Zweites Kapitel
IMMANUEL KANT
Es ist notwendig, wenn man solche Dinge vorträgt, wie es hier
geschieht, sie erkenntnistheoretisch zu sichern, und zwar mit der
Philosophie Immanuel Kants. Sie ist der Maßstab, den man
anlegen muß, um sich vor Schwärmerei zu bewahren, aber
auch, um die nötige Tiefenschicht zu erreichen. Denn niemand vor
ihm und auch niemand nach ihm hat so gründliche Arbeit
geleistet, und wer den Sinn für die Fragen hat, die hier
auftauchen, kommt bei der - sehr schwierigen - Lektüre seiner
Werke unwillkürlich auf den Gedanken: hier ist vor ihm noch
niemand gewesen. Es ist freilich ein Unglück, daß man gute
fünfzig Jahre alt sein muß, wenn nicht mehr, um zu
begreifen, worum es hier geht. Wenn man aber auf jemanden trifft, der
glaubt, auf diese Sicherung verzichten zu können, da hat man es
mit einem fahrigen und schalen Kopf zu tun. Kant hat eine Bastion
aufgerichtet, die die ganze Landschaft der Philosophie
beherrscht.
Man sollte der Philosophie Kants einem Vorschlag ALOIS RIEHLS zufolge
nicht mehr den schleppenden und mißverständlichen Namen
»transzendentaler Idealismus« geben, sondern sie
künftig kritischen Realismus nennen. Kant selbst fühlte
sich bei jenem Wortungeheuer nicht wohl, schon weil er damit zu sehr
in die Nähe derer um den alten Bischof Berkeley kam, und er hat
demnach auch selbst schon die Bezeichnung »kritischer
Idealismus« eingeführt. Er blieb damit auf halbem Wege
stehen. Die fast gänzliche Unbrauchbarkeit des Wortes Idealismus
für die Philosophie war ihm deshalb nicht genügend klar,
weil er selbst an ihr die Hauptschuld trägt.
SCHOPENHAUER hat das Wort vom »naiven Realismus«
geprägt und damit ins Herz der Frage getroffen. Es besagt,
daß alle Menschen vor ihrer philosophischen Besinnung der
Meinung sind, daß die Dinge, zunächst der Außenwelt,
so sind, wie sie sich darstellen, und somit die Beziehung des
Subjektes zum Objekt etwa der gleicht, die jemand hat, der aus dem
Fenster sieht. Dieser naive Realismus ist das Merkmal sowohl aller
einfachen Menschen, wie auch der gesamten Naturwissenschaft
einschließlich der empirischen Psychologie. Hier werden
überall die Dinge als Dinge an sich genommen und sollen es auch.
Denn alle diese Geistesverfassungen haben nicht die Aufgabe und auch
nicht die Fähigkeit, ein Weltbild zu schaffen. Dies kann allein
die Philosophie. Ihr erster Schritt aber ist, anstelle des naiven
Realismus den kritischen zu setzen, der die absolute Realität
der Dinge aufhebt. Hier setzt das erste Sichwundern ein.
1. KANTS TRANSZENDENTALES RAUMEXPERIMENT
Jeder kann es in Gedanken vollziehen, es lautet: nimm einen
begrenzten, das heißt einen relativen Raum, etwa das Zimmer, in
dem du sitzest, und entleere es langsam, so kannst du alles
herausnehmen, was in ihm ist, das gesamte Inventar, ja die Luft
kannst du herauspumpen; du kannst jetzt den letzten Schritt tun und
die Wände wegnehmen, so ist dieser ganze relative Raum in der
Vorstellung vernichtet; aber eines bleibt übrig: der Raum. Es
gibt durchaus kein Mittel, das diesen absoluten und grenzenlosen Raum
aus mir entfernen könnte, und jedes Ding, das mir etwa von neuem
begegnete, müßte in diesem Raum »erscheinen«;
denn es hat sich eben durch das transzendentale Experiment
herausgestellt, daß dieser absolute Raum bleibt und vor aller
neuen Erfahrung als reine Form der sinnlichen Anschauung da ist.
Dieser absolute Raum gehört demnach nicht den Dingen selber an,
sondern mir, dem Subjekt. Was ich also als Ding vor mir sehe, ist
nicht das Ding selber, sondern eine Erfahrung. Anders
ausgedrückt: die Dinge an sich erscheinen in der Erfahrung,
oder: die Erfahrung ist Erscheinung der Dinge an sich im Raume (und
in der Zeit). Hätte KANT öfter und eindringlicher von der
Erfahrung der Dinge an sich gesprochen, statt von der Erscheinung,
und hätte er es gar vermieden, das verhängnisvolle Wort von
der »bloßen« Erscheinung zu gebrauchen, so wäre
von Anfang an der falsche Eindruck vermieden worden, als wäre
die Welt der Erfahrung »bloßer Schein«. So aber
mußte er sich schon frühzeitig gegen den Vorwurf eines
»materialen Idealismus« verteidigen, was er freilich noch
heftiger hätte tun müssen, hätte er den Gebrauch, den
Schopenhauer später mit der Lehre vom »Ding an sich«
und der »Erscheinung« machte, noch miterlebt. Denn hier,
bei Schopenhauer ist das Mißverständnis in vollem
Gange.
Es ist auch ein ganz unglücklicher Sprachgebrauch, jenes
Resultat des transzendentalen Experimentes als Lehre von der
»Idealität« des Raumes und der Zeit zu bezeichnen.
Denn das Ergebnis lautet einfach: der absolute Raum gehört nicht
ins Objekt, sondern ins Subjekt; mit »Idee« aber hat das
weder im platonischen noch gar im moralischen Sinne etwas zu tun. Es
ist nicht etwa besser, vornehmer, edler, an die »Idealität
des Raumes« zu »glauben«, sondern es ist bewiesen,
daß er Raum nicht zu den Dingen an sich, sondern zu mir
gehört, sofern ich anschauendes Subjekt bin. Aber das
Unglückswort »Idealismus« ist nun einmal geprägt
und richtet seine Verwirrungen an.
2. DIE TRANSZENDENTALE BEDEUTUNG DER EUKLIDISCHEN GEOMETRIE
Einen indirekten Beweis dafür, daß der Raum dem Subjekt
angehört, das heißt a priori ist, findet Kant im Dasein
der Geometrie. Ich kann in den freien absoluten Raum hinein
geometrische Figuren konstruieren; diese haben durchweg die
Eigenschaft, daß ihre Gesetze gefunden werden, ohne daß
ich jemals die Erfahrung zu Hilfe nehmen muß. Alle diese
Gesetze zeichnen sich durch unbedingte Notwendigkeit ihrer Geltung
aus; sie sind durchweg synthetische Urteile und gänzlich a
priori. Synthetische Urteile aber sind solche, in denen das
Prädikat mehr aussagt, als im Subjekt enthalten ist (im
grammatischen Subjekt, nicht im transzendentalen). Der Satz:
»Ein Dreieck ist eine geschlossene Figur aus drei Seiten«,
ist ein analytisches Urteil, wie alle Definitionen; denn ich habe im
Prädikat nicht mehr ausgesagt, als was im Subjekt, dem Begriff
Dreieck, schon enthalten war. Der Satz aber: »Im Dreieck ist die
Winkelsumme gleich zwei Rechten«, ist ein synthetischer Satz;
denn der Begriff »zwei Rechte« steckt keineswegs im Begriff
»Dreieck«, sondern ist eine vollkommene Neuigkeit, die aus
seinem Gesetze folgt. Diesen Satz aber kann ich finden, ohne ihn etwa
durch Erfahrung aus einer Reihe ausgeschnittener Papierdreiecke zu
erweisen, sondern nur durch Anwendung der Logik auf die reine
Anschauung der konstruierten geometrischen Figur. Also ist der Satz a
priori, und damit sind alle geometrischen Lehrsätze
»synthetische Urteile a priori« und vor aller Erfahrung
giltig. Da somit der absolute Raum zur freien Verfügung des
Subjektes steht, kann er nicht den Dingen selber angehören, denn
sonst könnte ich die Gesetze der Geometrie nur durch Erfahrung
kennenlernen, und ich hätte keinen Augenblick der
Gewißheit, daß nicht irgendein eigenmächtiges
Dreieck doch aus der Reihe tanzt und mir eine größere oder
kleinere Winkelsumme präsentiert. Diese Gewißheit aber
habe ich, und eben darauf beruht der »königliche Weg«
der Mathematik (KANT).
Da nun, wie das transzendentale Experiment bewies, der Raum die Form
ist, in der alle Dinge als Erfahrung erscheinen, so erklärt es
sich auch, warum die Natur als Erscheinung, mathematischen Gesetzen
unterliegt; denn es ist ja derselbe Raum, der mir die Basis für
die geometrischen Figuren gibt, und der, in dem die Dinge an sich als
Erfahrung kundtun. Darum ist eben auch der Raum zugleich empirisch
real, aber nur der relative. Denn der Raum, der von einem Baume
eingenommen wird, erhält seine Größe nicht von mir,
sondern vom Baume an sich; er ist vom Grunde der Natur aus in diesen
Raum hineingewachsen. Hingegen, daß ich den Holzgehalt des
Stammes mathematisch berechnen kann, wenn ich den Durchmesser an der
Wurzel und die Höhe kenne, das liegt an der Apriorität des
Raumes und der Geometrie. Der hier einlaufende Ungenauigkeitsfaktor,
den es in der reinen Geometrie nicht gibt, wird durch den Unterschied
des Empirischen vom Begriffliche verursacht: es ist eben ein
gewachsener Stamm, der hier gemessen wird, und kein bloßer
Kegelstumpf; aber die Form für den Kegel, und keine andre, gilt
für den Stamm. Derselbe Raum also wird vom Dinge an sich durch
den Zwang der Natur begrenzt und zugleich vom transzendentalen
Subjekt nach geometrischen Gesetzen bestimmt. Das ist ein
großes Wunder der Natur, das Kant hier entdeckte.
Überall, wo Veränderung eintritt, und das ist ständig
der Fall, geschieht sie in der Zeit. Mit ihr aber kann man das
gleiche Experiment anstellen wie mit dem Raume, und man kommt zu dem
gleichen Ergebnis. Nur fehlt bei ihr der indirekte mathematische
Beweis; denn es ist eben nicht so, daß die Arithmetik eine
Konstruktion in die absolute Zeit hinein ist, wie die Geometrie in
den Raum. KANT ließ sich durch seine bekannte
»architektonische Neigung« dazu verleiten, dies anzunehmen,
und meinte, »Arithmetik bringt selbst ihre Zahlbegriffe durch
sukzessive Hinzusetzung der Einheiten in der Zeit zustande«
(Prolegomena, § 10). Er verwechselte dabei aber die Zahl mit dem
Akte des Zählens, der freilich in der Zeit abläuft. Allein
die Zahl selbst und ihre Gesetze haben weder etwas mit dem Raume noch
mit der Zeit zu tun, sondern sind ein Reich für sich von rein
begrifflicher Art. An dieser Stelle hat die Kritik OSWALD SPENGLERS
an Kant recht, und sein Kapitel über den »Sinn der
Zahl« («Untergang des Abendlandes«) ist zweifellos das
Bedeutendste, was in der Philosophie darüber gesagt worden
ist.
