine qualitative Veränderung; es bleibt also doch seinem Namen treu. Da die empirischen Stoffe aus diesen kleinsten Teilchen bestehen, so müssen diese selbst in genau dem gleichen Sinn real, körperlich, materiell sein, wie jene; anders geht es nicht. Nun zwingen aber wiederum Experimente dazu, dem Atom eine Reihe von Eigenschaften abzusprechen, die der empirische Großkörper hat. Es hat keine Farbe, keinen Geruch, deinen Geschmack, keine Wärme - wenn es sich nicht bewegt -, kurzum, man stößt hier auf John Lockes Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten. Was Farbe erzeugt, heißt es, kann nicht selber farbig sein usw. Bisher ist alles ohne Antinomie. Nun nötigen uns aber, wie die Atomphysiker versichern, weitere Experimente dazu auch die Raumerfüllung zu den sekundären Qualitäten zu rechnen, und die Folgerung ist: »Was die Raumerfüllung bewirkt, kann nicht selber Raum erfüllen.« - und hier ist das Ende da. Denn die Raumerfüllung gehört zum transzendentalen Gegenstande, ist also a priori; und wenn das Atom Gegenstand der Erfahrung sein will, so muß es Raum erfüllen, oder es existiert nicht. Nun scheint es aber tatsächlich so zu sein, daß der gegenwärtige Stand der Atomphysik die Raumerfüllung als bloße sekundäre Eigenschaft ansehen muß, und wir finden daher auch folgerichtig das Atom auf einmal als ein »bloßes Symbol« wieder. Es steht also ähnlich wie mit der »Welle an sich« - und dem steht die unwiderlegliche Sicherheit entgegen, daß ein empirischer realer Stoff nur aus empirischen realen Stoffen zusammengesetzt sein kann, nicht aber aus »Symbolen«. Die Antinomie ist offensichtlich. Es liegen hier aber nicht etwa Laxheiten im Denken vor; diese Atomphysiker sind viel zu kluge Leute, um das nicht zu sehen, und sie haben in dieser Beziehung gar keine ƒhnlichkeit mit jenen Biologen um die Jahrhundertwende, die mit einem Minimum an kritischer Begabung auskamen und die ja auch mit ihrer neuen Weltanschauung Schiffbruch erlitten. Hier sieht es anders aus, dies umsomehr, als wir es mit einer über die klügsten Köpfe wie rasend hinwegsausenden Wissenschaft zu tun haben, die erhebliche Resultate aufweisen kann. Einer von ihnen gestand mir einmal: »Je mehr unsere Wissenschaft fortschreitet, umso unklarer werden uns ihre Grundlagen.« Sie geht in der Tat über ihre Köpfe hinweg - aber Köpfe sind es. Das war bei den Biologen nicht der Fall. Es besteht auch zwischen ihnen eine merkwürdige Einigkeit; man sollte meinen, daß jener Antinomienreichtum Gelegenheit böte, den bekannten Gelehrtenzank untereinander zu entfachen, besonders da wir es überwiegend mit Deutschen zu tun haben; aber davon ist keine Rede. Es verbindet sie vielmehr ein deutliches Gefühl der Zusammengehörigkeit.
Um auf das Atom zurückzukommen, so hat es bekanntlich noch die Eigenschaft, sich durch den Akt der bloßen Beobachtung zu verändern und Bewegungen zu machen, die gegenüber den sonst so präzisen Gesetzen der Physik als willkürlich angesprochen werden müssen. Das hat dazu geführt, daß man hier von »akausalem Geschehen« sprach und glaubte, den Begriff der Kausalität in Zukunft entbehren zu können als einer Art Vorurteil, das nur für die Makro-Welt Giltigkeit habe; an ihre Stelle trat ein »statistisches« Verfahren. Man verwechselte hier die Anwendung des Satzes vom Grunde zum Zwecke der Voraussage, - diese versagte wegen der willkürlichen Atombewegungen - mit der Kategorie der Kausalität, ohne welche es Erfahrung überhaupt nicht gibt. Denn die Bewegungen des Atoms selber sind natürlich - ganz gleich, ob man sie voraussagen kann oder nicht - genau so als Wirkung sowohl mit ihrer Ursache als mit ihrem Grunde durch die Notwendigkeit verknüpft, wie alles andere Geschehen auch. Indes, wie ich höre, hat man das wieder abgeblasen, wenn auch sicher nicht aus Einsicht in das Wesen des transzendentalen Gegenstandes, zu dem die Kausalität als Kategorie gehört, sondern, weil ihnen angst und bange wurde.
