DIE GRUNDLEGUNG DER ETHIK
1. DIE ORESTIE DES AISCHYLOS
Unter Grundlegung der Ethik verstehen wir dasselbe wie unter der
Grundsteinlegung eines Baues. Das heißt: es muß sowohl
Grund und Boden da sein als auch die Zeichnung des Architekten und
die statische Berechnung, sonst fällt das Haus um. Es muß
Natur da sein und Wissenschaft.
Sokrates hat - im Gespräch mit Gorgias - im Altertum zum ersten
Male die Frage aufgeworfen, was besser sei: Unrecht tun oder Unrecht
leiden, eine Frage, die auf die damaligen Athener höchst
verblüffend wirkte, denn diese wußten gar nicht, daß
es sie überhaupt gäbe. Aber sie saß und erregte die
Gemüter, besonders das des Alkibiades, auf das peinlichste. Man
wußte nicht mehr, was man von solch einem Manne eigentlich
halten sollte. Daß er sich durch diese ständig bohrenden
Fragestellungen, die die Athener von damals nun einmal durchaus nicht
leiden mochten, allmählich unbeliebt gemacht hatte, das hat
JACOB BURCKHARDT klar erkannt, als er bemerkte: »Die Wirkung mag
allmählich, doch die gewesen sein, daß alles ausriß,
wenn man ihn um die Ecke kommen sah.« Und doch war das
anrüchige Thema den Griechen in der Dichtung bereits deutlich
merkbar geworden. Die Orestie des Aischylos redet, wenn man ihren
eigentlichen Kern herausschält, von dem Verlangen des Menschen,
um keinen Preis schuldig zu werden - und dem Scheitern dieses
Verlangens. Der Hörer der tragischen Trilogie erlebt im ersten
Teile »Agamemnon« die Rückkehr des siegreichen
Heerführers von Troja und seine Ermordung durch sein Weib, die
Königin Klytaimnestra. Die Tat ist von solcher
Ungeheuerlichkeit, daß sie, unterstützt von den dunklen
Chorliedern des Aischylos, im Zuschauer das Verlangen nach Vergeltung
wie eine Forderung der Weltgerechtigkeit brennend werden
läßt. Diese nun vollzieht sich im zweiten Teil, den
»Choëphoren«, durch die Hand des Orestes, des
Agamemnon und der Klytaimnestra Sohn. Die Sympathie des Hörers
steht von Anfang an ganz auf der Seite des Jüngling, der, von
Kindheit an im Gedanken an die Rache für den Vater erzogen, im
Zusammenspiel mit Elektra, seiner Schwester, etwas wagt und im
Morgengrauen in den Königspalast von Mykene eindringt. Man hat
das Gefühl: dieser halbe Knabe hat völlig recht, und es
gibt keine einzige Stelle in seinem Willen, die von einer
verwerflichen Regung getrübt wäre. Es stört uns
Heutige nicht, daß die ganze Handlungsart des Orestes streng im
Rahmen des antiken Blutrachesystems verläuft und daß er
eigentlich nur ein Beauftragter des Apollon Loxias ist; wir
spüren deutlich: wenn das alles nicht wäre, so hätte
er die Rache doch aus Freiheit übernommen; und er selbst sagt es
sogar (Choeph. 295): ((kai mh pepoitha tourgon est ergasteon)). -
»Auch ungehorsam mußte diese Tat geschehn«. Durch die
archaischen Gitter des Blutrachesystems schimmert das natürliche
Recht und die natürliche Pflicht des Orestes hindurch. Das tat
es schon bei den Griechen, und nur so ist die Wirkung des
Stückes bis auf unsere heutigen Tage zu erklären. - Wir
erleben nun den Höhepunkt der Trilogie in dem Augenblick, da
Klytaimnestra mit Entsetzen ihren Sohn erkennt und mit ihm den
Rächer. Sie entblößt ihren Busen vor dem Kinde, das
an ihm gehangen, und fleht um Gnade. Orestes schwankt einen
Augenblick, aber dann stößt er zu. Wir bekommen hier das
grausige Gefühl, daß mit diesem Stoß etwas
Unwiderrufliches geschehen ist. Er scheint auch selbst dieses
Gefühl zu bekommen, denn er übertönt es mit einem
prahlerischen Siegesruf. Der aber hält nicht lange an, denn nun
geschieht das Fürchterliche: er sieht im Hintergrund des
Palastes die Erinnyen auf sich zukommen - ein Macht, der er nichts
entgegenzustellen hat und die ihn in den Wahnsinn treibt.
»Seht ihr die Weiber dort...? Gorgonenhaft
In Schwarz gehüllt, das Haupt von vielen Nattern
Umzingelt. Meines Bleibens ist nicht mehr.
Ah, diese Qualen sind kein Wahngebild,
Ich weiß: das sind der Mutter grimmige Hunde.«
Das ist Orestes, die ethische Urgestalt des Altertums; der
Jüngling, der guten Willens ist und doch das Böse tut. Er
bleibt in der antiken Überlieferung so bestehen; es gelingt
nämlich nicht, ihn von den Erinnyen zu befreien. Das Altertum
hatte nicht die Mittel dazu. In den »Eumeniden«, dem
schwächsten Teile der aischyleïschen Trilogie, ragt nur der
grausige Chor, bei dessen bloßem Anhören die griechischen
Weiber die Leibesfrucht verloren, in die Höhe der Dichtung; sie
handeln von dem Erlösungsprozeß an Orestes. Dieser
vollzieht sich - durch Abstimmung, indem Athene einen zwölften
Stimmstein in die Urne wirft. Er ist unglaubwürdig, denn
bloße Götter, die im Plural vorkommen und dem principium
individuationis unterliegen, haben nicht die Macht dazu. Der antike
Mythos hat demnach auch die Erlösung des Orestes nicht
akzeptiert; denn wir finden ihn später, in der taurischen
Iphigenie des Euripides in demselben bejammernswerten Zustande;
wieder wird hier ein Heilungsversuch inszeniert: er soll das Holzbild
der taurischen Artemis nach Griechenland bringen. Aber das hat
natürlich auch keinen Zweck. Der »Orestes« des
Euripides vollends kümmert sich um das Heilungsproblem
überhaupt nicht mehr, sondern nur darum, wie er sein
bißchen Leben durch Mordpläne gegen alles, was ihm in die
Quere kommt, retten kann; ein unerfreuliches Kassenstück. Wir
sehen die antike Religion vor dem Eingeständnis ihrer
Unzulänglichkeit. Ihr fehlen die Mittel, um so großen
Vorgängen, wie es die Schuldverstrickung aus Erbsünde ist,
entgegenzutreten. Darum wirken auch all diese antiken Versuche der
Lösung, Sühne, Befreiung auf uns ganz unwirklich und
abgetan, abergläubisch und veraltet, nicht deswegen, weil sie
über zweitausendfünfhundert Jahre alt sind, sondern, weil
sie vorchristlich sind. Das Christentum aber hat ein Stück
Wirklichkeit, das in den ethischen Prozeß hineingehört und
das vom Altertum übersehen wurde, entdeckt.
Die Gestalt des aischyleïschen Orestes ist der Träger des
dumpfen Erbsündegefühles, das gesamtmenschlicher Natur ist
und das nur ungern herauskommen will; besonders die Griechen wollten
nichts davon wissen. Es paßte schlecht in ihre Gedankenwelt,
daß jemand, der doch das Beste und Richtigste, ja das
Lobenswerteste getan hat, der sogar von den Göttern
freigesprochen war, doch eben schuldig blieb und von den Erinnyen
nicht freikommen konnte. Das »furchtbare Geschlecht der
Nacht« blieb an seinen Sohlen haften, so sagt ihr Mythos
hartnäckig trotz der Eumeniden des Aischylos. In die innere Lage
aber, in die Orestes kommt, kann jedermann zu aller Zeit geraten,
ganz gleichgültig ob Blutrache gilt oder nicht. Das ist der
Grund für die Zeitlosigkeit der Orestie.
Niemand ist vor ihrem plötzlichen Auftreten auch in der modernen
Seele sicher. - Da war im vorigen Weltkrieg ein deutscher Grenadier,
der beim Vormarsch in Frankreich in einem Dorfe ins persönliche
Bajonettgefecht mit einem französischen Soldaten kam. Der
Deutsche war ganz durchdrungen von der stürmenden Gewalt des
Krieges, die über ihn gekommen war; der Franzose wurde in die
Verteidigung gedrängt und nahm Rückendeckung vor einem
Scheunentor. Dort kam es zum Endkampfe in seiner hitzigsten Form; die
Bajonette blitzten gegeneinander, aber die Kraft des Franzosen
erlahmte, allmählich. Schließlich stieß der deutsche
Soldat seinem Gegner, ehe dieser Zeit hatte, die Waffe zu strecken,
das Bajonett durch die Brust und heftete ihn so gegen das
Scheunentor. Der Franzose starb, und seine letzten Worte waren
»...Ah! Mes deux petits enfants...! Diese Worte haben den jungen
Deutschen nie wieder verlassen. Er verfiel in unheilbare Schwermut,
und sein Leben war gebrochen. - Und er hatte doch völlig recht
gehandelt; es war Krieg, er stand unter seinem Gesetze und setzte
jeden Augenblick sein eignes Leben aufs Spiel: und doch riß
diese Tat einen Abgrund in ihm auf, der sich nicht wieder
schloß. So dicht liegen in der Seele des Menschen der Soldat
und der Mörder beieinander. Hier hilft kein Zuspruch
wohlwollender Kameraden, keine Kriegsauszeichnung und kein Lob der
Tapferkeit. Heroismus, sonst hoch in Ehren, schrumpft hier zur
Bedeutungslosigkeit zusammen. - Eine andre Szene: Ich kannte einen
Arzt meines Alters, dessen gebrechlicher alter Vater nur noch der
Schatten eines Menschen war; ein kleines Hutzelmännchen, das
schon meist irre sprach und sich und anderen zur Last fiel. Eines
Tages sagte er in einem lichten Augenblick zu seinem Sohn, er
möchte nicht mehr leben, denn es sei ja doch aus mit ihm, und
was noch kommen könnte, sei nichts als Mühsal und
Schmerzen. Er möge ihm doch den letzten Liebesdienst erweisen
und ihm eine tüchtige Spritze Morphium geben, dann sei es aus
mit ihm, und er hätte seine Ruhí. Der Sohn überlegte
sich das lange genug und wollte ausweichen, aber der Vater drang
unerbittlich auf ihn ein, ja ermahnte ihn an seine Sohnespflicht. Und
schließlich, als es mit dem Alten wieder einmal ganz schlimm
stand, erfüllte er ihm seine Bitte. Wie aber die Spritze schon
wieder herausgezogen war, trat eine merkwürdige Veränderung
in dem Alten ein; er wurde wach und klar, und als er sah, was mit ihm
geschehen war, befiel ihn auf einmal die Todesangst der Kreatur: er
richtete sich auf und schrie seinen Sohn an :
»Mörder...!« und starb. Der Sohn aber verfiel in
dieselbe Schwermut wie jener Soldat; er bat mich, ihm zu helfen, aber
sein Geist begann sich unheilbar zu verwirren, und eines Tages hing
er am Fensterkreuz. - Und es war doch eine Wohltat, die er seinem
alten Vater erwiesen hatte! Wer wünschte sich nicht solch einen
Sohn! -
Man wird zugeben, daß es ein Leichtes wäre, besonders in
der Zeit, in der wir leben, Hunderte und Tausende solcher Beispiele
zu nennen. Aber man sieht auch leicht, wie kümmerlich im Grunde
diese Methode der empirischen Aufzählung zum Beweise für
die Existenz der Erbsünde ist. Man ist da immer auf
Hörensagen angewiesen und weiß nie, ob einem genau genug
berichtet wird. Anders in der Dichtung. Hier spricht sich, ohne
daß es der Dichter weiß, die Erbsünde selber aus,
völlig naiv und ganz objektiv; hier stimmt jedes Wort, und alles
ist richtig: sie hat sich gewissermaßen den Aischylos als
Träger ihrer Offenbarung gedungen. Darum hat die Dichtung, wenn
sie auf ihrem Höhepunkte steht, viel mehr Wahrheitsgehalt als
die Wissenschaft auf dem ihrigen, jedenfalls, wenn es sich um solche
Dinge handelt. Da wir nun in der glücklichen Lage sind, von KARL
VOLLMÜLLER eine dem Original sprachlich ebenbürtige
Übersetzung zu haben, so folge hier aus den
»Choëphoren« jene kurze und atemberaubende Szene, in
der alles gesagt ist:
Orestes: Da seht ihr nun des Lands Tyrannenpaar,
Des Vaters Mörder, des Palasts Verwüster,
Die stolz vereint jüngst auf dem Throne saßen,
Sind jetzt vereint am Boden, wie ihr seht
Mit gleichem Schicksal und den Eiden treu:
Denn sie verschworen sich zum Tod des Königs,
Wie jetzt zum eignen. Und der Schur war gut
(Er hebt das Mordgewand von den Leichen und zeigt es den
Umstehenden:)
Schaut an ihr Zeugen dieser blutigen Tat,
Das Tuch der Tücke, meines Vaters Falle,
Drin sie mit Hand und Füßen ihn verstrickt,
Da breitetís aus, zeigt es im Kreis herum,
Das Menschennetz, damitís der Vater sieht -
(Er hält inne.)
Nicht meiner. Nein, er, der vom Himmel her
Dies anschaut: daß er am Gerichtstag einst
Mir dieser Tat Gerechtigkeit bezeuge
An meiner Mutter. Von Aigistos schweig ich.
Dem Schänder ward nichts weiter, als sein Recht.
Und dieses Weib, die solchen Greul ersann
Dem Mann, von dem sie Leibesfrucht getragen,
Einst teuer ihr, und jetzt ihr schlimmster Feind,
Wie dünkt sie euch? Nenn ich Muräne sie?
Schlange, die durch Berührung, ohne Biß,
Schon faulen macht: so teuflisch, so verrucht?
(Auf das Tuch weisend:)
Und das? Wie nenn ich es? Gebt mir ein Wort,
Nenn ichís Wolfsfalle, heiß ichís
Totenhemd?
Sargdecke? Schweißtuch? Oder Jägernetz,
Fußschling und Reuse? Ja, so ein Geweb
Stünd einem Räuber an, einem, der Fremde
Ins Haus sich lockt und tötet und beraubt,
Und so sein Leben fristet. Solch ein Ding,
Hätt erís, könnt ihm wohl reichen Fang
verschaffen.
(Sein Blick fällt wieder auf die Leiche der Mutter. Er
macht eine Bewegung des Abscheus.)
Doch so ein Weib, wie die, zur Hausgenossin!
Ihr Götter! Lieber sterb ich kinderlos
(Ein Schauer packt ihn. Er vergräbt das Gesicht in den
Händen.)
Chor: Weh des entsetzlichen Werks!
Weh!
Weh der schaurigen Toten!
Nun sproßt schon Leiden dem, der leben blieb.
Orestes: (wieder das Gewand ergreifend):
Hat sieís getan? Hat sie es nicht getan?
Der Fleck bezeugt mirís vom Aigitos Schwert,
Der Blutfleck, mit dem Tag des Mords gealtert,
Der viele Farben im Gestück zerfraß...
Bald lob ich mich. Bald steh ich klagend da
Und starre auf des Vaters Mordgewand,
Mein Tun und Leid und ganz Geschlecht bejammernd
Und mit dem Aussatz dieses Sieges befleckt.
Chor: Kein Sterblicher lebt sein Leben in Ruh
Und sorgenlos bis ans Ende.
Und ist Trübsal nicht da, so kommt Trübsal
gewiß.
Weh!
Orestes: (mit deutlichen Zeichen beginnender Zerrüttung):
Und daß ihrís wißt...Was noch? Ich
weiß nicht mehr.
Wie wilde Rosse reißen aus der Bahn
Mich Willenlosen* die entfesselten
Gedanken. Und im Herzen will die Furcht
Ihr Lied anheben schon und grause Tänze.
Drum hört, solang ich noch bei Sinnen bin:
Zu Recht, sag ich, hab ich dies Weib erschlagen,
Die Vatermörderin, der Götter Greul.
Den Zaubertrank, daran ich Mut gewann,
Reichtí mir Apollon selbst, der mir verhieß:
Führt ich die Tat aus, wird ich frei von Schuld sein;
Doch ließ ich sie..., nicht nenn ich euch die Strafe,
Fliegt doch kein Pfeil so hoch, als er gedroht.
ó So seht mich hier gerüstet und geschmückt!
Mit diesem Kranz und Ölzweig walle ich
Zum Ort des Erdennabels, Loxias Feld,
Zum Feuer, das das ewige genannt wird,
Das Mutterblut zu fliehn. An seinen Herd
Hat mich Apollons Wille selbst entboten.
Indessen wollet ihr Argiver mir
Bezeugen, wie die Unglückstat erwachsen.
Ich ziehe flüchtig, irr, des Lands verbannt,
Ein Muttermörder - und mein Leben lang
Und nach dem Tod werd ich den Namen haben.
Chor: Du hast gerecht getan. Nun öffne nicht
Den Mund zur Lästerung und bösem Fluch,
Du hast dem Schlangenpaar den Kopf zertreten,
Du hast das Land von Argos ja befreit!
Orestes: Ha..Ha..!
Seht ihr die Weiber dort? Gorgonenhaft
In Schwarz gehüllt, das Haupt von vielen Nattern
Umzingelt. Meines Bleibens ist nicht mehr.
Chor: Welch Wahnbild schrickt dich, aller Söhne treuster?
Auf, faß dich! Fürchte nichts! Dein ist der
Sieg.
Orestes: Ah, diese Qualen sind kein Wahngebild,
Ich weiß, daß sind der Mutter grausige Hunde.
Chor: Vom Blut, das frisch an deinen Händen raucht,
Hat dieser Taumel deinen Geist befallen.
Orestes: Apollon, hilf...! Sie nahn von allen Seiten,
Aus ihren Augen sintert böses Blut.
Chor: Eins bleibt dir: Sühnung. Rührst du an den
Herd
Apollons nur, so sinken die Qualen.
Orestes: Ihr seht sie nicht. Ich aber seh sie wohl.
Ich kann nicht mehr. Sie jagen mich von hinnen.
Zwischen dem Dolchstoß in das Herz der Mutter, der Orestes
zum scheinbaren Sieger macht, und dem Auftreten der Erinnyen spielt
sozusagen die Erbsünde als eine stumme Person heimlich mit und
bewirkt den Umschwung in der Tragödie. Diesen erleben wir selbst
eben deswegen in so tiefgreifender Spannung, weil er uns ein
»tua res agitur« zuruft. Denn wer sich das hat einmal vom
Dichter sagen lassen, der wird nicht leicht mehr auf den Gedanken
kommen, daß irgendeine seiner Handlungen den Stempel der
Wohlgeratenheit, aus sich selbst gezogen, an sich trage. Der Dichter
großen Stieles ist der Entdecker wichtiger Seelenzustände,
die ihre Verankerung im objektiven Welthintergrunde haben. Aischylos,
dem man von jeher einen religiösen Hang nachgesagt hat, greift
das Problem der Schuld durch Unschuld auf und stößt damit
bis dicht in die Sphäre vor. Die lange vor ihm durch die
Propheten Israels angerührt wurde. Diese aber stehen schon eine
Stufe tiefer in der Sache; sie haben auch nichts anderes
verkündet als eben dies. Auf ihre Aussagen kann man sich daher
noch mehr verlassen.
2. DIE PROPHETEN ISRAELS
Bei der Betrachtung des entscheidenden Aktes, den Mose und die
Propheten Israels begangen haben, beschränken wir uns streng auf
das, was eben mit diesem Akte zu tun hat. Wir schalten also das
Prophetische im Sinne der Voraussage von Ereignissen aus; ferner
alles, was mit der biologischen Sicherung des Volkes Israel
zusammenhängt, das heißt also das Zeremonialgesetz. Unsere
Aufmerksamkeit gilt nur jener Schnittstelle, die den Namen
»Metaphysik und Ethik« trägt. Hier haben sie ein
unvergängliches Verdienst. Sie haben nämlich gesagt, sich
sagen lassen, was zu hören dem hellenischen Altertum, tausend
Jahre später, dringend nötig gewesen wäre (wenn man
sich so ausdrücken darf), und was seit der Zeit der
Aufklärung bis in unsere Tage hinein gewöhnlich
überhört wird - sie haben sich sagen lassen, daß es
Taten des Menschen gibt, die unbedingt nicht geschehen dürfen
und solche - wenn auch schwächer, die geschehen sollen, nicht,
weil das zum Nutzen der menschlichen Gesellschaft wäre, sondern,
weil Gott es so will. Auf dieser Begründung allein liegt der
Ton. Geschieht eine solche objektiv verbotene Handlung doch, so triff
den Täter, je nach der Schwere der Tat, das Schicksal des
Orestes, mindestens aber eine peinigende Zerrüttung des
Gemütes. Denn was sind die Erinnyen schließlich anderes
als die Hölle oder mindestens Gewissenspein. Die Propheten haben
mit dem »Gesetz« nichts Privat-Jüdisches gesagt,
sondern Gesamtmenschliches ja noch mehr; sie sind nicht nur
Verkünder, sondern auch Entdecker.
Das, was bei Mose und den Propheten »nomos« heißt,
liegt zunächst in scheinbarer Deckung mit den
»Gesetzen« (nomoi) der Staaten und Völker, also mit
dem Soziologischen. In allen Gesetzesbüchern der Staaten vor
Mose und nach ihm finden sich Bestimmungen, die den Schutz des
Lebens, des Eigentums, der Ehe, der Ehre betreffen, und diesen festen
Gesetzen des Staates schließen sich die dehnbaren der
Gesellschaft an. Der Mordparagraph eines Strafgesetzbuches und das
Gebot: »Du sollst nicht töten« liegen auf den ersten
Blick in soziologischer Deckung miteinander. In ihren Resultaten
kommen sie auf dasselbe hinaus, nämlich, daß nicht
getötet wird. Hieraus hat man - voreilig genug - gefolgert,
daß das fünfte Gebot des Dekaloges, so wie allen andern,
Produkt des Soziologischen sei. Weil die Ethik sich im Sozialen
abspiele, deshalb, so sagte man, stamme sie auch aus ihm und sei
dessen Funktion. - Eine analog gebaute andere Begründung der
Ethik stützt sich auf deren Vernünftigkeit. Es stellt sich
nämlich heraus, daß die Gebote der Sittlichkeit durchweg
die Eigenschaft haben, im Falle ihrer Verneinung einen Widerspruch zu
erzeugen. Wenn ich das Gebot »pacta sunt servanda«
verneinen würde, so gäbe ich damit zu, daß auch ein
Vertrag, der mit mir geschlossen wurde, vom Partner nicht gehalten zu
werden braucht. Das aber gebe ich nicht zu; denn sonst würde ich
ja gar keinen Vertrag schließen. Und so bei allen anderen
Geboten auch. Die Summe nun der Verneinung aller Gebote ergäbe
die Auflösung der Gesellschaft; diese aber kann ich gar nicht
wollen denn ich selber gehöre ihr an. Und so sind in der Tat
alle ethischen Forderungen im Effekt durch und durch vernünftig,
und wir sehen, wie diese Tatsachen zugleich in Deckung mit dem
Sozialen liegen.