3. Der RELATIVISTISCHE IRRTUM / OSWALD SPENGLER
Aber das ist auch die einzige Stelle, an der Spengler gegen Kant
recht hat; alles übrige, was er gegen ihn vorbringt, zeugt nur
davon, wie schwer Kant zu verstehen ist und welchen sehr viel
höheren Ort er eingenommen hat. Spenglers Grundgedanke ist
bekanntlich der von den Kulturstilen, die sich in der Geschichte der
Menschheit überschneiden und, kommend und gehend, ihre Jugend,
ihre Reifezeit und ihr Greisenalter haben. Daß wir heute mit
unserer abendländischen Kultur in solch einem typischen
Greisenalter stehen, das ist der Grund dafür, daß er
seinem Werke den wahrhaft zauberischen Titel. »Untergang des
Abendlandes« gegeben hat. Er hat mit einem ungeheuren Wissen und
einer gewaltigen Kunst der Darstellung dieses Schauspiel der
großen Kulturen gemeistert, und hat, Platoniker durch und
durch, ein Wachrütteln des fortschrittgläubigen
Bürgertumes erzielt, wie kaum jemand vor ihm. Der Mann und sein
Werk sollen hier nicht angegriffen werden, weil wir besänftigen
wollen - die fortschreitende Zeit gibt ihm ohnehin immer mehr recht
-, sondern weil er der bedeutendste Träger einer falschen
Weltansicht ist, nämlich des Relativismus.
»Es gibt keine Mathematik, es gibt nur Mathematiken« (S.
88) - diesen Satz können wir als kennzeichnend für die
relativistische Haltung überhaupt bei ihm in Anspruch nehmen; er
findet sich in zahllosen Abwandlungen wieder, auch dort, wo es sich
nicht um Mathematik handelt. Alles ist nur in bezug auf eine Kultur
wahr. Jede »Kulturseele« - die griechische, die
ägyptische, die arabische, die abendländisch-faustische -
hat ein eigenes Raumgefühl, für jede bedeutet
»Raum« etwas ganz anderes. Der Grieche hatte eine
»euklidische Seele« (der Ausdruck stammt von DOSTOJEWSKJI),
statisch, körperhaft, plastisch - eben geometrisch mit einem
ausgesprochenen Horror vor dem Gefühle des Unendlichen. Das ging
so weit, daß es sogar in seiner Sprache kein Wort für Raum
gab. In einem Scholion zum zehnten Buche der Stoicheia des Euklid
heißt es: »Man sagt, daß der Mann, der zuerst die
Betrachtung des Irrationalen (alogon) aus dem Verborgenen in die
Öffentlichkeit brachte, durch einen Schiffbruch umgekommen sei.
Und zwar deshalb, weil das Unaussprechliche und Bildlose immer
verborgen hätte bleiben sollen. Deshalb auch wurde der
Untäter, der von ungefähr dieses Bild des Lebendigen
berührte und aufdeckte, an den Ort der Entstehung versetzt und
wird dort von den ewigen Fluten umspült.« (Zitiert nach
Colerus »Von Pythagoras bis Hilbert«.) Dem scharf entgegen
steht der »faustische« Mensch des Abendlandes mit seinem
ausgesprochenen Drange nach dem Grenzenlosen - gegenüber dem
»Provinzlertum« des typischen Polis-Hellenen. Da sich nun
alles auf diese spezifischen Seelentümer bezieht als wie auf ein
Koordinatensystem, so kann auch das, was Kant lehrt, nur in bezug auf
den Abendländer, seine Kulturseele und sein
»Raumgefühl« wahr sein; - wenn es sich, so fügen
wir hinzu bei Kant um sentimentale, nicht aber um transzendentale
Raumlehre handeln würde.
Aber man kann den Fall klären, und zwar durch ein
Gedanken-Experiment. Man stelle sich in Elysion Platon, Descartes und
Leibniz, im Hintergrunde Isaak Newton an einem Tische sitzend vor und
in ein mathematisches Gespräch verwickelt. Descartes versucht,
Platon die Grundzüge der analytischen Geometrie klarzumachen;
dabei stößt er zunächst auf den Widerstand, der durch
Platons »euklidische Seelenverfassung« bewirkt wird; er
will nicht recht von der begrenzten Raumvorstellung loslassen, die
sich in den festen geometrischen Figuren ausdrückt. Da zeichnet
ihm Descartes sein Koordinatensystem auf mit einem Kreis im
Mittelpunkte und entwickelt ihm seinen Grundgedanken: daß man
nämlich die anschauliche Figur des Kreises mit voller
mathematischer Exaktheit durch eine Gleichung ausdrücken kann,
der jede Anschaulichkeit fehlt und die nur aus Zahlen und Buchstaben
besteht. Von der Zahl aus also kann man die ganze Welt der Geometrie
aufrollen und dabei neue Welten entdecken, die den bloß
gezeichneten weit überlegen sind. Da es sich hier um einen
genialen Akt der Entdeckung handelt, so durchschlägt er
wahrscheinlich die euklidische Seelenverfassung, wenn auch
widerwillig. »O thaumasie Karteisie!« - wird PLATON
ausrufen; aber verstehen und anerkennen muß er es. Oder wie
stellt man sich das eigentlich vor, daß Platon, der
Mathematiker von hohen pythagoräischen Graden, eine Entdeckung,
die in sein Fach schlägt, nicht verstanden haben soll? Oder gar
nicht anerkannt? Auch die Differential- und Integralrechnung, die ihm
Leibniz und Newton vortragen, muß er verstehen und anerkennen -
einfach deshalb, weil sie richtig sind. Das heißt also: alle
diese »Mathematiken« tragen eben die unverkennbaren
Merkmale der Mathematik an sich und bestehen durchweg aus
synthetischen Urteilen a priori mit dem spezifischen Geschmack der
Mathematik. Und da hilft keine euklidische Seele: anerkennen
muß er es doch.
Wollte man meinen, daß Platon die analytische Geometrie nicht
habe verstehen können, so müßte es ja auch umgekehrt
sein: kein fünfzehnjähriger Abendländer, der doch also
eine durchaus faustische Seele hat, könnte dann die Geometrie
des Euklid verstehen. Alle Tertianer der letzten Jahrhunderte aber
sind ein Gegenbeweis. Sie verstehen die Geometrie genau so gut wie
die Griechen, und sie können sie, Männer geworden, auch
erweitern und mehren. Eine Entdeckung auf mathematischem Gebiete
kann, einmal gemacht, nicht wieder zurückgenommen werden. Die
Kulturseelen kommen und gehen, man mag sie als Moden bezeichnen, was
aber objektiv wahr ist, das bleibt ohne jeden Abzug. Die Kulturseele
selber ist nicht schöpferisch.
KANT, dessen Suprematie sich immer wieder erweist, hat den Vorgang
der Entdeckung völlig richtig gesehen. Er schreibt in jenem
sprachlich hochgelungenen Vorwort zur zweiten Auflage der
»Kritik der reinen Vernunft« (Seite X der Originalausgabe
von 1787): »Die Mathematik ist von den frühesten Zeiten
her, wohin die Geschichte der menschlichen Vernunft reicht, in dem
bewunderungswürdigen Volke der Griechen den sicheren Weg einer
Wissenschaft gegangen. Allein man darf nicht denken, daß es ihr
so leicht geworden wie der Logik, wo die Vernunft es nur mit sich
selbst zu tun hat, jenen königlichen Weg zu treffen oder
vielmehr sich selbst zu bahnen; vielmehr glaube ich, daß es
lange mir ihr (vornehmlich unter den gyptern) beim Herumtappen
geblieben ist, und diese Umänderung einer Revolution
zuzuschreiben sey, die der glückliche Einfall eines einzigen
Mannes in einem Versuche zu Stande brachte, von welchem an die Bahn,
die man nehmen mußte, nicht mehr zu verfehlen war, und der
sichere Gang einer Wissenschaft für alle Zeiten und in
unendliche Weiten eingeschlagen und vorgezeichnet war...Dem ersten,
der den gleichseitigen Triangel demonstrierte (er mag nun Thales oder
wie man will geheißen haben), dem ging ein Licht auf; denn er
fand, daß er nicht dem, was er in der Figur sahe, oder auch dem
bloßen Begriffe derselben nachspüren und gleichsam davon
ihre Eigenschaften ablernen, sondernd durch das, was er nach
Begriffen selbst a priori hinein dachte und darstellte (durch
Construction), hervorbringen müsse, und daß er, um sicher
etwas a priori zu wissen, er der Sache nichts beilegen müsse,
als was aus dem notwendig folgte, was er seinem Begriffe
gemäß selbst in sie hineingelegt hat.«
In dieser Ausführung über die Entdeckung der Geometrie als
Wissenschaft sind von echt metaphysischem Geschmack (aber nicht so,
wie Kant »metaphysisch« meinte) die Worte:
»glücklicher Einfall eines einzigen Mannes« und
»ging ein Licht auf«. Wir befinden uns hier - man soll es
nicht für möglich halten - in der Nähe des
Büffel-Schamanen. Ein »Einfall«, wenn man es
wörtlich nimmt, enthält deutlich zwei Pole: man fragt
nämlich: »Woher fällt etwas ein, und wohin..?«
Und diese Frage ist richtig gestellt, wenn man das Wort wörtlich
und in objektiver Bedeutung nimmt. Ja, durch diese Frage wird das
Wort erst objektiv. Wenn man von jemandem sagt: »Er hat
allerhand Einfälle«, so meint man es zunächst nur
subjektiv; man redet da von einem Manne, der eine Menge schon vorher
bekannter Dinge geschickt zu kombinieren versteht. Das wäre also
das Talent. Kant hat das Wort »Einfall« aber, ohne es
freilich zu wissen, objektiv, und das heißt hier metaphysisch
gebraucht. Denn er will ja sagen: die gypter haben die
Mathematik nur empirisch behandelt; sie probierten an geschnittenen
Pappdreiecken allerhand aus, tappten herum und erreichten durch
Zufall einiges, ohne zu wissen warum. Sie lernten von den Figuren
ihre Eigenschaften ab, so gut es eben ging. Was aber Thales von Milet
tat, das war etwas völlig anderes. Ihm blitzte der Gedanke auf,
daß hier Notwendigkeit vorliege und daß diese in ihrer
beseligenden Klarheit dann hervortrete, wenn man durch eine
»Revolution der Denkart« nicht auf die Figuren starrt,
sondern den mathematisch konstruierenden Verstand an der Wurzel
packt. Hierbei stellt es sich dann heraus, daß - Wunder
über Wunder! - die Gesetze der Mathematik im Subjekt liegen,
aber für alle Objekte der Erfahrung giltig sind, und zwar
deshalb, weil es derselbe Raum ist, in dem beide erscheinen. Das also
war die Entdeckung des Thales von Milet, und das war ein echter
»Einfall«, der deutlich als Licht-Aufgang gespürt
wird. Während also die Einfälle des Talentes sich in dessen
empirischem Subjekt abspielen, läuft der des Genies quer vom
Objekt ins transzendentale Subjekt, in Richtung der Achse der
Natur.
