DIE ERSCHEINUNG CHRISTI
1. DIE FREIGABE DER BIBEL UND IHRE FOLGEN
Man wirft der katholischen Kirche vor, daß sie dem Volke den
Zugang zur Bibel verwehre und es an deren Auslegung durch die
Priester verweist; dahinter vermutete der polemische Protestantismus
eine besondere Art von Tücke. Wie kann man die wahre Quelle
aller Glaubensweisheit dem Volke verschließen, wobei zum Volk
in diesem Falle jeder auch noch so gebildete Laie zählt! In der
Tat gehört es zu den Errungenschaften der Reformation, daß
der Mensch lesen darf, was er will, und das Gefühl ist sehr
ausgeprägt, daß diese geistige Freiheit, einmal errungen,
nicht mehr aufgegeben werden darf. Ob aber freilich das Glück
und der Glaube des Volkes durch die Freigabe der Bibel vermehrt
worden sind, das steht auf einem andern Blatt. Wenn es darum geht,
dann ist der rein kultischen Behandlung durch einen gelehrten
Priesterstand entschieden der Vorzug zu geben gegenüber dem
allgemeinen Priestertum aller Gläubigen, dem Luther in seiner
eignen Kirche jedenfalls keine Konzessionen machte.
Die kultische Behandlung der Bibel hat, wie man weiß, folgenden
Verlauf: es werden Sonntag für Sonntag bestimmte Abschnitte aus
den verschiedenen Teilen der Bibel, die aufeinander abgestimmt sind,
zusammengestellt und in dieser Form dem Volke übermittelt. Die
Bibel wird also in Perikopen eingeteilt. Diese uralte Einrichtung hat
auf jeden Fall zur Folge, daß die in der Bibel worthaft
enthaltenen Heilskräfte in gesteigerter Weise zur Geltung
kommen; das Volk geht beglückt und getröstet heim, sogar
dann, wenn eine Predigt gefolgt ist. Dazu aber ist die Bibel da.
Gerade wenn man das Wesen der Religion im Heilungsvorgang sieht - er
heißt hier Vergebung der Sünde -, ist die perikopische
Behandlung ihres Textes die einzig richtige. Das Studium des
Originals dagegen in fortlaufender Folge tröstet keineswegs und
erfordert, um zum rechten Ziele der Erkenntnis (also nicht des
Glaubens) zu kommen, den höchsten Grad gepflegter Gelehrsamkeit.
Die aber bringt nur ein festgeordneter Priesterstand auf. Heimlich
dachte Luther so.
Mit jenem »Trost in der Bibel suchen« hat es eine sehr
eigne Bewandtnis. Am häufigsten scheint er dann einzutreten,
wenn der Suchende »gerade zufällig« auf eine Stelle
stößt, die auf sein Leben gemünzt zu sein scheint.
Diese Zufälle finden sich in der Tat auffallend häufig.
Dann aber auch, wenn eine der großen Szenen aufgeschlagen wird,
an denen die Bibel reich ist. Sowie aber der bloße
Erkenntnistrieb überhand nimmt, sowie man wissen will, was
überhaupt hier gespielt wird, stößt man, besonders in
den Evangelien, auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Das liegt
an deren mangelhaftem litterarischen Charakter; es ist dann vorbei
mit dem Trost. Ja nicht nur dies, sondern das Gemüt des
Glaubenwollenden wird auf das Schwerste geprüft und zermartert
durch die offenbare Unglaubwürdigkeit, das Widerspruchsvolle und
Abgehackte der Texte, so daß der Arme am Ende genau so ratlos
dasteht wie die Jünger am Kreuz, die auch nicht wußten,
was hier eigentlich geschehen war und deren Glauben doch
überhaupt eine höchst zweifelhafte Größe gewesen
ist. Statt Trost und Glauben gibt es dann höchstes Bibelkritik,
schlimmeren Falles aber Abfall und Verzweiflung. Ich habe noch kein
glückliches Gesicht gesehen unter denen, die ständig in der