Aus dieser Vernünftigkeit der ethischen Handlungen hat
bekanntlich Immanuel Kant des Schluß bezogen, daß die
Vernunft auch der Grund und die Quelle der Ethik sei, und so entstand
bei ihm der Begriff der »praktischen Vernunft« wie als
einer schöpferischen Macht im Subjekt. Allein Kant unterlag hier
einem unbewußten Prozeß der Anpassung an die Signatur des
Zeitalters, und so verdarb er sich seine groß angelegte Ethik.
Denn in Wirklichkeit hat die Vernunft niemals eine
schöpferische, sondern nur eine prophylaktische Bedeutung in der
Ethik. Sie ist ein hellhöriger Wächter der Taten, aber
nicht ihr Schöpfer. Und bei näherem Zusehen wird es sich
überhaupt herausstellen, daß jene Deckung mit dem Sozialen
auf einer Augentäuschung beruht, gleich einer perspektivischen
Verkürzung, und daß in Wahrheit die Ethik allein
steht.
3. DER AUFBAU DER MORALISCHEN URTEILSKRAFT
Denn unsere moralische Urteilskraft fällt Entscheidungen, die
eindeutig jede Herkunft der Ethik aus dem Sozialen oder aus der
Vernunft ausschließen. - So wie es eine ästhetische
Urteilskraft gibt, vermöge der wir einen Gegenstand als
schön empfingen und dabei den Anspruch allgemeiner Giltigkeit
erheben, so gibt es auch eine moralische, die in uns durch das
Gefühl der Achtung jene eigenartige Erhebung des Gemütes
bewirkt, die uns sagt: hier ist etwas geschehen, das sich nicht
ergründen läßt. Diese moralische Urteilskraft, die
jedem Menschen innewohnt, will geübt sein, wie die
ästhetische, und sie besteht wie jene aus zwei Elementen, die in
ihrem Namen enthalten sind: einem urteilenden, also logischen, und
einem andern, das dem Willen angehört, und demnach eine Kraft
ist. Kant hat bei seiner Behandlung der verschiedenen
Urteilskräfte - deren drei bei ihm vorkommen - durchweg
übersehen, daß sie zur Hälfte auf die Seite des
Objektes zu liegen kommen, von dem sie, in der Form des
»Schemas« etwas enthalten, und sie nach seiner Art ganz zum
Subjekt gezogen. Die beiden Elemente wirken aber als eine deutlich
gefühlte Einheit zusammen, und das moralische Gefühl
hält immer den Kurs auf die Achtung ein. Sein Dasein kann von
niemandem abgeleugnet werden; denn sonst wären Gespräche
über den ethischen Wert einer Handlung ohne Sinn.
Wir können die sichere Arbeitsweise der ethischen Urteilskraft
an jedem beliebigen Beispiele aufzeige, so etwa an diesem: Es wolle
jemand seinen Mitmenschen ums Leben bringen, sei es, um Rache zu
nehmen, sei es um ihn zu berauben, und er habe Gründe,
anzunehmen, daß seine Tat unbemerkt bleibt. Nach einigem
Schwanken aber entschließt er sich, den Mord nicht zu begehen.
Da gibt es nun eine Reihe von Motiven, die uns sofort in die
Hände fallen und sich wie eine Klimax staffeln. Das erste sei,
daß er die Sicherheit für das Geheimnis doch nicht
für eine vollkommene erkennt und ihn nun die Furcht vor Strafe
befällt. Hier sagt uns die moralische Urteilskraft, daß
das Motiv für das Unterlassen des Mordes kein sittliches ist,
und zwar auch dann nicht, wenn der Nicht-Täter die Strafe der
Höllenqual nach dem Tode fürchtet. Diese Bestrafung mag als
eine höhere Ordnung gelten, und es mag dem Unterlasser ein
gewisses religiöses Gefühl zugebilligt werden: sittlicher
aber wird die Unterlassung dadurch nicht. Mit einem Worte: die
moralische Urteilskraft läßt eine Unterlassung aus Furcht
nicht zu. Sie sagt uns nämlich ganz richtig: der Mann bleibt
damit im Grunde seines Wesens doch ein Mörder. Die zweite Stufe
der Klimax trägt als tatverhinderndes Motiv eine Einsicht aus
Vernunft. Der Mann sagt sich: ich bin kein bloßes Naturwesen,
das seinen Trieben folgt, sondern ich habe Vernunft, und dieses macht
die Würde meines Menschentums aus. Von ihr aber erfahre ich,
daß der Mord eine Tat ist, die, wollte man sie anerkennen, den
Menschen, also auch mich selbst, dem Mordwillen seiner Mitmenschen
ausliefern würde; damit aber wäre die menschliche
Gesellschaft, der ich angehöre, im Prinzip aufgehoben; der Mord
also widerspricht also eben diesem Prinzip, er kann niemals als
allgemeines Gesetz anerkannt werden und ist demnach gegen die
Sittlichkeit. Das ist ohne Zweifel alles richtig, eine echte
»Vorspiegelung wahrer Tatsachen« (KURT HILLER). Allein,
wenn dieser vernünftige Gedankengang, der nur zu billigen ist,
das Motiv ist, das unserm Mann die Mordwaffe entreißt, so sagt
die moralische Urteilskraft mit größter Treffsicherheit,
daß sie unbefriedigt sei. Sie ist nur eben gerade geneigt, die
Unterlassung als ein legales Verhalten anzuerkennen, im übrigen
aber hält sie den Mann für einen faden Pedanten; und in
einem verborgenen Winkel ihrer Existenz sagt sie sogar heimlich zu
sich selber: wenn er doch lieber den Mord begangen hätte, statt
mir hier vorzuflunkern daß er kein Mörder sei! Dann
wäre er wenigstens ein Kerl, wenn auch ein schlechter. Denn die
moralische Urteilskraft bemerkt sehr wohl, daß die Vernunft
zwar imstande ist, auf Grund einer solchen Überlegung die Tat zu
verhindern, aber das mörderische Wesen, das im Menschen steckt,
nicht aus den Angeln heben kann. sie schreckt demnach deutlich davor
zurück, eine solche aus Gründen der »praktischen
Vernunft« erfolgte Unterlassung als sittlich anzuerkennen, genau
so, wie ihre jüngere und darum schönere Schwester, die
ästhetische Urteilskraft, sich weigert, eine Blume, die
täuschend ähnlich aus Papier gemacht ist, schön zu
nennen.
Die moralische Urteilskraft hat mit der ästhetischen auch das
gemein, daß sie ihrem Gegenstande vorurteilsfrei
gegenübersteht und nicht darauf festgelegt ist, einen bestimmten
Kurs einzuhalten. Das heißt, man kann nicht wissen, welche
moralischen Werte sie entdeckt und wo sie diese entdeckt. Im Bereiche
des Schönen kann man auch nicht vorher sagen, wo überall
noch Schönheit gefunden werden kann. Ethik und Schönheit
sind beide polymorph. Die beiden Urteilskräfte schlagen sicher
an, wie Wünschelruten, wenn sie auf verborgene Adern
stoßen. Zu einem Menschen, von dem wir wissen, daß er
viel aus Mitleid handelt, Menschen und Tieren Wohltaten erweist,
haben wir eine unmittelbare Sympathie ethisch gefärbter Art;
allein unser Urteil sagt uns, da wir uns hier erst im Vorfelde
befinden, ähnlich wie beim Kunsthandwerk, das noch nicht
Schönheit um ihrer selbst willen ist. Erfahren wir aber,
daß er für seine Mildtätigkeit Kummer und Elend, ja
den drohenden Tod auf sich genommen hat: so schlägt die
Wünschelrute der ethischen Urteilskraft sofort gewaltig an und
ist so leicht nicht mehr zur Ruhe zu bringen. Das macht: dieser
Mensch ist in den Konfliktfall gekommen und hat nun zeigen
müssen, was er in Wahrheit ist. Von da an erst, nicht
früher, tritt das Sollen als die Form aller Ethik mit
kategorischer Deutlichkeit auf. Er weiß nun, daß seine
Mildtätigkeit nicht bloß ein weichmütiger Zug seines
empirischen Charakters ist, wie wir ihn in entarteter Form bei den
typischen Mitgliedern von Tierschutzvereinen finden, sondern ein
Gebot höherer Ordnung. - Konflikt aber gibt es zweierlei: den
einfachen, zwischen dem sittlichen Gebot und den Widerständen,
die aus dem empirischen Charakter stammen - KANTS »Antriebe der
Sinnlichkeit« -, und den doppelten zwischen zwei ethischen
Forderungen, die sich im Vollzuge gegenseitig ausschließen. Das
ist der tragische Konflikt, der so oft Gegenstand der Dichtung,
besonders der dramatischen, geworden ist.
4. DIE BINDUNG DER ETHIK DURCH DEN STAAT
Ein Teil der ethischen Substanz des Menschen wird vom Staat
absorbiert, und zwar geschieht das nicht aus Willkür, sondern
dadurch, daß dessen eignes Dasein durch diesen gebundenen Teil
bedingt wird. Es ist ein ähnlicher - vielleicht der gleiche -
Vorgang, wie wenn in der mineralischen Natur Wasser in den Gesteinen
und Salzkristallen in gebundener Form enthalten ist, ebenso wie in
jedem lebenden Wesen; ohne diese Bindung des Wassers kann weder die
mineralische noch die organische Natur bestehen. In gleicher Weise
kann es auch keinen Staat geben ohne Bindung eines großen
Teiles der ethischen Kräfte *. Ein Staat setzt stets andere
Staaten voraus, mit denen er in verhaltenem Kriege lebt. Die
Begeisterung, die er erwecken kann, die heldenmütige Aufopferung
tragen unverkennbar ethische Züge, und wenn wir von den Taten
des Leonidas, des Mucius Scaevola, des Regulus, des Winkelried oder
des Kanoniers Klinke bei den Düppeler Schanzen hören, so
schlägt unsere ethische Urteilskraft gewaltig an und ist gar
nicht zu bändigen, selbst wenn man es wollte. Der Staat, nicht
die bloße Gesellschaft, die keine Befehlsgewalt hat, ist die
eigentliche Fundgrube der tragischen Konflikte, die ich hier in
reicher Fülle immer wieder anbieten. Man denke etwa an: »Es
geht mit gedämpftem Trommelschlag...« oder an König
Friedrich Wilhelm I. von Preußen, den es gewiß etwas
gekostet hat - denn er war im Grunde von weicher Natur -, seinem
alten Katte den Sohn aufs Schafott zu schicken; »aber es ist
besser, er stirbt, als daß die Gerechtigkeit Schaden
leide«. - Doch wir verlassen diesen gebundenen Teil der Ethik
wieder, da er nicht auf dem geraden Wege zu unserm Thema Metaphysik
und Ethik, liegt. Wie, als ob wir vom Wasser sprechen wollten, dabei
aber nicht von dem reden, das ist den Lebewesen und Gesteinen
gebunden ist - obwohl es auch Wasser ist -, sondern nur vom Meer, vom
Regen, von den Flüssen und Seen; wir stoßen die Tür
ins Freie auf.
5. METAPHYSIK UND ETHIK
Bekanntlich hat ARTHUR SCHOPENHAUER mit seinem feinen Gefühl
für das innerlich Unwahre in seiner Kritik der kantischen Ethik
einen erfolgreichen Vorstoß gemacht; auch er würde einer
aus Gründen der »praktischen Vernunft« unterlassenen
Übeltat die Anerkennung des Sittlichen versagen, und er hat in
seiner plastischen Ausdrucksweise uns sehr eindringliche Bilder von
diesem Genre vor Augen geführt. Es sei, so meint er, ganz
unglaubwürdig und gar nicht zu begreifen, daß eine so
dünne Sache wie die Vernunft imstande sein soll, gegen jenen
Berg von Bosheit und Niedertracht, wie er im Menschen sei, mit Erfolg
anzurennen. Nur ein Seiendes, eine Realität, kein Denkendes
könne einen echten Gegenpol schaffen. Eine hierfür
charakteristische Stelle findet sich etwa in der Preisschrift
über die Grundlage der Moral, § 12, und lautet: »
Dieser (sc. Antrieb zur Gerechtigkeit und Menschenliebe) muß
vielmehr etwas seyn, das wenig Nachdenken, noch weniger Abstraktion
und Kombination erfordert, das, von der Verstandesbildung
unabhängig, jeden, auch den rohesten Menschen anspreche,
bloß auf anschaulicher Auffassung beruhe und unmittelbar aus
der Realität der Dinge sich aufdringe« (Sperrung von mir).
Bis hierhin ist sein Einspruch richtig und fruchtbar; denn er
enthält die gänzliche Unproduktivität, man könnte
auch sagen, Virginität der Vernunft - über die im
übrigen noch zu reden sein wird -; er billigt ihr bestenfalls
wohl die Fähigkeit zu, eine einzelne böse Handlung zu
unterbinden, nicht aber, das Mördertum im Innern selber
auszurotten; gerade das aber fordert die ethische Urteilskraft.
Als jenes Gegengewicht nun hat Schopenhauer bekanntlich das Mitleid
genannt und es zur seienden Basis der Ethik überhaupt gemacht.
Die Art nun und die ganze Eindringlichkeit, wie er das Mitleid
behandelt, ist von solcher bestrickenden Überzeugungskraft und
solcher Schönheit, daß man nur dringend wünschen
möchte, es stünde mit ihrer Wahrheit ebenso. Allein der
metaphysische Rang, den Schopenhauer dem Mitleid erfechten will und
der ihm ja allein die Gewalt über die mörderischen Triebe
in die Hand spielen würde, dieser Rang ist nicht einzuhalten.
Sein Gedankengang ist bekanntlich der folgende: Der Kern und das
Wesen der Welt, das ihrer bloßen Erscheinung zum Grunde
liegende »Ding an sich« ist der Wille, das heißt das,
was wir, nach innen sehend, in uns als das ewig Wollende und
Begehrende verspüren. Dieser Wille, der nur einer ist, wird
durch das principium individuationis in die unendliche Vielzahl der
einzelnen Lebewesen zerspalten und befindet sich nun hier durch das
bellum omnium contra omnes im Zustand der Selbstzerfleischung. Im
Mitleid aber, welches nur beim Menschen vorkommt, kündet sich
die wahre Einheit und Alleinigkeit des Willens an und wird
unmittelbar empfunden; das principium individuationis wird hier in
seiner Trüglichkeit durchschaut, so daß ich in der
leidenden Mitkreatur im Grunde mich selbst als das Leidende empfinde
und zwar eben angeschlossen an den metaphysischen Kern der Welt. Es
ist die indische tattwam asi (das bist du!) ó Lehre, welche
besagen will, daß im Grunde ich mit dem Hund und dem Wurm und
dem Mitmenschen ein und dasselbe Wesen ausmache, deren Leid also mein
Leid ist und nicht etwa bloß mit ihm verglichen wird. Die Lehre
ist aber falsch. Denn wenn ich auch mit all diesen Lebewesen, ja mit
Pflanzen und Gestein noch dazu, den Willen gemeinsam habe, so reicht
dieser doch nur genau so weit in die Natur hinein wie die Materie,
die ich auch mit ihnen teile; denn der Wille ist nichts anderes als
die Materie von innen gesehen. Mein Grund aber ist er nicht und auch
nicht mein »eigentliches Wesen«. Denn ich unterliege als
Mensch zwar dem principium individuationis, durch welches ich der
Einzelfall der Tierart Mensch bin, aber außerdem dem principium
personalitatis, durch das ich Ich selber bin. Und hier liegt mein
Grund und mein Wesen. Durch meine Individualität stehe ich in
Beziehung zum Archetypus der Tierart Mensch, und in mir kann niemals
mehr sein, als diese Art enthält, genau, wie das einzelne Pferd
niemals mehr und anderes enthalten kann als sein platonisches Urbild.
Es gibt hier nur ((genesis en kuklos.)) Durch meine Personalität
aber bin ich in Richtung auf den Welthintergrund offen und jedem
Einbruch metaphysischer Mächte ausgesetzt; das aber macht die
Heimatlosigkeit, freilich auch die mögliche Größe und
den Wert des höheren Menschentums aus. Die Gewähr, das
heißt das Vorhandensein und die objektive Giltigkeit der Person
aber ist durch den Eros in seiner Symbiose mit dem Individualbegriff
gegeben, und hier ruft die Natur allen Versuche, das
»Individuelle« als einen aufhebbaren Schein, der vor dem
»Wahren Wesen« als ein Schleier lagert, darzustellen, zu:
»Bis hierhin und nicht weiter!« - Diese volle und
garantierte Festigkeit des Persönlichen konnte Schopenhauer
freilich nicht erkennen, und zwar hinderte ihn darein seine
unglückliche Einteilung des Eros in »Wollust« und
»Caritas«; auch wollte er es nicht. Kant, der es wollte,
konnte es ebensowenig, weil die Liebe bei ihm ein bloßer
»Affekt« ist, der noch dazu das Beiwort
»pathologisch« trägt. Nur Platon, dessen Spuren wir
hier folgen, wäre dazu imstande gewesen; denn er hatte einen
unbefangenen Blick für die natürliche Liebe; aber er kam
wieder mit der »Idee des Guten« nicht zu Rande. -
So verlockend es also ist, im Mitleid eine Brücke zum leidenden
Weltwesen zu sehen, aus dem man die Begründung einer asketischen
und welterlösenden Ethik heraufholen kann, und so imponierend
der Bau ist, den Schopenhauer um dieses große Thema
aufführt: aber er hält nicht stand, und wir müssen es
uns damit genug sein lassen, dem Mitleid eine bescheidenere Rolle
zuzuweisen. Es gehört offenbar nur dem Subjekte an als ein naher
und leicht assimilierbarer Verwandter der Liebe, man könnte
sagen: Liebe, infiziert vom Leid.
Auch wenn also Schopenhauer mit seiner Grundlegung der Ethik kein
rechtes Glück gehabt hat, so bleibt doch sein Verdienst
bestehen, auf die Notwendigkeit einer seienden Basis hingewiesen zu
haben. Eine auf reiner praktischer Vernunft aufgebaute Ethik vermag
sehr wohl im Menschen, der sie befolgt, einzelne böse Handlungen
von Fall zu Fall zu unterbinden, ja sei vermag sogar
Grundsätzlichkeiten im Charakter herauszubilden, die ein
für allemal einen ganzen Komplex von bösen Taten nicht zur
Ausführung kommen lassen: aber sie läßt, genau wie
die Furcht-Ethik, die Antriebe bestehen. Wer demnach aus Grundsatz
nicht stiehlt, bleibt derselbe Spitzbube, der er war, als er es
nötig hatte, diesen Grundsatz für sich aufzustellen. Unsere
ethische Urteilskraft aber fragt immer nach dem Sein eines Menschen
und verlegt mit Recht dorthin den Grund für seine
Handlungen.
Hierüber wird uns Klarheit kommen, wenn wir zu jener Klimax der
Motive zurückkehren, die wir vor kurzem verließen, und die
nächste Stufe betrachten. Auf dieser finden wir unsern Mann kurz
vor dem Begehen der Tat; er hat alle Vorbereitungen getroffen, der
Plan ist auf das Genaueste festgelegt, das ahnungslose Opfer im Netz
gefangen, eine Möglichkeit der Entdeckung nach menschlichem
Ermessen ausgeschlossen, dabei der Gewinn für ihn enorm. Da
plötzlich stößt er auf ein völlig
unüberwindliches Hindernis in seinem Innern: er läßt
den Mord sein. Die Vorbereitungen werden behutsam
rückgängig gemacht - wobei er dazu seinem nicht geringen
Schrecken doch einige Unvorsichtigkeiten entdeckt -, und er zieht
sich gelassen und nachdenklich in sein bürgerliches Dasein
zurück, aus dem er ja durch seine angehende Mörderkarriere
nicht unbedenklich herausgeglitten war. Einem vertrauten Freunde
aber, dem er die ihm unbegreifliche Geschichte erzählt,
antwortet er auf die Frage, warum er denn den Mord schließlich
doch nicht begangen habe, ganz einfach: »Weil Gott sprach: Du
sollst nicht töten« und aus keinem andern Grunde«.
-
Unsere moralische Urteilskraft, wenn sie dieses hört, greift
sofort und ohne Bedenken zu, und da sie die ja Kraft ist und nicht
bloß Urteil, so erwärmt sie sich im echten Gefühle
der Achtung. Bei den faden Erscheinungen der Vernunftethik wollte sie
nicht und schüttelte ihr Haupt; hier aber fühlt sie sich in
ihrem eignen Wesen getroffen und zufriedengestellt. Denn die
Begründung für das Unterlassen des Morde: »es ist
Gottes Wille« besagt - ganz gleich, was der Täter sonst
etwa über Gott zu denken beliebt -, besagt eben dies, daß
der Grund dieser Handlung rein objektiv ist, undurchdenkbar und
unbegründbar. Das aber ist das Merkmal einer sittlichen
Handlung. Und gerade weil die Vernunftethik diesen Grund angeben
will, gerade deshalb rangiert unsere moralische Urteilskraft die
daraus fließenden Handlungen nicht unter die sittlichen ein,
bestenfalls unter die legalen. Es ist unerfindlich und
unergründlich, warum der Mensch absolut nicht töten soll;
es ist ergründlich und erfindlich, warum er es relativ nicht
soll, nämlich relativ auf Staat und Gesellschaft. Die Antwort
nämlich, die diese beiden auf die Frage: »Darf ich morden
in eignem Interesse?« geben, lautet natürlich
»Nein!« Denn wenn der Mord erlaubt wäre, so würde
das dem Bestehen von Staat und Gesellschaft logisch widersprechen;
das ist sonnenklar, wie alle hypothetischen Imperative. Frage ich
aber. »Darf ich in Notwehr töten?«, so antwortet der
Staat »Ja« und begründet das ebenso überzeugend.