Diese antinomienreichen Gedankengänge um den kleinsten empirischen Gegenstand, das Atom, stehen nun, verbunden mit Problemen der nichteuklidischen Geometrie, in Zusammenhang mit den größten empirischen Gegenständen, denen des astronomischen Weltalls. Ein Dreieck, dessen eine Spitze auf der Erde und dessen beide anderen jenseits der Milchstraße liegen, heißt ein transgalaktisches Dreieck. Bei der Messung dieser Dreiecke stellt es sich nun heraus, daß ihre Winkelsumme nicht, wie es die euklidischen Geometrie verlangt, 180 Grad ist, sondern 180 Grad + n, wobei dieses n proportional mit der Seitenlänge zunimmt. Diese verblüffende, aber rein empirisch gefundene Tatsache stimmt nun durch einen eigenartigen Zufall - wenn man so sagen darf - überein mit der Grundannahme der Riemannschen nichteuklidischen Geometrie, welche sich eben just auf der bloß gedachten Voraussetzung aufbaut, daß die Winkelsumme im Dreieck größer als zwei Rechte sei; dies setzt wiederum die Aufhebung des Parallelenaxioms voraus, so daß also der axiomatische Satz lautet: »Parallelen schneiden sich im Endlichen.« So entsteht der mathematische Lehrbegriff des »nichteuklidischen Riemannschen Raumes«, und die moderne Astrophysik rechnet seitdem auf dieser und nicht auf euklidischer Basis.
Seit Henry Poincarés »Wissenschaft und Hypothese« hat sich nun die Meinung durchgesetzt, daß in der Mathematik lediglich deren rein logischer Teil sowie die Zahlen und ihre Gesetze a priori sind und synthetische Urteile a priori durch sie gebildet werden können, also nur das Rechnerisch-Abstrakte, daß dagegen die euklidische Geometrie a posteriori sei, das heißt empirisch,. Ihre eigentümliche, ja keineswegs geleugnete Sicherheit und Unvermeidlichkeit stamme aus Erbgewohnheiten durch Anpassung, als eine ähnliche Theorie wie die David Humes über den Kausalsatz. Das euklidische Dreieck mit seinem Satz »Die Winkelsumme beträgt 180 Grad« ist demnach der Grenzfall zwischen den beiden Sätzen »Die Winkelsumme im Dreieck beträgt 180 + n Grad« (RIEMANN) und »Die Winkelsumme im Dreieck beträgt 180 - n Grad« (LOBATSCHWSKY); im euklidischen Dreieck ist demnach n = 0. So sieht die Sache dann logisch und rechnerisch aus. Die euklidische Geometrie wird dadurch zu einem Sonderfall von Physik, die auf Messung beruht, wie bei den ƒgyptern. Dies um so mehr, so sagt man dort, als auch auf der andern Seite, beim Atom, sich eine ähnlich rechnerische Begegnung mit der nichteuklidischen Geometrie angebahnt hat.