Bibel lesen, und ich finde es einen sicheren und redlichen Instinkt,
wenn der Franzose JEAN GIONO im Vorwort zu seiner »Geburt der
Odyssee« schreibt: »Schwerverwundet kehrte ich 1920 aus dem
Kriege heim; ich besaß nur eine Bibel und die Odyssee. In
dieser Odyssee...las ich , wenn ich über die Hügel ging, um
Frieden zu finden...«
Von dem Augenblicke an, da die autoritäre Auslegung der Bibel
aufgegeben wird, ist der Weg zur Sektenbildung frei. Denn sowie ich
versuche, anstelle der perikopenmäßigen Aufteilung des
Textes ein kontinuierliches Band zu flechten, stellt sich heraus,
daß das nicht geht und daß zunächst einmal viele
Deutungen möglich sind. Da kann sich denn Meister Schuster und
Schneider und wer sich sonst für gottbegnadet hält, auf
eine Regentonne stellen und dem zulaufenden Volke sein neues
Evangelium verkünden, »denn es steht geschrieben...«,
und immer bricht demnächst das Tausendjährige Reich an,
immer ist er der Auserwählte des Herrn und immer heißt es
»liebet euch untereinander...!«, aber ja nicht jemanden,
der nicht dazugehört; denn das sind natürlich die Sendlinge
des Satans und die soll man hassen, wie ihren Herrn selber. Wir
kennen die Melodie. Sie ist es auch offenbar gewesen, die den
Römern der Kaiserzeit den instinktartig sicheren Blick verlieh,
um den ersten Christen den Vorwurf des »odium generis
humani« zu machen. In der Tat hat es wohl in der Welt auch
nichts Giftigeres gegeben als christlichen Sektiererhaß.
2. DIE DEUTSCHE LEBEN-JESU-FORSCHUNG
Die Freigabe der Bibel war geschehen, der Würfel gefallen;
Luther ließ es darauf ankommen. Eine der Wirkungen aber, die
sie hatte, gehört nicht auf die Debet-Seite, und das ist die
Leben-Jesu-Forschung, die sich besonders stark bei den Deutschen
bemerkbar machte. Man wollte auf einmal wissen, wie das alles
zugegangen war, nicht in kultischen Abschnitten, sondern in
durchlaufender Folge unter Leitung eines entscheidenden
Lebensmotives. Dieses Interesse hatte es früher nicht gegeben,
am wenigsten aber in der Zeit, in der die Evangelien
niedergeschrieben wurden. Denn damals dachte man nur an die
versprochene Wiederkehr und den Anbruch des Himmelreiches, vielmehr:
man hatte eben die Hoffnung aufgegeben. Gegenüber diesem
Versprechen aber war eine Biographie des Heilandes etwas
Nebensächliches. So blieb es bis ins Aufklärungszeitalter
hinein. Als man nun dem biographischen Ablauf nähertreten
wollte, da stellte es sich heraus, daß dieses bedeutendste
aller Leben, die je geführt wurden, einen litterarischen
Niederschlag gefunden hatte, dessen Rang um ein beträchtliches
Stück unter dem liegt, der im klassischen Altertum auch für
weniger bedeutende eingehalten wurde. Wenn etwa Xenophon über
das Leben des Kyros schreibt, so steht das an litterarischer
Güte unverkennbar weit etwa über dem Markusevangelium.
Dabei ist durch die lutherische Übersetzung sogar noch eine
Verbesserung des Sprachniveaus eingetreten. Für den gebildeten
Griechen aber mußten die Evangelien (mit Ausnahme des vierten)
als außerhalb der Litteratur stehend empfunden werden. Die
ersten Christen redeten überhaupt ein fürchterliches
Kauderwelsch, was den gebildeten Lactantius dazu bewog, den Namen des
Kyprianos boshafterweise in »Koprianos« zu verwandeln (zu
Deutsch etwa: »Kotschwätzer«). Eine Ausnahme bilden
nur die bedeutenden großen Szenen, die durch ihren Inhalt
welterschütternd wirken.
