Drittes Kapitel

ÜBER DAS ARCHETYPISCHE POTENTIAL DER NATUR

 

Lamarck und Darwin, die Begründer der Entwicklungslehre, gehören ohne Zweifel zu den bedeutendsten Köpfen der Naturwissenschaft. Ihren persönlichen Rang oder gar ihre Integrität anzugreifen, ist ganz unzulässig. So etwas stammt allemal aus schlimm erregten und rachsüchtigen Gemütern, die überragende Größe nicht zulassen können. Die überaus edlen Gesichtszüge Lamarcks - man denke an den Stich Tardieus, der den Erblindeten ergreifend darstellt - reden eindeutig vom Range seines Denkens, zudem von seiner umfassenden Menschlichkeit. Darwin sieht ja etwas merkwürdig aus; daß er bei seiner Genialität und seiner riesenhaften Fachgelehrsamkeit ein frommer Mann geblieben ist, zeugt davon, daß er sich von seinen Anhängern grundlegend unterscheidet. Beide Forscher könnte man genii inversi nennen. Was sie lehrten, ist im Kerne falsch; aber es gibt Irrtümer, die dadurch, daß sie vom Genius begangen werden und zwar ex cathedra, überhaupt erst die Wahrheit möglich machen. Auf diesen Satze beruht auch die Bedeutung der Philosophie Schopenhauers, ohne die gar nicht mehr auszukommen ist, und man könnte, auf solche Geister gemünzt, ein Wort des Horaz variieren und sagen: »errantem dicere vera«. Die Unbedeutenden freilich müssen immer alles richtig machen, das gehört sich auch so.
Wer daher vordarwinistisch denkt, ist reaktionär und hat ein verstocktes Gemüt; wer darwinistisch denkt, befindet sich im Irrtum. Aber erst, wer nach Lamarck und Darwin Naturforschung treibt, bekommt den freien Blick. Thomisten und andere Aristoteliker aber haben nicht das Recht zu sagen: wir haben das ja schon immer gesagt! Nein, das haben sie nicht gesagt und können es auch nicht. Der Weg, auch der des Irrtums muß vorher wirklich bestritten worden sein; man muß den Gedanken, daß der Mensch vom Tier abstamme, erst einmal zu Ende gedacht und mit all seinen Konsequenzen am eignen Gemüte erlebt haben, um zu wissen, was es heißt: homo sum ex aeterno.
 

1. LAMARCK UND DER NOMINALISMUS
LAMARCK führt seine Grund-These, an der alles hängt, in folgenden Worten aus: »Lange Zeit dachte ich, es gäbe konstante Arten in der Natur, und sie bestünden aus den Individuen, die zu einer jeden gehören. Jetzt bin ich überzeugt, daß ich mich in dieser Hinsicht irrte und daß es in der Natur tatsächlich nur Individuen gibt« (Recherches, S. 141). - Wenn dieser Satz richtig wäre, so fiele buchstäblich die Welt auseinander. Kein Hund nämlich könnte weder leben noch erkannt werden. Denn eben dieser Hund bedarf, um sein Dasein als Hund durchzuhalten, der prägenden Kraft der Art. Diese archetypische Kraft, die urbildhaft sicherstellt, hat ihren Sitz nicht etwa in den übrigen Hunden zu allen Zeiten, sondern im Welthintergrunde. Würde diese Kraft der Art auch nur eine Minute lang aussetzen, so würden sofort alle Hunde sterben; die lebendige Materie, aus der sie bestehen, würde den chemischen und physikalischen Kräften ohne Widerstand zum Opfer fallen. Sie würden Gestalt verlieren. - Ebenso aber - gäbe es nur Individuen - bestünde keine Möglichkeit, den Hund als Hund in bestimmtem Begriffe zu erkennen. Würden die Hunde als bloße Individuen zufällig und ohne Zusammenhang an uns vorüberlaufen, so könnten sie nur Sinneseindrücke auf der Netzhaut des Auges hinterlassen. Niemand aber könnte sagen: »das ist ein Hund!« Das aber sagt jedermann und zwar in dem sicheren Gefühle der Unbestreitbarkeit und tiefsten Verbürgung. Wäre es so, daß die Menschen, bloß um sich zurechtzufinden, sich untereinander verschworen hätten: wir wollen von heute an ein vierbeiniges, bellendes, schwanzwedelndes (usw. - in infinitum) Lebewesen »Hund« nennen, so könnte sich ein jeder eines Tages, wenn es ihm beliebte, von dieser Konvention lossagen. Das aber kann er nicht; denn sein Intellekt steht bei der Begriffsbildung der Arten unter dem Zwange der Natur. Es ist derselbe Zwang, der dem Hunde als Individuum sein Dasein als Hund für alle Zeiten sichert und der den Intellekt durch einen signierenden Akt bestimmt, den Begriff »Hund« zu bilden. Empirische Begriffe sind exakte Signaturen der Dinge selber und haben ihren objektiven Ursprung im Archetypus der Lebewesen - wie diese selbst.
Diese beiden letzten Sätze müssen unverlierbar im Gedächtnis vermerkt werden, denn ihr philosophischer Ort gehört zu den Weltknotenpunkten erster Ordnung. Um ihn kreist die ganze sokratisch-platonische Philosophie, sofern sie Lehre von Begriff und Idee ist. Außerdem aber - wenn auch hinkend - Kants »transzendentale Logik«. - Daß ohne die objektive Realität der Art ((genos, idea, archetupos)) die Welt zusammenbrechen würde, ist freilich nur dann richtig, wenn die Welt der Erfahrung als Erscheinung verstanden wird. Da dies aber nach der Entdeckung Kants eine Notwendigkeit ist, so ist jener Satz auch notwendig und objektiv wahr. Es handelt sich hier um eine »tanszendentale Deduktion der empirischen Begriffe«, die in der Kantischen Philosophie fehlt, weshalb wir seine Logik, sowie auch die Schopenhauers, als hinkend bezeichneten.