Frage ich. »Darf ich um meiner Ehre willen einen Zweikampf auf
Leben und Tod führen?«, so antwortet der Staat manchmal mit
Nein, ist aber sehr tolerant in der Verfolgung der Straftat, manchmal
aber auch mit Ja. Die Gesellschaft aber fordert unter allen
Umständen den Zweikampf - auch gegen das Gesetz des Staates -
und schließt den aus, der ihn unterläßt. Bei der
Tötung auf Verlangen aber, sowie beim Selbstmord reagieren die
Staaten verschieden, je nachdem, was sich die Vernunft des
Gesetzgebers für Vorstellungen über das Wesen des Staates
und des Menschen machte. Das Gebot Gottes aber: »Du sollst nicht
töten!«, sagt eben dies und gar nichts anderes, kategorisch
ohne jede Einschränkung und ohne jede Rücksicht auf die
Folgen für den einzelnen und den Staat. Wer aber aus diesem
Grunde allein nicht tötet, der bezieht die Kraft, die ihn -
obwohl er es gerne möchte - daran hindert, aus einem Bezirk,
der, in Achsenrichtung verlaufend, zu den Motiven »aus reiner
praktischer Vernunft« oder des Sozialen senkrecht steht. Jenem
Manne, der hier auf der dritten Stufe der Klimax plötzlich vom
Morde abläßt, passiert etwas ganz anderes als dem Ethiker
aus Vernunft; seinem Willen zum Morde begegnete plötzlich ein
anderer Wille, der ihm gebot: »Du sollst nicht
töten!«, und zwar ohne Begründung, aber auf dem Grunde
eben dieses anderen Willens.
Man sieht im Falle der Notwehr besonders deutlich, daß die
Ethik und das Staatsgesetz verschiedene Wurzeln haben. Wer einen
andern tötet, weil dieser ihn töten wollte, der handelt
durchaus so, daß die Maxime seines Tuns Grundlage für eine
allgemeine Gesetzgebung werden kann. Er handelt recht. Aber unsere
ethische Urteilskraft verhält sich unbeteiligt. Es bleibt
für den Täter aus Notwehr ein Rest zu tragen übrig.
Recht ist weniger als Ethik. Zudem: Alle Strafgesetzparagraphen aller
Länder zu allen Zeiten formulieren sprachlich auf dieselbe
Weise, nämlich »wer auch immer (quicumque) tötet,
stiehlt, verleumdet, ehebricht usw. ...«. Die Ethik aber sagt:
»Du sollst nicht töten!« Das ist etwas völlig
anderes. Das Staatsgesetz spricht das Individuum an, die Ethik allein
die Person.
Man kann sich getrost hinzudenken, daß bei jener Umkehr des
Mordwillens Gefühle des Mitleids mit dem Opfer, in dessen
brechendes Auge er nicht zu sehen wagt oder dessen weinende
Angehörige er denkt, bei dem Täter eine Rolle gespielt
haben, und Schopenhauer meint, daß dies die alleinige Wurzel
aller Handlungen sei, die ins Gebiet der Ethik gehören*. Allein
es fehlt hier das Moment der Spannung und der Gesetzlichkeit, das
unsere ethische Urteilskraft beansprucht. Es muß ein Konflikt
da sein, der den Menschen an den Rand des Abgrundes führt.
Dieser aber besteht zwischen dem eignen Wollen, das böse ist,
und dem andern, das durch eben diesen bösen Willen aus der Tiefe
des Welthintergrundes als ein Sollen heraufgerufen wird. Es
genügt nicht, den eignen Willen nicht zu wollen, sondern es ist
nötig, dem andern zu gehorchen. Wäre Mitleid die reale
Wurzel der Ethik, so würde die Tötung eines andern aus
Erbarmen sich im Gewissen ohne Rest auflösen. Das ist aber nicht
der Fall, sondern es meldet sich allemal ein deutlicher Einspruch,
der den Tötenden aus Mitleid schließlich doch zum echten
Mörder stempelt und ihn in die Hände des lebendigen Gottes
fallen läßt.
Hier liegt aber auf einmal die Spur eines verderblichen Sprachgeizes
vor uns. Die deutsche Sprache - und jede andere auch - bildet das
Tätigkeitswort »wollen« und dazu das Substantivum
»Wille«. Daher nimmt man ohne Arg an, daß all meinem
Wollen, das ich in mir habe, Hunger, Durst, Wollust, Trägheit,
ein realer Wille zugrunde liegt, der wirklich da ist. Niemand
zweifelt daran, und mit Recht. Nun spüre ich aber auch in mir
gesollte Dinge, allerdings immer nur negativ als Gewissensbiß,
denn da ich unter dem Druck der Erbsünde allem dem, was ich
soll, stets zunächst mein Nichtwollen entgegensetze, so ist er
es, der sich am vordringlichsten meldet. Obwohl dieser
Gewissensbiß als durchaus real empfunden wird, genau wie Hunger
und Durst und Wollust - Orestes kann ein Lied davon singen -, hat die
Sprache doch hier versagt. Sie hat nämlich zu »sollen«
kein Substantivum gebildet, wodurch der Eindruck entsteht, als ob dem
Sollen auch nichts Reales entspreche, sondern nur ein leeres Kommando
der Vernunft. Das ist nun ein ganz furchtbarer Fall von Sprachgeiz,
durch den in der Tat die Menschheit auf den ausweglosen Gedanken
gebracht worden ist, daß es eigentlich kein Sollen gibt. Ein
Gedanke voller Verhängnis, dem Kant verfiel, und den nur die
Propheten Israels richtig gestellt haben. Das Sollen hat eben auch
Willenscharakter und ist demnach real-objektiv. Der jüdische
Theologe Hans Joachim Schoeps hat einmal ganz richtig bemerkt,
daß die einzige Beziehung Gottes zum Menschen eine
Willensbeziehung sei und nicht etwa eine der Erkenntnis. Hier
kündigt sich an, was später aufglänzen wird,
nämlich daß es objektive Theologie gibt, mir der nicht zu
spaßen ist.
Wir betreten von neuem die Klimax der ethischen Motive und kehren zu
jenem Manne zurück, der plötzlich in seiner Mordabsicht
durch das Gebot Gottes - wie er sich ausdrückte - gehindert
wird. Dabei müssen wir alles beiseite lassen, was dieser Mann
etwa sonst noch über »Gott« denkt, das heißt
jede sogenannte »religiöse Überzeugung«,
natürlich auch jeden Gedanken an Lohn und Strafe. Denn diese
sind alle miteinander bloße Spiegelungen eines Vorganges im
Intellekt, der damit nie etwas Rechtes anzufangen weiß. Was
diesen Mann im Innersten bewogen hat, von seiner Freveltat
abzustehen, war eine Begegnung mit einem andern Willen und ein
Erlebnis dieses Willens, wodurch - was für ein Wunder! - sein
Mördertum wirklich aufgehoben wurde. Dieser Mann ist kein
Mörder mehr. Dadurch, daß er die Rückverbindung mit
dem andern Willen tatsächlich fand, hat sich bei ihm Religion
ereignet. Es ist ihm etwas zu Hilfe gekommen, und diese Hilfe drang
durch, weil er gehorchte. Denn der Wille, auf den er hier
stieß, äußerte sich im in der kategorischen Form des
unbedingten Verbotes ohne Gründe. Würde man nun näher
in ihn eindringen und mit berechtigter Forscherneugier fragen, was
denn das nun für ein »anderer Wille« gewesen sei, auf
den er dann - nach seiner Aussage - stieß, so würden wir
zunächst eine eigentümliche Scheu bemerken davor, den Namen
Gottes auszusprechen. Es soll Menschen geben, die so fromm sind,
daß sie sich lieber als Atheisten gebärden, als sich auf
eine Bank mit denen zu setzen, für die dieser Name zur lieben
Gewohnheit geworden ist. Auf dieser natürlicher Scheu ((aidos))
beruht das tiefsinnige Gebot: »Du sollst den Namen des Herrn,
deines Gottes, nicht unnützlich führen.« - Fragen wir
nun, ob dieser andere Wille sich an eine Individualität gebunden
gezeigt hat, wie bei den antiken Göttern, so wird er mit
Bestimmtheit und einem deutlichen Lächeln antworten: Nein!
Fragen wir aber, ob an eine Person, so hört er auf zu
lächeln und sagt mit dringendem Ernst: »Gott ist Person;
denn sonst könnte er nicht zu mir sprechen.« Hier aber ist
das Ende möglicher Fragestellungen erreicht.
Wir treiben hier ein empirisches Verfahren, so wie es Schopenhauer
für die Ethik empfahl - nur, daß er selber dabei falsch
ging -, und holen uns Auskunft über die Abstammung des Guten
dort, wo wir hoffen dürfen, das zuständigste Material zu
finden. Wenn wir wissen wollen, wie Gesteine kristallisieren, so
gehen wir in einen Steinbruch, nicht aber ans Meer, wo alles schon zu
Sand zerrieben ist. Wollen wir aber erfahren, aus welchen Quellen das
Gute fließt, so schlagen wir nicht die Folianten der
Moralphilosophen auf, die schon alles zu Sand verrieben haben,
sondern wir prüfen das wirkliche Gewissen eines echten
Übeltäters. Denn
»Wer niemals am Bruder den Fleck für den
Dolchstoß bemaß,
Wie leicht ist sein Leben, und wie dünn das Gedachte,
Dem, der von des Schierlings betäubenden Körnern
nicht aß,
Oh, wüßtet ihr, wie ich euch alle ein wenig
verachte!« (GEORGE)
Hierbei stoßen wir noch auf ein anderes Merkmal der echten
ethischen Handlung gegenüber den bloßen Scheingeburten aus
Vernunft: nämlich auf die deutliche Empfindung dafür,
daß die Stromrichtung der ethischen Kraft sich umkehrt; statt
vom Subjekt zum Objekt zu gehen, kommt der Druck vom Objekt; es
entsteht ein Gefälle, das durch die Handlung ausgeglichen wird.
Der Leser erinnert sich, daß wir dieser nderung der
Richtung schon öfters begegnet sind, und daß das immer ein
Signal dafür war, daß eine Sache richtiggestellt wurde.
Der unterlassene Mord, also die gute Handlung, bezieht ihre Kraft aus
dem rein objektiven Bereiche dessen, was der Täter den Willen
Gottes nennt. Und erst durch diese Umkehrung gelingt die Tat als eine
gute. - Sofort aber und aus dem gleichen Grunde schlägt unsere
Urteilskraft zu und sagt ihr unbedingtes stürmisches Ja. Die
Umkehrung der Stromrichtung ist also sowohl der Grund dafür,
daß die Handlung gelingt, wie auch für unser Urteil. Kant
formuliert das so: die gute Tat müsse allein um des Gesetzes
willen geschehen; er genierte sich zu sagen: allein um des
Gesetzgebers willen. Das aber sagt unsere moralische Urteilskraft,
und das sagt auch der Täter.
Es stand hier also Wille gegen Wille vermittelt durch die Vernunft,
die man dann sehr wohl »praktisch« nennen kann, wenn man es
nur unterläßt, ihr auch die leiseste Spur eines
schöpferischen Vermögens anzudichten. Daher kommt es auch,
daß hier der Mordwille wirklich in Schach gehalten wird.
Freilich gehört dazu, daß immer wieder von neuem der
Einklang durch den guten Willen des Täters hergestellt wird
vermittels einer Art Pädagogik, die dem etwa neu anhebenden
Willen zum Bösen siegreich begegnet. Es gelingt aber auch, wenn
nur die Brücke zum andern Willen freigehalten wird. Und so
wundern wir uns denn nicht, wenn ein Mensch dieser Art ein solches
Brückenschlagen seinen Gottesdienst nennt. Sein Ergebnis nennt
er die Versöhnung. Das alles aber ist unmöglich in der
Vernunftethik. Denn hier steht nicht Wille gegen Wille, also Seiendes
gegen Seiendes, sondern Vernunft gegen Willen, also Denkendes gegen
Seiendes. Man braucht sich davon nur ein Bild zu machen, um gleich zu
bemerken, daß hier der böse Wille nur beiseite geschoben
und verdrängt wird, der Täter nur de facto seine Tat nicht
begeht und heimlich doch ein Mörder bleibt. Es tritt keine
Umkehrung der Stromrichtung ein, und unsere moralische Urteilskraft
schlägt nicht an.
6. SCHOPENHAUERS »EMPIRISCHER WEG« IN DER ETHIK
Der alte Schopenhauer würde sich im Grabe umdrehen, wenn er das
bisher über die Grundlegung der Ethik Vorgetragene läse.
Und da wir es hier mit einem großen Geiste zu tun haben, so ist
er zu fürchten. Es sei, würde er wettern, ein der
Philosophie unwürdiges Unternehmen sich auf den Dekalog zu
berufen; sie habe zu forschen und zu begründen, aber nicht
Judenmythologie zu treiben; und was die vorgebliche Sollform der
Ethik anlangt, so gehöre sie auf den Exerzierplatz, aber nicht
in die Moral. Wir sind gerüstet. - Es gehört zu den
unvergänglichen Verdiensten Schopenhauers, den wahren,
nämlich virginalen Charakter der Vernunft festgestellt zu haben,
und wir werden ihm derethalben noch in dem Kapitel über die
»Ordnung des Intellektes« ein besonderes Ehrenmal setzen,
was die akademische Philosophie bisher unterließ; dies trotz
jenes Pferdefußes, wonach die Vernunft ein bloßes
»Produkt des Gehirnes« sei, das als ein »Parasit«
auf dem Willen aufsitze zu keinem andern Zweck, als zur Befriedigung
dieses - stets bösen - Willens über die Möglichkeiten
der Tierheit hinaus. Hieraus hat er dem Darwinismus eine
unfreiwillige Hilfestellung verschafft, die denn auch weidlich
ausgenutzt wurde. Es war aber ein fruchtbarer Gedanke von ihm, in
bezug auf die Ethik den empirischen Weg zu gehen; denn es hatte sich
als Fehlschlag erwiesen, sie aus der Vernunft abzuleiten. Die
Philosophie aber hat nur die beiden Möglichkeiten: aus Vernunft
oder aus Erfahrung, wobei sie, im Unterschiede zur Naturwissenschaft,
stets eine transzendentale Kritik dieser Erfahrung bereit
hält.
Die subjektive Instanz hierfür trägt den Namen der
moralischen Urteilskraft in genau demselben Sinne, wie bei der
Schönheit die ästhetische gilt. Nun käme man in der
Kunstwissenschaft natürlich keinen Schritt weiter, wenn man die
Augen nicht aufmachte und einfach hinsähe, was an Werken des
Schönen von der Natur her geboten wird. Kant, der den Begriff
der ästhetischen Urteilskraft in die Philosophie eingeführt
hat, will die Augen nicht recht aufmachen, weshalb jene Schrift von
ihm so ausgesprochen dürftig wirkt, dagegen Schopenhauer im
dritten Buch der »Welt als Wille und Vorstellung« wie
trunken von Schönheit dasteht. Er hat hier den richtigen Weg
nicht nur gewählt, sondern ist ihn auch gleich gegangen. Nun
muß aber die ethische Urteilskraft in der gleichen Weise in den
Erkenntnisprozeß eingesetzt werden, das heißt, sie
muß sich von der Natur belehren lassen, wieviele ethische Werte
es gibt. Diese werden entdeckt (Alois Riehl) und nicht etwa von der
Vernunft konstruiert. Hat man diese Gleichordnung der beiden
Urteilskräfte aber zugegeben, so kann man nicht auf einmal
sagen: es gibt nur ein Grundelement der sittlichen Werte, das aller
anderen Vater ist, nämlich das Mitleid oder sonst etwas. Wir
haben es auch in der Naturforschung nicht in der Hand,
vorzuschreiben, wieviele Elemente der Stoffe es zu geben habe,
sondern die Natur sagt: mit soviel komme ich aus; nicht mehr und
nicht weniger. So hat sie auch in der Ethik einen Plural der
Grundstämme gesetzt, den die Urteilskraft zu respektieren hat.
Oder man versuche einmal, die Tat des Winkelried aus dem Mitleid
abzuleiten, wie das Schopenhauer wirklich tut; das wird alles schief
und unglaubwürdig. Die Urteilskraft muß unvoreingenommen
bleiben, in der Ethik soviel wie in der Kunst; dann wird sie auf den
ersten Blick entdecken, daß die Inhalte der Ethik einander
divergent sind, daß sie aber alle in einem konvergieren,
nämlich in der Form des Sollens. In dieser - und keiner anderen
- kommen sie im Subjekt zielsicher an, eben weil im Objekt dafür
ein »Soll-Wille« vorhanden ist, für den die Sprache
versäumt hat, ein unüberwindliches Wort zu finden.
Redlichkeit ist etwas anderes als Hilfsbereitschaft, Tapferkeit etwas
anderes als Mitleid, Wahrheitsliebe etwas anderes als Keuschheit,
Stolz etwas anderes als Treue - aber indem wir das alles aussprechen
und dabei das Gefühl der Zustimmung haben, sagen wir, daß
diese Werte sein sollen und zwar absolut, das heißt
kategorisch. Kein Mensch ist imstande, einen dieser Werte als
für ihn unverbindlich abzulehnen, ohne nicht zugleich auf sein
Menschtum zu verzichten, ganz gleich, wie oft er gegen sie
verstößt. Er kann das so wenig, wie er leugnen kann,
daß Ursache und Wirkung durch das Band der Notwendigkeit
verknüpft sind.
Hier begegnen wir Schopenhauers energischem Einspruch, denn er
fährt wie von der Tarantel gestochen hoch. Das sei ganz
ungehörig, meint er, von einem Soll-Gesetz in der Ethik zu
sprechen; diesen Irrtum habe Kant aufgebracht, der es sogar fertig
bekäme, hier von einem »Gesetz« zu sprechen, das
möglicherweise in keinem einzigen Falle erfüllt werde.
Schönes Gesetz das ...! - Dann möge er ruhig so meinen wir
bescheiden, statt Gesetz »Gebot« sagen, das ändere
nichts, und daß ein Gebot auch dann gilt, wenn es nicht
erfüllt wird, das könne er doch nicht leugnen. -
»Exerzierplatz...!« knurrt der Alte grimmig, »Lohn und
Strafe...!« - Wir sind also hier, ohne es zu wollen, auf den
sozial gebundenen Teil der Ethik abgeglitten. »Und im
übrigen«, meint SCHOPENHAUER, »wo ein Imperativ ist,
da muß es auch einen Imperator geben, und damit stoßen
wir haargenau auf diesen Jehova und stehen mitten in der tollsten
Judenmythologie. Mit dergleichen Dingen aber gibt sich die
Philosophie nicht ab!« - Man sieht: es ist mit ihn nicht zu
reden.
Da bleibt kein anderer Rat, als sich gemeinsam mit ihm auf den
empirischen Weg zu begeben. Dieser aber verläuft in unserem
Falle am besten gleich von seiner Wohnung ins Gasthaus, und wir haben
die Ehre ihn zu begleiten. Er geht immer noch mit finsterer Stirn
fast beleidigt neben uns; denn wir wissen von ihm, daß er genau
wie der alte Goethe, sehr empfindlich ist und es übelnimmt, wenn
man ihm eines seiner Grunddogmen bestreitet. - Da begegnet ihm an der
Straßenecke ein armes Weib, das, offenbar von Gram gebeugt, ihn
um eine kleine Gabe bittet. Schopenhauer aber lehnt mit einer heftig
verweisenden Gebärde ab; denn das Weib störte ihn in seinen
Gedanken. Ja, man kann sich bei seinem aufbrausenden Charakter
vorstellen, daß er das arme Geschöpf bei einer neuen Bitte
heftig angefahren habe. Im Gasthaus angelangt, setzt er sich an
seinen gewohnten Tisch, sichtlich gebessert in seiner Laune; denn er
war ein wohlgemuter Esser, und der Duft der Speisen erheitert
unwillkürlich sein Gemüt; er wird auch im Gespräch
aufgeschlossener. Das dauert aber nur eine kleine Weile, und noch ehe
der zweite Gang aufgetragen ist, wird wieder eine deutliche
Verfinsterung seines Gemütes spürbar. Er ist mit irgend
etwas unzufrieden. Natürlich verrät er das nicht; und so
groß auch die Ehre ist, der er uns würdig befunden hat,
mit ihm überhaupt zu sprechen: seine Seele - »wenn ich eine
habe« - gibt er uns nicht preis. Warum sollte er auch? Aber wir
wissen trotzdem: es ist das alte Bettelweib, das ihn beunruhigt. Er
kommt sich auf einmal schäbig vor, daß er, der wohlhabende
Mann, der sich jetzt an reich gedeckter Tafel labt, nicht einmal
einen Groschen übrig hatte, um der armseligen Kreatur ein
Stück Brot zu gewähren. Das devastierende Gefühl, das
nun allmählich mit steigender Gewalt von ihm Besitz ergreift,
ist zwar im Grade nach nicht mit dem zu vergleichen, von dem Orestes
befallen wurde, der Art nach ist es dasselbe. Drückt man es aber
in der kürzesten nur möglichen Formel aus, so lautet es:
»Du hättest dem Weibe ein Almosen geben sollen.« Da
hilft nun kein Wettern und Fluchen: er kann es gar nicht leugnen,
daß die Sprache - und zwar alle Sprachen - das Wort
»Soll« prägt und zwingend aufnötigt, wo immer ein
rgernis geschieht. Ja noch mehr: es bleibt ihm gar nichts
anderes übrig, als dem vermeintlichen Jehova zu gehorchen, wenn
anders er Wert darauf legt, von dem depravierenden Gefühle
seines Defektes frei zu kommen.