Die Evangelien also erfüllen die Erwartung nicht, die man in
Bezug auf das Leben Jesu in sie setzt; und zwar kann weder der
einfache Mann, noch der hochgebildete aus ihnen klug werden, und es
ist doch eben, wie sich bald herausstellen wird, eine Redensart
irreführendster Sorte, wenn es immer heißt: nur die
»Einfältigen« hätten Zugang zum Worte Gottes, und
für die sei alles sofort verständlich. Das ist einfach
nicht wahr. Sondern es hat hundert Jahre Denkarbeit der besten
theologischen Köpfe Deutschlands dazu gebraucht, um hier
Klarheit zu schaffen. Diese aber besitzen wir heute. Wir wissen
besser als die Gebildeten des spätapostolischen Zeitalters, was
es mit diesem Jesu von Nazareth für eine Bewandtnis gehabt hat.
»Wenn einst unsere Kultur als etwas Abgeschlossenes vor der
Zukunft liegt, steht die deutsche Theologie als ein
größtes und einzigartiges Ereignis in dem Geistesleben
unserer Zeit da. Das lebendige Nebeneinander und Ineinander von
philosophischen Denkern, kritischem Empfinden, historischer
Anschauung und religiösem Fühlen, ohne welches keine tiefe
Theologie möglich ist, findet sich so nur in dem deutschen
Gemüt. Und die größte Tat der deutschen Theologie ist
die Erforschung des Lebens Jesu. Was sie hier geschaffen, ist
für das religiöse Denken der Zukunft grundlegend und
verbindlich.« So beginnt ALBERT SCHWEITZERs »Geschichte der
Leben-Jesu-Forschung.«
Der Evangelist Markus erzählt uns, Kap. 6, die bekannte Szene,
in der Jesus nach Nazareth kommt und dort seine Familie besucht; das
führt zu jenem Achselzucken: die Leute dort wissen nichts mit
ihm anzufangen. »Ist er nicht der Zimmermann, Marias Sohn und
der Bruder des Jakobus...sind nicht auch seine Schwestern allhier bei
uns? Und sie ärgerten sich an ihm. Jesus aber sprach zu ihnen:
ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterlande« .Was
meistens überlesen wird, sind aber die Worte »Und er konnte
allda nicht eine einzige Tat tun«. Kurzum: man soll sich nicht
mit dem Familienklüngel einlassen. Völlig abrupt, abgehackt
und ohne Zusammenhang, nur durch ein »Und« verbunden, das
hier völlig seine Funktion, Gleichartiges zu verbinden,
verleugnet, heißt es nun auf einmal: »Und er berief die
Zwölfe, und hub an, und sandte sie, je zween und zween und gab
ihnen Macht über die unsauberen Geister. ...Und sprach zu ihnen:
Wo ihr in ein Haus gehen werdet, da bleibet innen, bis ihr von dannen
ziehet. Und welche euch nicht aufnehmen, noch hören, da gehet
von dannen heraus und schüttelt den Staub ab von euren
Füßen zu einem Zeugnis über sie. Ich sage euch
wahrlich: es wird Sodom und Gomorrha am jüngsten Gerichte
erträglicher gehen, denn solcher Stadt. - Und sie gingen aus und
predigten, man solle Buße tun. Und trieben viele Teufel aus,
und salbten viel Sieche mit Öl, und machten sie gesund.« -
Schluß. Nun kommt Vers 14ó29, wieder gänzlich
abrupt, die Geschichte vom Tode Johannes des Täufers. Vers 30
aber erscheinen die Apostel wieder und verkünden ihm das alles,
und was sie getan und gelehret hatten. Und er sprach zu ihnen :
»Lasset uns besonders an eine wüste Stätte gehen und
ruhet ein wenig, denn ihrer waren viele, die ab und zu gingen; und
hatten nicht Zeit genug, zu essen.« - Man fragt sich
unwillkürlich: Was soll denn diese »Aussendung«? Wozu
sind sie ausgesandt worden? Was war ihr Auftrag? Und warum freut er
sich nicht über ihre Wiederkehr, verfällt vielmehr in eine
seiner schweren Melancholien, die ihn zwingt »besonders an einen
wüsten Ort zu gehen«? Hier steckt - sagt man sich - doch
etwas dahinter, was der Evangelist nicht verstanden hat. Man wir
unwillkürlich an die Parallelstelle bei Matthäus erinnert,
wo auch die Jünger plötzlich »ausgesandt« werden.