Die Unvermeidlichkeit der Sinneseindrücke bei gegebener Affektion der Organe und die Unvermeidlichkeit des empirischen Begriffes als exakter Signatur der Dinge haben eine tiefgelegte Analogie, die man nur als eine transzendentale in des Wortes strengster Bedeutung ansprechen kann. Wenn meine Retina von ƒtherschwingungen mit der Zahl 800 getroffen wird, so muß ich »rot« empfinden - es sei denn, ich sei farbenblind. Und wenn mir ein Hund begegnet, so muß ich sagen: das ist ein Hund; es sei denn, ich sei blöde, Dort wird meine Retina affiziert, hier affiziert der Archetypus Hund meinen Intellekt. Es handelt sich also um eine echte transzendentale Affektion des Subjektes, durch welche alle empirischen Begriffe zustande komme, sofern sie Gebilde der Natur betreffen. Würden die Arten bloß konventionell vereinbart sein und durch Gewohnheit eingebürgert, so fehlte unserem Erkennen das, was KANT in bezug auf den allgemeinen Kausalsatz die »Dignität« nennt.
»Begriff« und »Idee« dürfen demnach niemals miteinander verwechselt werden. »Idee« ((idea)) gehört ganz und gar ins Objekt, und zwar in den Welthintergrund; »Begriff« ((eidos, orismos, logismos)) ganz und gar ins Subjekt. Sie treffen aber in jedem von der Natur geschaffnen Gebilde zusammen. Die Idee, der Archetypus, garantiert sein Dasein, der Begriff (von ihm veranlaßt) eine Erkennbarkeit in der Erfahrung. Ohne dieses beides gibt es diese Erfahrung nicht. - Der Ausdruck »Vernunftidee«, das heißt von der Vernunft geschaffene Idee, ist daher ein schwerer Mißgriff in der Kantischen Sprachführung. Schaffen kann nur die Natur. Der Ausdruck »Art« aber wie er in der Biologie gebraucht wird, ist deshalb so folgenschwer und so tiefangelegt, weil er der einzige ist, in dem Idee und Begriff, beide vollgiltig, enthalten sind. Er ist ein Januskopf, der nach zwei Richtungen sieht. Sein archetypisches Element stützt das begriffliche, und sein begriffliches wiederum umkreist dauernd das archetypische. Aber das archetypische ist stärker.
In der scholastischen Philosophie des Mittelalters gab es den weltbekannten »Nominalismus-Streit«; seine drei Thesen lauteten:

1. Universalia ante res,
2. Universalia post res,
3. Universalia in rebus.

Von diesen drei Thesen sind die ersten beiden dogmatisch. Denn durch die Präpositionen »ante« und »post« wird ein zeitliches Verhältnis zwischen den Dingen und deren »Universalien« eingeschoben, die hier sowohl Begriffe - nach der Erkenntnis zu - wie auch Ideen - nach dem Dasein zu - bedeuten können, wie als ob es eine Erfahrung geben könne, in der das beides getrennt wäre. Eine solche Erfahrung gibt es aber nicht, und auf diesen Gedanken konnte man nur kommen, solange man noch in philosophischer Unerwecktheit die Welt für ein Ding an sich hielt. »Universalia ante res« - hier heißt universalia soviel wie Idee oder Archetypus, und man nannte diesen Standpunkt den realistischen; »Universalia post res« - hier heißt universalia soviel wie Begriff, und das nannte man Nominalismus. Der dritte, »Universalia in rebus«, faßt beide zusammen, und erst hier wird der Dogmatismus gebrochen; denn hier ist von wirklicher Erfahrung die Rede. Die geschaffenen Dinge der Natur enthalten (abgesehen von jeder Zeitfrage) die Universalien als Archetypen in bezug auf ihr Dasein in der Erscheinung und als allgemeine empirische Begriffe in bezug auf ihre Erkennbarkeit. Durch beides aber läuft die Achse der Natur mit ihren Polgebieten.
Lamarck und Darwin, mit ihnen die ganze Entwicklungslehre alter Fassung, stehen auf dem nominalistischen Standpunkt, sind also dogmatisch. Daher allein stammen die Denkfehler, deren Großartigkeit Anlaß dazu wurde, eben diese Lehre in ebenso großartiger Weise zu ihrem Abschluß zu bringen.
Lamarck hat die Frage gestellt, ob man nicht eine starke Varietät innerhalb einer Art ebensogut auch als eine neue Art betrachten könne. Jeder Nominalist muß so denken; denn für ihn sind die Arten ja bloße Ordnungsbegriffe des menschlichen Intellektes. Allein die Natur selbst erhebt Einspruch gegen diese Denkart, indem sie den Intellekt unter archetypischen Druck setzt. Hier tut wieder der Hund gute Dienste. Seine Variabilität ist kaum noch zu übertreffen. Die Bismarck-Dogge, der Barsoi, der Schäferhund, der Pudel, der Dackel und der Pekinese, das sind so große Extreme, daß man kaum weiß, warum man das alles noch »Hund« nennt. Der Wolf aber wiederum hat so große ƒhnlichkeit mit dem Schäferhund, daß man leicht verführt wäre, ihn unter die Hunde zu rechnen. Und doch tut man es nicht. Dem Rechnen und überhaupt dem Einordnen geht eben ein Vorgang im Intellekt bereits voraus, der diesen zwingt, so und nicht anders zu entscheiden. Durch die ƒhnlichkeit des biologischen Habitus hindurch sagt der Wolf selbst: »Ich bin ein Wolf!« Mit ihm hat die Natur etwas durchaus anderes gemeint als mit dem Hunde, und darum gehört er von Gnaden des Objektes her zu einer anderen Art. Täuschungen für den Augenblick sind immer möglich, aber sie stammen aus dem sokratischen »Seelenwachs«; transzendental sagt der Wolf selbst aus, wer er ist.