Nun ist die deutsche Sprache merkwürdig geizig gewesen, indem
sie das Verbum »sollen« für zwei tiefgreifend
verschiedene Vorkommnisse gebildet hat. Die lateinische mit ihrem
»debet«, »oportet«, »necesse est«,
sowie dem imperativen Gebrauche des Konjunktives und des Gerundivums
war hier freigebiger, ohne freilich die richtige Verwendung
dafür gefunden zu haben. Hier hat nun Kant eingegriffen und hat
die Unterscheidung von hypothetischen und kategorischen Imperativen
bewirkt. Das läuft so: wenn Schopenhauer, der starke Esser und
Trinker, bei einer Abendmahlzeit seien Etat überschritten hat
und ein Gericht zuviel aß, so kann es ihm, der Wert auf eine
ordentliche Haushaltung legte, passieren, daß er sich hinterher
sagt: »Dieses Ausgabe hätte ich mir nicht machen sollen,
denn sie widerstreitet meinen Grundsätzen der Sparsamkeit.«
Dieses Sollen ist dasselbe Wort wie das obengenannte, bedeutet aber
ganz etwas anderes. Denn der Grundsatz der Sparsamkeit wir hier vom
Subjekt gemacht. Es ist ebenso gut und lobenswert, wenn man sich
sagt: »Ich will im Alter niemandem zur Last fallen und darum
sparen, solange ich jung bin«, wie wenn man sagt: »Ich will
genießen, wenn ich etwas habe, und mich und mein Alter in
Gottes Hände legen.« Die Tugend der Sparsamkeit aber
erfordert oft ein erhebliches Maß von Selbstbeherrschung
»entgegen den Antrieben der Sinnlichkeit«, und es gibt
Lagen, in denen sich dieser rein hypothetische Kampf geradezu zum
Heroismus steigert. Trotzdem haben all diese Imperative und die aus
ihnen folgenden Handlungen - eben wegen ihres nur hypothetischen
Charakters - keinen echten ethischen Klang. Sie gleichen einer
Glocke, deren Rand man festhält, so das nur der Ton der
geschlagenen Bronze herauskommt. Anders die kategorischen; diese
lassen sich nicht aus subjektiven Vornahmen und Beschlüssen
ableiten, sie unterliegen keiner begründbaren Bedingung, sondern
sind unbedingt und werden nach Analogie der empirischen Dinge
unabweisbar gegeben. Sie haben demnach auch die Tiefe und die
Rätselhaftigkeit der Dinge; ihre Gesetze und ihre Inhalte
werden, wie diese, entdeckt. Ein Verstoß gegen sie greift nicht
den geordneten Lebenswillen an, wie es die hypothetischen tun,
sondern die Menschenwürde. Man stößt auf sie und ist
im Innersten angesprochen, ohne die Möglichkeit einer Widerrede.
Daher heißen sie kategorisch; sie wurzeln im Objekt. Das
Sollen, in welchem sich diese Inhalte sprachlich ausdrücken, ist
daher gar nicht zu verwechseln mit dem der bloß hypothetischen.
- Die subjektive Instanz aber, bei der sich diese Imperative melden,
heißt das Gewissen.
Verfolgen wir nun den Gang der Handlung weiter. Schopenhauer
verabschiedet sich von uns, da er noch etwas vorhabe. Statt aber, wie
man vielleicht sonst vermuten könnte, den Weg ins Freudenhaus zu
nehmen, begibt er sich zurück und sucht den Platz auf, wo das
alte Bettelweib gestanden hat. Er findet sie nicht mehr, fragt aber
spielende Kinder nach ihrer Wohnung. Er steigt behutsam in einen
dunklen Keller, klopft und steht bald vor der Gesuchten. »Da hat
Sie was! Aber unterstehe Sie sich nicht noch einmal, mich anzureden,
wenn ich auf der Straße mit jemandem in Unterhaltung
bin...!« Damit reicht er ihr einen blanken preußischen
Taler. Das alte Weib ist fassungslos über so viel Glück und
will dem Alten die Hände küssen. Der aber zuckt unwillig
zurück. »Der liebe Gott belohne Ihnen Ihre gute Tat.«
»Geh Sie mir mit Ihrem lieben Gott! Ich lasse Sie auch mit
meinem Siegreich-Vollendeten in Ruhe!« Womit die Szene beendet
ist. Sie ist zwar erfunden, aber man wird zugeben müssen,
daß sie aus Elementen seines Charakters aufgebaut ist; er
hätte so handeln könne. Aber was bedeutet das?
Nach seiner eignen Philosophie wäre dies eine Tat aus Mitleid
gewesen und eben deshalb eine ethische. Allein, man beachte einmal
den Unterschied der Lagen und denke sich, er habe doch dem Weibe bei
seiner ersten Begegnung in unserer Gesellschaft einen Groschen
geschenkt - und nun diese zweite Szene allein mit ihr: so fällt
einem sofort ein Unterschied in der Tiefenordnung auf; die zweite
Szene im Keller ist voller, enthält einen Ton mehr, und zwar
eben den, auf den es ankommt. Schopenhauer stellt hier seine
Menschenwürde wieder her, die immerhin etwas gelitten hatte; ja,
durch die überschwengliche Gabe eines blanken Talers hat er
einen eigentümlichen Glanz erhalten, den er auch nicht versteht,
weil er aus anderen Quellen stammt, als seine Philosophie sie zugeben
will. Es geht ihm ähnlich wie damals vor dem Löwenzwinger.
Seine Tat enthält drei ganz verschiedene Elemente, nämlich
zuerst das Vergehen durch die Unterlassung der Mildtätigkeit,
dann die aufrührende Gewalt des mahnenden »Soll« und
drittens den Akt der Wiederherstellung durch die Gabe. Es ist also
ein voller Akkord im Gegensatz zum einfachen Doppelton: Mitleid-Gabe,
den die erfüllte erste Szene nur abgegeben hätte. Der
führende Ton aber, der die Entscheidung bringt, ist der zweite,
das Soll, und nur in ihm liegt die Wendung zur Ethik. Es ist also
wohl eine Tat des Mitleids und der Barmherzigkeit, aber nicht eine
Tat aus Mitleid, sondern aus dem Gesetz.
So absonderlich es auch klingen mag und so heftig der alte Herr, der
im Banne seines Jugendwerkes steht, sich auch dagegen wehren
würde: er ist nicht dem vorgeblich »Siegreich
Vollendeten« gefolgt, sondern er hat das Gebot: »Du sollst
deinen Nächsten lieben als dich selbst« gehorcht. Nur
dadurch kann er die Wiederherstellung erlangen. Man kann also ruhig
»Atheist« sein - was macht schon das bißchen
»religiöse Überzeugung!« -, man dient Gott doch,
wenn man seine Gebote erfüllt. Die aber sind dringlich da. Es
geht ihm hier so, wie dem großen LAMARCK, der mit seinem
falschen Satz: »Es gibt keine Arten, sondern nur
Individuen« zum Ersten Namengeber der Arten wird. Das macht:
Religion ist nicht Überzeugung, sondern Vorgang der Natur. Sie
ist daher, wie wir allmählich sehen werden, mit der gleichen
Sicherheit da, wie die Natur selber.
Das war Schopenhauers »empirischer Weg in der Ethik«.
7. DIE BUDDHISTISCHE BEGRÜNDUNG
Bei dieser Gelegenheit wollen wir nicht versäumen, dem
sogenannten »Siegreich Vollendeten« und seinem
infernalischen Buddhismus auf die Finger zu sehen. Bei ihm handelt es
sich immer nur darum, das eigne Individuum - nicht die von ihm
geleugnete Person - dem Leide der Welt zu entreißen, und zwar
für immer, das heißt, über alle Inkarnationen hinweg.
Dies geschieht von der Seite des Willens her - der im Pali
»tanha« Durst heißt - durch die Askese, von der Seite
des Intellekts her aber durch eine freilich hochbeachtliche
Entdeckung des letzten Buddha Gotama, wonach der begriffliche
Prozeß dasselbe ist wie »Ernährung« (»ohne
Ernährer«) und wonach dieser, zum Stillstande gebracht, das
Leben zum Aufhören bringt (nibbana = Verlöschen) und damit
das Leid. Die Askese nun erreicht im alten Hinnajana-Buddhismus, dem
wir allein den Primat der reinen Lehre zubilligen können,
niemals die aktive Phase als Kasteiung, sondern sie bleibt passiv,
indem sie nur jegliches Lustgefühl ausschaltet. Der Mönch
ißt soviel als gerade eben zur Erhaltung seiner
Körperlichkeit nötig ist. Das Mitleid aber wird
aufgefaßt als ein Gefälle zwischen dem akut und dem nur
chronisch Leidenden, das sich als Gefühl bemerkbar macht; und
hier wird geboten, dem Leidenden durch einen Akt des Opfers
beizustehen, um so einen Ausgleich zu schaffen. Das Motiv ist aber
allemal die eigne Befreiung vom Leben, dem durch diesen asketischen
Akt ein Stück Boden entzogen wird. Der andere ist ganz
gleichgiltig. Man sieht also, daß die asketische Ethik im
Grunde ganz und gar egoistisch ist. Diesen Geschmack wird man auch
beim Lesen der wahrhaft grauenhaften Reden niemals los, und man
muß sich stets vor Augen halten, daß, wenn hier von
»Mitleid« und »Liebe« gesprochen wird, dies mit
den Seelenzuständen im Christentum nur die Worte gemeinsam hat,
sonst aber nicht einmal eine Berührungsstelle. Denn es kommt in
der Ethik nicht auf den Erfolg einer Handlung an, der der gleiche
sein möge, sondern allein auf die Quelle. SCHOPENHAUER, der in
seiner Lehre diesen Spuren folgt, sieht ja demnach auch im Mitleid
die erste Stufe der asketischen Selbstaufopferung; der folgen dann
weitere, die zur »gänzlichen Mortifikation des
Willens« führen und die Aufhebung der Welt zur Wirkung
haben. Das wäre immerhin möglich, wenn es möglich
wäre, so tief nicht zu wollen, wie es Schopenhauer meint; dann
aber müßte wiederum der Wille so tief in die Natur
hineinreichen, wie es Schopenhauer gleichfalls meint, und das Mitleid
müßte ihn so tief begleiten können. Das alles aber
ist nicht der Fall; denn der Wille reicht genau so tief in die Natur
wie die Materie, deren Innenseite er ist; weiter nicht.
Wenn man also hier von »Ethik« sprechen will, so kann es
nur in dem Sinne geschehen wie die Griechen das Wort im allgemeinen
gebrauchten; »ethos« (lateinisch: mos) schwingt in seiner
Bedeutung etwa zwischen »Lebensgewohnheit«,
»Gesinnung«, »Sitte«, »Lebensart«,
»Haltung«; und so kann man auch von einer »Ethik des
Pessimismus« sprechen, das heißt eben von der Lebensart
des Menschen, die einen bestimmten schlechten Geschmack der Welt auf
der Zunge haben. Aber dieser Geschmack ist ihre Sache und geht sonst
niemanden etwas an. Auch spricht man von einer »Ethik des
Kriegers« und das ist seine Sache; einer »Berufsethik«
- ja, wessen Sache ist das bloß? - Es gibt aber außerdem
und über dem die Ethik, »sie selbst an ihrem eignen
Orte«, und deren Giltigkeit begründet sich allein auf der
Tatsache eines objektiven Druckes auf jene Stelle im Subjekt, die
Gewissen heißt, wenn man ans Handeln denkt, und moralische
Urteilskraft, wenn ans Urteilen über eine Handlung. Diese Ethik,
die nicht umgestoßen werden kann, ohne zugleich das Menschentum
samt der Natur aufzuheben, hat sich nicht gebildet, ist nicht
geworden, sondern sie wurde entdeckt, und zwar vom Christentum.
8. DIE ENTDECKERROLLE DES CHRISTENTUMS IN DER ETHIK
Die Philosophie hat bisher in zwei verschiedenen Arten dem
Christentum gegenübergestanden. Im frühen Mittelalter
vergab die mächtige Kirche an sie den Auftrag, die
Vernunftgemäßheit der Glaubenssätze zu beweisen,
genau so, wie sie an die Malerei, die Architektur und die Plastik den
Auftrag vergab, die Geschichte des Christentums zu verherrlichen. Der
Auftrag wurde angenommen, und es entstand der Bau der Scholastik; die
Philosophie wurde »ancilla theologiae«. Dieses
Dienstverhältnis ist auch im Zeitalter der bürgerlichen
Gesellschaft protestantischer Prägung aufrechterhalten worden.
In dasselbe Zeitalter fiel aber zugleich auch die Aufkündigung,
durch welche dann die zweite Art entstand, wie die Philosophie dem
Christentum gegenübertrat. Es war die der Aufklärung und
der Vernunft, die sich selbständig gemacht hatte und nun, den
Spieß umdrehend, sagte: Religion ist soweit zulässig, als
es die Vernunft erlaubt, die allein die Herrin der Philosophie ist.
Charakteristisch für den höchsten hier erreichbaren
Standort ist der Titel von Kants Schrift: »Die Religion
innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«; der niedrigste
aber wird erreicht durch die zahlreichen Schriften und Pamphlete des
naiven Naturalismus, die im große und ganzen nur einfach
zeigen, wie man ungestraft die Zunge herausstrecken kann, wenn man
davongelaufen ist. Die Religion aber kommt auf jeden Fall hier auf
die subjektive Seite zu stehen, ganz gleich, ob in so erhabener Art
wie bei Kant, oder in der gemeinen, wie beim gewöhnlichen
Aufkläricht. In der Scholastik aber stand sie immer auf der
Seite des Objektes.
Dieser Akt der Aufkündigung war notwendig, und man kann ihn
einfach nicht entbehren, weil ja nur durch ihn die Vernunft zeigen
konnte, was sie kann und was nicht. Er war auch notwendig, um die
dritte Art vorzubereiten, die allein die Sache in Ordnung zu bringen
vermag: die Begegnung in Freiheit.
»Frei aber möge diejenige Sache genannt ein, die allein aus
der Notwendigkeit der eignen Natur besteht und von sich allein zum
Handeln bestimmt wird« (SPINOZA, Ethik, Definition VII: Ea res
libera dicetur, quae ex sola suae naturae necessitate existit et a se
sola ad agendum determinatur). Diese tiefsinnigste Definition der
Freiheit wird uns immer wieder begegnen. Frei ist man also nicht,
wenn man bloß entronnen ist, sondern nur, wenn man »aus
der Notwendigkeit der eignen Natur heraus besteht und handelt«.
Alle bloß entronnene Philosophie hat immerhin noch dem
schwerwiegenden Einwand standzuhalten, ob es nicht besser wäre,
im Dienste zu bleiben. Im Zustande der Freiheit aber hat sie allein
die Möglichkeit, »reines willenfreies Subjekt der
Erkenntnis zu sein, und da muß ihr denn wohl oder übel
auffallen, daß die Lösung des Problems der Ethik nicht von
ihr erwirkt worden ist, sondern daß diese in toto durch einen
Entdeckungsakt außerhalb ihrer geschah.
Das ist schon öfter vorgekommen. Die Philosophie hat ja auch
nicht das Gravitationsgesetz entdeckt, sondern das geschah
außerhalb ihrer; wohl aber hat Kant die Entdeckung Newtons
benutzt, um den transzendentalen Begriff der Materie zu klären.
Die Entdeckung der Kugelgestalt der Erde oder der
Körperhaftigkeit der Luft ist auch nicht auf ihrem Boden
gefallen; aber die Philosophie verwendet sie im Prozeß der
eignen Klärung. Dagegen hat Robert Mayer nicht etwa »das
Energiegesetz entdeckt«, wie es immer heißt, sondern das
war schon lange vor ihm als Gesetz von der Beharrlichkeit der Materie
Eigentum der Philosophie, und Mayer verwandte es zur Entdeckung des
mechanischen Wärmeäquivalentes. Es liegt also gar nicht in
der Macht der Philosophie, darüber zu verfügen, ob dieses
oder jenes Gebiet von ihr selbst oder von einem andern Territorium
her bewältigt werde; sie muß abwarten, was geschieht. In
der Ethik aber ist es so, daß hier das Christentum alle
wesentlichen Elemente in der Hand hält. Da nun die Ethik zu den
Kerngebieten der Philosophie gehört, die sie keineswegs
auslassen kann, ohne ihren eigenen Bestand zu gefährden, so
steht sie zu ihren Entdeckern in einem notwendigen Verhältnis,
das eben durch diese Notwendigkeit das der Freiheit ist. Die
Philosophie könnte sich etwa sehr wohl in einem besonderen
Abschnitt über den Staat verbreiten und eine Politeia schreiben
- aber sie kann es auch lassen; denn sie kann den Entdeckungsvorgang
ihres wichtigsten Gebietes nicht ignorieren, ohne gegen die
»Notwendigkeit ihrer eignen Natur«, das heißt gegen
ihre Freiheit, zu verstoßen. Während aber das Christentum
immer nur verkünden kann, vermag die Philosophie zu beweisen und
darzustellen. Es gibt aber nichts Abgeschmackteres, als wenn die
Religion - durch Angestellte - »beweisen« läßt
und wenn die Philosophie »verkündet«.
9. IMMANUEL KANTS EINGRIFF IN DIE ETHIK
Es hat niemand so tief in das Wesen der Ethik hineingeleuchtet wie
Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer; und da wir es hier mit
Geistern ersten Ranges zu tun haben, so lohnt es sich auch hier am
meisten, ihre Irrtümer kennenzulernen. Wir säßen in
größerer Dunkelheit, wenn diese nicht begangen worden
wären. Der eine ist ihnen beiden gemeinsam: daß sie das
fremde Territorium nicht anerkennen wollen, auf dem die Ethik durch
einen Akt der Entdeckung gegründet wurde. Sie halten vielmehr
die Philosophie für autark und nehmen die »christliche
Ethik« nur als Beispiel. Dabei sieht Schopenhauer das
Christentum als einen buddhistischen Absenker an - also falsch - und
bei Kant erscheint es gewissermaßen ohne Neues Testament. So
haben sie beide zur Ethik eine ähnliche Stellung wie Platon zur
Politik. Dieser glaubte auch, die Philosophie könne einen
Einfluß auf die Gründung von Staaten haben, während
in Wirklichkeit - es hat ihn in Syrakus fast den Kopf gekostet - die
Entscheidung auf dem ganz anderen Territorium der Machtpolitik fiel.
So blieb ihm nichts anderes übrig, als der litterarische Vater
aller Utopien zu werden.
Nun ist es ja wirklich beinahe unverständlich, daß ein
sonst so besonnener Geist wie SCHOPENHAUER die imperative Form der
Ethik leugnen konnte: wo doch seine eigne Formulierung: »laede
neminem, immo omnes, quantum potes, iuva« nicht weniger als zwei
Imperative enthält. Man kann das einfach nicht erklären. Er
muß von seinem Weltverneinungsgedanken besessen gewesen sein,
daß er der Meinung wurde, zu einem Nichtwollen der Welt brauche
man nicht besonders aufgefordert zu werden, da hierzu die bloße
Erkenntnis ihres wahren Charakters genüge. Aber es ist mit
Händen zu greifen, daß ein Nicht-Wollen kein ethischer
Inhalt ist. Wir befinden uns gewiß jedesmal in einer ethischen
Atmosphäre, wenn er an vielen Stellen seiner Werke das
wohltätige menschliche Herz höher stellt als den
bedeutendsten Intellekt; allein der Angelpunkt der Ethik ist damit
nicht getroffen, nämlich die Stelle, von der aus die
Wiederherstellung (restitutio in integrum) eingeleitet wird. Das aber
geschieht vom Gesetz aus, und dessen grammatische Form ist allemal
die imperativische. Es ist schon geradezu skurril, wie er in seiner
sprachlichen Ausdrucksweise das Wort »sollen« vermeidet,
das der Leser, dem vorangegangenen Gedanken nach, unbedingt erwartet.
So in dem prachtvoll gelungenen § 10 seiner Preisschrift
über »Die Grundlage der Moral«, in dem es gegen
Schluß hin heißt: »Aber so strenge auch die
Notwendigkeit ist, mit welcher, bei gegebenem Charakter, die Thaten
von den Motiven hervorgerufen werden; so wird es dennoch keinem,
selbst dem nicht, der hievon überzeugt ist, je einfallen, sich
dadurch diskulpieren und die Schuld auf die Motive wälzen zu
wollen; denn er erkennt deutlich, daß hier, der Sache und den
Anlässen nach, also objektive, eine ganz andere, ja
entgegengesetzte Handlung sehr wohl möglich war (Sperrung von
mir), ja eingetreten sein würde, wenn Er ein anderer gewesen
wäre.« Es mußte vielmehr heißen »eine
entgegengesetzte Handlung hätte getan werden sollen«. Das
bedarf hier weiter gar keiner Begründung, denn jeder, der das
liest, fühlt sofort, daß Schopenhauer ausweichen will. An
einer anderen Stelle, § 20, derselben Schrift spricht er vom
Mitleid, »das uns aufforderte« - also der sachlich
unvermeidliche aber sprachlich gemiedene Imperativ!
Hier greift nun Kants Unterscheidung von hypothetischen und
kategorischen Imperativ ein, und, wenn man es kurz fassen will, so
könnte man sagen: damit ist Kants allerdings tiefgreifendes
Verdienst um die Ethik im wesentlichen erschöpft. Es ist aber
wie ein Zauberschlag, mit dem er in das Gewirr der Worte
hineingefahren ist, oder wie ein Magnet in die Eisenfeilspäne,
die sich auf einmal um die Pole ordnen. Nur hat er diese reale
Ordnung nicht gesehen, weil es ihm an Auge und Perspektive gebrach.
Er begnügte sich mit der bloß begrifflichen Trennung
Es gehört nun ein einfacher, aber klärender Akt des Sehens
dazu, um sofort zu bemerken, daß die hypothetischen Imperative
(Beispiel: Sparsamkeit) auf die Seite des Subjekts gehören; sie
sind Produkte des menschlichen Willens. Die kategorischen aber
gehören dem Objekt zu und kommen im Subjekt an. Ohne sie ist man
nicht Mensch. Ihre Inhalte werden gegeben, ohne daß der Mensch
etwas dazu tun kann, genau so, wie die empirischen Dinge der
Außenwelt, Bäume und Tiere und alles Gestein, gegeben
werden und dabei unergründlich sind. Auf dieser
Unergründlichkeit im Letzten aber beruht beider
Dignität.