Aber wir erfahren hier den Inhalt, und dieser ist nicht mehr, aber
auch nicht weniger als das, was schon der Täufer gepredigt
hatte: »Tuet Buße! Denn das Himmelreich ist nahe
herbeigekommen.« Neu aber ist hier die bestimmte Zeitangabe, und
diese lautet: »Ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu
Ende kommen, bis des Menschen Sohn kommt« (Matth. 10, 23). Kaum
sind diese für sein Leben entscheidenden Worte gefallen, als
auch schon Vers 24 wieder gänzlich abrupt lautet: »Der
Jünger ist nicht über seinem Meister, noch der Knecht
über dem Herrn...«, als plötzlich eine ganz allgemeine
Sentenz, nachdem es eben noch so besonderlich zuging. Der Auftrag an
die Jünger war also lediglich eine Mitteilung, die Prognose
eines Ereignisses, das unmittelbar bevorstand. Ihre Rückkehr
hatte Jesus gar nicht erwartet; denn schon auf dem Hinwege
mußte ja, nach seiner Voraussage, die Parusie des
Menschensohnes eingetreten sein; sie war daher für ihn eine
Enttäuschung, bewirkte Schwermut und tiefes Nachdenken, daher
das Verlangen, allein, getrennt vom Volke, in der Einsamkeit zu
leben. Die Rückkehr der Jünger zwang ihn aber zunächst
nur zu einer Verlängerung der Zeitangabe. Die Formel für
das Eintreten des Himmelreiches in die Geschichte lautete nunmehr:
»Wahrlich ich sage euch, es stehen etliche hier, die den Tod
nicht schmecken werden, bis daß sie des Menschen Sohn kommen
sehen in sein Reich« (Matth. 15, 28). Das war also eine
Konzession, erzwungen durch die unerwartete Rückkehr der
Jünger.
Es mußte ja aber einen inneren Grund haben, aus dem Jesus sich
so irren konnte, und hierüber ernsthaft nachzudenken, drang sich
ihm als Forderung au. An diesem Nachdenken »an einem wüsten
Ort« ist er zunächst gehindert worden durch das
herandrängende Volk, das eine Predigt hören wollte und sich
dabei in den Hunger verfing. So kam es zur Speisung der
Fünftausend. Bei Lukas nun unternimmt er eine zweite
»Aussendung der Siebzig« zur Kontrolle. Ihr aber fehlt die
Zeitangabe, und es scheint in ihr auch mehr gelegen zu haben als ein
bloßer Botendienst. Denn inzwischen hatte sich auch bei ihm der
Begriff des Reiches Gottes um einiges geändert; er hatte
schließlich doch nachgedacht; das wichtige Petrusbekenntnis vor
Caesarea Philippi war gefallen. Damit hatte sich sein
Selbstbewußtsein verschoben, er war auf das Leidensgeheimnis
gestoßen und anderes mehr. Als dann die Siebzig wiederkehrten
»mit Freuden«, da freute er sich mit, und obwohl darin die
bittere Erkenntnis enthalten war, daß er, als der Gesalbte des
Herrn, unerkannt werde leiden und sterben müssen, so war diese
Freude als eine der Erkenntnis doch echt und tief begründet.
»Ich preise dich Vater und Herr Himmels und der Erde, daß
du solches verborgen hast den Weisen und Klugen und hast es offenbart
den Unmündigen...« Und zu den Jüngern: »Selig
sind die Augen, die da sehen, was ihr sehet« (Luk. 10,
1ó24). Es ist die Freude der Erkenntnis, die auch dann
überschwenglich ist, wenn sie tragischen Inhalt hat.
Das hier über die Aussendungen Vorgetragene stammt im
wesentlichen aus den Ergebnissen jener hundertjährigen
Tätigkeit deutscher protestantischer Theologen, die das Problem
des Lebens Jesu auf die Hörner genommen haben; sie lösten
es in der Form der »eschatologischen Theorie«. Diese
gelehrte Leistung wiederum ist das wissenschaftliche Gegenspiel zu
den Versuchen, dieses Leben dem Volke nahe zu bringen, die sich in
einer zahllosen Menge romanhafter Leben-Jesu von Reimarus, dem
älteren Zeitgenossen Lessings, bis zu Gustav Frenssen, unserm
älteren Zeitgenossen, niederschlugen. Diese spielen sich alle in
Deutschland ab; denn auch Renan ist Schüler von David Friedrich
Strauß. Es ist ein plötzlich aufgekommenes Bedürfnis,
das auch wieder verschwinden muß, nachdem die eschatologische
Theorie ihr letztes, oder doch das vorletzte Wort gesprochen hat.