Der Begriff der Naturachse erscheint hier von neuem und zwar
abgeleitet aus der Tatsache, daß es echte Entdeckungsakte gibt,
durch die nicht ein einzelner Gegenstand nach schon vorher bekannten
Wissenschaftsregeln gefunden wird - so wie die Entdeckung des
Planeten Neptun -, sondern diese Wissenschaft selber plötzlich
aus der Taufe steigt. Der Vollzieher der Entdeckung aber trägt
den Namen Genie; das ist keine willkürliche und
schwärmerische Bezeichnung, sondern eine exakte. Die Philosophie
ist imstande, den subjektiven Pol der Naturachse mit großer
Deutlichkeit aufzuzeigen, während der objektive seinem Dasein
nach zwar mit Sicherheit bewiesen werden kann, im übrigen aber
im Dunkeln liegt. Es ist eben ein Unterschied, ob ich die
Grundsätze und Vermögen a priori in einem mühsamen
Verfahren von allem bloß Empirischen ablöse, sie sammle
und sie dann in einem Buch säuberlich nebeneinander gelagert
liegen lasse - das tat Kant in der Vernunftkritik -, oder ich das so
gefundene Gelände, den »apriorischen Organismus«
(ERNST MARCUS) durch einen anschließenden Erkenntnisakt zum
Polgebiet der Naturachse erhebe. An dieser Stelle verfehlte Kant den
genialen Anschluß; nur so aber entsteht ein Weltbild.
Seit der Entdeckung der Geometrie durch Thales von Milet sog das
»bewunderungswürdige Volk der Griechen« diese echte
Wissenschaft mit der vollen Begier seiner statischen Seele in sich
auf. Der ganze höhere Bildungsstand trieb als eine
Selbstverständlichkeit Mathematik. Die Geometrie paßte
eben zu diesem Seelentum. Eine analytische Geometrie oder gar eine
Infinitesimalrechnung hätte das nicht getan; ein Mann, der sie
damals erfunden hätte, wäre zum Lebenswege eines verkannten
Genies verurteilt gewesen und untergegangen. So scheint es dem
Aristarch von Samos ergangen zu sein, der das kopernikanische
Weltbild gefunden hatte; darüber aber sind nur Gerüchte
verbreitet. Platon indessen hat die wahre Bedeutung der Geometrie
sofort erkannt: Er läßt Sokrates in seinem Gespräch
mit Menon einen Sklaven herbeirufen und fragt ihn, der nie das
geringste gelernt hat, geometrische Sätze ab. Und siehe da: der
Sklave antwortet richtig. Vor den Augen der Zuhörer waren
geometrische Figuren frei in den reinen Raum hineinkonstruiert und
ihre Gesetze klargelegt worden. Der unwissende Sklave also holt hier
ein Wissen aus sich heraus, das er von niemandem erfahren hatte und
von dem er nicht wußte, daß er es besaß. Gemeint
also war mit diesem Sklaven-Experiment, daß die Geometrie
synthetische Urteile a priori enthält und ganz und gar aus ihnen
besteht. Damit aber ist der philosophische Ort der Geometrie
festgelegt.
Wir kehren demnach den Satz Spenglers um und sagen: es gibt nur
Mathematik und keine Mathematiken. Alles vielmehr, was je mit Recht
so hieß, trägt das gemeinsame Merkmal einer völlig
bestimmten Wissenschaft an sich; diese enthält immer nur
synthetische Urteile a priori, und ihr Gegenstand ist stets die in
den freien Raum konstruierte Figur oder Zahl und nichts anderes. In
die Welt aber kommt die Wissenschaft nicht durch
»Seelentümer«, sondern allein durch den
Entdeckungsakt: je nachdem, in welches Zeitalter ein solcher
fällt, hat er Glück oder nicht. Die Kulturseele
fördert einen mathematischen Zweig, oder sie läßt ihn
verdorren, aber sie erzeugt ihn nicht. Zeugen kann nur die Natur; und
sie tut das durch ihren echten Repräsentanten, das Genie, das
seinen Sprachstamm mit ihr gemeinsam hat, nur ins Griechische
übersetzt.
Mit der Sicherstellung der Geometrie steht auch Kants Lehre vom Raum
als Form der Anschauung auf festem Boden; denn sein indirekter Beweis
lautete ja: wenn der Raum zu den Dingen selber gehörte, so
könnte ich die Gesetze der Geometrie nur durch Erfahrung und
also immer mit einer Ungenauigkeitsquote behaftet ergründen. Die
Methode der Geometrie also, um etwa den Winkelsummensatz im Dreieck
zu ergründen, wäre die: Ich schneide tausend Dreiecke
verschiedener Form und Größe aus Papier, messe mit dem
Kreisbogen deren Winkelsumme, die dann immer um 180 Grad herum
beträgt, addiere sie und dividiere die Summe durch tausend. Das
Ergebnis wäre dann immer nur ein Näherungswert mit
verschwindend kleiner Ungenauigkeit, die aber immer übrig
bliebe. Das wäre die »statische« oder die
»ägyptische« Methode des »Herumtappens«.
Zu dieser sind übrigens die theoretischen Physiker von heute
zurückgekehrt, die die Geometrie für ein Sondergebiet der
Physik halten. Seit Thales aber, »oder wer immer es gewesen sein
möge«, wird ein beliebiges Dreieck konstruiert und der
Winkelsummensatz durch logische Deduktion und reine geometrische
Anschauung bewiesen. Der Satz ist dann a priori, zugleich
synthetisch, und trägt das Merkmal der Notwendigkeit an sich
ohne Ungenauigkeit, und mit ihm alle Lehrsätze der
Geometrie.
Aber die Mathematiker und Physiker lassen nicht locker. Sie
behaupten, wie auch Spengler: Wenn Kant noch Gaußí
nichteuklidische Geometrie kennengelernt hätte, so würde er
seine Lehre vom Raum haben revidieren müssen. Alle
nichteuklidische Geometrie beruht auf der Annahme, daß eines
und damit alle der sogenannten Axiome keine Giltigkeit haben; die
Folgerungen, die hieraus entstehen, kommen auf rein logischem Wege
zustande, enthalten demnach nur Zahlbegriffe, sind aber innerhalb
ihres Bereiches, dem Merkmal der Anschaulichkeit notwendigerweise
fehlt, durchaus richtig. Nun ist es natürlich ein Unterschied,
ob ich sage: ich nehme an, daß sich zwei Parallelen im
Endlichen schneiden - also hypothetisch -, oder ob ich sage: das
Parallelenaxiom ist nicht hinlänglich bewiesen, also
problematisch. Im ersten Falle wird seine Giltigkeit gar nicht
angezweifelt und nur ein mathematisches Sonderexerzitium gemacht, bei
dem es von vornherein feststeht, daß seine Ergebnisse keinen
Bezug auf die Welt der Erfahrung haben. Anders steht es mit dem
zweiten, dem problematischen Falle, und der fordert allerdings
heraus. - Es gibt nämlich Mathematiker - und Spengler
gehört zu ihnen -, die allen Ernstes behaupten, das
Parallelenaxiom sei »nicht hinlänglich bewiesen«. Es
ist beinahe verdrießlich, hier auf den Einwand einzugehen,
daß ja jedes Kind sähe, wie sich die Eisenbahnschienen am
Horizonte treffen; und er soll auch nur mit der kurzen Bemerkung
abgetan werden, daß es sich hier um eine plumpe Verwechslung
der Optik mit der transzendentalen sthetik handelt. Nicht
minder arg, fast arglistig, ist der Einwand, daß verschiedene
Kulturen und Zeiten gänzlich verschiedene »Beziehungen zum
Raume« oder »Raumgefühle« hätten. Hier ist
nur zu sagen, daß es sich nicht um Gefühle für den
Raum, sondern um den Raum handelt; aber man könnte noch
hinzufügen, daß es eben sehr schwer ist, ein Buch von Kant
zu lesen.
Das Parallelenaxiom dagegen ist so hinlänglich und so vollgiltig
bewiesen, wie überhaupt etwas bewiesen werden kann. Daß
wir uns in einer glaubenlosen Zeit befinden, das auszusprechen ist
schon eine Banalität geworden; daß aber dieselbe Zeit
nicht mehr wissen will, was beweisen heißt, das hat man
seltener gehört. - Als sicherste Form des echten Beweises kann
man den syllogistischen Schluß ansehen. Wenn ich sage:
Alle Menschen sind sterblich (propositio maior),
Sokrates ist ein Mensch (propositio minor),
also ist Sokrates sterblich (conclusio),
so erkennt jeder, daß im logischen Akte der Konklusion, der
hier erfolgt, Notwendigkeit herrscht, die zur logischen Wahrheit
führt. Zur empirischen braucht der Schluß nicht zu
führen, denn wenn ich statt der empirisch richtigen Maior
»Alle Menschen sind sterblich«, die empirisch falsche
setze, nämlich »Alle Menschen sind unsterblich«, so
bleibt der logische Schluß über die Minor »Sokrates
ist ein Mensch« trotzdem logisch richtig, aber empirisch falsch.
- Ferner gilt als sichere Form des Beweises die empirische
Anschauung; allein hier könnte man sagen: das ist immerhin ein
Zeugnis der Sinne, und Sinne können täuschen, so wie die
Tellergestalt der Erde das Altertum betrog. Dieser Einwand gilt aber
nicht bei der reinen Anschauung der geometrischen Figuren. Bei diesen
ist der Kreidestrich nur Hilfsmittel für die Deutlichkeit. Ziehe
ich nun eine Gerade, mag sie gelingen oder nicht, und setze eine
Punkt außerhalb ihrer, so ist es durchaus unmöglich, durch
diesen Punkt mehr als eine Parallele zu ziehen; diese eine aber
schneidet die Gerade im Endlichen niemals; die reine Anschauung
zwingt mich unbedingt dazu, und es gibt hier genau so wenig ein
Ausweichen, wie beim Syllogismus. Wer dies aber leugnen will, dem ist
in keiner Weise zu helfen, jedenfalls nicht durch die Philosophie.