Von Kants Ethik kann man sagen: weniger wäre mehr gewesen. Denn
hätte er sich mit dieser Bannung durch den unterscheidenden
Eingriff begnügt und wäre deren Spur »auf empirischem
Wege« gefolgt, so wäre diese großangelegte Ethik, die
wahrlich alle Trümpfe in der Hand hielt, nicht so im Sande
verlaufen. Es muß ein wahrhaft leuchtendes Auge gewesen sein,
dem diese Lichter aufgegangen sind; allein, je weiter er sich vom
actus concipiendi entfernte und die beschreibende und lehrende
Tätigkeit fortschritt, um so mehr verblaßte das Licht und
das Auge; der empirische Charakter gewann die Oberhand und verdarb
ihm in actu demonstrandi sein so großes Werk. Kant konnte
nämlich, nachdem er den kategorischen Imperativ entdeckt hatte,
der Versuchung nicht widerstehen, auch seinen Inhalt anzugeben, und
verfiel dabei dem Trug, daß dieser konstruiert werden
könnte. Aber er ist naturunmittelbar und kann nur entdeckt
werden. So kam jene weltbekannte Formulierung zustande, die, in einer
ihrer Varianten lautet: »Handle so, daß die Maxime deines
Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung
gelten könne.« - Man sieht: hier ist keine Spur einer aus
dem Objekte stammenden gebietenden Kraft und auch nicht deren
getreues Widerspiel in der Vernunft; sondern diese, rein dem Subjekt
angehörende Vernunft kommandiert aus eigner Machtbefugnis. Und
wir wissen schon von unserem Nicht-Mörder auf der zweiten Stufe
seiner moralischen Laufbahn, daß er und jeder andre, der nach
solchen Grundsätzen handelt, es nur bis zur Legalität
bringt und persönlich gar ein fader Pedant ist, dem unsere
moralische Urteilskraft die Zustimmung versagt.
Kant hat sich also durch die Formulierung des kategorischen
Imperatives von der gebundenen Ethik einfangen lassen. Es ist der
preußische Staat, und zwar in Zivil, der ihn in Fessel
geschlagen hat; denn diese Formel macht jeden, der sie befolgt, zum
geheimen »Gesetzgeber«, das heißt, zu jener
fingierten Gestalt, deren man sich in der Juristerei bedient, wenn
man im Streit erfahren will, was mit einem einzelnen Gesetze gemeint
war. Der Leser weiß, daß wir die letzten sind, die den
preußischen Staat despektierlich behandeln wollen, allein wir
wollten nicht von dem gebundenen Teil der Ethik sprechen, sondern vom
freien. Zudem ist der so formulierte kategorische Imperativ ein post
festum; denn geschaffen wurde der preußische Staat ja von der
realen Königsmacht, und die ethische Formel setzt diese heimlich
voraus. Es handelt sich also um eine Ethik im partiellen Sinne, so
wie man etwa von einer Samurai-Ethik spricht, nicht aber um »sie
selbst an ihrem eignen Ort«.
Hierfür kann man den Beweis leicht antreten, indem man in der
Geschichte nach derjenigen Stelle sucht, an der eine solche Ethik
»aus reiner praktischer Vernunft« ohne objektive Basis hat
Staat werden wollen. Und da treffen wir auf die Französische
Revolution, die sich ja vor Kants Augen abspielte, ohne daß er
an ihr die Anwendung seiner Vernunft-Ethik wiedererkannte. Denn
Maximilian Robespierre dachte ja eben dies: daß die Tugend und
das Gute von der Vernunft erzeugt werde und daß dieses Ereignis
»Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung« werden
müsse. Das war der doktrinäre Kern der Französischen
Revolution, und Robespierre fühlte sich als der Priester dieses
eigenartigen Schöpfungsvorganges. Das glaubte man ihm auch; denn
er war eine anima candida, zudem dämonisiert durch die
archetypische Macht der eignen Natur. Der neue Staat aber mußte
mit Notwendigkeit dann entstehen, wenn niemand mehr da war, der diese
- allein seligmachende - Lehre bezweifelte. Das aber bedeutete den
fortlaufenden Auftrag an die Guillotine. Der Untergang Robespierres
wurde aber dadurch hervorgerufen, daß er - was unverkennbar war
- statt einer Zunahme des Guten und Tugendhaften eine solche des
Bösen und des Lasters zu bemerken glaubte; da wurde er unsicher,
stotterte und fiel. Man konnte ihn einfach verhaften.
10. DAS ETHISCHE PRIVILEGIUM
Hier hat heimlich schon der kantische Elendsweg in der Ethik
begonnen. Der Vorwurf, den man so oft gegen ihn hört, seine
Ethik sei »zu rigoros«, ist natürlich
unbegründet. Dadurch, daß ein Imperativ als kategorisch
erkannt wird, ist gesagt, daß er seiner Natur nach
»rigoros« sein muß, und hier etwas abhandeln zu
wollen, hat soviel Sinn als zu sagen, der allgemeine Kausalsatz sei
zu rigoros. Kants Verhängnis beginnt vielmehr da, wo er
versucht, den Inhalt aus dem Subjekt herauszupressen. Das alte Lied!
Hier müssen Scheingebilde der Ethik entstehen, Pedanten,
Tugendbolde, Pharisäer und Edel-Spießer, auf die mit Recht
Schopenhauers ungeheurer Hohn fiel.
ERNST MARCUS, der in höheren kantischen Einweihungsgraden steht,
und sonst ein rechter Israeliter ist, schreibt in seinem trefflichen
Werk »Kants Weltgebäude«, Seite 245: »Mit einer
solchen logischen Deduktion verbindet sich nun leicht die irrige
Vorstellung als ob Sittengesetze aus der Form des Gesetzes ableitbar
wären. Aber aus einer leeren Form läßt sich niemals
ein Inhalt (aus dem leeren Raum keine Materie) ableiten. (Nun ist
aber der kategorische Imperativ keineswegs bloß eine
Çleere Formë, sondern der exakte Widerhall jenes
Soll-Willens, sein Ç Monogrammë, für den die Sprache
das Wort vergessen hat. H. B.) Vielmehr wird ein anderweit gegebener
Inhalt unter das Gesetz subsumiert. Ein Gesetz wirkt also nicht in
der Weise, daß die Materie (der Inhalt) aus ihm ableitbar
wäre, sondern dadurch, daß die anderweit gegebene Materie
ihm unterworfen wird. Wie der Verstand Naturregeln dadurch bildet,
daß er die Erscheinungen unter die Kategorialgesetze subsumiert
(dazwischen liegt aber der Entdeckungsakt! H. B.) so bemächtigte
sich auch die Vernunft, und zwar diese zu praktischen Zwecken, des
Materials, das sie in der Natur, d. h. in der fertigen Erfahrung
vorfindet und das daher zum Inhalt oder Zweck unserer Handlung werden
kann. Sie bemächtigt sich der Materie des Trieblebens und bringt
sie unter die Form des Gesetzes (sic! H. B.). Sie beseitigt nur die
motivierende Kraft des Trieblebens (Neigung und Abneigung) und
ersetzt sie durch ihr eigenes Motiv (das Gesetz), nicht aber sucht
sie die Materie der Handlung, die durch unsere Neigung erkennbar
wird, gänzlich zu beseitigen, bringt sie vielmehr unter das
Gesetz«. - Das ist nun schon nicht mehr ganz kantisch; denn die
»anderweit gegebene Materie« verrückt den Standpunkt
schon leise nach dem Objekt zu. Aber was ist das im übrigen
für eine Verstümmelung und Entmannung der Ethik! Dieser
domestizierte Trieb-Ballast soll ihr Inhalt sein! Soll jenes
Ungeheure sein, an dem die Menschheit überhaupt gewogen und
jedesmal zu leicht befunden wird! Dieser »Kantismus« ist
nicht einmal Altes Testament, denn dort hören wir eine andere
Sprache.
a) Abraham und die Samengründung Israels
Es bleibt uns der Atem stehen, wenn wir, im elften Kapitel des Buches
Genesis eine dürre Geschlechterfolge lesend, die mit Abram, dem
Sohne Tharahs, aus Ur in Chaldäa endet, plötzlich auf den
Anfang des zwölften Kapitels stoßen, das gewaltig
intoniert mit den weltberühmten Worten: Und der Herr sprach zu
Abram: »Gehe aus deinem Vaterlande und aus deiner Freundschaft
und aus deines Vaters Hause in ein Land, das Ich dir zeigen will. Und
Ich will dich zum großen Volke machen und Ich will dich segnen,
und in dir sollen gesegnet sein alle Völker auf Erden.«
Nähme man diesen Auftrag subjektiv, also von Abram ausgehend, so
wäre er eine vollkommene Absurdität. Denn was sollte es
für einen Sinn haben, daß ein hochbetagter, angesehener
Mann im Stande des wohlhabenden Großbürgertums
plötzlich sein Vermögen liquidiert und, sich von allen
Bindungen lösend, ins Geratewohl auf die Wanderschaft begibt?
Und wieso, fragt man, wäre durch diesen absonderlichen
Entschluß die praktische Vernunft befriedigt, die es vorgeblich
fordert, so zu handeln, daß die Maxime unseres Willens
Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung werden könne...? Nichts
davon ist hier zu spüren. Trotzdem aber ist der Imperativ
kategorisch, und so wird er von Abram aufgenommen. Er gehorcht, und
zwar blind eben deshalb, weil er den Auftrag nicht versteht, dabei
aber genau weiß, daß er seine Wurzel ganz und gar
außerhalb seiner hat. Und das nennt man dann
»Glauben«. Darum heißt es »Und der Herr sprach
zu Abram.« Also nicht Abram spricht. Zieht man seinen Gehorsam
fort und denkt sich, er habe seiner Vernunft gehorcht, so hätte
er da bleiben müssen und wäre weiter der angesehene
Großbürger von Ur in Chaldäa geblieben; das war seine
verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Ein Ungehorsam hätte zwar
sein Menschentum nicht in Frage gestellt, wie das bei den
gewöhnlichen Imperativen kategorischer Art der Fall ist, wohl
aber hätte er sein privilegiertes Menschentum vernichtet. Sein
Gehorsam aber »gegen alle Antriebe der Sinnlichkeit«, aber
auch gegen alle »praktische Vernunft« ist das
Ausgangsereignis der bedeutendsten weltgeschichtlichen Vorgänge
geworden. Abram wird noch einmal auf die Probe gestellt im Isaak-
Opfer, die er gleichfalls besteht; er kommt gar nicht auf den
Gedanken, daß irgend etwas anderes in ihm bei seinem Tun
bindend sein könnte als allein das, was hier aus dem dunkelsten
Welthintergrunde her, aber klar vernehmlich, gehört hat.
Irgendwelche Folgen waren gar nicht abzusehen. Es sind aber
gleichwohl Folgen eingetreten, und zwar aus demselben
Welthintergrunde, aus dem der Auftrag stammte.
Da ist zunächst eine Namensumwandlung; er findet, daß er
in seinem eigentlichen Wesen nicht Abram heiße, sondern
Abraham. Das Buch Genesis drückt das so aus, daß Gott
spricht: »Abraham soll dein Name sein, denn ich habe dich
gemacht vieler Völker Vater.« Solch ein Drängen nach
dem »eigentlichen Namen« ist ein sehr dunkler Vorgang, der
sich häufig bei Menschen mit privilegierter Ethik findet, und
welcher etwa besagt, daß eine tiefere Schicht des Charakters
zum Durchbruch gekommen ist, für welche der bürgerliche
Umweltsname nicht ausreicht. Der Leser erinnert sich an jene
»Priesterin der Astaroth«, die gleichfalls immer nach ihrem
»wahren Namen« suchte. Diese Namenswandlung aber hätte
sich bei Abraham nicht vollzogen, wenn der Akt des Gehorsams
ausgeblieben wäre.
Eine zweite Wirkung ist die Begegnung mit Melchisedek, dem
Könige von Salem. Es heißt (Gen., Kap. 14, Vers 18ff.):
»Aber Melchisedek, der König von Salem, trug Brot und Wein
hervor. Und er war ein Priester Gottes des Höchsten. Und segnete
ihn und sprach: Gesegnet seist du, Abram, dem höchsten Gott, der
Himmel und Erde besitzet.« - Solche Begegnungen mit Artgleichen
sind ebenfalls charakteristisch für den Stand der ethisch
Privilegierten, und sie vollziehen sich nach dem Gesetz der Anziehung
des Gleichen. Melchisedek war das, was man einen
»Eingeweihten« nennen könnte, wenn dieses Wort nicht
durch den Mißbrauch der anthroposophischen Mittelstandsbewegung
unbrauchbar geworden wäre. Die Griechen nannten das einen
((telestikos)) oder ((mustagogos)) und waren übrigens zur Zeit
des Sokrates schon mindestens ebenso ins Schwatzen geraten.
Was aber das Erstaunlichste ist, das sich an Abraham als Wirkung
seines Gehorsams vollzog, das ist die - so würden wir heute
sagen - »physische Veränderung seines Keimplasmas«. Es
entstand plötzlich der »Samen Abrahams«, der die
Fähigkeit hat, eine bestimmte, in ihrem Glaubensleben eng und
klar determinierte Menschenrasse als »persistente Mutation«
zu erzeugen. Es ist dies das Volk Israel oder die Juden, deren
Existenz und geschichtliche Bedeutung bis auf den heutigen Tag voll
erhalten blieb. Es ist also nicht so, wie man immer sagt, daß
die jüdische Religion von der jüdischen Rasse erzeugt
worden sei, sondern umgekehrt: die jüdische Rasse ist durch den
Glaubensgehorsam Abrahams, also durch einen religiösen Vorgang
erzeugt. Wer also überhaupt die Judenfrage erörtern und
dabei die Wahrheit nicht verfehlen will, der muß wissen,
daß sie zuerst eine theologische ist und dann eine
»Rassenfrage«. Wobei man wiederum hier unter
»Rasse« etwas durchaus anderes verstehen muß als es
die biologischen Lehren tun. Auf der anderen Seite muß man
sehen, daß natürlich nicht etwa jener ehrfurchtserregende
Glaubensgehorsam Abrahams, der ja ein einmaliges Privileg war, im
Judentum vererblich ist; vielmehr unterliegt dieses als eine
historische Erscheinung genau so, ja gewiß stärker als
andere Völker den auffallenden Phänomen der Entartung. Das
ist das, was der Jude den »ständigen Abfall« nennt.
Was aber in jedem jüdischen Einzelmenschen, wenn man ihn stellt,
ganz aus sich lebendig wird, das ist der erbliche Anspruch auf den
Ertrag jenes »Bundes«, den, nach ihrer Meinung, der
»Heilige Israels, gelobt sei sein Name«, mit Abraham und
damit auch mit jedem seiner Nachkommen geschlossen hat. Denn der Jude
hält fest an seiner successio seminis; diese ist gesicherter,
nämlich unmittelbar von der Natur, als etwa die successio
apostolica der Päpste, die nur eine historische und juridische
Basis hat. Niemand weiß, was das im letzten Grunde zu bedeuten
hat; sicher ist nur, daß die Entstehung des Volkes Israel durch
den Glaubensgehorsam Abrahams zu den wichtigsten Ereignissen der
Weltgeschichte gehört. Und es fällt einem dabei
unwillkürlich jene Frage Friedrichs des Großen an seinen
Leibarzt Zimmermann ein, ob er einen wirklich triftigen Beweis
für das Dasein Gottes wisse, worauf dieser antwortet:
»Majestät! Das Dasein der Juden.« Es ist der einzige
»Gottesbeweis«, der echten Tiefsinn trägt - weil er
nämlich auf empirischem Wege liegt. Die synagogentreuen Juden
weisen daher mit Recht und Stolz darauf hin, daß sie das
einzige Volk des Altertums sind, das mit ungebrochener historischer
Befugnis heute noch lebt.
Hätte Kant dieses Bonmot Zimmermanns erfahren und bedacht, so
wäre er möglicherweise zu einer Revision seiner Meinung von
der vorgeblichen Schöpferkraft der Vernunft gekommen. Seine
Ethik wäre ausgewaschen worden wie ein Flußbett aus
Sandstein, und nur der harte Felsen des kategorischen Imperativs -
ohne »Formulierung« - wäre übriggeblieben. Aber
mit einer Umkehr der Stromrichtung. Denn es geht doch so bei Kant zu:
Die empirischen Gegenstände der Erfahrung, kurz die
»Dinge« verdanken ihr erkennbares Dasein als Erscheinungen
zunächst den reinen Verstandesbegriffen, die durchweg a priori
sind, sowie den reinen Formen der Sinnlichkeit, Zeit und Raum, von
denen das gleiche gilt; dann aber den empirischen Naturgesetzen, die
von Fall zu Fall entdeckt werden müssen. Den ersten Teil nennt
er die »reine Naturwissenschaft« und von ihr gilt der
weithin verblüffende Satz, daß der Verstand der Natur
»die Gesetze vorschreibt«. Seine Hauptbemühung nun in
der »transzendentalen Analytik« ist die Beantwortung der
Frage: wie kommt es, daß jene reinen Verstandesbegriffe, obwohl
sie a priori sind, also demnach zunächst bloß subjektiv,
doch objektiv giltig werden (was Schopenhauer nie hat begreifen
wollen, der glaubte mit seiner Brillentheorie auskommen zu
können)? Der Beweis gelingt ihm ohne Zweifel durch
»tanszendentale Deduktion«, bei der es sich als ganz
natürlich herausstellt, daß der »bloßen
Erscheinung« »Dinge an sich selbst« zum Grunde liegen,
die objektiv vorhanden sind, aber außerhalb der Erkennbarkeit
liegen. Eine Veränderung in den empirischen Dingen bin ich also
gezwungen, nach dem mir a priori gegebenen Gesetz der Kausalität
als mit einer Ursache im Objekt notwendig verknüpft zu
betrachten. Daß aber die Veränderung überhaupt
eintritt, das liegt in der Sphäre der Dinge selber; ARISTOTELES
würde sagen: im »Grunde«, ((ousia)) der Dinge, der
aber, obwohl unerkennbar, doch eben da sein muß und zwar rein
objektiv gegeben bis in den letzten Welthintergrund hinein gesichert
und unaufhebbar. (Schopenhauer fährt hier empört hoch bei
diesem - zweifellos allein richtigen - Gedanken) Das wäre der
»der gestirnte Himmel über mir«.
Nun aber gibt es in uns nicht nur jene kategorialen Formen des
Intellektes, die das Band der Notwendigkeit herstellen, sondern auch
das Sollen in kategorischer Form. Dem entspricht natürlich kein
empirischer Gegenstand, weil ja eben das, was sein soll, nicht ist.
Daraus aber kann nicht gefolgert werden, daß ihm überhaupt
nichts entspricht, daß es objektlos ist und kein
vis-à-vis hat. Ethische Handlungen - als Gegenteil der
Anpassung - kommen ja vor, und wenn man schon bei denen, die sich im
Bezirke der gebundenen Ethik abspielen, wegen ihrer
schließlichen und endlichen Vernünftigkeit auf den
Verdacht kommen kann, sie stammen deshalb aus der Vernunft, so wird
das ganz unmöglich bei den ethischen Privilegien,. Denn diese
fordern ja etwas gänzlich Neues, das immer als Paradoxie und
Absurdität auftritt. Abraham handelt gegen alle Vernunft, man
mag diese drehen und wenden wie man will, und doch ist der Imperativ,
unter dem er steht, kategorisch. Er aber, der es doch wissen
muß, würde mit Bestimmtheit sagen, daß dieser
Auftrag eben nicht von ihm und seiner Vernunft stammt, sondern seine
Wurzeln außer ihm hat. Er ist durch und durch heteronom. Und
dies allein macht den Auftrag giltig und verbindlich. Ein anderer,
der in der gebundenen Ethik befangen ist, kann das nicht wissen, denn
ihm fehlt die Erfahrung des originalen Auftrages. Auf das Zeugnis des
Abraham aber und jedes anderen seiner Art kann man sich verlassen.
Denn es ist ja doch so, daß die gesamte Kultur aus originalen
Impulsen stammt, die für den jeweiligen Träger als ethische
Privilegien auftreten. Wer den ersten Tempel baute, das erste
Götterbild schuf, den ersten Heldengesang anstimmte, das erste
Lied erfand, der tat das unter Druck und Auftrag einer unbekannten
Macht, und zu jedem von diesen hätte eine Stimme sagen
können: »Gehe aus deinem Vaterlande ...!« Denn was
heißt das anderes als dies: »Verlaß den weiteren
Prozeß der bloßen Anpassung und diene allein diesem dir
zunächst unbekannten Werk, für das aber du allein
verantwortlich bist!« Von jedem Maler, jedem Musiker, jedem
Dichter wissen wir, daß er aus dem unbekannten Dunkel des
Welthintergrundes einen privilegierten Auftrag empfing, zu dem er
genau so steht wie Abraham zu dem seinen. Und der muß schon
Glück haben, wenn das ohne Gefährdung seines Lebens
abgeht.
Auf jeden Fall aber steht immer Ethik gegen Anpassung. Die Anpassung
ist eine Funktion des Biologischen, die jedem Lebewesen anhaftet, wie
der Stoffwechsel, und die dauernd tätig ist. Die Ethik dagegen
ist als deren gerader Gegenpol eine Funktion des Metaphysischen, die
über den kategorischen Imperativ eine unmittelbare Beziehung zum
Welthintergrunde herstellt. Wie die Anpassung in der lebendigen
Substanz wirkt, so wirkt die Ethik in der Freiheit als in ihrem
Medium. Sie bezieht sich gleichfalls auf den Willen, und zwar auf
denselben, der als Innenseite der Materie allen Lebewesen gemeinsam
ist, nur hier unter höchster konkreter Wachsamkeit der Vernunft.
Die Ethik ist die einzige Stelle, an der die Vernunft konkret wird,
das heißt, mit ihrem Gegenstande zusammenwächst, ein
Phänomen, das wir sonst nur beim Verstande (im richtigen
schopenhauerischen Sinne) kennen. Anpassung und Ethik verhalten sich
daher wie Gravitation zu Repulsion, ohne welche - auch nach Kants
tiefer Einsicht - die Materie nicht bestehen könnte. Sie
gehören zu ihren »Prädikabilien«.
