PLATONS GRÜNDENDE TAT
Was Platon und seine Werke anbetrifft, so liegt in der
Großartigkeit des Auftretens der Philosophie, wie es hier
geschehen ist, der eigentümliche Grund dafür, daß er
die Welt bisher noch nicht losgelassen hat und ein immer wieder neuer
Zauber von ihm ausgeht, Das ist wohl auch die Ursache dafür,
daß man ihm - und nur ihm allein unter allen Philosophen - den
Beinamen des Göttlichen gegeben hat.
1. PLATONS »GASTMAHL DES AGATHON« ALS OPUS SUI
GENERIS
Wenn man den glanzvollen Wirkungskreis der platonischen Philosophie
betrachtet, so fällt einem zunächst als Höhepunkt der
Darstellungskraft das »Gastmahl des Agathon« auf. Man hat
von diesem Meisterwerke gesagt, daß es der Urtypus, das
Paradigma zu der später sogenannten Symposienlitteratur sei,
wodurch diese Gattung zum ersten Mal ans Licht getreten wäre.
Aber ich gebe den Litterarhistorikern zu bedenken, ob es nicht etwa
so sei, daß das Gastmahl als ein factum sui generis zwar
Gattungscharakter trägt, daß es aber die ganze innere
Kraft - die Entelechie - dieser Gattung mit einem Male für sich
selbst verbraucht hat. So etwas kommt vor, auch in anderen Bezirken
der Natur. Jedenfalls ist es doch eben so, daß die gesamte
Symposienlitteratur kein einziges Werk enthält, daß in die
Sphäre des platonischen Gastmahles eingedrungen ist. Keine
einzige Nachahmung oder Parallelschöpfung ist gelungen. Sondern
nur das »Gastmahl« des Agathon gelang. Homer konnte
nachgeahmt werden, und Vergils zweiter Gesang hat vollen homerischen
Rang, auch wenn die lateinische Sprache nicht über das Register
verfügt, die die griechische ziehen kann. In der attischen
Tragödie sind serienweise Meisterwerke geschaffen worden; aber
Platons Symposium bleibt allein in eigner Gattung stehen. - Ein
modernes Beispiel ähnlicher Art sind Ernst Jüngers
»Marmorklippen«; auch dieses Buch trägt
Gattungscharakter, und niemand kann ein zweites der Art schrieben,
ohne sich lächerlich zu machen.
Bekanntlich hat der kreuzbrave Xenophon auch ein »Gastmahl des
Kallias« verfaßt mit Sokrates als spiritus rector, und
hieran schloß sich der urkomische Philologenstreit
darüber, wem nun eigentlich die Palme gebühre, das
heißt, wer von wem abgeschrieben habe. Gesetzt also einmal den
Fall, Xenophons Gastmahl sei älter als das des Platon, dann war
halt Xenophon wirklich ein Tausendsassa. Es wäre dann so
gewesen, daß Platon diesen guten Gedanken als Motiv hat auf
sich wirken lassen und nun aus seiner wahrhaft tieferen Substanz
((ousia)) heraus sein Gastmahl schuf, das die ganze Gattungskraft der
Symposienlitteratur an sich riß. Denn nur Platon hatte die
inneren Mittel und damit die Befugnis, die Gestalt des Sokrates zu
deuten. Hat aber er die »litterarische Priorität«, so
ist das erste nach ihm geschriebene Symposium genau so gleichgiltig
wie das tausendste.
Über den großen dramatischen Reiz des Gastmahles ist schon
viel und meist Richtiges geschrieben worden; man denke etwa dabei an
das stürmische Auftreten des Alkibiades und seine Rede auf
Sokrates, jenen Augenblick, den Anselm Feuerbach in seinem
Gemälde festgehalten hat. Hinzu kommt noch ein eigentümlich
grammatischer Reiz, auf den die Philologen vielfach hinwiesen. Dieser
besteht darin, daß ja das ganze Symposium von einem sonst
unbekannten Manne Apollodoros einigen anderen erzählt wird,
daß also der Vorgang selber Jahrzehnte zurückliegt.