Vielmehr kann man ihm nur raten, eine wohlfeile Kuranstalt
aufzusuchen, in der er gewiß Rat und Hilfe finden wird.
Es kann also keine Rede davon sein, daß Kant seine Lehre von
der Apriorität des Raumes und der Zeit hätte korrigieren
müssen, wenn ihm die nichteuklidische Geometrie bekannt gewesen
wäre. Daß man sich Räume mit mehr als drei
Dimensionen denken kann, wußte er auch so; daß aber
freilich deren Gesetze auf den tatsächlichen Raum der objektiven
Anschauung nicht anwendbar sind, das wäre ihm von vornherein
ebenso gewiß gewesen.
Der aufsässigen Mathematik hat sich in neuerer Zeit die
theoretische Physik angeschlossen, die befugt zu sein glaubt, Kant
eine Revision seiner Lehre nahezulegen. Da verwechselt man die Zeit
mit der Messung von Zeitabläufen, man behauptet die endliche
Teilbarkeit der Materie und verwechselt diesen eminenten Singular mit
den Stoffen; die Giltigkeit des allgemeinen Kausalsatzes wird
bestritten, und man spricht von »akausalem Geschehen«, nur,
weil bei gewissen Experimenten eine »statistische« Methode
als Notbehelf angewandt werden muß. Aber überall, wo man
solches liest, schimmert unverkennbar als zureichender Grund
mangelnde Lektüre der Kantischen Schriften hindurch.
Spenglers »Untergang des Abendlandes« hat schon allein
wegen der Eindringlichkeit seines Titels, noch mehr aber wegen der
Fülle seiner Gedanken und der Echtheit der Grundkonzeption die
Anwartschaft, eben diesen Untergang zu überleben. Nicht aber
überleben wird sein Relativismus, denn der war schon im Ansatz
falsch gedacht. Dessen Grundformel aber lautet auf die knappste Weise
ausgedrückt; »Wahrheit gibt es nur jeweilig bezogen auf
eine Kultur.« Bei der Mathematik kann man das schlüssig
widerlegen. Das Dreieck, das ich auf den Nagel meines Fingers
zeichne, und das Dreieck, dessen Endpunkte der Sirius, die Capella
und die Erde sind, unterliegen denselben Gesetzen, ohne jeden Abzug
und zu allen Zeiten, ganz gleichgiltig, wann diese Gesetze gefunden
wurden. Dasselbe aber gilt von allen mathematischen Entdeckungen der
faustischen Kulturseele. Das kann alles nicht mehr
zurückgenommen werden und hat, fast möchte man sagen,
rückwirkende Kraft; denn jeder angemessene Intellekt auch einer
früheren Periode hätte sie anerkennen müssen. - Bei
den Werken der Kunst ist der Beweis schon schwieriger. Es kann keinem
Zweifel unterliegen, daß die Griechen mit anderen Gefühlen
das Theater besuchten als wir. Allein, darauf kommt es nicht an. Man
kann die Orestie des Aischylos heute noch mit der gleichen Wirkung,
wenn nicht gar mit tieferer, auf die Bühne bringen wie in Athen
ein Jahrzehnt nach der Schlacht von Salamis. Denn das ungeheure Motiv
am Schlusse der Choëphoren, da Orestes, noch eben als Sieger
dastehend und laut triumphierend, langsam von innen her
aufgewühlt wird und den Erinnyen verfällt, diese Motiv
redet von der notwendigen Verschuldung des menschlichen Geschlechtes,
die sich gerade dann am sichersten auftut, wenn es der Meinung ist,
eine gerechte Tat begangen zu haben. Man kann beinahe überzeugt
davon sein, daß die Griechen das nicht in voller Tiefe
verstanden haben, da hierzu ein christlich imprägniertes
Menschentum gehört. Gegenüber diesen Dingen, wie Schuld und
Sühne, Sünde und Vergebung oder wie man es ausdrücken
will, Dingen als, die mit dem Menschentum überhaupt, ja mit noch
mehr zu tun haben, sind »Kulturseelen« und Stile
bloße Provinzialismen. - Die Philosophie aber soll sich dem
Relativismus nicht ergeben, sondern nur deutlich sagen, was relativ
ist und was nicht; sie soll zum mindesten keine falschen Relationen
bilden und eine Haltung einnehmen wie die Sphingen im zweiten Teile
des Faust:
Sitzen an den Pyramiden
Zu der Völker Hochgericht
Überschwemmung, Krieg und Frieden,
Und verziehen kein Gesicht.
4. DER ANTHROPOLOGISCHE IRRTUM / DIE VERUNSTALTUNG DER
KANTISCHEN PHILOSOPHIE DURCH SCHOPENHAUER
Der Relativismus war Kants Philosophie entgegen und wollte es sein;
wer sie anthropologisch deutet, der beansprucht - so war es bisher -
sein Schüler, ja sein Vollender zu sein. Sie behaupten, Kant
habe auch anthropologisch gedacht, und berufen sich dabei,
zunächst mit scheinbarem Recht, auf seine Ausdrucksweise, die ja
in der Tat allenthalben von der »menschlichen« Erkenntnis
spricht. Weil nämlich der Mensch nun einmal das einzige
Lebewesen ist, an dem die Gesetze der Anschauung und des Denkens
studiert werden können, so schließt man daraus, daß
es eben menschliche Angelegenheiten seien, um die es hier geht;
NIETZSCHE würde sagen »allzumenschliche«.
KANT hat gegen diese Auffassung seiner Philosophie ausdrücklich
Stellung genommen. »Ich würde nicht sagen können: die
Wirkung ist mit der Ursache im Objekte (d. i. nothwendig) verbunden,
sondern ich bin nur so eingerichtet, daß ich diese Vorstellung
nicht anders, als so verknüpft denken kann; welches gerade das
ist, was der Skeptiker am meisten wünscht; denn alsdann ist alle
unsere Einsicht, durch vermeinte objektive Gültigkeit unserer
Urtheile, nichts als lauter Schein, und es würde auch an Leuten
nicht fehlen, die diese subjektive Nothwendigkeit (die gefühlt
werden muß) von sich nicht gestehen würden; zum wenigsten
könnte man mit niemanden über dasjenige hadern, was
bloß auf der Art beruht, wie sein Subjekt organisiert ist«
(K.R.V., 2. Auflage, 1787, § 27: »Resultat dieser Deduktion
der Verstandesbegriffe«. Sperrung von mir.) Ferner: »Es
sind Sophysticationen, nicht der Menschen, sondern der reinen
Vernunft selbst, von denen selbst der Weiseste sich nicht losmachen
..... kann« (K.R.V., »Von den dialectischen Schlüssen
der reinen Vernunft«. Sperrung von mir.) - Kant hat also, auch
wenn er von menschlicher Vernunft, menschlicher Erfahrung,
menschlicher Erkenntnis spricht in Wirklichkeit nie vom Menschen
geredet, sondern vom Begriff der Erfahrung, und es ist eine ganz
besonders schwierige Denklage, die hier dadurch entstanden ist,
daß jemand, der Mensch ist und von etwas redet, das nur beim
Menschen vorkommt, dennoch eben dies gänzlich beiseite gelassen
hat. Er ist, im Bilde gesprochen, aus der eignen Haut gefahren, wozu
eine besondere Veranlagung gehört.
Wenn es also bei KANT heißt: »transzendentales
Subjekt«, »Kategorien«, »reine Anschauung«
usw., so sind das nicht Wesensmerkmale des menschlichen
Erkenntnisapparates, der nun einmal so gebaut ist, sondern es sind
Polgebiete der Achse der Natur, und zwar an deren subjektiver Seite.
Kant hat das nicht gewußt, daher seine ständige Flucht in
Richtung auf den subjektiven Pol. Aber an der Freilegung des Gebietes
hat er mit einer Denkenergie gearbeitet, die den Leser oft zur
Verzweiflung bringt und deren Opfer er selber wurde. Wir lesen nicht
ohne Ergriffenheit in den nachgelassenen Papieren die deutlichen
Spuren der geistigen Umnachtung. Der Mensch gerät bei solchen
Unternehmungen immer in Gefahr, eben, weil es nichts »bloß
Menschliches« ist. Wer den Ossa besteigen will, der wird hinauf-
und wieder herunterkommen; wer den Pelion besteigen will, dem wird
das auch gelingen; wer aber beide übereinander türmen will,
um den Sitz der Götter zu erobern, der soll sich vorsehen. Kant
hat sich allerdings vorgesehen, was bald ersichtlich werden wird.
Darum trägt seine späte Geisteskrankheit auch die Anzeichen
der Überarbeitung des Gehirnes, nicht die des Wahnsinns.
Es ist bei Kant immer schwer, aus der Atmosphäre der
Gelehrsamkeit in die der Genialität und des dämonischen
Denkens vorzudringen, welches beides aber ganz offensichtlich in
höchstem Maße vorliegt. Und es ist leicht und billig, die
Sache mit der kantischen Philosophie so anzusehen, daß ihr
Urheber eine Art Analyse der menschlichen Gehirntätigkeit
vorgenommen habe, so als ob die Philosophie sich jemals mit
dergleichen Dingen getragen hätte. Dieses »ich bin nun
einmal so eingerichtet«, daß ich die Welt so ansehen
muß, genau dieses ist es gerade, dem Kant mit der ganzen
immensen Anstrengung seiner Philosophie entgegengetreten ist, und
zwar trotz allem mit Erfolg. Er ist der entschiedene Gegner einer
anthropologischen Weltdeutung, und was er »subjektiv«
nennt, heißt niemals menschlich-willkürlich, sondern immer
»auf die Seite des Subjekts gehörig« oder »im
transzendentalen Subjekt verankert«. Das aber ist ein Pol der
Naturachse und keine Brille.
Hier stoßen wir auf die große Mißdeutung der
kantischen Philosophie durch Arthur Schopenhauer, die einiges
Aufsehen in den Seminarien der Universitäten erregt hat; der
Streit darum trat aber auch in die Öffentlichkeit, und man
konnte finden, daß das Laienpublikum für Schopenhauer
Partei nahm, die gelehrten Kreise aber für Kant. Das geht so
weit, daß die Gelehrsamkeit kein gutes Haar an Schopenhauer
ließ, während der Laienstand - wozu auch die gelehrten
Naturforscher gehören -, bewegt durch die wahrhaft große
Sprache Schopenhauers, glaubt, sich der Lektüre der kantischen
Werke entschlagen zu dürfen.