Das, was die Begriffsbestimmung des Wolfes von der des Hundes unterscheidet, nennt man in der Logik die »differentia specifica«. Die Kinder lernen in der Schule: »der Wolf ist ein Säugetier, das sich vom Hunde dadurch unterscheidet, daß...«, und nun kommen die Merkmale der Reihe nach aufgezählt. Aber wer ist hier nicht Kind in der Schule? Ich meine dies im Gegensatz zum »Ersten Namengeber«. Dieser nämlich hat die unterscheidenden Merkmale nicht vorher durch ein diskursives Denken gelernt und eine Belehrung post festum, sondern er hat die Trennung von der Art des Hundes selbst vollzogen. Das aber geschah so, daß ihm die Summe der Unterscheidungsmerkmale in toto, als Ganzes, zugeworfen wurde; durch das »eigentlich Wolfhafte«, würde Platon sagen. Wir stehen hier, beim Ersten Namengeber, vor einem unmittelbaren, durch Anschauung zwingenden Eindruck auf den Teil des Intellektes, den wir, seit Schopenhauer, den Verstand nennen im Gegensatz zur Vernunft. Dieser aber ist immer an die Anschauung gebunden. Das »lupus sum« wird ihm zugerufen, und der Intellekt antwortet erst im zweiten Akt mit einer diskursiven Vernunfthandlung, die sich dann als Definition betätigt. Erst aber muß der Wolf vom Ersten Namengeber als Naturwesen eigner Art erlebt sein, ehe er in den Katalogen registriert werden kann.
Mit dem Wolf hat es im übrigen noch seine eigne Bewandtnis. Er gehört zu den Tierarten, die, fast unvermeidlich, einen Teil ihrer archetypischen Kraft am Intellekt vorbei an den Willen abgeben. Dort aber erscheint sie als Angst. Die Art des Wolfes begnügt sich also nicht damit, im Intellekt als exakte Signatur den Begriff von sich durch Prägung zu hinterlassen, sondern sie entfaltet einen Überdruck in Richtung auf das Gemüt. Furcht vor einem tollen Hunde und Angst vor dem Wolf sind zwei durchaus verschiedene Dinge, obwohl ja auch der Wolf ein reißendes Tier ist. Es kommt hier etwas hinzu aus dem Dämonischen der Art, das Blutdürstige, das heißt das Böse um seiner selber willen. Der Wolf erscheint daher ständig in Sage und Märchen, und die Bedrohung von dieser Seite her wirft sich bis in die Sphäre des Gewissens, in der er den Biß vollzieht. Eine Gefeitheit vor der zugreifenden Wolfskraft muß schon im Altertum als Wirkung der Unschuld bekannt gewesen sein; darum singt HORAZ:

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  Namque me silva lupus in Sabina
  .....fugit inermem (Od. 1. 22)

Auch das alles liegt in der Art des Wolfes und gehörte eigentlich mit zu einer differentia specifica. Da es aber nicht im biologischen habitus faßbar ist, sondern im ewig ungesicherten Gemüte des Menschen, so haben die Zoologen recht, es auszulassen. Der Erste Namengeber aber hat es gespürt, als er sagte »Wolf« und nicht »Hund«.
Dieser Erste Namengeber ist keine Person, sondern ein Amt. Dessen letzter große Würdenträger war Karl v. Linné. Von ihm sagt der Platoniker ERNST JÜNGER in den »Marmorklippen«: »Wir gingen vom hohen Beispiel des Linnaeus aus, der mit dem Marschallstab des Wortes in das Chaos der Tier- und Pflanzenwelt getreten war. Und wunderbarer als alle Reiche, die das Schwert erstritt, währt seine Herrschaft über Blüten-Wiesen und die namenlosen Legionen des Gewürms.«
Man muß den geistigen Vorgang begreifen, der bei Linné stattgefunden hat, um seinem Werke die Autorität zu verleihen, die es noch heute besitzt. Für ihn galt der Satz »universalia in rebus«, den er aber nicht gekannt zu haben braucht, um nach ihm zu handeln. Das heißt: er ließ sich von jedem einzelnen Lebewesen dessen Art verraten, von deren Dasein und objektiver Realität er überzeugt war; diese aber hinterließ in seinem anschauenden Verstande die exakte Signatur und setzte sich sofort als Begriff in der Vernunft fest. Nun sprach er es aus und gab den Namen; dabei aber entstand sofort sein berühmt gewordenes »binomales System«, durch das jedes Tier zwei Namen erhielt. Er sagte also nicht »lupus«, sondern »canis lupus«. Das heißt : er gab die Gattung der Caniden als Oberbegriff an, trennte den Hund als canis domesticus ab und räumte dem Wolf die besondere Art ein, die ihm vom archetypischen Hintergrunde der Natur her zukommt. So aber gewinnt man echte Herrschaft über Blütenwiesen und namenlose Legionen des Gewürms.
LAMARCK war »Professor der Insekten und Würmer« am Jardin des plantes in Paris 1793. Dort hatte er die Aufgabe, Ordnung in das Gewirr der Arten zu bringen, denn gerade auf diesem Gebiete galt das Werk Linnés als lückenhaft. Hier aber geriet der kundige Mann in Verzweiflung ob der Überfülle der Arten, die sich schier ins Unendliche ausdehnen wollten und den Rahmen der Zoologie zu sprengen drohten. Denn das niedere Tierreich ist dem höheren an Artenreichtum um das Vielfache überlegen. Aus dieser Verzweiflung faßte er einen Gedanken: »Es gibt keine Arten, sondern nur Individuen«. Man spürt diesem Satze förmlich an, wie er in Notwehr aus seinem Subjekt entsprungen ist. Es sollte keine Arten - in objecto - geben, weil sonst der Rahmen der Zoologie gesprengt würde - also gibt es keine; sondern »Arten« sind nur Ordnungsbegriffe der menschlichen Vernunft. »Um Studium und Kenntnis von so vielen verschiedenen Körpern zu erleichtern, ist es von Nutzen, den Namen »Art« jeder Gruppe ähnlicher Individuen zu geben, die durch die Fortpflanzung in gleichem Zustande erhalten werden, solange die Daseinsbedingungen sich nicht stark genug verändern, um auch ihre Gewohnheiten, ihren Charakter und ihre Form umzugestalten.« (Zitiert nach Kühner, »Lamarck«, Diederichs, S. 34,. Sperrung von mir.)