Apollodoros wiederum war selber nicht mit dabei, sondern hat seine
Kenntnisse von einem gewissen Aristodemos. Hieraus ergab sich die
Nötigung, die ganze Erzählung als indirekte Rede in den
sogenannten »Accusativus cum infinitivo« zu setzen, durch
welche kunstvolle Sprachführung ein ästhetisches
Wohlgefühl entsteht, das dem der Patina auf alten
Kupferdächern gleicht. Das alles freilich bekommt nur zu
spüren, wer es auf Griechisch lesen kann.
Aber diese Vorzüge künstlicher Art - die völlig
einmalig sind - würden nicht genügen, um den auf die
Jahrtausende frisch erhaltenen Eindruck des platonischen Gastmahls zu
erklären; der eigentliche Grund hierfür ist der, daß
hier zum ersten Mal die Liebe als ein Gegenstand der Philosophie
behandelt wurde. Was heißt das: »Gegenstand der
Philosophie... ?« Es kann durchaus nicht alles und jedes in den
Rang der Philosophie erhoben werden. Alle Mühe würde
vergeblich sein, etwa die Genüsse des Gaumens und der Zunge als
Philosophie zu behandeln, obwohl man darüber freilich popular
-philosophisch allerhand neckische Dinge gehört hat. Allein es
ist nun einmal so, daß das Triebgebiet des Hungers
philosophisch steril bleibt. Es gelingt einfach nicht, hier jene
Rangerhöhung vorzunehmen. Beim Liebesleben aber ist es anders.
Es gibt in der Natur Stoffe, die leuchten, und andere, die im Dunkeln
dunkel bleiben; so phosphoresziert das Geschlechtsleben, der Hunger
aber nicht. In jenem ist etwas enthalten, das einen philosophischen
Ort hat, etwas, dem transzendentale Bedeutung zukommt, ja, das sogar
von »transzendentalem Gebrauch« ist. Das heißt aber:
der Kern und der Grund diese Phänomens gehört zum
objektiven Weltbild; die Achse der Natur läuft hier hindurch.
Dies eben geahnt zu haben, ist das Verdienst Platons, wobei
dahingestellt bleibt, wie weit er damit kam. Und darum allein, eben
weil diese Ahndung richtig ist, überdauert das »Gastmahl
des Agathon« die Jahrtausende.
2. PLATON ERHEBT DEN EROS IN DEN RANG DER PHILOSOPHIE
Die Sache beginnt mit dem Einspruch des Sokrates in seiner Rede
über den Eros. Die anderen Festgenossen nämlich hatten
bloße Trinksprüche auf ihn gehalten - nur Aristophanes,
der Komödiendichter, überschreitet diese Grenze. Der Arzt
Erixymachos redet über den Eros genau dasselbe, was heute noch
jeder Mediziner sagen würde. Diese Leute ändern sich nicht.
Sokrates aber sagt, ein bloßes »Ergo bibamus«
könne er nicht ausbringen, das sei nicht seine Art, sondern er
müsse der Sache auf den Grund gehen und nach der Wahrheit
forschen; was nämlich der Eros sei, »er selbst an und
für sich an seinem eignen Ort«. Damit hat er das Thema
gestellt, den Eros aus dem Dunst der Trinksprüche in die
Klarheit der Philosophie erhoben, er als Erster - aber er hat, trotz
der Hilfe der Diotima, die Lösung nicht gefunden. Zwar fügt
er der ganz allgemeinen Ahndung, daß der Eros einen
philosophischen Ort mit transzendentaler Bedeutung habe, noch die
besondere hinzu, daß er mit »dem Guten« irgendwie
verschwistert sei; allein es gelingt ihm nicht, diese Verbindung als
eine notwendige zu erweisen, die im Charakter des Eros sowohl als in
dem der »Idee des Guten« ihre Verwurzelung hat. Das aber
erst wäre die Lösung der Frage. Daß sie nicht
gelingen konnte, liegt daran, daß Platon und mit ihm das ganze
Altertum vom Guten einen nur relativen Begriff hatten (was wir
später ausführen werden), und so konnten die beiden sich
nicht finden. Aber er ist ganz dicht davor.