Es ist schon ein landläufiges und dabei richtiges Urteil
geworden, daß erst Schopenhauers Pessimismus da war und dann
seine Philosophie, die er eben deshalb schrieb, um jenen zu beweisen.
In der Schulsprache würde das lauten: es ist der empirische
Charakter Schopenhauers, der seine Philosophie bestimmt. Das ist
freilich irgendwie und in irgend einem Grade bei jedem Denker
unvermeidlich, aber es ist doch eben das, was man abziehen muß.
Es tritt allemal der Wahrheit in den Weg, auch wenn es wie bei
Schopenhauer über Ausdrucksmittel verfügt, die bisher in
der Philosophie noch nicht gehört worden sind.
Man kann den empirischen Charakter SCHOPENHAUERs und seine Einwirkung
auf die Philosophie nicht besser erkennen, als aus einer sehr intimen
Stelle, die sich nicht in seinen Werken, sondern in der sogenannten
»Brieftasche« aus den Jahren 1822 - 1823, die mir in
Faksimile vorliegt, findet. Dort heißt es auf Seite 19:
»So gewiß zwischen dem Leben und dem Traum kein
spezifischer und absoluter, sondern nur ein formeller und relativer
Unterschied ist, so gewiß ist eigentlich im Ernst kein
wesentliche Unterschied zwischen einer Pollution und einem Koitus.
Beide geben ein verfließendes Traumbild und eine
Ergießung des Samens, d. h. bei beiden hat der Wille die
Befriedigung, deren er fähig ist, und die Vorstellung hat alles,
dessen sie empfänglich ist, nämlich ein Bild, eine
Erscheinung.- Nach beidem fühlen wir, daß wir nach einem
wesenlosen Schatten gehascht haben.« - Diese Stelle können
natürlich - wie so vieles - nur Männer verstehen. Aber in
ihr ist der ganze Schopenhauer enthalten. Man komme hier nicht mit
dem Einwand, das sei Psychologie, also Schnüffelei. Das ist es
nur mit dem ersten Schritt; denn was hier konfessionsmäßig
beschrieben wird, das sind ja Randbegebenheiten des Eros. Der aber
gehört, wie wir bald erfahren werden ins Polgebiet der
Naturachse, und wenn hier jemand nicht in Ordnung ist, so hat das
transzendentale Folgen, und er soll sich in acht nehmen, daß er
die Welt nicht falsch begreife. Auch bei Kant liegt übrigens
etwas ähnliches vor. Astrologen haben herausgefunden, daß
in seinem Wurzelhoroskop das sogenannte fünfte Haus, das
Liebesabenteuer anzeigt, eine eigentümlich starke planetarische
Besetzung hat; man könnte darauf auf das Leben eines Don Juan
schließen. Nun liegt aber bei Kant so etwa das Gegenteil davon
im wirklich abgelaufenen Leben vor. Es muß also aus einer
tieferen Schicht des Charakters, die vom Horoskop nicht erreicht
wird, eine Hemmung eingesetzt haben, die ihn hinderte, die
Gegenstände der Begierde zu ergreifen. Just das aber gerade ist
es, was zum ersten Mal GOETHE an der Philosophie »unseres
herrlichen Kant« auszusetzen hatte: »er kommt nicht zum
Objekt«. Das aber ist ein ganz entscheidender Punkt in der
Philosophie. Schopenhauer, der zwar mit sicherem Wortgefüge zum
Objekt zu sprechen versteht, hat doch, wenn man es von Nahem
betrachtet, eine ganz unsichere Hand, und man weiß nie, was es
bei ihm eigentlich mit der Realität auf sich hat und ob nicht
das Objekt projiziert ist wie das Lichtbild auf der Leinwand; denn er
wird geradezu unhöflich gegen Kant, wenn er auf dessen - einzig
richtige - Formulierung stößt, daß die Objekte uns
»gegeben« werden, daß sie also Stromrichtung vom
Gegenpol her haben und dadurch das unvertilgbare Mal der
Realität. Kant hat die richtige Vorstellung vom Objekt, das sich
bei ihm wirklich den Sinnesorganen und dem Verstande
»entgegenwirft«, aber - er »kommt nicht zu ihm«.
Wieso und warum, das wird eine spätere Darstellung zeigen, und
der Leser kann sich auch nur allmählich an die hier vorliegende
transzendentale Problemstellung gewöhnen.
Jene Tagebuchnotiz Schopenhauers, die, um uns seiner eignen
Ausdrucksweise zu bedienen, ein »naives Bekenntnis seines
Geschlechtstriebes« enthält, besagt also, daß sich in
seinem eignen Leben zwei so grundverschiedene Erlebnisse, wie der
Koitus und die Pollution, von denen doch das eine an das gegebene
Objekt gebunden ist, das andere aber vom bloßen Subjekte
herkommt, und deren Lebhaftigkeit von jedermann ohne weiteres
unterschieden wird, daß diese beiden Erlebnisse bei ihm eben
keine sichere Grenze hatten. Er war hier leidend, und dieses Leiden
übertrug sich auf sein ganzes Leben. Kein Wunder daher,
daß er ein tiefes Interesse daran haben mußte, die Welt
und das Leben als bloßen Schein und mit dem Träume
verwandt darzustellen. Kein Wunder auch, daß er den Eros, den
Träger dieser Erlebnisse, mißdeuten mußte und keinen
Blick freibekam für dessen wahre Stellung im Polgebiete der
Natur.
In Kants »Transcendentaler sthetik« nun glaubte
Schopenhauer das Mittel gefunden zu haben, um seine Lehre von der
»Welt als Vorstellung« - die eben im Vorgestelltsein ihre
ganze Realität erschöpft - zu begründen. In diesem
Mittel aber vergriff er sich. Denn wenn auch Kant, besonders in der
ersten Auflage der Vernunftkritik, durch seine Ausdrucksweise von der
»bloßen« Erscheinung Anlaß zu jener
Mißdeutung gegeben hat, so hat er es doch nicht so gemeint.
ndert man diese, so wird sofort alles klar. Man braucht nur zu
sagen: »Die Dinge an sich erscheinen in Raum und Zeit und werden
hier erfahrbar«, so verschwindet jeder Gedanke an
»bloßen Schein«. Das Wort »Erscheinung« in
dem so ausgesprochnen Satze hat den Charakter einer Unternehmung der
Dinge selber, und die Welt der Erfahrung ist von einer vollen und
durch nichts aufzuhebenden Sicherheit. Es gibt nichts Festeres auf
der Welt.
Unter dem Drucke seines empirischen Charakters - das ist also das,
wodurch wir alle bedrückt werden - griff Schopenhauer mitten in
das Gefüge der kantischen Philosophie hinein und - vergriff
sich. Er stellte zunächst mit seinem scharfen Blick den
Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Auflage der
Vernunftkritik fest und behauptete, Kant habe in der zweiten seine
eigentliche Grundabsicht verfälscht, »verstümmelt,
verunstaltet, verdorben«; denn in der ersten komme Kants
»idealistische Auffassung« klar zum Ausdruck, während
die zweite eben dies vermissen lasse. Unter »idealistisch«
ist hier wiederum nichts anders zu verstehen, als die Lehre von der
Unbeweisbarkeit und Scheinhaftigkeit der Außenwelt, also das,
was der Bischof Berkeley und vor allem die Inder meinten. Er schrieb,
bewegt durch diese Entdeckung, an Professor Rosenkranz und bestimmte
diesen in der Tat, seiner Kantausgabe die erste
»unverfälschte« Auflage von 1781 zugrunde zu
legen.
Und in der Tat will es zunächst, wenn man die beiden Auflagen
vergleicht, so scheinen, daß Kant der Verführung, den
objektiven Hintergrund in Frage zu stellen, in der ersten Auflage
nicht ganz entkommen ist. Schopenhauer zitiert daher mit einem
gewissen Behagen einige Stellen aus dem Kapitel »Von den
Paralogismen der reinen Vernunft«, das in der zweiten Auflage
stark gekürzt ist, und diese klingen denn auch erheblich
»idealistisch«; »daß, wenn ich das denkende
Subjekt wegnehme, die ganze Körperwelt wegfallen muß, als
die nichts ist, als die Erscheinung in der Sinnlichkeit unseres
Subjekts und eine Art Vorstellung desselben« (K.R.V. Ausgabe
Kehrbach, S. 323). So könnte ein Hindu oder ein Buddhist
sprechen, und so meint es Schopenhauer. Aber trotz diesem und manchem
anderen Satze von idealistischer Färbung hat es Kant doch nicht
so gemeint, vielmehr ist ihm nur die Feder ausgeglitten. Er hat in
der zweiten Auflage der Vernunftkritik, noch besser aber in den
schön geschriebenen »Prolegomena« klar und eindeutig
gesagt, was seine wahre Meinung ist, und da kann keine Rede sein von
Hindutum. Ja, es ist vielmehr gerade so, daß erst durch die
Kantische Philosophie der volle Unterschied von Erscheinung (=
Erfahrung) und Schein als einem allo genos erwiesen ist; es sind
kontradiktorische Gegensätze, keine bloß konträren,
und damit ist die gesamte indische Philosophie samt Schopenhauer aus
den Angeln gehoben. Für diese beiden aber sind Schein und
Erscheinung, Leben und Traum Geschwister, die von dem gleichen
Elternpaare stammen: so wie man auch etwa den Schlaf und den Tod als
Brüder bezeichnet. Aber gerade so ist es eben nicht, sondern
quer durch sie verläuft die Achse der Natur. Jedem Gedanken an
eine falsch verstandene »Erlösung« (die nichts als
Ablösung wäre), eine Aufhebbarkeit des Lebens der
objektiven Welt durch den Verneinungsakt des Heiligen, sei es im
Willen, wie bei Schopenhauer, oder in der Erkenntnis, wie beim
letzten Buddha - jedem solchen Gedanken ist durch die Kantische
Philosophie der Boden entzogen. Die Welt kann nicht
zurückgenommen werden.