»Die Erforschung des Lebens Jesu war für die Theologie die
Schule der Wahrhaftigkeit« (SCHWEITZER). LUTHER hatte für
ein kontinuierlich verfolgbares Leben Jesu kein Bedürfnis.
»Die Evangelien halten in den Mirakeln und Taten Jesu keine
Ordnung, liegt auch nicht viel daran. Wenn ein Streit über die
heilige Schrift entsteht, und man kanns nicht vergleichen, so lasse
manís fahren« (zitiert nach Schweitzer, S. 13). Man
sieht: er bleibt auf dem Perikopen-Standpunkt. Nun darf man nicht
vergessen, daß jene bedeutenden Theologen, von denen die
Leben-Jesu-Forschung getragen ist, zumeist Ungläubige waren, die
aus dem Haß schrieben. »Weil sie haßten, sahen sie
am klarsten in der Geschichte. Sie haben die Forschung mehr
vorwärts gebracht, als alle anderen zusammen. Ohne das
rgernis, das sie gaben, wäre die Wissenschaft heute nicht,
wo sie ist« (SCHWEITZER, S. 4). Es war Protest gegen die Kirche,
der die Jesus-Leben zutage förderte: es mußte eben alles
anders gewesen sein als die Kirche es lehrte, und dann war es
richtig.
Allen Leben-Jesu nun, die je geschrieben wurden, ist der eine
Grundzug gemeinsam, daß in ihnen etwas ausgelassen wurde,
nämlich alles, was dem Zeitgeiste widersprach, in dem sie
entstanden. Dieser Geist nun war der des neunzehnten Jahrhunderts,
gegen den alle großen Geister desselben Zeitabschnittes einen
unerbittlichen Kampf geführt haben. Daher kam es, daß alle
diese Darstellungen auf die Ausklammerung des wirklichen Leitmotives
Jesu als »Ballast seines abergläubischen Zeitalters«
oder als »Produkte der Gemeindetheologie« hinausliefen. Es
lohnte sich daher eines Tages, dieses Ausgeklammerte zu untersuchen,
und es gelang, durch Wiedereinklammerung das Rätsel dieses
Lebens - jedenfalls seines biographischen Verlaufes zu lösen.
Aber man legte dabei das vorher Ausgeklammerte - mit Recht - auf
seine Schultern und nicht auf die der Gemeindetheologie.
So entspricht, um ein Beispiel zu nennen, der fraglos in einer
gewissen Schicht des Gemütes vorhandenen Seelengütigkeit
des deutschen Volkes, seiner Anhänglichkeit an Flur und Heimat,
verbunden mit grüblerischem Sinnen über das Wesen der Welt
eine ganze Reihe von Jesus-Romanen, die den Heiland als den
gütigen Kleine-Leute-Freund und Kinderliebhaber darstellt und
dies zum Wesen seines Charakters macht. »Seit den sechziger
Jahren steht die deutsche Leben-Jesu-Forschung unbewußt unter
dem Einfluß einer vornehmen modern-religiösen Heimatkunst
im weiteren Sinne« (SCHWEITZER, S. 342). Hier fällt einem
Gustav Frenssen ein in »Hilligenlei«. Man kann von
Glück sagen, daß in der grauenvollen Zeit, in der dasselbe
deutsche Gemüt aus einer anderen Schicht seines Wesens ein
tiefgehendes Interesse an Hexenverbrennungen zeigte und diese durch
ein System von Denunziationen förderte, kein Bedürfnis zu
einem Leben-Jesu vorlag. Ohne Zweifel lehrt ein Blick in die
Evangelien, daß jene Charakterzüge dem Herrn
eigentümlich waren; aber, wenn man sich etwa vorstellen will, er
läse solch einen Roman über sich, so schüttelte er
verwundert das heilige Haupt und sagte: »Das bin ich
nicht!« Die Gleichung geht nicht auf. Der theologische
Träger dieser Jesus-Auffassung ist Adolf Harnack, für den
Jesus ein Mensch ohne innere Kontraste war.