Was sich hier in der Philosophie abspielt, gleicht einem Tunnelbau:
ein Berg wird von zwei entgegengesetzten Seiten her angebohrt, damit
sich die Stollen in der Mitte treffen. Aber durch ein Versagen der
Meßinstrumente, von unberechenbaren Einflüssen der
Bergmasse verschuldet, wird die Richtung verfehlt; die Arbeiter
hören zwar dumpf durch den Berg hindurch die Bohrmaschinen des
Gegenstollens, aber dann klingt das Geräusch wieder ab: die
Stollen entfernen sich endgiltig und der Tunnelbau bleibt,
mißlingend, liegen. - Und so ist auch in der Tat die
philosophische Frage nach dem Eros seit dem Gastmahle des Agathon
liegengeblieben. Oder man nenne mir eine einzige Schrift eines
Denkers, durch die sie gefördert wurde. Es gibt keine seit
diesen reichlich zweitausend Jahren, die seitdem verflossen sind.
Alle anderen Gebiete der Philosophie weisen Fortschritte auf; die
Logik ist erheblich gefördert, die Ethik ist es, wenigstens nach
ihrer formalen Seite hin, sogar die Metaphysik erhielt eine
Förderung durch ihren Zusammenbruch als Wissenschaft bei Kant;
die sthetik hat erhebliche Blüten gezeitigt; aber, was die
Menschen von jeher am tiefsten bewegt hat, die Liebe: bei ihr finden
wir eine stehengebliebene Uhr. Und dabei ist es so, daß ohne
den philosophischen Ort zu finden, den die Liebe mit transzendentaler
Notwendigkeit einnimmt, die Philosophie sich vergeblich bemüht,
ein Weltbild zu schaffen.
Woher dieser Vorrang in der Erforschung der Gebiete mit starkem
Vernunfteinschlag kommt, ist schwer zu sagen. Es ist doch gewiß
nicht so, daß der Eros als Liebesleben zurückhaltender
geworden wäre. Von irgendeiner Bändigung durch die
christliche Kirche kann doch, in toto gesehen, nicht gesprochen
werden; nur verunstaltet hat sie ihn. Ja, man muß zugeben,
daß der Widerhall, den das Liebesleben etwa in der Dichtung
findet, tiefer und erregender wirkt als er es im Altertum je konnte.
Die Welt ist zweifellos seit dem Christentum erotischer geworden, und
wir behaupten, daß dieses post hoc ein propter hoc ist. Der
wirkliche Dichter, der aus dem Grunde der Dinge spricht, kann heute
aus den unscheinbarsten Vorgängen der Liebe die höchsten
und besten Erregungen des Gemütes bewirken. Man denke etwa an
eine Frauengestalt wie die Gräfin Melusine in Theodor Fontanes
»Stechlin«, bei der durchaus nichts vorkommt, was die
Neugierde erregen könnte, und von der man doch weiß: diese
Gestalt hat die Liebe geschaffen. Die innere Spannung aber, die von
solchen Figuren ausgelöst wird - die ja nicht aus den Fingern
gesogen sind -, ist ein Beleg dafür, daß die Liebe einen
transzendentalen Ort hat und mit dem objektiven Welthintergrunde in
einer zunächst noch ungeklärten Verbindung steht.
Hätte sie diese Sonderstellung nicht, so wäre ihre
unablässige Wirkung in der Dichtung, aber auch im Menschenleben
selber unerklärlich. Oder anders ausgedrückt: so
könnte man durch dichterische Darstellung der besseren Zungen-
und Gaumengefühle auch solche Wirkungen erzielen; das aber geht
bekanntlich nicht. - Aber die Philosophie hat seit Platon hier
geschwiegen, und der einzige Grund, den man hier etwa finden kann,
wäre der, den der Philosoph KONRAD WILUTZKY einmal aussprach:
»Philosophie wird nicht von Buch zu Buch und von Blatt zu Blatt
überliefert, sondern Philosophie wird incarniert!« Sie
muß also Glück haben, und das war ihr all die Zeit
versagt.