Wenn Schopenhauer in seinem Briefe an Rosenkranz vom 24. August 1837
in bezug auf die Textänderung der zweiten Auflage von einer
»Unredlichkeit« Kants spricht, so ist dem freilich auf das
entschiedenste entgegenzutreten. Kant hatte vielmehr gemerkt,
daß ihm die Feder entglitten war, und da war es sein gutes
Recht, ja die Pflicht der Wahrheit, nun die Sache so darzustellen,
wie er sie meinte. Daß aber in seinem Hauptwerk der Ton des
Hinduismus überhaupt anklingen konnte, damit hat es offenbar
folgende Bewandtnis: Kant war, obwohl tief in die Schulphilosophie
verstrickt und von deren Denkgewohnheiten durchtränkt, doch
nicht eben ein Fortsetzer von Gedanken anderer, sondern er war
Entdecker. Die es sich mit ihm leicht machen, erheben immer gar zu
gerne den Einwand, daß er sein ganzes Leben lang - und er ist
über Achtzig geworden - nie aus Königsberg herausgekommen
sei. Es gibt aber gar viele Leute, die sehr wohl aus Königsberg
herausgekommen sind, die aber deshalb nicht einen einzigen Gedanken
gedacht haben. Entdeckersein heiß aber nicht, etwas finden, was
schließlich auch ein anderer hätte finden können
(jeder beliebige andere Physiker hätte die
»Röntgenstrahlen« finden können, und der
sogenannte »Erreger« der Tuberkulose lag geradezu auf dem
Präsentierteller, genau wie das Radium) - Entdeckersein in
diesem ganz spezifischen Sinne ist allemal ein singulärer Fall
und trifft eine unersetzbare Person, ohne die es nicht geht. Es ist
ein echtes Schicksal. Kant hatte den ersten, den sinnlichen Teil
seiner Lehre nicht aus fremden Büchern herausgeklügelt,
trotz Königsberg und trotz Professorentum, sondern diese ist
überfallartig auf ihn hereingebrochen - ex objecto: Seine
nüchterne Natur verbot es ihm, davon viel herzumachen; aber das,
was er in der Vorrede zur zweiten Auflage der Vernunftkritik von
Thales, Galilei und Torricelli sagt, nämlich das mit dem
»Einfall eines genialen Mannes«, das trifft auch auf ihn
selber zu. Wir wissen sogar, daß er es so gesehen hatte, und er
kannte auch das Jahr, in dem es geschah: »Das Jahr 69 gab mir
großes Licht«, heißt es in einer seither von B.
Erdmann veröffentlichten Aufzeichnung Kants. (Zitiert nach Alois
Riehl »Krititizismus«, S. 256). Das ist, gemessen an seiner
sonst so pedantischen Ausdrucksweise, ein geradezu pathetisches
Bekenntnis, um so mehr, als es sein persönliches Leben betrifft.
Aber es ist vollkommen wahr; denn solch eine Lehre wir nicht vom
Intellekt ersonnen, sondern vom Geiste durch Licht empfangen. Es
schien sich dabei im Jahre 1769 bei Kant zunächst nur um die
Apriorität von Zeit und Raum zu handeln - so sagen die
nachspürenden Gelehrten -, aber der Augenblick enthielt in der
Tat schon das Ganze: nicht nur die transzendentale Logik, sondern
auch die Lehre von der Freiheit; dies alles in statu nascendi.
Man vergißt leicht, daß darüber schon
hundertvierundsiebzig Jahre vergangen sind und daß ganze
Gelehrtengenerationen Bibliotheken mit dem Kantischen Thema
füllten. Man hat sich an die Problemstellung gewöhnt und
tut so, als ob das gar nichts wäre. Man nimmt freilich aus
zweiter Hand, und das ist auch »gar nichts«. Erlitten aber
hat das große Licht um 1769 nur Einer. - Immerhin aber wirkt
auf jeden, der es zum ersten Male begreift, die Aufhebung des naiven
Realismus einigermaßen erregend. Denn dieser war bisher ein
Seelenzustand, den die Natur als Anpassung einhielt. Ein Rütteln
daran aber bedeutet das philosophische Erwachen und eine
Erhöhung des menschlichen Daseins über die Anpassung
hinaus. Es wirkt schon leicht prickelnd, wenn man in Platons
»Theätet« liest, daß das Süße nicht
im Weine sei und auch nicht in der Zunge, sondern
»dazwischen« (metaju); hier wird also Welt schon als ein
Zwischenreich gesehen. Und wer aus John Lockes »Essay on the
human understanding« in der Lehre von den primären und
sekundären Qualitäten erfährt, daß die Farbe,
der Geruch, das Warm und Kalt, das Rauh und Weich nicht den Dingen
selber zugehören, vielmehr von unseren Sinnesorganen
mitverschuldet sind, der fängt auch an, sich zu wundern: er
bemerkt, daß die eigentlichen Wunder der Natur nicht in deren
sichtbaren Großartigkeiten liegen, sondern da, wo das
Erkennende und das Seiende zusammenstoßen. Dabei kann ein
Mensch wohl einen fragenden Blick für das Ganze des Lebens
erwerben. Es ist das Abwerfen des naiven Realismus, das sich hier
vollzieht. - Viel heißer aber geht es noch zu, wenn nicht nur
die Sinnesqualitäten, die ja den Dingen nicht notwendig
angehören, sich als von uns verschuldet erweisen, sondern gar
Zeit und Raum, ohne die gar keine Dinge gedacht werden können.
Und nun gar bei dem, der es nicht von anderen hörte und in
Büchern auflas, sondern dem es sich zum ersten Male von selber
zeigte! Solche Entdeckungen greifen tief in das Gemüt dessen
ein, der von ihnen befallen wird, und wir wundern uns nicht, wenn wir
hören, daß so viele unter dem Druck dieses göttlichen
Eingriffes in die Lebensordnung ihren Verstand verlieren. Da ist es
denn ein Zeichen von hoher Disziplin, wenn ein Geist wie Kant hier
standgehalten hat und nur die Feder ihm ausglitt.
Die Überwindung des naiven Realismus, eben jenes
Anpassungszustandes der Natur, ist ja nicht zum ersten Male hier
angesponnen worden, sondern das kommt im Laufe der Jahrtausende immer
wieder vor und wird immer wieder verschüttet. So standen die
Inder an demselben Ort. Allein sie glitten aus, und dann kam das mit
dem »Schleier der Maja« und der »Aufhörbarkeit
des Lebens, der Anatta-Lehre des letzten Buddha »vom Nicht-Sein
der Seele«. Kant aber glitt nicht aus. Nur eben die Spuren einer
noch unsicheren Sprache finden wir in dem Unterschied zwischen beiden
Auflagen der Vernunftkritik. Die Feder entglitt ihm, nicht er
selbst.
Es bleibt hier noch einzufügen, daß echte Entdecker in dem
präzisen Sinne, wie es hier gemeint ist, das heißt solche,
die sich im Bereiche der Naturachse befinden (also nicht etwa die
»großen Entdecker« auf dem Gebiete der Technik,
bloße »Wohltäter der Menschheit«, die keinen
Deut zur Gründung eines höheren Menschtums beigetragen
haben) - ich sage, daß solche Entdecker eigentlich kaum in der
Lage sind, das, was ihnen durch das »große Licht« in
statu nascendi zuteil geworden ist, auch in actu demonstrandi
angemessen auszudrücken; es scheitert immer an den zu schwachen
Mitteln der Sprache. Und so muß man Kants Hauptwerk als ein
durchaus mißlungenes ansehen, gemessen an dem, was
dahintersteht. Das befugt niemand, ihn zu schulmeistern, denn niemand
hat dort gestanden. - Von diesem Ansichtspunkte aus betrachtet, ist
Schopenhauers erstaunliche Sprachschönheit fast ein Einwand.
Das Wesen der anthropologischen Mißdeutung der Erkenntnis,
deren Hauptträger Schopenhauer auf der einen Seite, auf der
anderen aber die naturwissenschaftliche Aufklärung ist, dieses
Wesen liegt darin, daß das transzendentale Subjekt in den
empirischen Menschen, wie er nun einmal ist oder wie er sich
womöglich gar aus »tierischen Ahnen« entwickelt hat,
verlegt wird. Dadurch wird die Erkenntnisart zur bloßen Brille,
bleibt also subjektiv, besser subjektivisch. Schopenhauer hat sogar
den Ausdruck »Brille« vergleichsweise für seine
Auffassung von der Erkenntnis gebraucht, mit welchem einen Wort er
seine Grundansicht entblößt hat. Kant hätte solch
einen Vergleich niemals finden können.
Aber wie in den halbfertigen und mißlungenen Aussprüchen
nicht selten mehr Wahrheit enthalten ist, als in den expressis verbis
geratenen, so steht es auch mit jenen Worten KANTS, die Schopenhauer
aus der ersten Auflage jubelnd als Beleg für die
ursprünglich »idealistische« Auffassung Kants zitiert.
Ich wiederhole: » ... daß, wenn ich das denkende Subjekt
wegnehme, die ganze Körperwelt wegfallen muß, als die
nichts ist, als die Erscheinung in der Sinnlichkeit unseres Subjektes
und eine Art Vorstellung desselben.« Der Satz wird mit einem
Schlag richtig, wenn man unter dem Subjekte, und zwar dem
transzendentalen, einen echten Pol versteht, dem mit Notwendigkeit
ein anderer im Objekte, obgleich unerkennbar, entspricht. Wendet man
auf diese Auffassung ein Gleichnis an, so ist das mit der
»Brille« ganz unmöglich; es drängt sich aber das
von den zwei Polen der Elektrizität und des Magnetismus auf, die
natürlich, da rein empirisch, beide in gleicher Weise der
Erkenntnis offenstehen. Nimmt man hiervon einen Pol fort, so
fällt freilich die ganze Welt des Magnetismus und der
Elektrizität; es gibt dann keine. Dieses Gleichnis könnte,
ohne daß er es hier ausgesprochen hat, Kant vorgeschwebt haben,
als er jenen Satz schrieb, oder er könnte immanent und
unbewußt in ihm enthalten gewesen sein; jedenfalls bekommt er
dadurch seine Richtigkeit. Aber wir gehen eine Schritt weiter und
nehmen die Auffassung vom Pole nicht mehr bloß als Gleichnis,
sondern als real und den wahren Verhältnissen entsprechend; dann
finden wir, daß das Bild der Natur, so wie es Kant im stillen
gemeint haben mag, klar hervortritt. Nur muß man freilich im
Auge behalten, daß die empirischen Beispiele echter
Polarität, wie die von Magnetismus und Elektrizität, als
auch die zweifelhaften, wie die von Licht und Finsternis, Wärme
und Kälte, eben weil empirisch, der transzendentalen
Polarität nicht voll entsprechen. Denn bei ihr ist wohl der
subjektive Pol zu erfassen und liegt im Gemüte des Menschen
aufspürbar bereit, während der objektive in
unaussprechbares Dunkel gehüllt ist. Der subjektive kann am
Menschen studiert werden, obwohl er nicht etwa Eigentum des Menschen
ist, wie die durch Anpassung erklärbaren Besitztümer. Aber
wenn die Natur eine Achse hat, so muß sie auch Pole haben.