Will man diese in sich folgerichtige Auffassung als eine Art Selbstkonstituierung der theoretischen Physik annehmen, die sich damit ihre Verfassung gibt, so ist dagegen nichts einzuwenden. Erhebt man aber den Anspruch, ein Weltbild zu schaffen - und das droht immer - so meldet sich sofort der folgende schwerwiegende Einwand: die Messung eines transgalaktischen Dreieckes ist eine Erfahrung, an deren physikalischer Zuverlässigkeit nicht gezweifelt werden kann. Aber es ist eine Einzelerfahrung, die keine Notwendigkeit enthält; es kann morgen eine andere gemacht werden, die sie korrigiert. Darüber aber gibt es noch eine Erfahrung überhaupt, zu der auch der messende Astronom selber gehört, einen Begriff der Erfahrung, die Erfahrung an sich - ein Singular; diese aber unterliegt nicht physikalischen Gesetzen, sondern transzendentalen, und deren Theorie sagt aus, daß diese wirkliche Welt vor uns sich im dreidimensionalen Raume ausdehnt, der, als absoluter Raum, a priori ist, und dessen Gesetze, die der euklidischen Geometrie, es gleichfalls sind. Es ist notwendig, einen dreidimensionalen Raum anzuschauen, und es ist ebenso notwendig, daß die in ihn heineinkonstruierten Figuren eben jenen Gesetzen der Geometrie gehorchen, die uns seit der Entdeckung durch die Griechen bekannt sind. Da aber der reine Raum a priori und der relative Raum, der von den empirischen Dingen ausgefüllt ist, derselbe Raum sind, so müssen sich diese Dinge nach den Gesetzen der Geometrie, die nur synthetische Urteile a priori enthält, richten. Das aber heißt: in Wirklichkeit ist die Winkelsumme im transgalaktischen Dreieck genau so gleich zwei Rechten, wie in jedem andern auch. Wenn die Messung ein anderes Ergebnis liefert, so ist das physikalischer Schein (also doch wohl optischer, verursacht durch Krümmung des Lichtstahles). Es steht also die transzendentale Erscheinung = empirische Wirklichkeit gegen den physikalischen Schein, und die Vorzugstellung, die das euklidische Dreieck gegenüber denen der nichteuklidischen Geometrie einnimmt, ist die, daß jene beiden, das Riemannsche und das Lobatschewskische nur erdachte Dreiecke sind, das euklidische aber allein der anschaulichen Welt angehört und daher von der Natur ausdrücklich besiegelt ist. Mit ihrem Satze aber, daß die Geometrie ein Spezialfach der Physik sein, hat sich die moderne theoretische Physik bewußt auf den vorhellenischen Standpunkt, also auf den »ägyptischen«*, gestellt, nach welchem die geometrischen Ergebnisse empirisch, durch Messung entstehen. Die Frage ist, ob man das kann.
Man kann es nicht, denn es liegt nicht in unserem Belieben, die Mathematik hier oder da einzuordnen. Diese Ordnung schafft die Natur. Alles Wissen, das auf Messung beruht, kann nur zur Wahrscheinlichkeit führen und ist daher vorwissenschaftlich, wenn wir Wissenschaft in dem hier vertretenen Sinne verstehen: denn diese trägt stets den Stempel der Notwendigkeit. Da aber die Mathematik diesen Stempel immer trägt, so ist sie von der Physik artverschieden. Hier liegen geniale gründende Akte vor, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Die Geometrie euklidischer Art hat einen natürlichen Vorrang vor der Physik, kann also nicht eine Unterabteilung von ihr sein. Man hat in den letzten Jahrzehnten sich daran gewöhnt, von ihr despektierlich zu sprechen, als sei sie eine Art Primitivform; die Physiker halten gewissermaßen nur die Dreiecke nichteuklidischer Façon (Winkelsumme = 2 R - n und Winkelsumme = 2 R + n) für standesgemäß, weil bei ihrer Berechnung nur die logischen und die arithmetischen Elemente erscheinen, die - nach ihrer Meinung - allein a priori sind, und sie halten den euklidischen Fall »Winkelsumme gleich 2 R« für eine Art Lausbubenstück der Natur. Vor dem Zeichen aber, das hier aufgezogen