Das platonische Gastmahl hat einen schlimmen Ballast mitgeschleppt,
der die Köpfe und die Gemüter vernebelt hat; es ist das
Schlagwort von der »platonischen Liebe« - wie als ob das
eine besondere Art von Liebe sei, zu der man sich irgendwie so oder
so emporschwingen könne und gar soll. Zwei geistige Bewegungen,
sonst sehr beachtlicher Art, haben in dieser Phrase geschwelgt: die
italienische Renaissance - mit Ausnahme Lionardos da Vinci, der alles
wußte - und der »deutsche Idealismus«. Hier ist
Schwärmerei ausgebrochen, was jedenfalls innerhalb der
Philosophie nicht standesgemäß ist. Aus diesem ganzen
Bezirk stammen auch jene falsch gestellten Fragen: ob die Liebe
sinnlich oder geistig sei, ob körperlich oder seelisch, und wie
sie alle lauten mögen. Es gibt aber hier in Wirklichkeit nur ein
EntwederóOder. Nämlich entweder: die Liebe ist Trieb, wie
der Hunger, und veredelt, vergeistigt sich möglicherweise, wie
das ja auch der Hunger in der Form der Gourmandise tut; dann kann sie
gar nicht Gegenstand der Philosophie und überhaupt einer
besseren Erwägung sein, sondern gehört, wie alles
bloß Empirische, unter die Einzelwissenschaften: Medizin,
Psychologie, Soziologie, Ethnologie. Oder aber: die Liebe ist Organ,
wie das Auge, dann ist ihr ein Objekt zugehörig, und sie selber
hat einen transzendentalen Ort im Subjekt.
Einen ernsten Versuch, der Liebe und dem Geschlechtsleben unbefangen
gegenüberzutreten, hat Schopenhauer unternommen. Wohlbemerkt:
wenn ein Mediziner oder Psychologe diesem Gegenstande
»unbefangen« gegenübertritt - so reden sie doch immer
-, so sagt das nichts, denn diese Leute haben kein Gewicht. Nur wenn
es der Denker tut, gilt es; denn nur er verfügt über die
Weltknotenpunkte, die hier im Spiel sind. Schopenhauer hat ja
überhaupt das Verdienst, Leben in die Philosophie gebracht zu
haben, auch wenn das, was er schließlich über das Leben
selber dachte, nicht standhält. Schon allein das Thema zu
stellen, »Zur Metaphysik der Geschlechtsliebe«, war ein
Signal in einer philosophischen Welt, die dachte, es gäbe
überhaupt nichts weiter als Vernunftkritik. Mehr aber, als in
dieser nur wahrheitsdurchwachsenen Schrift stand Schopenhauer vor der
Wahrheit bei einem persönlichen Erlebnis, das er erzählt.
Er ging nämlich eines Tages in den Frankfurter Zoologischen
Garten, um sich den für eine bestimmte Stunde vorgesehenen
Begattungsakt eines Löwenpaares anzusehen. Da nach seiner
Auffassung ja im Akte der Kopulation das eigentliche Wesen der Welt
zu seiner deutlichsten Ausprägung kommt, so erwartete er,
daß beim Löwen, der ja eine ungleich stärkere
Objektivation des Willens sei als der Mensch, dieser Akt sich in
besonders riesiger Aufwallung vollziehen müßte. Seine
Erwartung wurde getäuscht; er stellte fest, daß die
Affektäußerung weit hinter der des Menschen in der
gleichen Lage zurückstand und eher eine gewisse
Nüchternheit an sich hatte. Hier war für ihn die
Gelegenheit zum Wundern gegeben; aber er ist der Sache nicht weiter
nachgegangen. Wie er überhaupt ein tödlich sicheres
Gefühl für alle Fragestellungen hatte, die sein System
gefährden konnten, in dessen Bann er seit frühen
Mannesjahren stand.
Die Stärke der Geschlechtslust nimmt also nicht zu mit der
Stärke der Objektivation des Willens in einer Tierart; sondern
der Mensch, die weit schwächere, hat einen Zuschuß an
Wollust, die noch dazu qualitativ von der tierischen abweicht. Sie
ist beim Menschen - und nur bei ihm - dämonisiert und bedeutet
eine ständige Erschütterung und Gefährdung der Person.