Das war seine Überzeugung, die dogmatisch ist; noch heute denkt jeder Anhänger der alten Entwicklungslehre so. Aber wie hat er gehandelt, als er das Werk Linnés ergänzte? Genau so wie Linné, und um keinen Deut anders. Er mußte denselben Denkakt begehen wie jener, ohne die Freiheit zu haben, nach seinem Dogma zu handeln. Er saß jahrzehntelang vor den Mikroskopen und betrachtete die unermeßliche Welt der niederen Tiere. Hierbei tastete er sich an den Merkmalen entlang, die sie an sich trugen, verglich sie miteinander und fand ƒhnlichkeiten heraus. Denn zwei Lebewesen, als Individuen, sind immer nur ähnlich, niemals gleich. Dann aber kam die Namengebung. Eines Tages sagte er: »Das sind Trilobitenkrebse!« Nun fragen wir ihn: »Professor der Insekten und Würmer! Was wollen sie damit sagen? Sind das Trilobitenkrebse, oder bedeuten sie es nur?! - Auf diese Frage, wenn sie ihm gestellt worden ist wäre, hätte der redliche Mann antworten müssen: »Nein, sie sind es!« Er wollte also mit dem Akte der Namengebung sagen, daß alle Tiere, die in diesen und jenen Merkmalen sich nur ähneln, doch in einem gleich sind: sie sind von derselben Art. Die Art aber ist kein Merkmal. Sondern das, was diese zusammenzwingt. In seiner dogmatischen Definition der »Art« kommt ja der Zeugungsakt vor, der die Gruppe ähnlicher Individuen über die Fortpflanzung in »gleichen Zustande« erhält. Damit aber hat es, wie mit dem Eros überhaupt, seine eigne Bewandtnis. Denn der »Zeugungstrieb« - um ihn halbverbotenerweise so zu nennen - unterliegt anderen Gesetzen als alle andern Triebe. Er hat, beim Tier, zum Gegenstande eben gerade die Art, die zu jedem begehrten Individuum durchschimmert; diese ist das objektive Korrelat für den subjektiven Willenszustand der Geschlechtsbegierde, der man auch den Namen »Gattungstrieb« gegeben hat. Kein Hund begehrt etwas anderes als die Hündin, die zu seiner Art gehört, und schreckt vor der Wölfin schon deutlich zurück. Der »Art-Trieb«, so müßte es besser heißen (den die Streuung ist geringer als die bei der Gattung), betont und grenzt deutlich das ab, wovon Lamarck behauptet, daß es nicht existiere. Der Eros der Tierheit geht auf die Art, der des Menschen auf die Person. Dieser seltsame Vorgang aber ist nicht anders zu erklären, als daß jedes Individuum den heimlichen Stempelschlag einer objektiven Artungskraft in sich trägt. Diese aber vollzieht sowohl durch ihr urbildhaftes Wesen die Arterhaltung wie die Arterkenntnis im Intellekt des Ersten Namengebers. Das ist der circulus virtuosus der Natur.
Oder ist dieser Akt der Namengebung dem zu vergleichen, wenn bei einem Pferderennen die Tiere »Herta«, »Phoenix«, »Wodan« heißen? Die Frage stellen, heißt, sie verlachen. Aber wenn die nominalistische These richtig wäre, so dürfte hier kein Unterschied sein.
 

Die Ersten Namengeber erhalten durch ihre Tätigkeit einen andauernden Zustrom echter Freude, der ihnen im Laufe der Jahrzehnte jene eigentümliche Würde verleiht, deren die bloßen Nachzähler entbehren. Von dieser Würde waren Linné und Lamarck gezeichnet. Das kommt von dem Umgang, den sie pflegten, ohne es zu wissen. Ja sie können, wie Lamarck, diesen leugnen - das ist nichts als eine dogmatische Ausschweifung ihrer Vernunft.
Am Beispiele Lamarcks im Akte der Namengebung kann man ersehen, daß der Begriff von der »Natur«, den der naive Naturalismus hat, falsch ist. Er hält an den Ausgangspunkten nicht stand und an den Endpunkten noch weniger; nur in der Mitte täuscht er Haltbarkeit vor. Natur ist nicht Ding an sich, sondern Erscheinung; das ist hier der dritte Fall, bei dem wir auf diesen grundlegenden Tatbestand stoßen, der keine bloße Hypothese ist. Im empirischen Verstande sind die Sinneseindrücke Erscheinung von etwas, das gleichfalls empirisch ist; im transzendentalen Sinne ist alles Erscheinung von Etwas, das wir an sich nicht erkennen können. Hier aber stoßen wir auf die platonische Denkschicht. Die Individuen einer Tier- und Pflanzenart sind Erscheinungen eben dieser »Art«, die sich zwingend im Akte der Namengebung bemerkbar macht und zugleich im ständigen Vorgang der Erhaltung.