Heute aber wissen wir, daß gerade das Ausgeklammerte das
kontinuierliche Motiv seines Lebens gewesen ist und daß es nur
aus ihm verständlich wird. Denn eines ist doch klar: wenn sich
in einer Biographie zwei große Motive begegnen, die sich
widersprechen, so daß man das eine als Interpolation
ausklammern muß, so ist doch die Lösung die
überlegene, die es vermag, trotzdem beide aufrechtzuerhalten.
Wenn ich also die These aufstelle: dieser Jesus von Nazareth
gehört zu den wenigen, aber doch eben genügend zahlreichen
Propheten, Philosophen, Weisen, die die Menschenliebe, die
Gerechtigkeit, die Versöhnlichkeit, die Liebe zu den Armen und
Schwachen gepredigt haben und die dafür von den Machthabern, die
das Gegenteil wollten, verfolgt und getötet wurden; wenn ich
diese liberale Theologie vertrete, durch die Jesus in eine Reihe mit
dem Buddha, mit Pythagoras, Laotse und Gandhi zu stehen kommt, dann
muß ich freilich die ganze Eschatologie mit ihrem grausamen
Auserwählten-Geheimnis als fremden Ballast einer
abergläubischen Zeit beseitigen; denn man kann nicht
Humanität und diese welthintergründigen Vorgänge auf
einen Nenner bringen. Wenn ich aber umgekehrt in der Eschatologie den
Beherrscher seines Lebens sehe: dann kann ich sehr wohl
Menschenliebe, Erbarmen und Liebe zu den Schwachen als Merkmale
seines empirischen Charakters stehen lassen. Damit aber bliebe dann
der ganze Text erhalten und die eschatologische Deutung seines Lebens
hätte den Sieg davongetragen. Es bleibt dann nur noch die Frage
übrig, ob diese Eschatologie selber Wahrheitsgehalt hat oder
nicht; auch die, ob seine singuläre Person der Träger, sein
Tun und Leiden der objektive Vollzug eines reinen Ereignisses der
Natur war. Diese Frage, so glaube ich bisher auch bei Schweitzer
gelesen zu haben, beantwortet die eschatologische Schule nicht; denn
ihre Theologen sind ja bekanntlich überwiegend ungläubig.
Nach ihrer Meinung ist Jesus einer Lebenslüge zum Opfer
gefallen; damit aber sinkt seine religiöse Bedeutung auf ein
bescheidenes Maß herab. »Wir haben das unmittelbare
Empfinden, daß seine Persönlichkeit...etwas Großes
zu sagen hat und darum eine weitgehende Bereicherung (sic!) auch
unserer Religion (sic!) bedeutet.« (Schweitzer in der
Schlußbetrachtung Seite 634. Sperrung von mir): Das ist ebenso,
als wollte man sagen: Isaak Newton bedeutet eine »weitgehende
Bereicherung« unseres Wissens von der Schwerkraft. Oder gar
Seite 596: »Jesus vermag ebenso wenig das Fundament unserer
Ethik zu werden wie er das unserer Religion ist«. So zu denken,
ist natürlich Unglaube bei aller Verehrung.
Die Frage ist also die: worum dreht sich das Leben Jesu? Um die
gepredigte Menschenliebe und Friedfertigkeit oder um die
Verkündigung der Endereignisse? Der Sieg der eschatologischen
Schule in der Theologie liegt darin, daß sie den Grundcharakter
für das Leben Jesu konsequent in seine Lehre vom anbrechenden
Himmelreich verlegte und es von dorther zum ersten Male verstand. Die
Menschenliebe aber gehört in den empirischen Charakter Jesu von
Nazareth, der nicht dadurch, daß ihn »des Volkes
jammerte«, zum Sozialisten wird. - Über die ungläubige
protestantische Theologie hinaus aber, mit ihrem erstaunlichen
Erfolge, führt die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der
Eschatologie selber. War das Aberglauben, so wüßte ich
allerdings nicht, wie die Position des Christentumes in der Welt zu
halten wäre. Nun aber drängt sich die Frage auf: wie liegt
der Grund seines eignen Lebens zum Kerngehalt der Natur? Nur wenn man
hier auf eine bestimmte Antwort geben kann, nur dann hat die
weltbewegende Wissenschaft der Theologie Boden unter den
Füßen. Wenn nicht, so muß sie sehen, wo sie
unterkommt. Es ist nicht mehr viel Zeit zu verlieren.