Das ist also eine ganz andere Sache, die sich gar nicht aus einer
bloßen Steigerung der Willensobjektivation erklären
läßt. Die Wollust reißt sich hier vom Dienste an der
Gattung los, sie ist nicht selber »Gattungstrieb«, sondern
autonom, ob sie gleich in verschwindend geringen Fällen,
verglichen am Ausmaß ihrer selbstherrlichen Betätigung,
die Befruchtung zur Wirkung hat. Es steht hier nicht zur Rede, ob sie
etwas Gutes oder Verdammenswertes ist, sondern nur ihre
Unableitbarkeit vom tierischen Gattungstrieb. Der Mensch hat wahrlich
genug mit ihr zu schaffen, und es gibt genügend Einwände
gegen sie; aber eben »tierisch« ist sie nicht. Wer, von ihr
übermäßig bestürmt, glaubt, fürchten zu
müssen, »zum Tier herabzusinken«, den kann man
beruhigen, da um eben dieses Ziel zu erreicht, sehr viel mehr dazu
gehört; dieser Ausweg in die Unschuld ist ihm versperrt. Nur
freilich eines kann ihm passieren: ihn kann der Teufel holen. - Der
überwiegend ungünstigen Beurteilung der Wollust stehen nur
wenige gegenüber, die sie, mit zureichendem Grunde, in Schutz
nehmen. Es ist zu bedauern, daß das beste Wort über sie
als vom »Gartenglück der Erde« von einem Manne stammt,
der sie selber nur in den allerdürtigsten Formen kennengelernt
hat.
Der Ertrag von Schopenhauers Löwenhochzeit ist jedenfalls der,
daß innerhalb der Tierheit der Geschlechtstrieb als eine
bloße Lustprämie auftritt, die das einzelne Tier dazu
antreibt, den Begattungsakt überhaupt zu begehen, wobei es sich
im übrigen streng an diese Gattung - will sagen Art - hält.
Er ist hier ein echter Trieb, wie der Hunger, der ja auch eine
Lustprämie ist, um das Tier zur Aufnahme der Nahrung zu bewegen.
Beide liegen voll im Biologischen. Die menschliche Wollust dagegen
ist dämonisierter Geschlechtstrieb; es liegt hier der Einbruch
einer Macht vor, die keinen biologischen Ursprung hat. Eine solche
Macht nannten die Griechen Daimon und diese hier im besonderen Eros.
Daß er sie bei der Löwenhochzeit nicht antraf,
darüber wunderte sich Schopenhauer. Aber man kann eben dieses
Problem nur verstehen, wenn man von allen vorgeblichen Naturzwecken
absieht. Ein weiterer Beweis aber für die Unableitbarkeit der
Wollust aus dem Biologischen ist die Tatsache, daß sie kultisch
werden kann, was bei keinem bloßen Naturtrieb vorkommt.
Auch was die eigentliche Liebe betrifft, so hat Schopenhauer hier
keine glückliche Hand. Es gibt bei ihm nur
»Geschlechtstrieb« auf der einen Seite, den er verwirft,
und »caritas« auf der anderen, die er preist, also die
selbstlose entsagende Liebe, die im Dienste der leidenden Kreatur
steht. Man hat bei dieser gewalttätigen Einteilung sofort das
bestimmte Gefühl, daß hier etwas ausgelassen ist,
nämlich die Hauptsache. Denn es mag einer noch so sehr entsagen,
niemals entsteht durch diesen negativen Willensakt das positive
Gefühl der Liebe; und es mag einer noch so sehr vom Mitleid
ergriffen sein, Leben für die Leidenden hingeben: niemals
entsteht dadurch Liebe. Und mag man es drehen und wenden wie man
will: Liebe entsteht immer selbständig, aus eignem Gesetz, ist
völlig autonom, unverkennbar und unableitbar. Wenn man bei
Urphänomen bleiben und kein hysteron proteron begehen will, so
bleibt gar nichts anderes übrig als zu sagen: Liebe verbindet
zwei Menschen miteinander, und zwar genau in dem Sinne, wie es
Aristophanes im platonischen Gastmahl in seiner großen Rede von
den zerschnittenen Doppelmenschen darstellt. Mit Askese und
Willensverneinung hat das nicht einmal Berührungspunkte,
geschweige denn, daß man das positivste aller Gefühle aus
diesen Negationen ableiten könnte. Es ist auch nicht etwa
»christlich«, was Schopenhauer hier meint, sondern
buddhistisch, und wir werden es noch später zeigen können,
daß auch dieses beides nicht einmal Berührungspunkte
miteinander hat, sondern vielmehr sich gegenseitig ausschließt
- ich meine Buddhismus und Christentum.