Es ist Mißbrauch mit der platonischen Philosophie getrieben worden, indem man sich zu der Behauptung verstieg, »der Philosoph« oder »der Weise« könne Ideen unmittelbar, sozusagen extra, »schauen«. Platon hat hierzu leider die Veranlassung gegeben, indem er für dieses vorgebliche »Schauen« das Wort ((theasthai)) nahm. Aristoteles äußerte hierzu mit Recht in seiner Metaphysik (Buch 3, 997), Platon habe die Ideen zu »ewigen Sinnendingen« gemacht: ((aisthta aidia)). Auch in dem großen Höhlengleichnis im siebenten Buche der Republik »schaut« der Auswanderer die Ideen unmittelbar als Gegenstände der Erfahrung. Allein das ist ein Irrtum und führt zu der bekannten neuplatonischen Schwärmerei. Es ist aber auch nicht so, daß die Ideen »bloß gedacht« werden und nichts anderes sind als helfende Denkgebilde der Vernunft - so mißverstand sie Kant in der Vernunftkritik. Vielmehr ist dem Menschen nichts anderes gegeben als sich die empirischen Dinge der Außenwelt anzusehen, und es ist ein großer Segen der Natur, daß sie der völlige überwiegenden Mehrzahl keine andere Fähigkeit verliehen hat. Deshalb glauben sie auch zu ihrem Glück, daß die Natur das sein, was man sieht, wenn man das Fenster aufmacht. Einigen aber, nämlich den Gründern des höheren Menschentums, ist es aufgetragen, durch die empirischen Dinge der Außenwelt hindurch und während ihrer anschaulichen Gegenwart mit ihren Archetypen in Berührung zu kommen. Sie stehen unter deren Druck; daher die Dinge gewissermaßen transparent werden. Es ist ein milder Druck, unter dem die Ersten Namengeber stehen. Lamarck merkte es aber nicht, daß er, seiner dogmatischen Meinung entgegen, von den objektiven Arten der niederen Tiere in seinem Intellekt berührt wurde im Augenblick (in statu concipiendi), als er sich zu Namengebung entschloß; und der Druck war vorbei, als er den Namen aufschrieb (in actu demonstrandi). Die Spuren dieser unbewußten Vorgänge sind nur in seinem unsterblichen Antlitz zu lesen und in den edlen Regungen seines Herzens. Beschäftigt man sich dagegen heute als Naturliebhaber und »Monist« mit den »Werken der ewig schaffenden Natur«, so kommt nichts anderes dabei heraus als ein ebenso unsterblicher Philister. - Turbulent dagegen wird der archetypische Druck im Akte der Entdeckung. Hier werden Naturgesetze erraten, und das ist schon eine andere Sache. Dabei finden durch den heftigen Eingriff des göttlichen Wahnsinnes leicht Zerstörungen im Subjekt statt, und es nimmt sich wie eine große Walstatt aus, wenn man die unzähligen Verschwendeten sieht, die als Irre auf der Strecke blieben gegenüber den wenigen gelungenen Fällen, die als Genien der Menschheit - unter ständiger Gefahr - dem Drucke standgehalten haben. Das alles wird bewirkt durch das archetypische Potential der Natur.
Der Erste Namengeber, wie er hier behandelt wird, ist indessen nicht zu verwechseln mit jener mythologischen Figur gleichen Namens, wie sie im Gespräche des Sokrates mit Kratylos über den Ursprung der Worte vorkommt. Wir ließen den Sokrates noch immer warten, und er wird sich noch länger gedulden müssen. Dort geht es darum, ob die Sprache selber ((phusei)) sei, das heißt, dem archetypischen Potential der Natur entsprungen, oder ((thesei)), das heißt, durch Menschensatzung - hintergrundlos - erfunden. Hier aber liegt es anders; denn dieser Erste Namengeber macht künstliche Worte aus natürlichen Bestandteilen und festigt mit ihnen nur das Bestehen einer Tierart in der Erkenntnis. Dort geht es um die Volkssprache und die Zaubersprüche, die ohne den ordnenden Akt eines Intellektes zustande kommen.
Der Nominalismus ist der Ansicht, daß die Begriffe und Arten den Dingen - die nach ihm allemal Dinge an sich sind - gewissermaßen hinterhergeworfen werden. Ist ein Genius von dieser falschen Ansicht befangen, so schadet das nichts; wir sahen es am Beispiele Lamarcks. Die Natur drückt hier durch und fragt nicht nach der dogmatischen Tätigkeit seiner Vernunft. Anders steht es mit den bloßen Gelehrten oder gar den vulgarisierenden Naturforschern. Sie entwerfen, im engen Gefängnis ihrer Spezialwissenschaft, wilde und verworrene Bilder von der »Natur«, die in unserem Zeitalter durchweg die Tendenz haben, über den Massenwahn hinweg die Grundlagen für das höhere Menschtum zu zerstören. Das Bild der Natur zu entwerfen aber kann nur die Philosophie.
Aus der Denkhaltung des Nominalismus hat sich in dessen späteren Tagen - die bis in die Lutherzeit reichen - noch eine andere Frage herausgeschält, nämlich die nach den Realitätsgraden. Der konsequente Nominalismus sagt: Je mehr sich ein Begriff dem Individuellen nähert, um so mehr Realität kommt ihm zu. Der einzelne Hund mit dem Namen Phylax hat mehr Realität, ist sogar das eigentlich Seiende gegenüber der Art Hund und gar der Gattung Säugetier, deren Realität mit zunehmender Allgemeinheit proportional abnimmt. Auf diesen nominalistischen Standpunkt hat sich die moderne Naturwissenschaft gestellt. Ihr genau gegenüber steht die scholastische Theologie, die die allgemeinsten Begriffe für die am meisten realen ansieht, und daher Gott das »ens realissimum« nennt. Folgerichtig bekommen dann die einzelnen Individuen ein mehr schattenhaftes Dasein ganz nach platonischer Ansicht.
Allein beide Standpunkte sind unhaltbar, denn die Wirklichkeit hat keine Grade, und es gibt demzufolge nicht so etwas wie »reale, realius, realissimum«. Das alleinige Kriterium der Wirklichkeit ist vielmehr die Stromrichtung vom Objekt zum Subjekt. Wo diese aufgewiesen werden kann, da ist Wirklichkeit und sonst nirgends. Eine Unterscheidung von mehreren Wirklichkeiten aber der Quantität nach ist unmöglich. Wohl aber nach der Qualität. Die empirische Wirklichkeit des Weltvordergrundes, dargestellt durch ein einzelnes Gebilde der Natur, ist allemal materiell. An der Materie zeigt sich der Druck vom Objekte her als letzter Widerstand, der niemals aufgegeben wird und den das Objekt selber leistet. Dieses Naturgebilde aber ist getragen vom archetypischen Potential der Natur, ohne welches, da die Welt ja Erscheinung ist, es weder da sein noch erkannt werden könnte. Dessen Wirklichkeit aber entbehrt der Materialität, ist vielmehr dynamisch und formend. Aber sie ist deshalb keine größere Wirklichkeit. - Auch Gott ist wirklich. Aber wie verschieden auch seine Realität qualitativ sein möge: der Grad seiner Wirklichkeit ist um nichts größer als die des Baumes vor meinem Hause. Daß es aber zu solch einer Denk-Monstrosität kommen konnte, wie die vom »ens realissimum«, das liegt daran, daß hier stillschweigend vom gedachten Gott die Rede ist, der vorgeblich deshalb existieren muß, weil er - vorgeblich - mit Notwendigkeit gedacht werden müsse. Das aber ist nicht der Fall. Hätte Gott sich nicht offenbart, und zwar bestimmten, nicht unbestimmten Personen: kein Mensch wüßte von ihm, noch gar, daß er das »ens realissimum« sei. Was für ein Trost ist es dagegen, daß die Wirklichkeit Gottes genau die gleiche ist wie die des Baumes vor meinem Haus!