3. DIE VIER TITEL JESU VON NAZARETH
Wenn es so wäre, daß den vier Evangelisten der Bericht
über das Leben und die Worte des Nazareners durch einen Engel
von Gott in die Feder diktiert worden ist - wenn es also
Verbalinspiration gäbe -, so stünden wir mit gefesselter
Vernunft daneben und unsere Kritik wäre Sünde. Da das aber
nicht so ist, so ist unser Denken voll aufgerufen, selbst auf die
Gefahr hin, daß wir uns irren, aber mit der verlockenden
Aussicht, daß wir schließlich etwas besser wissen als die
Evangelisten. Die Bibel ist ein redigiertes Buch, im Laufe eines
Jahrtausends entstanden, und auch die Kanonisierung jener vier
Evangelien ist Menschenwerk. Man hat in den Resten der apokryphen
Evangelien erstaunliche Worte Jesu gefunden und auch, was in
Papyrus-Fetzen aus ägyptischen Gräbern zu uns aufstieg,
gibt Kunde von dem verhältnismäßig engen Bezirk, den
die vier kanonischen Evangelien füllen. Damit soll nicht gesagt
sein, daß die Auswahl eine schlechte war. Sie ist sicherlich
sogar die beste, denn die Kirche muß wissen, was zu lesen
für das Seelenheil der Gläubigen gut ist. Nur die Wahrheit
fragt nicht danach; sie wagt sogar zunächst ihr eignes
Seelenheil im Vertrauen darauf, daß Wahrheit nie schaden
kann.
Es wäre wohl an der Zeit - und sie kommt vielleicht bald -, da
anstelle der säkular gebundenen Jesus-Romane das aus der ewigen
Giltigkeit heraus gesprochene Epos seines Lebens von einem
großen rechtgläubigen Homer zutage gefördert wird.
(Klopstock war das nicht.) Dann würden in ihm die vier Titel des
Herrn in kunstvoller Weise die Szenen beherrschen, und es würde
nicht gefrömmelt werden. Die Theologie ist mit ihnen noch nicht
zu Rande gekommen, ja sie hat wohl gar das Thema noch nicht gesehen.
Diese Titel aber sind folgende.
1. Sohn Davids
2. Sohn Gottes
3. Messias = Christus
4. Menschensohn
Von diesen sind zwei Geheimtitel, die gemäß dem Ablaufe
der eschatologischen Mission nicht verraten werden durften, es sein
denn, daß die Stunde geschlagen habe: »Sohn Gottes«
und »Messias = Christus« (wobei man ja weiß,
daß »Christus« die griechische Übersetzung von
»Messias« ist und der »Gesalbte« bedeutet).
Innerlich zusammengehörig und einander bedingend sind die Titel
»Sohn Gottes« und »Menschensohn«: denn er ist nur
das eine, wenn er das andere ist. »Menschensohn« ist daher
sozusagen der anthropologische und freie Ausdruck für den
dogmatischen und geheimen Titel »Sohn Gottes«. Er konnte
sich immer »Menschensohn« nennen, da niemand außer
ihm selber wußte, was das bedeutet. Der Titel »Sohn
Davids« dagegen ist völlig freigegeben, enthält
keinerlei Problematik und ist nur die Ehrenbezeichnung für einen
Angehörigen des Königsstammes, die auch andere trugen. Er
konnte überall passieren und schaltet aus der theologischen
Betrachtung aus.
Der Grund für die Geheimhaltung der Titel »Sohn
Gottes« und »Christus« aber ist in der
eschatologischen Lage, in der sich Jesus befand, selber gegeben. Denn
nach der Weissagung, auf die er stieß, mußte der Messias,
als den er sich begriff, vom Volke unerkannt leiden, sterben und
wieder auferstehen, so daß ein Verrat dieses Titels die ganze
Situation verdorben hätte. Für »Sohn Gottes«
kommt noch hinzu, daß die Entwicklung der jüdischen
Theologie, die unter pharisäischer Leitung stand, in diesem
Titel eine Gefährdung des Monotheismus sah. Der Begriff
»Messias« aber hatte sich bereits vom Persönlichen
befreit und sah in ihm mehr einen Zustand der kommenden Welt.