Das »moralische Gesetz in mir« sieht also nicht so aus, wie
KANT es sich denkt. Die praktische Vernunft erzeugt nicht, denn
zeugen kann nur die Natur. Sie enthält nur den kategorischen
Imperativ in mir und alles, was er aussagt (Unbedingtheit,
Notwendigkeit); alles andere kommt vom Objekt und wird als Auftrag
entgegengeworfen. Während aber die Kategorien des Verstandes ein
empirisches Objekt in der Gegenwart vor sich haben, fehlt dies beim
kategorischen Imperativ; dieser ist vielmehr unmittelbar metaphysisch
(nicht transzendental) an den Welthintergrunde angeschlossen, reicht
demnach in die Tiefe der Natur, aus der er gespeist wird, und nun
wird im Falle des Gehorsams der empirische Gegenstand in der Zukunft
geschaffen. Diese Zukunft kann ein Augenblick sein und ist es sogar
in statu nascendi. Denn im Augenblick des Gehorsams Abrahams trat das
empirische Ereignis der Samenwandlung ein, die später in der
Geburt Isaaks als Mutation einer Menschenrasse durchbrach. Wäre
der kategorische Imperativ eine »leere Form«, so wäre
der Vorgang unerklärlich, da nur Seiendes auf Seiendes wirken
kann. Er ist aber das »Monogramm« jenes Soll-Willens, den
die Sprache vergaß. Dieser lag hart neben dem gewöhnlichen
»Willen in der Natur«, dessen Objektivation die Genitalien
und die Samenflüssigkeit Abrahams waren. Durch den
Glaubensgehorsam nun, einen zunächst nur inneren Akt, wurde
jener Soll-Wille aktiviert und griff gründend und verwandelnd in
den gewöhnlichen Willen ein. Wäre der Akt des Gehorsams
nicht erfolgt, so wäre alles beim alten geblieben. Der
kategorische Imperativ aber - von Kant unterschätzt - hat die
entscheidende Rolle gespielt, und nur so konnte jenes Wunder
geschehen, das tatsächlich vorliegt. Es wäre
unerklärlich, wenn nicht der subjektive Hintergrund der
empirischen Dinge, zu denen auch »Abram« gehört, also
sein »an sich selber sein«, und der objektive Hintergrund
des kategorischen Imperativs für einen Augenblick dasselbe
gewesen wären. Demnach wird die Lagerung der Ethik bestimmt
durch die Lage der Naturachse, und man muß Auge und Perspektive
haben, um das deutlich zu sehen. Beides fehlte Kant, und darum konnte
er nur vom moralischen Gesetz »in mir« sprechen, das
allerdings und mit Recht allein schon seine höchste Bewunderung
erregte. Der Heteronomie der Ethik aber ist gar nicht auszuweichen -
das setzt sie nicht herab, wenn man weiß, wer hier der Heteros
ist.
Daß aber die Vernunft unmittelbar aus sich selbst heraus
»praktisch« werden könnte und also letzten Endes die
Erzeugerin der gesamten Kultur wäre, das ist ein unvollziehbarer
Gedanke gleich dem, daß durch Bewegung der Materie allein ohne
bildende Kräfte ein organisches Wesen entstünde. Daher
gelingt es Kant auch nicht, bei der Konstruktion ethischer Handlungen
»aus reiner praktischer Vernunft« den Zuschlag unserer
moralischen Urteilskraft zu erwirken; vielmehr bleiben diese von ihm
gemeldeten Beispiele allemal im bloß Legalen stecken, und der
beißende Hohn Schopenhauers über diese hölzernen
Vernunftgebilde wirkt wie eine Befreiung von einer naturlosen Ethik,
die nicht der wirkliche Gegenpol der Anpassung ist. »So soll ich
z. B. fremde Glückseligkeit zu befördern suchen, nicht, als
wenn mir an deren Existenz was gelegen wäre,......sondern
bloß deswegen, weil die Maxime, die sie ausschließt,
nicht in einem und demselben Wollen als allgemeines Gesetz begriffen
werden kann (es sei durch unmittelbare Neigung, oder irgend ein
Wohlgefallen indirekt durch Vernunft)« (Metaphysik der Sitten,
S. 89 der Erstausgabe von 1785). Das meint Schopenhauer mit seinem
Hohn, und unsere ethische Urteilskraft stimmt ihm zu.
b) Jeanne díArc und die Gründung des königlichen
Frankreich
Wir verbleiben auf dem empirischen Wege unter transzendentaler
Kontrolle und entdecken dabei, daß die privilegierte Ethik in
der menschlichen Geschichte allenthalben wiederkehrt und dabei stets
analog verläuft. (Wahrscheinlich ist die Methode, der wir uns
hier bedienen, Max Steiners »reine Erfahrung«.) Wenn wir
etwa das Leben der Jeanne díArc betrachten, so fällt es
auf, daß die Struktur ihres Handelns fast völlig mit der
Abrahams übereinstimmt. Sie ist von Geburt an ein einfaches
Bauernmädchen in einem lothringischen Dorfe, das seinem Vater
die Schafe weidet, und erhält plötzlich den Auftrag, das
von den Engländern belagerte Orléans zu entsetzen und den
Dauphin als Karl VII. in Reims zum König von Frankreich zu
krönen. Also auch hier das »Gehe aus deinem
Vaterlande...!« Auch hier die volle Vernunftwidrigkeit und
Absurdität; auch hier ferner der Gehorsam und die volle
Zuversicht, daß durch ihn das Werk gelingt. Und es ist auch
gelungen; denn alle Welt gibt zu, daß durch ihren Eingriff die
geschichtliche Wende in der verzweifelten Lage geschah, und man nennt
sie mit Recht die Gründerin des einigen Frankreich bis zur
Revolution. Ohne sie gäbe es dieses Frankreich nicht. - Auch die
Tendenz der Namensänderung findet sich, wenn auch schwach
angedeutet. Bei ihrem ersten öffentlichen Verhör am 21.
Februar 1431 gibt sie zu den Personalakten an, daß sie in ihrer
Heimat »Hannchen« genannt wurde. »Seitdem ich nun in
Frankreich lebe, nennen sie mich Johanna«* Außerdem aber
heißt sie auf einmal »die Jungfrau« (la pucelle). Und
hier liegt offenbar wieder ein physischer Prozeß vor, wie bei
der Samenwandlung Abrahams. Denn das, was hier Jungfrau heißt
und was als Prägung der Natur entstand, ist nicht mit dem
bürgerlich-biologischen Begriff gleichen Namens zu verwechseln,
der gang und gäbe ist. Dieser nämlich ist rein negativ und
beim jugendlichen Weibe ganz und gar auf den Moment der Beendigung
abgestellt; beim alternden aber wird das Jungferntum zur
rgerlichkeit, auch wenn es noch so sehr in Ehren verdient ist.
Beim Manne kommt eine analoge Erscheinung nicht vor, und die Sprache
hat sogar darauf verzichtet, hier ein Merkmal zu setzen. Bei Johanna
aber ist die Jungfräulichkeit positiv, eine durchdringende und
hinreißende Eigenschaft ihres Charakters, den sie sich durch
den Akt des Gehorsams erworben hat, ohne es zu wissen. Die Natur hat
hier einen besonderen Stempel aus ihrer eignen Tiefe heraufgeholt, um
das zu prägen - »è poi rupe lo stampo«.
Jungfräulichkeit im positiven Sinne gibt es nur im Kraftfeld
ethischer Privilegien; alles andre ist Dressur.
Darum kann man die Abgeschmacktheit SCHILLERS in seiner vorgeblichen
»Jungfrau von Orléans«, die nach einem Ausspruche
ihres Retters BERNHARD SHAW »nicht einen einzigen
Berührungspunkt mit der echten Johanna noch überhaupt mit
irgendeinem weiblichen Wesen« hat, nicht genug verwerfen. Denn
Schiller läßt sie auf dem Schlachtfelde sterben, nachdem
sie sich »in sündigen Flammen eitler Erdenlust« in
einen englischen Offizier verliebt hat. Solche typischen Untaten des
»deutschen Idealismus« verdienen gebrandmarkt zu werden, da
diese elende Dichterei die historischen Gestalten und zugleich die
Nation lächerlich macht, die solche Produkte bewundert. Johanna
hat nie um ihre Jungfräulichkeit kämpfen müssen, denn
diese war nie in Gefahr; sie ist nicht das Produkt der Askese,
sondern trägt den Stempel der Natur, auf den sie sich verlassen
konnte.
Den wichtigsten Beitrag aber zur philosophischen Grundlegung der
Ethik liefert der Prozeß Johannas. Bekanntlich wurde sie im
Jahre 1431 nach einem ausgiebigen Verhör, dessen Akten noch
vorliegen, wegen Ketzerei und Zauberei vom Inquisitionsgericht in
Rouen zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt und lebendig
verbrannt. Das Urteil wurde indessen revidiert, so daß im Jahre
1456 ihre Rehabilitierung erfolgte. Die Sache ging durch die
Jahrhunderte weiter, so daß im Jahre 1908 ihre Seligsprechung,
1920 ihre Heiligsprechung ex officio verkündet wurde. Das ist
immerhin ein erstaunlicher und ganz eigenartiger Vorgang; denn er
bedeutet die bis ins äußerste Extrem gehende Umkehrung des
kirchlichen Standpunktes. Die aber liegt in der Sache begründet,
und der historische Vorgang war so bedeutend, daß er die
Gemüter nicht zur Ruhe kommen ließ. Denn wenn man
nämlich den Kernpunkt des ersten Prozesses von 1431
herausschält, und alles übrige beiseite läßt, so
handelt es sich nur um die eine Frage: waren die von der Jungfrau
behaupteten »Stimmen« und Gesichte, durch welche sie den
Auftrag erhielt, Halluzinationen, also subjektiver Natur, oder
entsprach ihnen etwas im Objekt? Das heißt also: ging die
Kraftwirkung Johannas von ihr aus oder umgekehrt zu ihr hin und durch
sie in die geschichtliche Wirklichkeit? Nahm sie also den zur
Verwirklichung des kategorischen Imperativs vorgesehenen Verlauf? Nun
findet man, wenn man die Protokolle der einzelnen Vernehmungen
durchliest, allerhand subjektives Material, so etwa, daß sie
die »Stimmen der Heiligen Katharina und Margarete«
zuschreibt, die ihr erschienen seien, und deren Gewandungen sie
beschreibt. Es fällt aber auf, daß für sie
schließlich diese Stimmen bloße Boten sind, hinter denen
Gottes Wille steht. »Die Stimme tönt auf göttliches
Geheiß« (24. Febr. 1431). Und dem ist sie bereit, ohne
jedes Wanken zu folgen; sie fällt ihre ethische Entscheidung
ganz furchtlos und klar auch gegen die Autorität der Kirche, der
sie sich im übrigen als gläubige Katholikin unterwirft. Sie
läßt hier gar nicht mit sich handeln, und sie weiß
und spricht es aus, daß ein Ungehorsam dieser Stimme
gegenüber ihren eigentlichen Untergang bedeuten würde. Die
Halluzinationen, die sie tatsächlich hat, sind also nur
aufgewühltes psychisches Terrain, durch das quer hindurch der
objektive Auftrag tönt.
Das Inquisitionsgericht von 1431 aber hat sich auf den anderen, den
subjektiven Standpunkt gestellt und kam daher zu dem Urteil,
daß es sich um »lügenhaftes Erfinden göttlicher
Offenbarung« handle; hieraus allein folgte die Verurteilung. So
würde heute jeder Psychiater plädieren, nur mit dem
Unterschied, daß er alle solchen Erscheinungen nur aus dem
Psychischen ableiten würde, auch den Auftrag an Abraham,
während das Inquisitionsgericht natürlich wußte,
daß es »((mania theia))« und »((mania ek
noshmaton anthropinon))« gibt. Es hat sich nur in diesem Falle
auf die Seite der Manie aus menschlicher Erkrankung gestellt. Aber
auch Kant könnte mit dem Falle Johannas nichts anfangen. Deren
ethisches Verhalten ist zwar ein Musterbeispiel für den
kategorischen Imperativ, aber sein Inhalt widerspricht ja durchaus
der »praktischen Vernunft« und ihrer Interpretation. Denn
dieser Inhalt wird gegeben vom Objekt her aus völlig
undurchdringlichem Grunde, genau wie die Inhalte der empirischen
Außenwelt - und aus demselben Grunde. Johanna aber hat diesen
Inhalt, der auf sie allein kraft privilegierter Ethik gemünzt
war, entdeckt und hat ihm gehorcht. Diesen Tatbestand hat die Kirche
durch den jahrhundertelang währenden Revisionsvorgang zugegeben
und sich damit ein unsterbliches Verdienst - contra se ipsam - um die
Wahrheit in Sachen Ethik erworben. Sie hat sich auf den Standpunkt
Johannas gestellt.
Es spielt dabei keine Rolle, daß die Anlässe für die
Aufnahme der einzelnen Revisionsetappen bis zum Extrem der
Heiligsprechung rein politischer Natur gewesen sind. Es bleibt
immerhin etwas übrig, was nicht politisch ist, nämlich die
Hauptsache. Daß die Kirche mit den beiden letzten etwas hastig
aufeinanderfolgenden Etappen (1908ó1922) politische Vorteile
im laizistischen Frankreich der letzten Republik hat erwerben wollen,
das ist occasio, causa, Anlaß, und berührt nicht den
wahren Grund ((ousia)), der in der Sache selber ruht und ohne den die
Revision gar nicht möglich, weil unglaubwürdig gewesen
wäre. Die Sache selbst aber besagt, daß es ethische
Privilegien gibt, deren Echtheit in ihrem objektiven Ankergrunde
liegt. Der Beweis hierfür ist oft schwer zu erbringen, da die
menschlichen Handlungen durch den empirischen Charakter unter dem
Drucke der Erbsünde stehen. Im Falle Johannas war das auch
keineswegs leicht; denn sie gab durch manche Züge in ihrem
Benehmen immerhin zu Zweifel Anlaß; sie war, wie Shaw sich
ausdrückt, »unausstehlich«. Es wird sich also immer um
einen Indizienbeweis handeln. Gibt man aber überhaupt das
Bestehen ethischer Privilegien zu, so gilt auch gleich der Satz,
daß sie gegenüber allen anderen Forderungen den Vorrang
haben. So auch gegenüber dem Dekalog. Johanna ist sich
bewußt, daß sie um ihrer Sendung willen ihren alten
Eltern einen unversiegbaren Kummer bereiten muß; ein
Verstoß gegen das vierte Gebot ist unvermeidlich. Sie begeht
ihn, wissentlich, und mildert ihn nur dadurch, daß sie ihre
Eltern in einem Brief um Verzeihung bittet. -
Der Prozeß Johannas also, immerhin ein gedanklicher Vorgang,
der sich fast auf ein halbes Jahrtausend erstreckt, beschäftigt
sich mit demselben Thema, das auch die hier vorgetragene Philosophie
auf die Hörner nimmt: die Umkehrung des
Objekt-Subjekt-Verhältnisses zugunsten des Objektes. Durch sie
wird die Reformation und Wiederherstellung der Philosophie bewirkt.
Daß sich die Kirche nicht damit begnügte, Johanna
Satisfaktion zu geben, sondern sie durch Heiligsprechung in den
höchsten Stand erhob, den sie zu vergeben hat, ist ein Anzeichen
für die Wichtigkeit des Prozesses im doppelten Sinne. Das gilt
auch dann, wen eine lückenlose Kette rein politischer Motive
angenommen wird, durch den er jemals in Gang kam. Es hat aber in der
Kirche zu jeder Zeit Männer gegeben, die, gleichfalls in
lückenloser Kette, allem, was in ihr und außerhalb ihrer
geschah, geistig weit überlegen waren; sie treten meist nicht in
Erscheinung, aber ohne ihre Existenz, als Katalysatoren etwa,
geschieht überhaupt nichts. Abraham begegnet Melchisedek. Und so
kann man sich bei der zunehmenden Bedrängnis, in welche das
Gesamtchristentum in diesem Zeitalter gelangen wird, sehr wohl rein
politische Konstellationen vorstellen, in denen eine Revision der
Akten Martin Luthers nötig wird, auch wenn sie nicht zu jenem
extremen Ende führt. Denn schließlich ist die Kirche
Christi eine weitaus wichtigere Sache als das Bestehen irgendwelcher
Nationalstaaten, deren Vergänglichkeit geschichtsnotorisch ist.
Wenn Luther auch noch weit unausstehlicher war als Johanna, durch
keinen weiblichen Charme gemildert, so war doch die Sache, die er
vertrat, umso universaler; und er, nicht Zwingli oder Calvin, ist der
tragende Geist alles dessen, was man Protestantismus nennt, und
dessen Kern die unabdingbare Freiheit des Gewissens und der
Erkenntnis ist. Man glaube aber nicht, daß solch ein
geschichtlicher Vorgang sich mit Formeln wie »Rückkehr zur
Mutterkirche« erschöpfen läßt - jenes feige
Unterkriechenwollen, wie es sich im Konvertitentum ausdrückt -,
sondern hier muß eine günstige Stunde abgewartet werden,
in der ohne Verrat an den geistigen Gütern der Reformation die
Revision vollzogen werden kann. Denn »alle Ketzerei beruht auf
Übertreibung« (BERGENGRUEN).
11. ÜBER DIE »BEGRIFFLICHE ALLGEMEINHEIT« IN DER
ETHIK
Kant war mit der Entdeckung des kategorischen Imperativs ein
großer Wurf gelungen; aber er verfolgte den Weg in Richtung auf
das Objekt nicht, sondern, indem er zur Feder griff und
interpretieren wollte, was eine glückliche Stunde ihm gab,
verfiel er dem Druck seines empirischen Charakters, der
offensichtliche Spuren von Dürftigkeit aufweist. Er bog in die
gebundene Ethik ab und wurde so der Gefangene des preußischen
Staates. Man kann freilich bei einem so großen Geiste wie ihm
nicht annehmen, daß der wahre Sachverhalt spurlos an ihm
vorübergegangen sei; denn sonst ließe sich seine
»größte Verwunderung über das moralische Gesetz
in mir« nicht erklären. Der berühmte Ausspruch, der
für die Mehrzahl der Menschen der einzige ist was sie von KANT
wissen, hinkt ja offensichtlich dadurch, daß sein Pendant, der
»gestirnte Himmel über mir« die volle Ladung des
Objektes hat, während jener im Subjekt verharrt und nicht heraus
kann. Wahrscheinlich hat KANT bei seiner Formulierung in den Worten
von der »allgemeinen Gesetzgebung« die andere Bedeutung von
»allgemein«, nämlich die begriffliche, im Augenblicke
des Niederschreibens vergessen, ja verdrängt, und unterlag nun
dem Zwang, den alles Niedergeschriebene auf den Geist ausübt und
der den Sokrates und Platon veranlaßte, erhebliche
Einwände gegen die Erfindung der Buchstabenschrift zu machen
(Platon Phaidr. St. 275).
Die begriffliche Allgemeinheit der ethischen Handlung aber kommt auf
folgende Weise zustande und ist nur am privilegierten Falle
aufweisbar: Der Auftrag meldet sich zunächst bei der
erwählten Person durch starke psychische Störungen an; es
kommen schwere Träume, Visionen, Stimmen, die Kontinuität
der logischen Prozesse wird in Mitleidenschaft gezogen, und das
Bewußtsein seiner selbst kommt bis dicht an die
Gefährdung. Nun setzt, als ein Rettungsversuch, der begriffliche
Prozeß ein, der die Frage stellt, ob hinter diesen
Störungen etwas Objektives steht, dessen Vorposten sie sind; es
setzt ein Ringen um die Giltigkeit ein. Wird, was der seltene Fall
ist, endlich ein Zipfel des Objektiven gefaßt, so dringt der
begriffliche Vorgang weiter ein und stellt die Frage nach dem Inhalte
dieses Auftrages, während zugleich sich die psychischen
Zerrüttungen zu legen beginnen. Dann kommt der Moment des vollen
Kontaktes, in dem sich Subjekt und Objekt gewissermaßen
berühren, und das ist der Höhepunkt der Krisis, der, wenn
er durchgehalten, mit der Formel faßbar ist: Handle so,
daß, wenn es unendlich viele Personen von deiner Einmaligkeit,
also unendlich viele Abram oder Johanna gäbe, sie alle so
handeln müßten wie du.
Hier wird nun wieder der Individualbegriff sichtbar, dem wir schon
früher begegnet waren. SCHOPENHAUER wies nur vom logischen
Standpunkte auf ihn hin, wenn er sagte, »Sokrates«
heißt »alle Sokrates«; wir fanden ihn in Funktion als
Symbioten des Eros, und hier stoßen wir auf ihn als Axiom der
Ethik im Falle des Privilegiums. Es wird auch dem Leser jetzt klar
werden, weshalb wir stets nur das Wort Person brauchten und nie
Persönlichkeit sagten; denn erst hier ist deren Geburtsort
gefunden. Die Person ist Gegenstand des Eros und des
Individualbegriffes; sie enthält nichts von einem Wert. Die
Persönlichkeit beginnt erst mit der Ethik, und hier geht es nur
um den Wert. Da das Wort aber häßlich ist, zudem
abgegriffen und von Goethe in einen schlechten Reim gebracht, so
werden wir es weiter vermeiden und es dem Scharfsinn des Lesers
überlassen herauszufinden, was wir jedesmal meinen.
Diese Peripetie in der privilegierten Ethik bedeutet also die volle
Entblößung des Kernes der Person von allen psychischen
Umlagerungen und deren Zuwendung zum objektiven Welthintergrund, der
sich in diesem Fall wiederum - so berichten einstimmig alle davon
Betroffenen - als Person, und zwar als befehlende, offenbart. Die
Bibel nennt diesen Vorgang »das Angesicht Gottes schauen«.
Es scheint uns so, als ob die mit gutem Recht berühmt gewordene
Szene (1. Mose 32, 24 ff.), in der Jakob, Abrahams Enkel, mit dem
fremden Manne ringt und in der die Worte fallen »Ich lasse dich
nicht, du segnest mich denn«, eben dies meint; sie endet zudem
mit der Namenwandlung Jakobs in Israel.
Man sieht also mit aller Deutlichkeit: die hier beschriebene ethische
Situation, die ja zu den bedeutendsten und ruhmreichsten, vor allem
aber zu den gründenden gehört, läßt sich
keineswegs in die Formel fassen: »Handle so, daß die
Maxime deines Wollens Grundlage für eine allgemeine Gesetzgebung
werden kann«; denn es kann in solcher Lage immer nur je einer
den Akt des Gehorsams vollziehen, und doch ist dieser von
»allgemeiner begrifflicher Giltigkeit« und ist auch
kategorisch. Es liegt ihm aber die Giltigkeit des Individualbegriffes
zu Grunde. Man wird dadurch eine giltige Person. Und es ist auch die
Vernunft, die hier ständig arbeitet mit bohrender Klarheit; aber
ihre Tätigkeit erschöpft sich darin, daß sie dem
verhüllten Auftrag, der vor ihr und ohne sie da war, auf die
Spur kommt und diese bis auf ihren letzten Grund verfolgt. Den aber
muß sie stehen lassen, wie die »Dinge an sich.« Es
war Kants Unglück, ihr schöpferische Fähigkeiten
beizulegen, und so gelang es ihm auch nicht, mit seiner Entdeckung
des kategorischen Imperativs ins Freie vorzustoßen.