 

2. PLATON GREIFT EIN
Wenn man die nominalistische Überzeugung Lamarcks »Es gibt keine Arten, sondern nur Individuen« umkehrt, so lautet sie: »Es gibt keine Individuen, sondern nur Arten«. Damit trifft man zwar nicht genau ins Zentrum, aber doch in die Kernschicht der Denkhaltung Platons. Denn dessen Metaphysik hat zum Angelpunkt eine Verschiebung der Realität von den empirischen Dingen zu deren Urbildern hin. Er sagt: Alle mit den Sinnen wahrnehmbaren Dinge der Erfahrung tragen durchweg die Merkmale der Vergänglichkeit an sich; sie sind »((aei gignomena)) und »((aei apollumena)), »immer werdend und immer untergehend«, so daß sie sich in einem ständigen Werden befinden, niemals aber eigentlich sind; in bezug auf sie also würde der Satz des Heraklit »Alles fließt« seine Giltigkeit behalten. Und es steht ja auch wirklich außer Frage, daß alle Dinge der Welt vom harten Diamanten bis zur weichsten Amöbe sich in einem ständigen, gar nicht aufzuhaltenden Flusse befinden. Die bedrohliche Nähe des Ephesiers, der seine Schule bis nach Athen vorgetrieben hatte, hat sowohl dem Sokrates als auch Platon die schwersten Stunden bereitet. Denn, wenn das wahr ist, die Welt also mit jenem »Alles fließt« erschöpft ist, so kann es weder ein wirkliches Sein geben, noch ein Erkennen. Und die Schule Heraklits behauptete ja eben dies. Nun sind aber, sagt Platon, alle von der Natur geschaffenen Gebilde geformt, und diese Formen beweisen dem ständigen Aufbau und Verfall gegenüber eine völlig unberührbare Festigkeit und Währung durch alle Zeiten hindurch. Sie sind dem Flusse des Heraklit nicht unterworfen. Und nun fällt das große platonische Wort, zu dem nur die griechische Sprache fähig ist: ((ontos on.)) Die einzelnen Individuen einer Tierart haben also kein eigentliches Sein; diese kommt nur ihrer Urform zu.
Man sieht, dieses platonische Ansicht ist keine genaue Umkehrung der nominalistischen von Lamarck; denn diese leugnet ja das Dasein der Arten ganz und gar, während Platon nicht etwa das Dasein der Individuen leugnet. Das taten vielmehr die Eleaten Parmenides und Zenon mit ihrer These, daß die »Vielen nicht sind« und nur das »Eine« sei. Durch die wahrhaft zauberhafte Formel vom ((ontos on)), dem »seinhaft Seienden«, hat er diesen offenbaren Nonsens vermieden. Die Urformen sind das »eigentlich Seiende«, und die Individuen sind das »eigentlich Nichtseiende«. Hier balanziert die Sprache - eben nur die griechische hat diese Seiltänzergabe - hart an der Grenze zweier Unmöglichkeiten; um diese aber ständig einzuhalten und, auf ihr einhergehend, jenen überlegenen Standpunkt zu wahren, der das Merkmal der Philosophie ist, dazu gehört mehr als eine bloße Vernunfterwägung. Die üntvw ün-Formel ist keine Lösung eines gedanklichen Rätsels, sondern sie ist bei Platon zum Charakter geworden und hat seine Denkhaltung erzeugt. Genau so, wie jemand nur dann Musiker ist, wenn er das Herz voller Melodien hat, so ist jemand nur ein Denker, wenn sein Charakter von solchen Weltformeln imprägniert ist.
Überträgt man den platonischen Standpunkt in die Ebene einer bloßen Vernunfterwägung, so könnte man etwa zu folgendem Plädoyer kommen: Das Individuum (etwa ein Baum) sagt: »Ich bin das allein Seiende, denn nur ich habe Materie. An meinem Holz muß sich jedermann den Kopf stoßen und merkt dabei am deutlichsten, daß er einen hat. Wer leugnet, daß ich bin, der ist selber nicht, jedenfalls nicht bei Verstande. Wie ihr mich nennt, das betrifft mich nicht, sondern nur eure Sucht, uns unendlich Viele in eure Kataloge einzufangen«.
Die Urform aber sagt: »Du hast wohl Materie, aber du bist es nicht. Daß du überhaupt sein kannst, als Baum, das verdankst du mir, der ich seit Ewigkeiten her eure Form bestimme. Du hast nur Anteil an mir, und darum allein bist du. Ich aber bin Çich selbst an und für sich an meinem eignen Ortë - also das ÇEigentlich Seiendeë. Nähmest du mich fort, so fielest du zu einem Häuflein formloser Materie zusammen und könntest von dir nicht einmal sagen, daß du bist, geschweige denn selber sein.«
Man sieht leicht aus der Struktur dieser beiden Plädoyer, daß sie eine gewisse ƒhnlichkeit mit Thesis und Antithesis in Kants »Antinomien der reinen Vernunft« haben, nur daß es hier um das Empirische geht. Gemeinsam aber haben sie, daß sie beide, obgleich jedes für sich überzeugend, doch falsch sind, weil in beiden das Dasein als ein solches an sich genommen wird. In Wirklichkeit aber ist das Individuum Erscheinung der Urform, und man stößt hier unmittelbar auf die Formel, durch die Abälard den Nominalismus-Streit beendete: »universalia in rebus«. Sofort aber bekommt auch die Natur selber ein anderes Aussehen; man kann sie nicht mehr fix und fertig durchs Fenster betrachten, sondern jeder Gegenstand ist von seinem Hintergrunde getragen, der eben seine Urform ist. Diese selbst aber, obwohl dringend dazugehörig, erscheint nicht. Der Erste Namengeber betrachtet in naivem Realismus die Merkmale der Tiere, die im Vordergrunde liegen; die Art aber, vom Hintergrunde her, reicht ihm durch eine Überlistung die objektive transzendentale Synthesis eben dieser Merkmale im Augenblick des Namenvollzuges. So geschah es Lamarck.