Dasjenige nun, was sich zwischen Subjekt und Objekt abspielt, nennt
Kant die Erfahrung, und da, als Ganzes gesehen, sich zwischen zwei
Polen nur eines abspielen kann, so gibt es nur eine Erfahrung.
Für dieses singulare tantum nun hat Kant die Theorie
geschrieben. Er hat dadurch die Erfahrung entdeckt, genau so wie
Thales von Milet die Geometrie. Dabei hat er den objektiven Pol
vernachlässigt, und er mußte das, weil er den Polcharakter
überhaupt nicht sah, ebenso, wie sein Interesse überwiegend
der Naturwissenschaft aus Bewegung und Materie galt; aber das sind
Grenzen, die ihm der empirische Charakter setzte. Es ginge also,
»wenn ich das Subjekt wegnehme«, wahrlich mehr verloren,
als bloß die Körperwelt; nämlich alles.
Kant hat demnach ausdrücklich erklärt, es handle sich bei
seinen Untersuchungen nicht etwa um die Frage, wie Erfahrung
entstände oder wie man sie sich erwürbe, sondern darum, was
sie enthält. Das aber bedeutet soviel wie den Begriff der
Erfahrung, und so hat er es gemeint. Es wird erst durch die
späteren Untersuchungen über das Wesen des Begriffes klar
werden, wie das zu verstehen ist; vorläufig sei hier nur
bemerkt: es gibt - denkwürdigerweise - Individualbegriffe
empirischer Art, die, da ihr Gegenstand nur einmal vorkommt,
notwendigerweise nicht »allgemein« im Sinne einer
beliebigen Vervielfältigung er Gegenstände sein
können, die unter sie fallen. Mit dem Begriff »Hund«
meine ich stets alle Hunde; sage ich aber »Sokrates« und
meine damit jenen großen Athener, so habe ich auch seinen
Begriff gebildet, aber dessen Allgemeinheit ist völlig anderer,
nämlich rein begrifflicher Art. SCHOPENHAUER hat hier einmal
tiefsinnig bemerkt: »Sokrates heißt Çalle
Sokratesë«. Das wäre außen gesehen ein logisches
absurdum, und doch trifft es genau das in sich kreislaufende Wesen
des Individualbegriffes. Es lohnt sich, an diesem Tatbestande nicht
ohne Nachdenken vorüberzugehen; denn wir werden an späterer
Stelle darauf kommen, daß es noch eine andere Kraft im Bezirk
des subjektiven Naturpoles gibt, die den gleichen Anspruch auf
unbedingte Einmaligkeit und zugleich »Allgemeinheit«
erhebt; diese Kraft ist der Eros, zu dessen Wesen es gehört,
dasselbe zu tun wie der Individualbegriff, nur mit durchdringender
Leidenschaft. Dies alles muß vorläufig freilich noch
dunkel bleiben. - Und ein solcher Individualbegriff ist auch bei Kant
der Begriff der »Erfahrung«, von dem wir also auch sagen
können: »Erfahrung« heißt »alle
Erfahrung«. KANT nennt das alles »für jedes
Vernunftwesen giltig«, wobei der Mensch ein Fall davon ist, wenn
auch der einzige. Das aber ist das Gegenteil von anthropologisch.
KANT hat für die Art seines Denkens und den eigentümlichen
Griff, den er vollzog, die Bezeichnung »kopernikanische
Veränderung des Standpunktes« geprägt, und dieser
Vergleich, der in der Tat den Kern der Sache trifft, ist tausend und
abertausendmal nachgesprochen worden. Allein, wenn man es bei Lichte
besieht, so ist die kopernikanische Weltanschauung, obwohl sie
keineswegs durch Experimente gesichert ist, volkstümlich
geworden und alle Welt ist von ihrer Richtigkeit überzeugt.
Dagegen hat derselbe Griff bei Kant, obwohl hier echte Beweise
vorliegen, noch nicht vermocht, selbst in der gebildeten Oberschicht
nicht, den Blick für die Natur sicher zu machen. Das liegt
daran, daß es sich bei Kopernikus um einen Fall von Erfahrung
handelt und um ein Stück Natur sinnfälliger Art, bei Kant
aber um die Erfahrung selbst und um die Natur überhaupt. Um das
aber erlebnishaft zu erfassen, bedarf es eines Aktes höchster
Besinnung und schärfster Prüfung seiner selbst. Denn die
Sache ist paradox, wie alle großen Entdeckungen. Dies hat auch
KANT sehr deutlich empfunden, als er den Satz niederschrieb: »So
klingt es zwar anfangs befremdlich, ist aber nichts destoweniger
gewiß, wenn ich....sage: Der Verstand schöpft seine
Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser
vor« (Prol., § 36, Schluß). Das klingt genau so
ungeheuerlich, wie es jedem Menschen klingt, wenn er zum ersten Male
hört, die Erde sei eine Kugel; denn unwillkürlich stellt
sich der Gedanke ein: Wie kommt es, daß ich da nicht
herunterfalle? So stellt sich bei dem transzendentalen Satz Kants der
Gedanke ein: Wie soll der Verstand (»mein« Verstand!) der
Natur Gesetze vorschreiben? - indem man nämlich
unwillkürlich doch an die empirischen Gesetze denkt und etwa
meint, der Verstand »schaffe« das Gravitationsgesetz oder
die Gesetze der Elektrizität, nach denen sich die Natur richtet.
So aber ist es nicht gemeint. Wenn ein Meteor auf die Erde
fällt, so ist an dieser sinnfälligen Erfahrung folgendes a
priori gewiß; daß der Meteor im Raume erscheint und
für seinen Weg eine Zeit braucht, daß er eine
Größe hat und das sein Fallen nur geschehen kann, wenn
eine zureichende Ursache es veranlaßt. Das sind die allgemeinen
und reinen Gesetze der Natur, und diese wurzeln im Subjekt. Ohne sie
wäre »Natur überall nicht möglich«, wie KANT
sich ausdrückt. Welches aber der Grund für seinen Fall ist
(wobei noch Grund und Ursache zu unterscheiden sind), nämlich
die Anziehungskraft der Erde, welche Größe und welches
Gewicht er haben muß, um diese und keine andere Geschwindigkeit
zu erlangen, das alles gehört dem Objekte an, ebenso wie seine
Temperatur, sein elektrisches Potential und seine Helligkeit. Die
Gesetze der Beschleunigung aber zu kennen, setzt den Akt der
Entdeckung voraus, in diesem Fall Galilei. Unter dem Druck des
Objektes, so kann man sagen, kommt das Subjekt zur Entfaltung und
schreibt der Natur nunmehr seine und keine anderen allgemeinen und
reinen Gesetze vor. Denn das Subjekt ist Bestandteil der Natur und
kein Punkt in ihr.
Durch all das wird die Natur allerdings zur »bloßen«
Erscheinung, was unwillkürlich wie eine Herabsetzung wirkt.
Indessen auch Licht und Schall, sowie alle andern
Sinneseindrücke haben sich als Erscheinungen herausgestellt,
ohne deshalb an ihrer verbürgten Realität
einzubüßen; und nach dem Bilde dieser empirischen
Vorstellung von Erscheinung ist Kants transzendentale Trennung von
»Erscheinungen« und »Ding an sich« vollzogen
worden. Wir können beim Schall durch Experiment feststellen,
daß es die mathematisch abgestimmten Schwingungen der Luft
sind, welche, auf das Ohr treffend, den Schall erzeugen. Ohne Ohr
kein Schall; aber auch kein Schall ohne Schwingung der Luft; diese
also ist das »Ding an sich« des Schalles, das mit ihm
selbst als Empfindung keinerlei hnlichkeit hat. Beim Lichte
wissen wir heute gleichfalls durch die freilich schwierigeren
Experimente von Maxwell und Heinrich Hertz, daß es
elektromagnetische Wellen sind, welche, wiederum mathematisch
geordnet, je nach ihrer Länge und Schwingungszahl im Auge die
farbigen Lichtempfindungen hervorrufen. Wenn es kein Auge gäbe,
so schiene die Sonne nicht. Und wiederum ist das »Ding an
sich« des Lichtes, also die elektromagnetische Welle, ohne jede
hnlichkeit mit dem Licht, das erst im Auge entsteht; sie sind
»an sich« dunkel. Aber sowohl die Schwingungen der Luft wie
die des Lichtäthers sind jedes für sich Gegenstände
der Erfahrung im vollen Sinne des Wortes. Daher hat man auch die
physikalische Optik eine Wissenschaft vom Lichte ohne das Auge
genannt, was soviel besagen will, als daß sie sich nur mit dem
Dinge an sich des Lichtes beschäftigt; und die Physiker gehen
denn auch gelegentlich so weit, zu sagen: Licht ist
elektromagnetische Schwingung; oder Rot ist die Wellenlänge 800.
Das könnte man denn die Definition des Lichtes und der Farbe
nennen im Rahmen des physikalischen Weltbildes. Allein dieses
Weltbild ist ein Eliminat. Und auch der Physiker muß ja, um die
Richtigkeit seiner Formeln zu prüfen, jedesmal hinsehen, also
das Auge mindestens als Kontrollorgan benutzen. Denn woher sollte er
es sonst wissen, ob diese oder jene Wellenlänge wirklich eine
bestimmte Farbe erzeugt, als dadurch, daß er sie auf ein Auge
wirken läßt? Die Wirklichkeit des Lichtes liegt also nicht
in den Wellen, sondern in deren adäquater Einwirkung auf die
Retina; das heißt aber : in ihrer Erscheinung.
Dasselbe auf Goethes Weise: Blau wird dadurch erzeugt, daß ein
dunkler Hintergrund durch ein trübes Mittel gesehen wird und
zwar in bestimmten Abständen voneinander. Das sind nun ganz
reale und handfeste Dinge »an sich«, die das Blau erzeugen
und die selber nicht die mindeste hnlichkeit mit ihm haben, so
etwa eine dunkle Bergwand, davor in gewissen Abstand aufsteigender
Rauch, also feinverteilte pechschwarze Kohlenstoffpartikel. Aber erst
das Auge macht aus diesen Dingen an sich das Blau: wiederum
»nur« in der Erscheinung wird es wirklich. Daß das
Blau des Himmels auf diesem selben Gesetze des trüben Mittels
beruht, ist bekanntlich Goethes Entdeckung.