Wir müssen die ertraglos gewordene Deutungsart Schopenhauers,
dessen falscher Schritt durch den Gegenstand sichtlich aus den
Bedrängnissen seines empirischen Charakters stammt, wieder
verlassen und uns auf platonischen Boden zurückziehen. Hier
finden wir zunächst die eine große Sicherheit: daß
Platon immer nur von der wirklichen Liebe zwischen zwei Menschen
spricht und von da aus weiterbaut. Dieser Baugrund ist gut. Das ist
ja überhaupt der Vorzug, der seiner ganzen Philosophie anhaftet,
daß sie immer auf den realen Gegenstand zurückführt,
wie weit auch sonst die Abstraktion gegangen ist. In der Rede des
Aristophanes kommt das zur größten Klarheit. Bei den
andern reden die Zechgenossen dazwischen und trinken sich zu; bei ihm
herrscht atemlose Stille, und nur auf ihn kommt Sokrates in seiner
Rede zurück. Er scheint ihm die Malicen die er gegen ihn in
seinen »Wolken« vorgebracht hat, nicht übelgenommen zu
haben. - Früher, im mythischen Zeitalter, so meint Aristophanes,
waren die Menschen nicht von der Gestalt wie heute, vielmehr gab es
nur Doppelmenschen und zwar von dreierlei Art: Doppelmänner,
Doppelfrauen und Hermaphroditen; sie sahen also aus wie jene
gedoppelten Hermen mit zwei Gesichtern nach vorn und nach hinten.
Dieses Geschlecht der Menschen nun war sehr übermütig und
frevelte gegen die Götter. Um dem ein Ende zu setzen, zerschnitt
Zeus sie längs ihrem Rückgrat, nähte die Fleischwunde
hinten zu und verstreute die getrennten Hälften in alle Winde.
Da aber entstand in jeder die Sehnsucht nach der Wiedervereinigung
mit seiner anderen Hälfte, und diese Sehnsucht sei der Eros. Je
nach dem nun, was jemand früher gewesen, entschiede es sich, was
er zu lieben genötigt sei; war er ein Doppelmann, so bleibt er
zeitlebens ein Knabenliebhaber ((paiderasthos)), eine Doppelfrau aber
ergibt je eine Lesbierin, und die Hermaphroditen, offenbar die weit
überwiegende Mehrheit im mythischen Urgeschlecht, die
Ehemänner und Ehefrauen. - Welch großartige Unbefangenheit
und vollkommene Wahrheit spricht aus diesem antiken Munde! Es ist
beinahe alles enthalten, was die Philosophie hier zu sagen hat.
Jedenfalls ist der Ansatzpunkt klar bestimmt. Das Entscheidende an
der Liebe ist nicht der Trieb, aus dem sie niemals abgeleitet werden
kann, sondern der Akt des Wiedererkennens, also ein Erkenntnisakt,
durch den der Trieb erst in Wallung gerät. Der Gegenstand aber
dieses Erkenntnisaktes, den nur die Liebe begehen kann, ist die
Person; diese aber wird nicht durch die begrifflichen Mittel des
Intellektes erkannt, sondern durch die eines Organes. »Wenn nun
jemand auf seine eigne Hälfte trifft, dann werden sie wunderbar
erschüttert von Freundschaft und Vertrautheit und Liebe und
wollen voneinander nicht lassen, auch nicht einen Augenblick. Diese
sind es auch, die gemeinsam das ganze Leben zubringen und nicht
einmal zu sagen wüßten, was sie von einander haben wollen.