Es besteht ein feiner, aber doch sehr deutlicher Unterschied zwischen Platons Formel vom ((ontos on)) und Kants Lehre vom Ding an sich und der Erscheinung; man darf das nicht so arglos über einen Kamm scheren, wie das Schopenhauer tat. Kants Lehre bezieht sich auf den »transzendentalen Gegenstand«, das heißt auf den Gegenstand »überhaupt«; sie bleibt streng erkenntnistheoretisch, daher unwiderleglich beweisbar, und das ist ein Indikativ, man könnte sagen ein kategorischer. Was dagegen Platon meint, bezieht sich auf die Dinge, sofern sie geformt sind; ihnen setzt er die Urform gegenüber und verlegt den Ton der Realität auf diese hin. Trotz erheblicher, ja grundlegender Bedeutung für die Theorie des Erkennens - denn auf ihr beruht die ganze transzendentale Deduktion der empirischen Begriffe, die bei Kant fehlt -, trotz ihrer Bedeutung ist seine Formel eben doch schon Metaphysik, und doch nicht so, daß sie bereits »als Wissenschaft auftritt«. Ihre sprachliche Bildung zeigt vielmehr an, daß sie der Ausdruck einer Denkhaltung ist, die expressis verbis sich nicht voll durchhalten läßt. Platon hat die Welt als Erscheinung in erlebnishafter Weise durchgemacht; und wenn man solch ein Wort ausspricht, wie das ((ontos on)), so darf man die seltsam ironische Weise nicht vergessen, in der fast alles Wichtige bei ihm gesagt ist. Aber auch das Wort »ironisch« klingt bei uns als Fremdwort anders. Im Griechischen klang das »Fragestellen« ((eiresphai)) hindurch und gab dem Worte eine tiefere Bedeutung als in unserem Gebrauch. Man könnte hier von einem »ironischen Indikativ« sprechen. So ähnlich nämlich, wie es Kunst-Stile gibt, in die man sich erst hineinleben muß, um auch im ästhetischen Gefühle anzuerkennen, daß auch dies Schönheit ist (man denke an Gotik, Barock und Rokoko), so gibt es - allerdings einmalig - den ironischen Wissensstil, dessen Hauptelement das sokratische Wissen durch Nichtwissen ist. Ohne dieses Stil-Vorbehalt sind die platonischen Dialoge überhaupt nicht zu verstehen. Man muß nur freilich jedesmal wissen, wo er angewandt wird und wo es dem undurchdringlichen Alten von der Palästra etwa einfällt, seriös zu werden. Platon ist keine Professoren-Lektüre.
Während es für den echten Denker eine wahre Erhebung ist, sich selbst und den andern in Verlegenheit zu setzen »((aporein)), tritt den Gelehrsamen dabei jedesmal der Schweiß auf die Stirn. Sie ahnen nicht, daß gerade hier die Wildspur der Wahrheit läuft. So beschwert sich Menon: »Mein Sokrates, ich hörte schon oft vor meinem Zusammensein mit dir, daß dein ganzes Tun und Treiben darauf hinausläuft, selbst wie in der Irre zu gehen und die andern an sich selbst irre zu machen. Und ich müßte mich sehr täuschen, wenn du jetzt mich nicht behext und bezauberst und völlig in deine Gewalt bringst, so daß ich nicht mehr aus und ein weiß. Und - im Scherze zu reden - es kommt mir vor, als wärest du, was dein Antlitz und sonstiges Wesen anlangt, zum Verwechseln ähnlich jenem breiten Meerfisch, dem Marmelzitterrochen. Denn auch dieser macht jeden, der ihm nahe kommt, erstarren ((narkan)). Etwas derart hast auch du denn, wie mich dünkt, mir angetan. Du hast mich erstarren gemacht. Denn tatsächlich bin ich starr an Seele und Mund und weiß nicht, was ich antworten soll. Und doch habe ich, wer weiß wie oft, über die Tugend Reden gehalten...« (PLATON: Menon, Kap. XIII, übersetzt von Apelt).
Es ist erlaubt und oft geboten, die Gedanken eines Denkers vor dessen eignen Mißdeutungen zu schützen. Denn bei den wirklich großen Gedanken, den wenigen, die es gibt, ist es fast unvermeidlich, daß wegen der Heftigkeit des Entdeckungsvorganges der empirische Charakter nachgibt und Ausweichbewegungen macht. Die platonischen Schriften sind ein wahrer Tummelplatz solcher Bewegungen und deren Paraden. Ideen können nicht unmittelbar, also extra res, angeschaut werden, denn sie sind nicht Gegenstände der Sinne; deshalb aber, weil sie ((nohta)) sind und also von gedanklicher Art, deshalb stammen sie doch nicht aus dem Gedanken. Wohl aber wird die Vernunft, und zwar an der Stelle, wo sie an den Verstand angeknüpft ist, von den Ideen »eingeweiht«; das aber geschieht nur in der genialen Zone der Menschheit. Es ist der einzige wirklich vollgiltige Einweihungsakt, den es gibt.