Ob also auf Newtonischer oder auf Goethescher Basis gedeutet: immer
hat das echte und wirkliche Phänomen der Farbe seinen objektiven
Hintergrund und seine subjektive Bedingung im Auge. Die Farben werden
nicht wie ein willkürlicher Schleier über die
Gegenstände der Erfahrung gelegt, sondern sie sind allemal durch
objektive, mathematisch geordnete Verhältnisse in ihren Dingen
an sich gesetzmäßig begründet. Dies gilt auch dann,
wenn durch Störungen im Auge, »Farbblindheit«,
verschiedene Meinungen über ein Farbphänomen entstehen;
gilt aber ganz besonders dann, wenn durch das tiefer angelegte Auge
des Malers Farbenschicksale gesehen werden, die dem gewöhnlichen
Menschen verschlossen sind.
Der transzendentale Begriff der Erscheinung, wie er die Kantische
Philosophie beherrscht, ist also nach dem Modell der empirischen
gebaut. Kant würde diese Analogie nur ungern zugeben, allein es
ist doch so, und man kann ihn nur so richtig verstehen. Das
physikalische Experiment beweist für die einzelnen Sinnesorgane
den Erscheinungscharakter ihres Bereiches, und bei einem jeden bleibt
ein zugeordnetes Ding an sich übrig, das es affiziert; beim Auge
der Lichtäther (um das besser klingende Wort zu wählen),
beim Ohr die schwingende Luft, bei der Nase und dem Gaumen, die
Duftstoffe und beim Tastsinn jeder beliebige Gegenstand. Alle diese
Dinge an sich sind aber selber Gegenstände der Erfahrung; denn
sie erscheinen in Raum und Zeit. Das transzendentale Experiment
dagegen löst Raum und Zeit von den Gegenständen der
Erfahrung ab; das hier übrigbleibende Ding an sich ist demnach
nicht erfahrbar, sondern nur denkbar. KANT nennt es »Nooumenon
in negativer Bedeutung«. Es ist aber als das der Erscheinung
zugrundeliegende auch denknotwendig, wodurch die Existenz der Dinge
an sich verbürgt wird. Nennt man die Welt Erscheinung - und man
muß es -, so muß es auch etwas geben, was ihr zum Grunde
liegt.
Nur so aber kann in Wirklichkeit mit letzer Bürgschaft von einem
Objekt gesprochen werden. Kant drückt das in einfacher Art aus:
die Dinge (an sich) sind uns schlechterdings gegeben und werden als
Erscheinung Erfahrung. Von hier aus gesehen entbehren sie jedes
Ansatzes von Mystik oder auch nur Rätselhaftigkeit; sie sind
eine nüchterne Sache. Hier von »wahren Wesen der Welt«
zu sprechen, ist eine falsche Anrede. Wen SCHOPENHAUER in seiner
»Brieftasche« S. 28 schreibt: »Das wäre mein
höchster Ruhm, wenn man einst von mir sagte, daß ich das
Räthsel gelöst, welches Kant aufgegeben hatte«, so
kann man hierzu nur sagen: Kant hat dieses Rätsel nicht
aufgegeben, und Schopenhauer hat es nicht gelöst. Denn wenn er
den »Willen« - also etwas halbwegs Bekanntes - zum
»Dinge an sich« und damit zum »wahren Wesen der
Welt« macht, so wird am echten Objekte, wie es nur Kant richtig
verstanden hat, eben das weggenommen, wodurch es ausgezeichnet ist:
daß es sich aus schlechthin unbekannter Tiefe dem Subjekte
entgegenwirft. Wenn Schopenhauer, ganz unkantisch, immer vom
»Ding an sich« redet und das Suchen danach zu einer
Rätselfrage macht, so beweist er damit, daß er die
kantische Philosophie nicht verstanden hat und demnach gar keinen
rechten Begriff vom Objekt haben konnte. Er denkt anthropologisch
statt transzendental und damit schnurstracks am Problem vorbei.
In die Dinge an sich kommt allerdings von zwei Stellen aus Bewegung,
und sie hören dann auf, bloße entia rationis zu sein: beim
Entdeckungsakt und in der Ethik. Aber auch hier wird nichts an ihrer
Unerkennbarkeit geändert; beim Akte der Entdeckung kann man nur
sagen, daß sie in anderer Art affizieren als in der
gewöhnlichen Erfahrung. Zu dieser Einsicht aber kann man nur
gelangen, wenn die kantische Denkart in Richtung auf die platonische
umgestimmt wird, ähnlich der Transposition eines
Musikstückes in eine andere Tonart. In der Ethik aber tritt an
Stelle der Dinge an sich der intelligible Charakter. Hier, wo der
Unterschied zwischen dem, was ich bin, und dem, was ich sein soll, in
verhängnisvolle Nähe gerückt wird, kommt zwar das
Wissen davon, was ich selber bin, nicht um einen Deut besser fort;
allein, es tritt eine Bewegung ein, die als Gewissen spürbar
wird und deren Richtung vom intelligiblen Charakter her auf den
empirischen - den Ort der Tat - zugeht. Über die ethischen
Vorgänge aber hat bisher das Christentum die besten
Auskünfte erteilt und erst zu zweit die Philosophie.
Wenn es richtig ist, daß Kant die Erfahrung in ihrer
Singularität entdeckt hat, so wie Newton das Gravitationsgesetz,
dann muß es falsch sein zu sagen, er habe die angeborenen
Eigenschaften des menschlichen Intellektes studiert und dessen
Grenzen gesichert. Obwohl - mit Ausnahme des Wortes
»angeboren« - der Satz selber nicht einmal falsch ist, denn
so findet man ihn sogar wörtlich bei Kant, so ist die Meinung
doch falsch, die sich aus ihm ergeben soll, nämlich, daß
es sich um nichts weiter als um ein menschliches Phänomen
handelt, da der Mensch ja »nun einmal« so gebaut sei. Wir
nennen diese Auffassung der kantischen Philosophie die
anthropologische und halten sie für ein
Mißverständnis.
5. DER NAIVE NATURALISMUS
Während Schopenhauer kantisch sein will, ohne daß es ihm
gelingt, will der Naturalismus des 19. Jahrhunderts dies
ausgesprochen nicht, weil er glaubt, auf eignen Füßen
stehen zu können; das aber gelingt auch ihm nicht. Und wenn
nicht das Genie Lamarcks und etwa auch Darwins an seinen
Anfängen stünden, so brauchte man, nach Kant,
überhaupt nicht von ihm zu reden.
Seine These lautet: Die Natur - das ist das, was man sieht, wenn man
das Fenster aufmacht -, die Natur, die etwas so
Selbstverständliches ist, daß man schon ein Leben lang in
Königsberg gelebt haben muß, um zu der Frage fähig zu
sein, »wie ist Natur überhaupt möglich?« -, diese
Natur also schafft im Laufe der ungezählten Jahrmillionen ebenso
ungezählte Lebewesen von den Amöben über die ganze
Skala der Tier- und Pflanzenwelt hinweg »bis hinauf zum
Menschen«, der durch und durch nichts anderes ist als ein
Geschöpf eben dieser Natur. Nun wird allgemein zugegeben,
daß das wesentliche Unterscheidungsmerkmal des Menschen vom
Tier die Vernunft sei, das heißt: den menschlichen Handlungen
gehen Überlegungen voraus, die aus Urteilen und
Schlußketten bestehen. Um das als Entwicklungsvorgang zu
begreifen, muß man nach Anknüpfungsstellen im Tierreich
suchen, und da glaubt man denn unter den höheren Pithekoiden
deutliche Anzeichen einer »entstehenden« Vernunft zu
finden. Es kommt daher zu folgendem Entwicklungsbild: die heute
lebenden höheren Affenarten und der Mensch haben eine gemeinsame
Wurzel in einer ausgestorbenen Tierart. Diese muß gewisse
Anpassungsschwierigkeiten gehabt haben, so daß sie in Gefahr
geriet, den Kampf ums Dasein nicht durchzuhalten. Die Kieferpartie
bildete sich zurück, so daß durch Schwächung des
Gebisses eine wichtige Waffe verlorenzugehen drohte: als Ersatz
dafür trat aber bei begünstigten Exemplaren eine
Vergrößerung des Gehirnes auf; das aber bedeutet die
Entstehung der Vernunft als einer neuen Waffe zum Zwecke der
Überlistung und zur Herstellung von Werkzeugen. Was an der
besagten Tierart diesen Prozeß nicht schnell genug mitmachte,
das ging unter, während die übrigen Exemplare sich durch
Fortpflanzung und Vererbung erhielten; so bildeten sie den neuen
Tiertypus homo sapiens. - Das klingt ungemein verlockend, und wir
können dieser günstigen Diagnose des Menschen, in der
unübersehbare Chancen nach oben liegen, sogar noch einiges
hinzufügen. Es gibt nämlich Affenarten, die mit Steinen
werfen können, ja mit ihnen werkzeugartig umgehen; und sie
treffen immer, nämlich mit der selben Sicherheit, mit der sie
ein Insekt auf ihrem Körper zu greifen vermögen. Der
konsequente Naturalismus kann nun hier einsetzen und sagen: wir haben
hier deutlich unverkennbare Spuren einer intelligenzartigen
Tätigkeit vor uns, von der wir nur anzunehmen brauchen,
daß sie sich im Laufe der Jahrmillionen durch allmähliche
Anhäufung kleinster Verstärkungen schließlich zur
vollen Entwicklung der nunmehr menschlichen Vernunft gesteigert
haben. Von hier aber konnte der so entstandene Mensch bewußt
durch Überlegung zielen, werfen und neue Werkzeuge schaffen;
womit die Grundlage der menschlichen Kultur gelegt wurde, die, im
ständigen weiteren Aufstiege begriffen, den Menschen zum Herrn
der Erde macht. - Das ist das Lied vom Menschen, wie es der
Naturalismus angestimmt hat und wie es von der Mehrzahl der heutigen
Menschen geglaubt wird.
Die Suggestivkraft, die von dieser Lehre auf die großen und
kompakten Massen der Halbbildung ausgeübt wird, stammt nicht von
ihrem Wahrheitsgehalt - denn dieser besteht nicht -, sondern daher,
daß sie bestimmten Tendenzen, die etwa seit der
Französischen Revolution (aber nicht durch sie) in die
geschichtsempfindliche Schicht der europäischen Menschheit
eingedrungen sind, entgegenkommt. Seit jener Zeit etwa hebt es an,
das der Inhalt des Menschentums wesentlich in der Erfindung neuer
Werkzeuge gesucht wird, wobei man annimmt, daß diese dann mit
der Verbesserung der Lebenslage auch eine solche des Menschentums
selber herbeiführen werden. Mit diesem Gedanken hat soeben diese
selbe Menschheit ahnungslos ihren Untergang besiegelt, und man
könnte sagen: ein falsches Denken über die Vernunft,
vorausgesetzt, daß es Massenwahn wird, kann Völker und
Erdteile ins Verderben stürzen.
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