Es ist ihm aber aufgefallen, und er hat es ausdrücklich gesagt,
man könne nie mit Sicherheit behaupten, daß so etwas wie
ein kategorischer Imperativ wirklich vorkomme und erfüllt werde.
Die Natur hat den schützenden Mantel der hypothetischen
Imperative um ihn gelagert, wie als wolle sie den Menschen davor
bewahren, ganz genau senkrecht und geradlinig gegen das Gesetz der
Anpassung zu verstoßen. So ist etwa die Wahrheit, »sie
selbst an sich und an ihrem eignen Ort«, zweifellos Inhalt des
kategorischen Imperativs, weil, wenn ich zugeben wollte, daß
ihr Gegenteil ebenso berechtigt sei, ich damit die Grundlage der
menschlichen Gesellschaft, also auch die für ein Gespräch
oder ein Buch, aufheben würde. So spiegelt es sich in der
Vernunft, so »begründet« es sich, ohne daß es
deshalb darin »gründet« im Sinne von Ankergrund. Das
logische Rüstzeug zur Wahrheit aber steht auf jeder ihrer
Rangstufen vom Einmaleins bis zur Metaphysik immer zur
Verfügung, und es gibt wahrlich keine törichtere Frage als
die: »Was ist Wahrheit?« Nämlich, weil das jeder
weiß. Allein der Auftrag an den Denker besteht ja nicht darin,
am Leitfaden der Syllogismen Folgerungen aus gegebenen Prämissen
zu ziehen, die schon vorher - in Büchern - da waren; das ist
vielmehr die Tätigkeit des philosophischen Gelehrenstandes.
Sondern der Auftrag an den einzelnen Denker, der auch jedesmal eine
neue Inkarnation ist, liegt darin, unter dem freien Drucke des
Welthintergrundes ein Gedankengebäude wie aus dem Urgestein
herauszumeißeln, das Auskunft über den Bau der Welt und
deren Bedeutung gibt. Dieser Vorgang aber steht unter kategorischer
Befehlsgewalt.
Dem Denker liegt also der Dienst an der Wahrheit als seiner
gestrengen Herrin ob, und die Formel für diesen Dienst ist der
kategorische Imperativ. Das gleiche gilt für alle, die etwa als
Künstler dazu berufen sind, eine Reihe von Handlungen »von
selbst anzufangen«. Und sie haben bestanden, wenn sie ihr Leben
ohne Rücksicht auf ihre eignen Wünsche nur um der Sache
selber willen geführt zu haben. Das weiß jeder von ihnen.
Nun ist es aber ganz unvermeidlich, daß sich im Laufe eines
langen Lebens, in dem sich der harte Kampf vollzieht, ein anderes
Motiv unterschiebt, das einige Erleichterung gewährt, aber eben
nur hypothetisch ist, der Gedanke etwa an den eignen Ruhm bei der
Nachwelt. Ganz unwillkürlich spendet unsere moralische
Urteilskraft einer solchen Haltung die größte Bewunderung
und wir wissen ja, daß der antike Mensch in seiner Ethik ganz
diesem Gedanken lebte, der einen vornehmen Verzicht auf die
Berühmtheit bei den Zeitgenossen enthält. Der Denker aber
hat vor allen anderen den meisten Grund, sich dieser tröstenden
Zuversicht zu ergeben; denn ihm ist es bei der langsamen Wirksamkeit
seines Werkes am meisten beschieden, auf den Beifall der Zeitgenossen
verzichten zu müssen. Trotzdem aber ist auch der Dienst am
eignen Nachruhm nur ein hypothetischer Imperativ, in dem freilich, um
die Bewunderung herauszufordern, der kategorische enthalten sein
muß. Die Gründung des Nachruhmes in einem großen und
unbefleckten Namen ist aber nicht dasselbe, wie jene ganz interne
Namenswandlung im Vollzuge des Gehorsams, sondern es bleibt immer der
Name vor den Menschen, der die geheime und unaussprechbare
Berufenheit mitzieht. Diese selbst aber steht vor einem andern
Richter. Und das dunkle, aber ganz sichre Gefühl, daß es
hier ums Ganze geht, hat die großen Denker nie verlassen. Sie
wissen, daß ihr Leben verloren ist, wenn es ihnen nicht
gelingt, den Auftrag durchzuführen, und daß sie nicht
sagen können: »Wenn ich es nicht schaffe, so
schafftís ein andrer.«
Es ist nämlich so - und das weiß man dort unausgesprochen
-, daß, wenn hier etwas passiert, an der Naturstelle, die der
Denker einnimmt, die ganze Natur daran teilhat. Denn der Genius ist,
jedenfalls im Augenblicke der Konzeption, selber Organ der Natur und,
wenn der Funke vorbeispringt, dann ist ein Unheil geschehen. Die
Philosophie trennt zwar in einem analytischen Verfahren die einzelnen
charakteristischen Ordnungsteile der Natur voneinander und kann darin
nie sauber genug verfahren; sie definiert also der Reihe nach etwa
vom Subjekt aus in Richtung aufs Objekt: Vernunft, Verstand, die
Urteilskräfte, das Schema, die Idee, den Willen, die Materie:
aber die Natur selber ist eine synthetische Einheit, kontinuierlich.
Dort nun, wo der Genius steht, finden reine Ereignisse statt, deren
Träger der Geist ist, den es nur hier gibt und den man
keineswegs mit dem bloßen Intellekt, Vernunft und Verstand,
verwechseln darf. Die Wahrheit aber kann demnach sehr wohl
rückwirkende Kraft auf den Willen und damit auf die Materie
haben. Dies gilt aber nur, falls die Vernunft nicht etwa eine
hergelaufene Sache ist, wie bei Schopenhauer und dem naiven
Naturalismus, sondern im subjektiven Pol der Naturachse liegt, wie es
Kant beinahe gesehen hat. Freilich darf es dann - ernsthaft - keine
»Vernunftideen« geben. - So also ist der Dienst an der
Wahrheit allerdings wie ein heiliges Opferfeuer, das nie ausgehen
darf und das von der Philosophie immer wieder aufs neue angefacht
werden muß.
12. KANT UND DAS PROBLEM DES SELBSTMORDES
Es gibt in Kants »Metaphysik der Sitten« eine Stelle, deren
Klang und deren Worte fast die Erwartung erregen, als sei er hier zur
eigentlichen Tiefe und Freiheit durchgedrungen. Dort bringt er
nämlich anstelle jener legislativen Auslegung des kategorischen
Imperativs eine andere, in der er nicht von einer »allgemeinen
Gesetzgebung« - de lege ferenda - spricht, sondern nur von einem
»allgemeinen Gesetz«; aber es kommt noch deutlicher; denn
kurz darauf heißt es: »Handle so, als ob die Maxime deiner
Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden
sollte« (Seite 52 der Erstausgabe von 1785). Das hört sich
doch so an, also ob die Natur, die wir kennen, durch die ethische
Kraft von innen her verwandelt werden könnte, so daß sie
nicht mehr den Kategorien des Verstandes und den empirischen
Naturgesetzen unterliege, sondern den Kräften der Ethik. Ein
wahrhaft kühner Gedanke! Wäre Nietzsche auf ihn gekommen,
er hätte nur in Dithyramben weiter gesprochen. Aber bei KANT ist
das anders. Sein eingeschränktes Gemütsleben
läßt so etwas nicht zu, und so lesen wird denn hart hinter
dieser hochgestimmten Stelle mit zunehmender Ernüchterung,
daß er nunmehr als Beispiel »einige Pflichten
herzählen« wolle »nach der gewöhnlichen
Einteilung derselben in Pflichten gegen uns selbst und gegen andere
Menschen, in vollkommene und unvollkommene Pflichten«, denn es
ist ihm, wie er später sagt (Seite 61), um die »Lauterkeit
der Sitten« zu tun. Wir wollen diese - versteht sich - nicht
angreifen, aber eben hörten wir noch einen anderen Ton. Da ist
zunächst »Einer, der durch eine Reihe von Übeln, die
bis zur Hoffnungslosigkeit angewachsen ist, ein Überdruß
am Leben empfindet« und die Absicht hat, sich das Leben zu
nehmen. Seine Maxime ist: »Ich mache es mir aus Selbstliebe zum
Prinzip, daß wenn das Leben bey seiner längern Frist mehr
Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es mir
abzukürzen.« »Es frägt sich nur noch« -
wendet KANT ein -, »ob dieses Prinzip der Selbstliebe ein
allgemeines Naturgesetz werden könne. Da sieht man aber bald,
daß eine Natur, deren Gesetz es wäre, durch dieselbe
Empfindung, deren Bestimmung es ist, zur Beförderung des Lebens
anzutreiben, das Leben selbst zu zerstören, ihr selbst
widersprechen und also nicht als Natur bestehen würde, mithin
jene Maxime unmöglich als allgemeines Naturgesetz stattfinden
könnte und folglich dem obersten Prinzip aller Pflicht
gänzlich widerstreite« - Mag sein; indessen, unser
sittlicher Geschmack erhebt spürbare Einwände. So
nämlich sieht ein echter Selbstmörder nicht aus, und man
merkt dieser konstruierten Figur an, daß Kant selbst jemals
»von des Schierlings betäubenden Körnern«
gegessen hat. Denn, was dieser Mann tut, ist nichts weiter, als das
Leben wie ein Geschäft ansehen, und er ist gerade eben dabei,
festzustellen, daß es die Kosten nicht deckt; nun besinnt er
sich, ob er einen - selbstbetrügerischen - Bankrott anmelden
soll. Gesetzt nun, der Mann bliebe leben - was sehr wahrscheinlich
ist -, so ist es gänzlich gleichgiltig, ob er es aus
Gründen einer neu auflebenden Hoffnung tut oder - als ob er der
liebe Gott wäre - deshalb, weil der Selbstmord sich nicht dazu
eignet, »allgemeines Naturgesetz« zu werden. Der Mann
bleibt ein lederner Pinsel, so oder so, und am besten ist es, man
läßt ihn stehen. Er kann uns nämlich gar nichts
berichten, was wir nicht auch ohne ihn wüßten; denn
solange jemand noch darüber nachdenken kann, ob das Leben sich
lohnt, solange er also vernünftelt, ist er noch gar nicht in den
Bereich eingedrungen, in dem der Selbstmord als eine ernst zu
nehmende Gefahr droht. Das tritt vielmehr erst dann ein, wenn der
erste Griff nach den Schierlingskörnern getan ist. Dann aber
verwandelt sich die Erwägung, ob ja oder nein, und warum und
wieso, sehr schnell in ein unmittelbares, fast anschaulich zu
nennendes Erlebnis seiner selbst: die Frage nach dem Wert des Lebens
hat aufgehört und an ihre Stelle tritt die nach der
Unsterblichkeit. Aber nicht als Frage »der Vernunft«, auf
die man hinterher eine unvermeidlich paralogistische Antwort geben
kann, sondern als Frage, die dadurch beantwortet ist, daß sie
im Geiste gestellt wird. Hier stand Hamlet.
In solcher Lage lernt der Mensch nämlich auf eine ganz intime
und unvermittelte Weise jenen Unterschied kennen, den die Philosophie
zwischen dem empirischen und dem intelligiblen Charakter macht. Der
empirische Charakter ist das, was sich, von außen gesehen, als
die Physiognomie eines Menschen zeigt und was in die Materie, aus der
er besteht, eingedrückt ist, so, daß diese niemals anders
bei ihrem dauernden Wechsel sich lagern kann als der empirische
Charakter es vorschreibt. Jede Wimper, jede Ader am Daumen, die
Struktur der Haut und die Dicke der Schädeldecke, die Farbe der
Augen, aber auch die Art des Blickes bestimmt. Man sieht nicht
umsonst so und nicht anders aus. Dasselbe, von innen gesehen, ist der
Wille: wir folgen hier weitgehend Schopenhauers Auffassung, nur ohne
uns seines Dogmas vom Willen zu bedienen. Das gesamte Wunschleben mit
seinen Trieben, bewußt oder unbewußt, darunterliegend die
Vorgänge der biologischen Anpassung, des Stoffwechsels und des
Wachstums, schließlich aber, ganz tief, der eigentliche
»Wille zum Dasein« - das alles ist die genaue Entsprechung
der Materie und würde auch seine sichtbare Physiognomie haben,
wenn der Wille selber im Raume erschiene; er erscheint aber nur als
Materie im Raum. Die »Physiognomie des Willens« aber ist
genau so geprägt wie die Materie selbst, und ich kann nicht
anders wollen als ich bin. Der empirische Charakter ist das, was
GOETHE in seinem vielzitierten »Orphidischen Urworten«
anredet (»Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehn...«),
und seine exakte Signatur ist das Geburtshoroskop.
Dieser empirische Charakter nun ist der Schauplatz des Leides, das in
gewissen Fällen das Maß des Erträglichen zu
überschreiten scheint, und auf ihn hat es der angehende
Selbstmörder abgesehen. Allein unter der Voraussetzung,
daß er mit seinem Plane bereits über das bloße
Räsonnieren hinausgekommen und in die Zone eingedrungen ist, in
der es ernst wird: in dieser Zone tritt ihm plötzlich die Frage
nach dem, was diesem empirischen Charakter zum Grunde liegt, als
Erlebnis entgegen, und er schreckt zurück. HAMLET denkt ja nicht
darüber nach, ob es sich lohnt zu leben, sondern er stellt die
Frage: »Sein oder Nichtsein...« Anders ausgedrückt:
was an mir ist das eigentlich Seiende, jener empirische Charakter,
der Träger des Leidens, oder das, wodurch dieser überhaupt
Charakter ist? Diese Frage aber bliebt mindestens offen, und das
genügt. Nur eines ist gewiß: er kann mit der Kugel und dem
Gift jenes eigentlich Seiende gar nicht treffen. Also ist in einem
tieferen Sinne die Möglichkeit des Selbstmordes in Frage
gestellt, auch wenn er physisch gelingt.
Daß diese typischen Erwägungen, die wir immer wieder
finden und von denen uns die Betroffenen, wenn wir ihr Vertrauen
genießen, nachher berichten, eine giltige Spur verfolgen, ist
ganz evident. Wer sich je ernsthaft in dieser Lage befunden hat, der
gleicht einem Menschen, der die Erde vom Weltraum her betrachtet: er
sieht, daß sie eine Kugel ist und frei im Raume schwebt,
während der Erdbewohner das nur weiß und übrigens
meistens vergißt. So wird hier der Unterschied zwischen dem
empirischen und dem intelligiblen Charakter erlebt, statt nur
gewußt. Diesem Eindruck kann er sich für die Zukunft nicht
mehr entziehen, und wir wundern uns nicht, daß wir gerade unter
jenen die ernstesten Menschen finden; denn sie sind mit ihrem
innersten Leben auf die Tiefenordnung der Natur gestoßen. Im
früheren Stadium des Selbstmordplanes, dort, wo sie noch Bilanz
machten, ist ihnen gewiß einmal das frivole Wort aufgekommen:
»Ich habe meinen Eltern ja nicht die Erlaubnis gegeben, mich in
die Welt zu setzen«; ist der Griff nach den Körnern aber
schon erfolgt, so geht ihnen als ein Licht die Erkenntnis auf,
daß sie von ihren Eltern zwar erzeugt, aber nicht geschaffen
sind; und dieses zweite, was es ist, bemerken sie erst jetzt. Je nach
ihrer Gemütslage wird ihnen, an diese Stelle gelangt, der Mangel
an Verfügung klar, den sie über ihr Leben haben und der
sich in dem Gebote ausdrückt: »Du sollst nicht
töten!« Die Einheit von Ethik und Metaphysik ist aber hier
so dicht gefügt, daß gar kein Soll-Charakter mehr
verspürt wird, sondern alles auf der andern Seite liegt, und wie
ein Hilfsakt der Natur aus ihrem Hintergrunde sich
anläßt.
Aber man darf nicht meinen, daß solch ein Selbstmörder,
der gerade eben dem Leben wiedergewonnen wurde, sich ein Wissen
über das Leben nach dem Tode erworben habe. Ein solches Wissen
gibt es nicht. Sondern er ist durch ein reines Ereignis der Natur auf
die Unsterblichkeit gestoßen. Er erlebt die Stelle, an der das
Prägende und das Geprägte seines Charakters einander
begegnen, und das ist ihm zu einer unvergeßlichen Wahrheit
((a-lhtheia)) geworden. Er kann allerdings wissen, daß die
Beziehung, die seine Person zu seiner Individualität
hat,dieselbe ist, wie die des Archetypus einer Tierart zu den
unzähligen Exemplaren in denen sie erscheint. Und diese
Beziehung kann man mit Fug und Recht die der Ewigkeit und
Unsterblichkeit nennen. Mehr aber weiß er nicht. Und er
würde sofort wieder verlieren, was er gewann, wenn es ihm etwa
einfiele, Märchen über das Leben nach dem Tode zu
erzählen. Die Natur hat hier eine harte Grenze gesetzt.
Daß der physisch gelungene Selbstmord die Person nicht trifft,
findet eine bemerkenswerte Parallele in einem biologischen
Experiment, das Hans Driesch gemacht hat; dieser durchschnitt
befruchtete Seeigeleier und ließ sie in der Sonne
ausbrüten; das Ergebnis war nicht, wie man vermuten konnte, der
Tod des Keimes oder eine verkrüppelte Nachkommenschaft, sondern
je zwei gesunde Seeigel von halber Größe! Hier kann man
die platonische Idee geradezu mit Händen greifen. Das Messer des
Biologen konnte wohl die Materie zerteilen, aber den dahinter
wirkenden Archetypus der Tierart kann es nicht treffen; dieser
vielmehr reagiert in Freiheit und bildet aus derselben Materie zwei
Individuen. Der Mensch unterliegt als Individuum dem Archetypus
Mensch, und außerdem ist er Person; das aber bedeutet,
daß er einen eignen intelligiblen Charakter von der Kraft und
der Herkunft eines echten Archetypus besitzt. Der aber wird von der
Kugel nicht getroffen.
Es sind also wahrlich ganz andere Kräfte, die einem Selbstmorde
entgegenwirken, als KANT sie seinem Beispiele unterschiebt. Jener
Mann ist gar nicht Natur, sondern ein Buchhalter. Er ist von KANT
konstruiert gemäß seiner Definition von »Natur«,
die aber ganz und gar für den Gebrauch der Naturwissenschaft
hergerichtet ist und dafür auch ihre Giltigkeit hat. Sie lautet:
»Natur ist das Daseyn der Dinge, sofern es nach allgemeinen
Gesetzen bestimmt ist« (Prol. § 14). Diese
»allgemeinen Gesetze« sind die des Verstandes, also die
Kategorien unter deutlicher Vorherrschaft der Kausalität und des
Substanzsatzes, die durchweg a priori sind. Die besonderen Gesetze
der Natur aber, wie das der Gravitation oder des
Wärmeäquivalentes der Bewegung, ferner alle biologischen
sind a posteriori und müssen entdeckt werden; diese Entdeckung
geschieht durch den Einfall des Genius, der in statu nascendi selber
Natur ist; das bereits geformte Gesetz aber in actu demonstrandi wird
Basis der weiteren Forschung und hat die Eigenschaft, an die Stelle
der vollen Natur ein Eliminat zu setzen, durch das allein weitere
Forschung möglich ist. So spricht man mit Recht von einem
»Weltbild der Physik« oder einem »biologischen
Weltbild«, die aber durchweg Eliminate sind und kein Bild der
Natur selber geben können. Konstruiert man aber,
rückwärts gehend, vom Standpunkte eines solchen Eliminates
aus, einen Menschen, der doch eben Natur in toto sein soll, so
entstehen solche Mißgebilde wie jener verunglückte
Selbstmörder, dem wir jedes Urteil in Sachen eines so tief
angelegten Antriebes verwehren. Wir müssen uns vielmehr einer
anderen Definition der Natur bedienen und diese lautet: Natur ist ein
transzendentales Kontinuum; ihre Ladung ist das archetypische
Potential.
Aber die Instanz, die über die Moralität entscheidet, ist
nicht eine diskursive praktische Vernunft, sondern die moralische
Urteilskraft, auf deren Ausschlag wir angewiesen sind. Diese aber ist
dem Selbstmorde gegenüber weit toleranter als ihre
unzuständige Schwerster mit ihren »allgemeinen
Gesetzen«. Und nicht nur das, sondern sie stimmt in einigen
Fällen ausdrücklich zu. Marcus Porcius Cato, der sich nach
der Schlacht von Tapsus in sein Schwert stürzte, weil er das
Ende der Republik nicht erleben wollte, stünde in unserer
Achtung weit geringer da, wenn er leben geblieben wäre. Er ist
erst durch seinen freien Tod der echte Cato geworden. Napoleon nahm
nach Waterloo Gift, aber sein schlechter Magen brach es ihm wieder
aus: wir bedauern das, denn unser Gefühl wünscht, daß
ihm St. Helena erspart geblieben wäre. Friedrich der Große
trug immer Gift bei sich und hätte es genommen, wenn er die
Schlacht von Roßbach verloren hätte. Spinoza schrieb sein
Hauptwerk, die Ethik, um es zu hinterlassen, und dann nahm er Gift;
denn er liebte den Tod. Wer würde wohl so roh sein, ihm das zu
verargen, weil die Maxime diese Todes nicht Grundlage für ein
allgemeines Naturgesetz werden kann? Das hieße, dem
großen Manne zuzumuten, nach erfülltem Auftrag sich
für den Rest seines Lebens brillenschleifend, zu Tode zu husten.