Denn es kann doch wohl nicht die Gemeinschaft des Liebesgenusses
sein, derentwegen der eine dem andern sich so froh und mit so
großem Eifer eint, sondern etwas anderes will offenbar die
Seele der beiden, was sie nicht sagen kann, aber in Zeichen
verkündet sie ihr Wollen und in Rätseln.«
Dies alles heißt: dem Urphänomen der Liebe genau ins
Gesicht sehen. Sie ist das Organ für die Person. Durch sie
allein wird mit der reinsten und todbereiten Leidenschaft bezeugt,
daß der andere, das heißt der Mensch, den ich liebe,
wirklich jemand ist, unersetzlich, nur einmal da, nie wiederkehrend,
in jeder seiner Handlungen und Erduldungen bestimmt durch das, was er
selber ist und worauf allein sich die Liebe bezieht. Daß ich
aber überhaupt geliebt werden kann, liegt nicht daran, daß
ich Person bin. Das aber heißt, daß meine bloße
Individualität, wodurch ich mich von jedem andern Menschen
unterscheide, nicht, wie beim Tier, nur Varietät gegenüber
der Art ist, sondern besiegeltes Sosein, das seine Lebensbefugnis aus
dem Schöpfungswillen der Natur nimmt. »Fece mi la natura, e
poi rupe lo stampo« - das Christentum sagt: »Ich glaube,
daß Gott mich geschaffen hat.«
3. EROS UND ACHSE DER NATUR
Es war ein Zeichen von Freiheit und Unabhängigkeit des Denkens,
daß Platon den Eros von der Fortpflanzung trennte. Solche
Freiheit findet man nur in der Antike, die es dem Menschen ersparte,
sie sich erst zu erkämpfen. Die Fortpflanzung kommt, als
Nebenthema, wohl vor, mit ihr das Tierreich, aber gleich hebt sich
die Rede der Diotima von der Zeugung der Kinder wieder fort und auf
zu der »Zeugung im Schönen«, die als das Wichtigere
mit aller Deutlichkeit betont wird. Der Mensch gehört zu den
Säugetieren; unter denen ist er eine selbständige Art, die
von keiner anderen abstammt. Dadurch aber sind ihm, gleich allen
andern, von der Natur die Funktionen gegeben, die zur Erhaltung der
Art notwendig sind. Kinder verstehen sich von selbst; das ist
überhaupt kein Problem. In die Geschlechtsfunktion aber - und in
keine andre - fährt dieser Daimon Eros hinein und richtet beim
Menschen, und nur bei ihm, das Wunder der Liebe an. Demnach
gehört sowohl die Wollust als auch die Liebe nicht in dem Sinne
zur »Natur« wie etwa der Befruchtungsvorgang, der
Stoffwechsel oder das Wachstum; denn beide sind aus jenen nicht
ableitbar. Es ist aber in der Philosophie unerlaubt, das Wort
»übernatürlich« zu gebrauchen mit dem Anspruch,
damit etwas sagen zu können.
Wenn also Platon die Diotima den Eros einen »großen
Daimon«, nennen und von ihm sagen läßt, daß
alles Dämonische »zwischen dem Göttlichen und dem
Sterblichen liegt« und zwischen beiden tätig vermittelt, so
entsteht die Frage: Hat er das ernst gemeint, oder ist das ein
Ausdruck der Verlegenheit? Denn Dämonen gibt es ja nicht in dem
Sinne, wie es die gewöhnlichen Naturgebilde gibt; und doch
sollen sie da sein; denn der Eros ist doch da. Ohne Zweifel meinte es
Platon ernst damit; er war davon überzeugt, daß der
»Daimon megas« sein objektives Dasein hat. Er war also
nicht etwa der Meinung der modernen Psychologie, daß sich
dieses sogenannte Dämonische lediglich als psychischer
Prozeß im Subjekt abspiele, denn sonst kann man so nicht von
ihm reden. Um aber die Frage zu lösen, wie und wo denn nun
dieser Daimon unterzubringen sei, dazu fehlte ihm etwas, das dem
Altertum überhaupt abging: der Orientierungssinn. Das hat etwas
mit dem zu tun, was Spengler die »euklidische Seele« nennt.