ist, nämlich der »reinen Sinnlichkeit« und dem »reinen Raum«, haben sie eine wahre Scheu, die ich, nach Erfahrungen, die ich mit sehr klugen Vertretern dieser Menschenklasse - so muß man sie fast bezeichnen - gemacht habe, nur als Verdrängung begreifen kann. Sie wollen es nicht wahr haben, daß es so etwas gibt, und doch ist das transzendentale Experiment, das Kant zum ersten Male hier angestellt hat, im Gegensatz zu allen physikalischen, auf Messung beruhenden, mit dem Merkmale der Notwendigkeit versehen. Dieses Experiment aber wollen die Physiker einfach nicht machen; sie gleichen darin jenem Priester, der nicht durch das Fernrohr Galileis sehen wollte, um sich von der Existenz der Jupitermonde zu überzeugen. Ihr Lehrer Poincaré ist ihnen mit jener Scheu vorangegangen, indem er den »geometrischen Raum« in eine Linie brachte mit dem »Tastraum«, »Hörraum«, »Sehraum«, das heißt, er verwechselte all diese psychologischen Räume mit dem transzendentalen, den sie zur Voraussetzung haben und der demnach art- und rangüberlegen ist. Es gehört aber, wie ich bemerken muß, eine besonders ausgeprägte Auffassungsgabe dazu, um das, was Kant in seiner transzendentalen ƒsthetik vorgetragen hat, lebendig zu begreifen; diese aber fehlt den Astrophysikern. Sie wollen einfach nicht; schopenhauerisch gesagt: sie können nicht wollen. Ihr Denken ist ein ausgesprochen spezialisiertes, demgegenüber das euklidische als primitiv gelten kann; aber in dem Sinne »primitiv«, wie die Entwicklungslehre von einer »Primitivform« spricht gegenüber einer spezialisierten. Die erste ist der Natur näher, wird von ihren Kräften getragen und enthält die zweite in nuce in sich. Die zweite aber, die spezialisierte, kann nicht mehr rückgebildet werden und steht der Gefahr des Aussterbens näher.
»Warum« - fragte ich den Physiker Pascual Jordan am Ende langer und eindringlicher Gespräche -, »warum bleiben Sie nicht auf dem gesicherten Boden der euklidischen Geometrie stehen und ziehen bei Ihren Berechnungen jenes Plus an Winkelsumme, auf das Sie bei den transgalaktischen Dreiecken stoßen, einfach als Krümmungskoeffizienten des Lichtes ab? Das kann man doch. Denn daß das Licht die einzige empirische Naturkraft sein soll, die sich geradlinig fortpflanzt, das ist doch unwahrscheinlich, und wir wissen zudem, daß es durch Gravitationsfelder abgelenkt wird (sogenannter Einstein-Effekt). Statt dessen drehen Sie den Spieß um und definieren die Çgerade Linieë als Lichtstrahl! Das heißt aber: Sie schalten das Problem des Lichtweges aus, indem Sie eine physikalische Kraft, das Licht, zu einem geometrischen Gebilde machen! Hier liegt Dogmatik der Wissenschaft vor.«
»Genau das tun wir, und wir müssen es, weil nach unserer Meinung die Geometrie ein physikalisches Sonderfach ist.«
»Dann aber« - meinte ich - »entsteht folgende Antinomie: da der Weg des Lichtes und die gerade Linie ein und dieselbe Sache sind, das Licht aber eine empirische Kraft ist, so sind alle Dreiecke Licht-Dreiecke und werden, wenn man ihre Winkelsumme feststellen will, gemessen; das tun Sie auch stets bei den transgalaktischen und stellen dabei jenen Überschuß über zwei Rechten fest, der proportional mit der Seitenlänge zunimmt. Bei einer bestimmten Größenordnung aber, der Erde näher, hört dieser Überschuß auf, n wird gleich 0 und das bleibt so bis auf jenes Dreieck, das ich hier auf dem Papier zeichne. Diese Dreiecke müßten nun aber auch gemessen werden, denn sie bestehen genau so aus Licht, wie die ihrer gigantischen Brüder jenseits der Milchstraße. Das aber tun Sie nicht! Sondern seit des Thales Zeiten werden die Dreiecke konstruiert, und ihre Gesetze more geometrico als synthetische Urteile a priori erschlossen. Das hat nichts mit dem Licht zu tun, auch ein Blinder kann es, und so, verehrter Herr Professor, handeln sie auch!« -