Von Max Steiner erfahren wir, daß er eine Lösung des
ethischen Problems im Kopfe gehabt, die er aber nicht verraten hat;
ganz unerwartet, mitten in bürgerlichen Verrichtungen begriffen,
nahm er Gift und starb.* Dieser Jüngling von siebenundzwanzig
Jahren war ein vortrefflicher Mann und klarer Denker kantischer
Schule. Seine Werke lauten: »Die Lehre Darwins in ihren letzten
Folgen«, »Die Rückständigkeit des modernen
Freidenkertums«; sein Nachlaßwerk, das nur in Fragmenten,
aber in einer vorzüglichen Sprache vorliegt, sollte wohl
»Die Welt der Aufklärung« heißen. Die Formel
aber, die seine Grundlegung der Ethik bezeichnen sollte, lautete
»aus bloßer Vernunft und reiner Erfahrung.« Man kann
nicht umhin, mindestens den Begriff »reine Erfahrung« als
verwandt mit dem hier Vorgetragenen zu vermuten. Aber er hat das
Geheimnis seines Gedankens mit ins Grab genommen. Auch er liebte den
Tod. - Von Konrad Wilutzky aber erfahren wir durch seinen Bruder:
»Mein Bruder ist ruhig und, wie ich nach seinem Gesichtsausdruck
auf dem Totenbett schließe, im Denken an seine Frau in die
andere Welt hinübergegangen. Er hat am Vortage seines
sechzigsten Geburtstages Veronal genommen. Er war ausgeglichen und
wie immer von seiner Liebe und seinem Werke erfüllt. Leben und
Werk in dieser Welt sah er als vollendet an, er konnte seiner Frau
folgen. Seine letzen Worte in einer hinterlassenen Arbeit sind:
»...als Philosoph will ich das Mittel Homers, weil es sanft ist
und zur Liebe paßt, und solange es wirkt, kann man an den
Geliebten denken. Und so will ich nun den Tod auf griechische Art
beschwören, vielleicht, daß er sich dadurch auf sein
altes, schönes Amt der Euthanasie wiederbesinnt und mir
freundlich ist und hilft: o schöner Tod, lieber Tod, sei mir
glückhaft, Tod!«
So wird dem Menschen der freiwillige Tod als ein Gnadengeschenk von
der Natur selber gereicht, die ihn freigibt und damit keineswegs ihr
Gesetz bricht, sondern es vielmehr erfüllt. Bei der Tötung
eines andern erfolgt immer ein Einspruch der Ethik, auch dort, wo sie
so berechtigt wie möglich ist. Die Ermordung Geßlers in
Schillers Tell erregt die höchste Beipflichtung des Zuschauers,
aber nicht des Täters; denn Tell selbst entzieht sich den
Festlichkeiten, weil er weiß, daß er ein Mörder ist.
Beim Selbstmord aber ist das nicht sicher, daß immer das Gebot
»Du sollst nicht töten« vernehmbar wird; vielmehr wird
in einigen Fällen der Weg freigegeben.
Daß Selbstmord überhaupt möglich ist - er wäre
unmöglich, wenn die Natur naturalistisch wäre -, beweist,
daß das Leben nicht biologisch ist, sondern archetypisch und
wer dort hineinsieht, kommt leicht in die Lage, den Tod zu lieben.
Aber weniger leicht in die, wiedergeliebt zu werden. Bei den
Betrachtungen, die so oft bei einem Selbstmorde angestellt werden,
heißt es immer: »er hatte doch eigentlich gar keinen Grund
dazu«, denn die psychologischen Motive wollen immer nicht recht
genügen. Man kann nur sicher sein: der Tote hat den Grund
gewußt, und darin liegt seine Überlegenheit.
13. EPILOG ZU KANTS EINGRIFF IN DIE ETHIK
Kants Philosophie verläuft so, als hätte das
naturwissenschaftliche Zeitalter ihm den Auftrag erteilt, für
die Sicherung seiner Grundlagen Sorge zu tragen. Wie die Kirche im
frühen Mittelalter den Auftrag an die Philosophie vergab, die
Vernunftgemäßheit des Dogmas zu begründen, so tat es
die Naturwissenschaft mit Kant. Der Auftrag ist erfüllt worden,
und zwar richtig. Aber diese Erfüllung bezieht sich nur auf die
Naturwissenschaft »überhaupt«, oder, wie es in den
Prolegomena heißt: »Wie ist reine Naturwissenschaft
möglich?« Dagegen, wie die einzelnen Wissenschaften
möglich sind, das beantwortete Kants Philosophie nicht, obwohl
er selbst es wußte. Hier macht nur Mathematik und theoretische
Mechanik eine Ausnahme. Er weiß nämlich - denn er hat es
gesagt -, daß die einzelnen Erkenntnisse durch den
Entdeckungsakt des Genius in die Welt kommen; demnach ist die
Naturwissenschaft, deren reine, aber leere Form sicher steht, auf den
Genius angewiesen, damit sie gefüllt werde. Das
Gravitationsgesetz ist nicht ohne Isaak Newton da; jedenfalls nicht
ohne den genialen Konzeptionsmoment, in welchem zum ersten Mal der
irdische Fall schwerer Körper und die Bewegung der Gestirne als
dasselbe erkannt wurden. Statt vom einzelnen Genius zu sprechen, den
man mit Namen kennt, kann man auch von der »genialen Zone«
reden, die wie ein phosphoreszierender Streifen über der sonst
dunklen Menschheit liegt. Der Genius aber ist in statu concipiendi
selber Natur, wobei aber hier »Natur« bereits die Einheit
von natura naturans und natura naturata bedeutet. Das heißt,
ihr Gesetz springt durch das transparente Wesen des Genius hindurch
in die Welt des Intellektes, wo es im actus demonstrandi verarbeitet
wird. Es ist das ewige Lied, vom zeugenden Genius, ohne das es weder
Erkenntnis noch Kunst, noch Ethik gibt.
Nun aber ist es KANTS Meinung, daß wohl in der
Naturwissenschaft die Inhalte von den »Einfällen eines
genialen Mannes« abhängig sind, daß aber in der Ethik
alles von der praktischen Vernunft konstruiert wird, so ähnlich,
wie die geometrischen Figuren vom Intellekt in den reinen Raum. Daher
kommt es auch, daß seine Beispiele des Fluidum der Natur
vermissen lassen, wie jener spintisierende Selbstmörder, der, in
des Wortes wahrster Bedeutung, nicht leben und nicht sterben kann.
Durch diese Verlagerung der Wurzel der Ethik, ihres Grundes, in das
Subjekt, eine autonome praktische Vernunft, wird die Ethik selbst aus
der Natur herausgehoben, so als könne sie leben, ohne
Kräfte aus ihr zu beziehen. So etwas aber gibt es nicht. -
Daß hier aber kein Mißverständnis aufkommt: wir
reden ja nicht etwa einer »natürlichen Ethik« das
Wort. Ethik ist immer widernatürlich und wurzelt in keiner
Stelle in der natura naturata, in der das Gesetz der Anpassung gilt.
Dieses hat zum Ziel die Erhaltung und Stärkung des biologischen
Lebens; die Ethik aber hat dieses Ziel nicht, und KANT ist im Recht,
wenn er irgendwelche »Antriebe der Sinnlichkeit« verwirft.
Die Ethik ist eben gerade der genaue Widerpart der Anpassung im
polaren Sinne des Wortes, nicht bloß im logischen; sie ist ein
arteignes Kraftfeld, dessen Medium die Freiheit ist. Als solches aber
gehört sie mit zur Natur, die freilich nun um eine Dimension
vertieft worden ist. Das wirkliche Leben sowohl als die Dichtung
spricht von ethischen Taten, die vollen Zusammenhang mit einer
kontinuierlichen Natur bezeugen; Kants konstruierte Ethik aber setzt
ein Loch in ihr voraus. Das aber gibt es nicht. - Es bleibt also
keine andre Wahl als die: genau so wie die Gesetze der Natur entdeckt
worden sind, genau so auch wurde der Inhalt der Ethik entdeckt. Im
ersten Falle nennen wir die Namen: Aristarch von Samos, Kopernikus,
Newton, Galilei, Mayer; im zweiten nennen wir sie auch, und zwar sind
es, vom jeweils privilegierten Falle abgesehen, die Propheten
Israels.
Jeder Denker hat einen empirischen Charakter, und dieser tritt
unvermeidlich als ein trübendes Element in den Denkakt ein. Der
angeborene und der erworbene Teil durchdringen sich hier gegenseitig
im Laufe eines langen Lebens wie ein Amalgam. Kant hatte einen
offenbar unwiderstehlichen Hang zum Staatlichen, und dieser wirkte
wie ein Sog auf seine Ethik ein: kaum bricht sie aus seiner genialen
Natur heraus, so wird sie auch schon eingefangen und gebunden. Darum
kann er auch sein Versprechen nicht halten, uns zu zeigen, wie Ethik
»allgemeines Naturgesetz« wird. Im Falle 1 des verhinderten
Selbstmörders haben wir das dargelegt; der gütige Leser
möge an jener zitierten Stelle der »Metaphysik der
Sitten« selbst nachlesen, wie, mit dauernd zunehmender
Entfernung von der Natur, sich im Fall 2, 3 und 4 die ethischen
Einsprüche geltend machen. Da ist jemand, der einer Notlage ein
betrügerisches Versprechen abgeben will, oder einer, der seine
angebornen Talente nicht ausbildet, dann jemand, der in Reichtum
lebend, durchaus nicht auch anderen davon abgeben will. Das ethische
Gegenmotiv hat aber gar nichts mehr von Natur an sich, sondern ist
reine Soziologie und geht rund heraus nach der Formel »Wie, wenn
jeder so dächte?« Man spürt hier deutlich, wie Kant
dem Charybdis-Strudel anheimfällt, der unweigerlich alles in die
Ebene der staatlich gebundenen Ethik zieht, und aus ist es mit der
Herrlichkeit.
Allein man muß bei aller Kant-Kritik, die von jeher geübt
worden ist, eines im Auge behalten: es handelt sich allemal um Kritik
am Genius, die aber stets vom Gelehrten ausging. Zum mindesten ist
der Akt der Kritik selber einer der Gelehrsamkeit und nicht der
Genialität. Hierdurch kommt ein unvermeidliches
Mißverhältnis auf, wodurch ja auch Kant im Laufe von
anderthalb Jahrhunderten in den Bezirk der Gelehrsamkeit
übergeführt worden ist. Der Genius aber unterscheidet sich
dadurch, daß er echte Einfälle vom Objekt her hat; er
kommt daher unvermeidlich bei deren Verarbeitung in die Spaltung des
genialen Vorganges in status nascendi und actus demonstrandi, eine
Lage, die es beim Gelehrten nicht gibt. Bei der Verarbeitung nun des
genialen Vorganges (KANT: »ein Licht aufgehen«) verschiebt
sich die Sprache, die Worte werden mehrdeutig und spiegeln dabei eben
jenen Spaltungsprozeß wider. Die Werke des genialen Menschen
enthalten daher Partien, in denen sich der ursprüngliche Einfall
noch organisch zur Geltung bringt, und dann wieder andere, in denen
er sich gewissermaßen selber abschreibt, schon festgewordenes
Gedankengut niederlegt. Das aber gerade ist der unwiderstehliche Reiz
genialer Werke gegenüber denen der bloßen
Gelehrsamkeit.
Nun kann man bei näherem Hinhören, wohl bemerken, daß
Kants Hauptwort, nämlich »Vernunft«, in solch einem
doppelten Lichte einhergeht. Einmal nämlich ist sie durchaus
deliberativ, nachdenkend, abstrakt, vernünftelnd und
syllogistisch, so etwa, wie sie Schopenhauer faßt; Kant
würde das »diskursiven Verstand« nennen; nur,
daß eben die praktische Vernunft über Seinsollendes
nachdenkt. Dann wieder scheint sie - aber nur in der Ethik - die
Bedeutung von »vernehmende Vernunft« zu bekommen, wodurch
sie sofort in eine gänzlich andere Lage gerät. Wir treiben
hier nicht Kant-Philologie und wollen daher nicht auf die Suche nach
Belegstellen gehen, umsoweniger, als das hier Gemeinte mehr dem
Sprachgefühl anheimgestellt werden muß. Wir vermuten aber,
daß Kant mit seinem terminus »praktische Vernunft« im
Grunde und unbewußt eben eine solche »vernehmende«
gemeint hat. Dann nämlich würde die ganze Sache auch eine
andere Wendung bekommen. Denn eine vernehmende Vernunft ist etwas
zunächst Passives, das seinen Inhalt empfängt und damit
seine Virginität beendet. Es würde sich dann in der Ethik
der gleiche Vorgang abspielen, wie in der transzendentalen Logik bei
der Erklärung der sinnlichen Anschauung. Hier unterscheidet KANT
in meisterhafter Sicherheit die »Rezeptivität der
Sinnlichkeit«, die eben widerstandslos empfängt, was
gegeben wird, von der »SpontanÇität des
Verstandes«, wodurch wie in einem aktiven Vorgang, den er
»Synthesis« nennt, der Sinneseindruck gedeutet, verstanden
wird. »Anschauung ohne Begriffe sind blind; Begriffe ohne
Anschauung sind leer.« Man fühlt auch hier wieder einmal
deutlich die Stromrichtung als Garant für die Wirklichkeit: sie
fängt an, vom Objekt her auf die Sinne einzudringen und endet
mit dem Gegenstoß des Verstandes vom Subjekt her. Nur was so
gebaut ist, hat Realität, alles andere ist Schein und Gedachtes.
Die Natur hat kein Loch, und das Objekt ist stärker. In der
Ethik nun, wo dasselbe gefordert werden muß, kommt das nur dann
zustande wenn das Wort Vernunft die Bedeutung »das
Vernehmende« hat. Und das Was, der Inhalt muß zuerst im
Objekt dasein und muß stärker sein. Nur liegt es freilich
woanders, nämlich um eine Dimension tiefer, als der Ursprung der
Sinnesempfindungen.
Hat Kant - im stillen - seine »praktische Vernunft« so
gemeint, dann wäre nichts gegen sie einzuwenden; denn sie
wäre von der odium befreit, aus sich heraus schöpferisch zu
sein. Sie wäre von der Natur genährt, die allein zeugen
kann, und bliebe dabei selber das ewige Licht. Einen Hinweis darauf,
daß Kant es heimlich so gemeint hat, bietet sein Begriff vom
»Vernunftwesen«, für das der Mensch das einzig
bekannte Beispiel ist. Ein Vernunftwesen ist nicht etwa ein Tier, das
sich im Verlaufe seines biologischen Entwicklungsprozesses die
Vernunft hinzuerworben hat, um damit zu überlisten und Werkzeuge
zu schaffen, sondern eines, dessen Wesen die Vernunft ist. Darwin und
- Gott seiís geklagt! - auch Schopenhauer sehen ja den
Menschen so, als ob die Vernunft dessen empirische Eigenschaft sei;
Kant aber nicht. Und Kant sieht tiefer. Mache ich aber die Vernunft
zu meinem Wesen, so habe ich damit sofort deren Begriff verwandelt,
die Sprachspaltung macht sich bemerkbar, und »Vernunft«
heißt nun auf einmal »die Vernehmende«; denn ich will
doch nicht etwa sagen, daß mein Wesen das
»Vernünftelnde« sei.
Es ist aber in der Tat gar nicht unstatthaft, ja fast geboten, mein
Wesen in den Bezirk der Vernunft einzureihen; denn welche Wahl bliebe
sonst? Ich müßte sagen, mein Wesen sei »Wille«,
was bestimmt falsch ist; oder ich müßte sagen, es sei
Materie, was ja auch kein Mensch glauben will. Denn nicht das
Geprägte, sondern allemal das Prägende geht voraus, und ich
verspüre sehr deutlich, daß dieses weder Wille noch
Materie sein kann - wenn es überhaupt ist. Was bleibt also
übrig? Daß ich dieses mein eigentliches Wesen
»Vernunft« nenne, ist zwar nicht geschickt, eben wegen der
Verwechslung mit der vernünftelnden Vernunft (ratio cogitans),
aber falsch ist es nicht. Setzen wir dagegen anstelle des Ausdruckes
Vernunftwesen das Wort Person, so haben wir genau getroffen, was,
wenigstens im Ethischen, damit gemeint war. Ich bestehe als Person
aus vernehmender Vernunft, und diese gebietet mir in der Form des
kategorischen Imperatives, was getan werden soll - aber erst, nachdem
sie selber empfangen hat. So wird es richtig. Kant aber glitt in actu
demonstrandi auf dem Wege der Sprachspaltung in die andere,
vernünftelnde Bedeutung ab, und dadurch entstand der Schein, als
ob die stets passiv empfangenen Inhalte begründbar seien. Kant,
der Entdecker, befand sich eben dauernd im verwirrenden Kraftfeld der
genialen Zone, und diese brachte ihm die Begriffe durcheinander.
»Manchmal verstehe ich mich selber nicht«. hnlich,
aber mit mehr Glück, erging es ihm bei dem Worte
»Freiheit«, das gleichfalls in zwei gänzlich
verschiedenen Bedeutungen vorkommt; hier aber gelang es ihm die Sache
festzuriegeln. Platon unterlag demselben Prozeß, indem er durch
dauernde Verwechslung von Idee und Begriff die eigne Ideenlehre
verwirrte.
Die Ethik hat also denselben Bau wie die anschauliche Welt. Und nur
wenn und weil es so ist, kann es sie überhaupt geben, nur so hat
sie ihren Grund in der Natur. Die Sinnesorgane empfangen aus dem
Unergründlichen jenen Rohstoff der Anschauung, der als
spezifische Sinnesempfindung in den einzelnen Organen ankommt. Ich
kann nicht wissen, was die Sinnlichkeit mir liefert, sie ist rezeptiv
und paßt sich dem Druck, der von außen kommt, nach dem
allgemeinen Gesetz der organischen Lebewesen an; es ist auch nur der
gegenwärtige Anpassungszustand, der die Zahl der Sinnesorgane
auf fünf beschränkt, und wir haben guten Grund, anzunehmen,
daß der Mensch in einer früheren Erdperiode noch einen
sechsten besessen hat. Ich kann nicht wissen, ob nicht eines Tages
ein neuer erwacht; hier gibt es keinerlei Notwendigkeit. Aber ich
kann mit Sicherheit wissen, was der Verstand daraus machen muß.
Denn der jeweilige Sinnesreiz trifft ja eben auf ihn, und erst hier
wird er verstanden, d. h. es entsteht die anschauliche Welt der
Erscheinung. Die Gesetze des Verstandes aber sind mir durchweg
bekannt; denn sie sind allesamt a priori und also notwendig. Es kann
der Natur eines Tages gefallen, die Augen des Menschengeschlechtes zu
verändern, so daß es durch parabolische Linsen sieht,
statt durch sphärische; die Welt der Erscheinung sähe dann
anders aus. Man könnte sich auch vorstellen, daß das Auge
für die Strahlen jenseits von Rot und Violett empfänglich
würden, und das gäbe dann den Stoff für eine
phantastisch veränderte Welt, an der sich ein Groteskenschreiber
versuchen könnte. Daß aber diese von Grund auf umgerodete
Sinnenwelt außerhalb der Denkgesetze läge, das ist weder
vorstellbar, noch auch nur denkbar. Denn die Denkgesetze gehören
ins Polgebiet der Achse der Natur; der Sinnenzustand aber bloß
zum empirischen Menschen. Dieser ist variabel, jene in alle Ewigkeit
konstant. Ich kann wohl logisch einwandfrei und grammatisch richtig
den Satz bilden: »Es gibt eine Welt mit anderen
Denkgesetzen«, aber ich kann keinen zweiten Satz anknüpfen,
der zu dem ersten eine logische Beziehung hat; denn ich
müßte dazu dieselben Denkgesetze anwenden, deren Existenz
der erste Satz ja gerade bestreitet. Man sieht: ein solcher
Standpunkt ist nichts als vollkommener Unsinn. Er wird übrigens
ständig von typischen Querulanten vorgebracht, die wissen,
daß es Denker gibt, die Weltbilder schaffen, und die sich
ärgern, daß sie nicht dazu gehören. - Der Verstand
ist keineswegs rezeptiv, sondern spontan, aber nicht etwa produktiv;
er kann keine blaue Farbe schaffen. Aber er verwandelt einen blauen
Fleck auf der Retina des Auges in ein Veilchen, das im Garten
blüht. Die Vernunft aber - um es vorwegzunehmen - denkt
über das Veilchen nach und bestimmt seinen Ort im System der
Pflanzen; der Verstand dagegen bestimmt seinen Ort im Garten.
Dieses Verhältnis nun waltet in der ganzen Natur, auch in der
Ethik. Denn auch bei ihr stammt der Inhalt aus dem
Unergründlichen, aber er wendet sich nicht an den Verstand, auch
nicht an die Vernunft, sondern an mich. Ich bin also hier wie ein
Sinnesorgan rezeptiv und habe keine Verfügung darüber, was
mir geboten wird. Im gleichen Augenblick aber stößt dieser
Inhalt, der noch Rohstoff ist, auf die Vernunft, und diese antwortet
spontan mit der ihr eigentümlichen ordnenden Kraft. Und weil sie
sich hier nicht, wie im Falle der theoretischen Erkenntnis, mit
Dingen beschäftigt, die sind, sondern mit solchen, die sein
sollen, so trägt sie hier den Namen praktische Vernunft. So
wenig aber der Verstand, als ein intellektuelle Faktor der
anschaulichen Welt, die blaue Farbe schaffen kann, so wenig kann die
praktische Vernunft das Gebot schaffen: »Du sollst nicht
töten!« Sie ist nur der intellektuelle Faktor der Ethik und
als solcher spontan und aktiv, wie der Verstand in der anschaulichen
Welt. Man kann auch sagen: Die Ethik ist die einzige Stelle in der
Natur, an der die Vernunft konkret wird.
In der Geschichte der Philosophie gab es bekanntlich eine Richtung,
die sich »Sensualismus« nannte und die behauptete,
daß unsere anschauliche Erkenntnis nichts weiter sei als ein
sehr verfeinerter Sinneseindruck; diese Schule läßt also
den subjektiven Faktor weg, den Verstand. Die Vernunft-Ethik nun tat
genau das Umgekehrte; sie ließ den objektiven Faktor weg. Beide
haben gemeinsam, daß sie ihren Gegenstand, hier die Erkenntnis,
dort die Ethik, nicht als Produkt zweier Faktoren auffassen, sondern
einfach. Das heißt aber, beide sind wider die Natur; denn diese
hat an jeder Stelle zwei Pole. In der Ethik nun ist der kategorische
Imperativ das Konstante, die Inhalte aber sind veränderlich und
stammen aus dem Objekt. Kants Versuch, sie aus der Form des Subjektes
abzuleiten, muß als gescheitert angesehen werden.
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