Ein weiterer Vorbehalt in der platonischen Selbstauslegung muß gegen die Deutung der empirischen Dinge als »Schatten« der Ideen gemacht werden. Zwar wird das Höhlengleichnis im siebenten Buch der Republik, das diese Auffassung in großen mythologischen Schriftzügen ausspricht, stets seine Bedeutung behalten; denn es ist der Ausdruck einer Weltstimmung, die als Gegensatz zum naiven Realismus der Gedankenlosen die Heimat der Philosophie geworden ist. Man spürt in diesem Gleichnis die große Ertragsfähigkeit der Ideenlehre. Allein, wo es sich, wie in der biologischen Entwicklungslehre, um besondere Verhältnisse handelt, da reicht die Vorstellung von der Schattenhaftigkeit der Dinge nicht aus; denn das ist nicht das Verhältnis, in dem die Individuen einer Tierart zu ihrem Archetypus stehen. Im Höhlengleichnis wirft ein Feuer flackernde Schatten der Urbilder auf die Felsenwand: aber man wird nicht zugeben wollen, daß Individuen und Urbilder in einem unverbindlichen Verhältnis zueinander stehen. Ein Pferd der heutigen Zeit sieht, im Querschnitt der Rasse genommen, nicht anders aus als eines zu Platons Tagen, und auch in der jüngeren Eiszeit hatte es keinen anderen Habitus; vor zwanzig Millionen Jahren aber, im Mesozoikum, war es nicht größer als ein Hühnerhund, ein scheues Waldtier mit fünf Zehen und einem primitiven, das heißt vollzähligen Gebiß - und war doch Pferd. Dieses »und war doch Pferd« hängt als das Schicksal aller Pferde über allen Individuen, die je dazu gehört haben. Die Beziehung aber, die beides verbindet, ist keine schattenhafte, sondern eine gesetzmäßige. Es ist das Gesetz der »unendlichen Entwicklung« (LAMARCK).
Es ist zweifellos die Auswirkung seines »statischen Seelentums«, die Platon nicht darauf kommen ließ, daß zwischen Individuum und Idee doch das Gesetz der unendlichen Entwicklung liege. Für ihn gab es nur das Verhältnis von Urbild und Abbild, etwa so wie Petschaft und Siegel, statisch fest. Ja, man vermißt sogar die dynamische Beziehung. Entwicklung in dem spezifischen Sinne, wie er hier gebraucht wird, ist ein Gedanke des späten Abendlandes. Lamarck, der ihn zum ersten Male zuverlässig gedacht hat, so, daß er den alten Goethe heftig aufmerken ließ, hat doch auch, wie wir bald sehen werden, seinen eignen Gedanken mißverstanden. Denn so, wie er und die ganze rechtgläubige Abstammungszunft des neunzehnten Jahrhunderts ihn meinte, ist er unhaltbar. Allein, das hindert nicht, daß wir heute, anderthalb Jahrhunderte nach ihm, die Tier- und Pflanzenwelt in einer Weise überblicken, die einem Drama von hundert Millionen Jahren Dauer gleicht. In diesem unterliegt jedes einzelne Tier zweien verschiedenen Bewegungssystemen der Entwicklung. Das eine zeigt es streng im Rahmen seiner Art: es ist die ständig kreisförmige vom befruchteten Ei, leicht variierend im Hin und Her der Spielarten oder im Generationswechsel von Insekt, Ei, Raupe, Puppe wieder zum Insekt. Das ist die von jeher wohlbekannte zyklische Entwicklung innerhalb der Art (Ontogenese). Nun trägt aber jedes Lebewesen noch ein anderes Bewegungsmotiv in sich; das seiner Art selbst. Diese zweite Bewegung (Phylogenese) - deren Freiheit und Autonomie von Lamarck geleugnet wurde - hat keinen Anfang und Ende in sich selbst, sondern verläuft in unbekannter Kurve. Sie aber ist es, die das eigentümlich Schicksalhafte und Dramatische ins Reich des Lebendigen bringt. Zwischen dem Archetypus eines Tieres und dem einzelnen Individuum ist das Gesetz der unendlichen Entwicklung eingeschaltet, dessen Elemente Anpassung und Vererbung heißen; die Gesetzesmacht läuft also da, wo der platonische »Schatten« fiel Aber man muß es gleich hier vorwegnehmend sagen, daß die Korrektur der unhaltbaren Entwicklungslehre alten Stils, die heute zu deren vollem Abschluß geführt hat, durch eine heimliche Intervention der platonischen Philosophie zustande kam, deren sich die Forscher, die es taten, gar nicht bewußt gewesen sind. So groß ist die Macht Platons in der Naturwissenschaft.
Im Altertum hat es eine Lehre von der Abstammung des Menschen vom Tier nicht gegeben. Als Aperçu wohl; wir finden in den Fragmenten des EmpedoklesSiehe Sinneseindruck darwinistisch klingende Partien, aber das alles ist keine ausgeführte Doktrin. Ein Gedanke ist aber nur dann Philosophie und Lehre, wenn er in allen seinen Dimensionen durch gedacht ist, seinen Anfang und sein Ende aufzeigen kann. Auch fehlte es dem hellenischen Altertum an dem zugkräftigen Wunschgebilde einer ständigen Aufwärtsentwicklung des Menschengeschlechtes, das ja der berauschende Massenwahn des neunzehnten Jahrhunderts war. Nur durch ihn ist die Entwicklungslehre aus dem Studierzimmer der Gelehrten auf die Straße geraten. - Gesetzt den Fall, es hätten sich damals noch Wanderprediger in der Art der Sophisten gefunden, die, in eindringlicher Weise und mit kaum verhohlener Zwecksetzung, die Lehre von der Abstammung des Menschen aus tierischen Vorfahren gelehrt hätten - des wirklichen Menschen, nicht des anatomischen Präparates -, so wäre dem Sokrates und Platon zweifellos die Rolle zugefallen, sie zu widerlegen. Auch Aristoteles hätte hier energisch eingegriffen. Es hätte sich aber dabei herausgestellt, daß die Ideenlehre, so wie wir sie in den platonischen Schriften finden und nicht finden, zu Lebzeiten Platons die Macht dazu nicht besaß. Aber sie hatte sie über zweitausend Jahre später, als die Gefahr wirklich an sie herantrat.

 



 

 

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