»Weil sich diese Methode, die Sie die »hellenistische« nennen, gegenüber unserer »ägyptischen« als die bequemere herausgestellt hat bei kleinen Dreiecken.«
»Nein, sondern weil die Natur so gebaut ist! Stellen Sie sich, wohin Sie wollen, auf jenen transgalaktischen Stern, den Sie anvisieren, oder wo auch immer: stets sieht die Welt gleich aus. Sie ist immer nach allen Richtung hin dem Raume nach unendlich, und nirgends können Sie auf einem Punkt mehr als drei Lote errichten. Denken aber können Sie das freilich stets, und überall können Sie nichteuklidische Geometrie erfinden.«
»Und gerade dieser Bau der Natur ist es, über den die Wissenschaft hinweggeht. Das, was Sie die anschauliche Welt nennen, gerade das lösen wir in nichtanschauliche Formeln auf, ähnlich wie Descartes die geometrischen Figuren in Gleichungen verwandelte. Es bleibt dann allerdings, wie Sie das einmal genannt haben, nur ein ÇEliminatë der Natur übrig; aber so ist jede Wissenschaft beschaffen. Und, Sie müssen mir das glauben, es gibt ein physikalisches Gefühl, einen inneren Sinn für unsere Wissenschaft, der uns gleich einem Daimonion sagt, wir sollen jene eigentümliche Verbindung von gedachter Riemannscher Geometrie und gemessener Winkelsumme im transgalaktischen Dreieck, die ja beide unabhängig voneinander entstanden sind, ernstnehmen und diesem Wege folgen; es entsteht hier, in Verbindung mit der Atomwelt, wo die Dinge ähnlich liegen, ein abstraktes Ordnungssystem, das einem Nicht-Physiker nur schwer klar zu machen ist, hinter dem aber doch, wie wir meinen, eine Çim Objekt verbundeneë Realität steht.«
Das wäre nun abzuwarten. Jedenfalls würde das aber nicht das Ergebnis der fortschreitenden Wissenschaft sein, sondern die Tat des Genius. Durch sie würde plötzlich wieder die anschauliche Welt zum Durchbruch kommen. Geschähe das, dann wäre allerdings die Wüstenwanderung der Astronomie beendet, und es leuchtete wieder ein echtes, von der Natur getragenes Weltbild auf, gelöste Rätsel, aber geschaffenes Wunder. Der Prometheus-Funke, der hier einschlagen müßte, springt aber nicht zwischen zwei Wissenschaften über, auch nicht innerhalb einer, sondern nur zwischen der Wissenschaft und der Philosophie. Zwischen dem Genius Newtons und Kants fand eine Begegnung statt, die tief befruchtend in die Philosophie eingriff. Die heutige Lage zwischen der theoretischen Physik mit ihren antinomischen Problemen und der zukünftigen Philosophie ist noch die, daß sich zwei Parteien doktrinär gegenüberstehen und miteinander nichts anzufangen wissen. Trotzdem scheint es mir gewiß, daß die Scharmützel, die hier in den Gebieten der transzendentalen ƒsthetik und Logik geliefert werden, eben gerade den Boden für eine kommende Entdeckung bereiten. Denn es geht um dieses Territorium.
Wir stehen noch in dem Kapitel »Ordnung des Intellektes«, und diese, die wir die natürliche nannten, ist es, von der eine Reformation der Philosophie ausgehen wird. Ordnung schaffen aber heißt: nie wieder zulassen, daß falsche Namen gegeben werden, wo die Naturkraft eignen untilgbaren Stempels den richtigen bereithält. Ordnung schaffen heißt ferner, über die klare begriffliche Trennung hinweg noch für die richtige Lage Sorge tragen, so daß ein Weltbild im Raum entsteht. Eine falsche Lage des Intellektes gibt der naive Naturalismus samt Schopenhauer; gar keine Lage, sondern nur ein begriffliches Neben-einander gibt Kants transzendentale Logik; sie, das Kerngebilde seiner Philosophie, ist ohne Raum und ohne Perspektive. Wir wollen uns so stellen, daß wir, gleichwie man die Erde vom archimedischen Punkte aus frei im Weltenraume schweben sieht, so auch die Natur erblicken können.
 



 

 

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