Dazu gehört auch, daß das Altertum die Erde für eine
Scheibe hielt, die auf dem Okeanos schwimmt. Das ist nicht etwa
bloß eine falsche wissenschaftliche Ansicht, die jeden
Augenblick durch die richtige hätte ersetzt werden können,
sondern diese Überzeugung vom orbis terrarum gehörte zu den
konstitutiven Elementen des antiken Charakters, und daran hielt diese
Menschheit wie unter dem Zwange einer inneren Not fest. Man kann es
wohl wagen, auszusprechen: hätte das Griechentum als Ganzes
gewußt, daß es so etwas wie Antipoden gibt, es wäre
außer Rand und Band geraten, hätte die Schiffe bestiegen
und Kultur Kultur sein lassen. Seine statische Seele wäre
gesprengt worden, aus der heraus allein jener Höhepunkt des
menschlichen Daseins möglich war, den die Kultur der Griechen
darstellt. Jenes Wissen einzelner aber von der Kugelgestalt der Erde
- auch Platon gehörte zu ihnen - hatte gar keinen Einfluß;
die Gesamtseele von Hellas reagierte nicht darauf. Und dieser Zustand
hat ja praktisch bis in die Renaissance vorgehalten - ein
Inkubations-Zeit von rund eineinhalb Jahrtausenden. Da aber brach es
los: Die Erde ist eine Kugel! Sie dreht sich und hat daher eine
Achse! Die Bewegung der Sonne ist scheinbar, auch die der Planeten;
die des Mondes teils wirklich, teils scheinbar! Um die Erde aber kann
man herumfahren! Darum los! Auf die Schiffe...! - Das war nicht nur
die Zertrümmerung des antiken Weltbildes; es war auch die
Aufhebung eben jenes konstitutiven Elementes, das dem antiken
Menschen den statischen Charakter verlieh. Also ganz kurz
gefaßt: Die Erkenntnis, daß die Erde eine Achse habe, hat
das moderne Menschentum geschaffen. Die Erde wurde dabei entdeckt.
Dadurch aber ist jeder Ort auf ihr mathematische genau fixierbar
geworden; man weiß, wie er zu jedem andern liegt, und es kann
niemals einen Fehler in der Orientierung geben.
Um aber zu Platon zurückzukehren, so finden wir ihn immer noch
in jener Verlegenheit, den Eros unterzubringen. Er muß sich
mythologischer Mittel bedienen, und wenn man das liest vom
»Daimon megas«, so erinnert es an den großen Pan, dem
man jeden Augenblick im Walde begegnen kann. Aber die Philosophie
könnte fast neidisch darüber werden, daß es ihr heute
nicht mehr vergönnt ist, in mythischer Sprache zu reden, sondern
daß sei den harten Weg der Wissenschaft zu gehen gezwungen ist.
Denn was gäbe wohl unsereiner darum, wenn er einfach den
Sokrates fragen lassen könnte: »Was für eine Art von
Macht hat denn nun dieser große Dämon Eros?! Und Diotima
antwortet: »Zu verkünden und zu überbringen
Göttern, was von den Menschen kommt, und Menschen, was von den
Göttern. Von den einen Gebete und Opfer, von den andern
Aufträge und Antworten. In der Mitte füllt er den Raum
zwischen beiden, damit das All sich selbst zusammenschließe.
Durch dies Dämonische geht auch alle Weissagung und Kunst der
Priester in den Opfern und den Weihen und den Gesängen, und in
aller Wahrsagerei und Verzauberung.« - Aber so dürfen wir
nicht mehr reden. -
Nenne ich nun aber den Eros ein Organ und fixiere es im Subjekte, so
liegt das, wofür er Organ ist, im Objekt; und in diesem Moment
habe ich der Natur eine Achse gegeben. Während aber die Erdachse
im Empirischen liegt, vom Nordpol zum Südpol läuft und zum
Beweise ihres Daseins nur physikalische und mathematische Mittel
nötig sind, verläuft die Achse der Natur zwischen dem
transzendentalen Subjekt und dem transzendentalen Objekt. Der Beweis
für ihr Dasein fällt der Philosophie zur Last, die
hierfür eine transzendentale Deduktion auf sich nehmen
muß. - Die Entdeckung der Erde - das heißt ihrer Achse -
hatte die Entstehung eines anderen Menschentypus zur Folge; die
Entdeckung der Natur - das heißt ihrer Achse - aber steht im
Dienste eines höheren Menschentums. Denn wie die Lage der
Länder zueinander bestimmt ist durch die Erdachse, so ist die
Lage der großen Gemütsmächte des Menschen bestimmt
durch die Achse der Natur.
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