Infolgedessen finden wir, daß Jesus allemal, wenn man ihn
»erkannte« den Täter »bedräuete« und
ihn zum Schweigen zwang, sogar im engen Jüngerkreise vor
Cäsarea Philippi, als das Petrusbekenntnis fiel. Bleibt
übrig als dominierender Titel, der voller Rätselhaftigkeit
von außen und voller Klarheit von innen dasteht:
»Menschensohn« ((uios tou anthropou)). Es ist seine
eigentliche Selbstbezeichnung, die ihn selber klar orientierte und
die, er brauchte das Wort nur auszusprechen, ihm völlig sicher
zeigte, wo er stand und wer er war. Aber die Zuhörer hatten
stets das Nachsehen. Wenn man ihn unvermittelt fragte : »Wer ist
dieser Menschensohn...?«, so tat er, als hätte er nichts
gehört, und sprach von etwas anderem. Stellen aber ließ er
sich nicht.*
Auch die kritischen Theologen der hundert Jahre haben sich redlich
den Kopf über das rätselhafte Wort zerbrochen, sind beinahe
an seine Lösung gestoßen, haben sie aber doch nicht
zustande gebracht; als Fachgelehrte konnten sie nur innerhalb der
Bahnen ihrer Wissenschaft denken. Denn so förderlich Haß
und Unglaube auch für einen Teilausschnitt sein mögen: wenn
es ums Ganze geht, so gehört doch mehr dazu. Die Wichtigkeit
aber wurde meist richtig eingeschätzt; so hören wir etwa
CHR. HERMANN WEISSE sagen: »daß die Entscheidung über
das Wesen des Messianitätsbewußtseins Jesu in der
Erklärung der Selbstbezeichnung ÇMenschensohnë
liegt«. »Wir sind gewiß in unserm guten Rechte«,
sagt er fast prophetisch in der »Evangelienfrage« von 1856,
»wenn wir die Frage, welchen Sinn der Göttliche in dieses
Prädikat hat hineinlegen oder was er mit dem Namen Menschensohn
von sich hat aussagen wollen, als eine Lebensfrage für das
richtige Verständnis seiner Lehre (Sperrung von mir) und nicht
seiner Lehre nur, sondern auch des innersten Kernes oder Wesens
seiner Persönlichkeit betrachten« (zitiert nach SCHWEITZER
S. 138). Und so ist es auch: Man nehme dieses Wort und seinen noch
fraglichen Inhalt fort, und die ganze Christologie bricht zusammen.
Sie hat dann keinen subjektiven Pol und das »Sohn Gottes«
schwebt sinnlos in der Luft als Phantasma.
Wenn man aber wissen will, was er selber unter Menschensohn verstand,
ein Name, unter dessen Druck man ihn ständig erzitternd sich
vorstellen muß, so braucht man ihn nur einfach wörtlich zu
nehmen. Der Herkunft nach stammt das Wort bekanntlich von Daniel und
Henoch; seinen Sinn aber bei Jesus lautet: Sohn des
Menschengeschlechtes als Art. Nur so löst sich alles auf. Die
Natur ist weitergegangen und hat jenen seltsamen Akt der
Schöpfung des Edlen, der schon einige Tierarten traf, auch beim
Menschen vorgenommen, hier, wo es, scheintís, am
nötigsten war, und hat ihn noch einmal durch freie
Schöpfung überboten; was hier entstand, heißt
»Menschensohn«. Die anthropologische Aufgliederung
heißt also: sekundäre Rasse ó primäre Rasse
ó Menschensohn. Und wir können sogar feststellen - so
weit geht die Sicherheit -, daß dieser Akt sich wiederholt hat,
ja zur Zeit des Jesu selbst, so als experimentiere die Natur gerade
damals besonders lebhaft. Apollonios von Tyana, dessen Bild noch
Kaiser Alexander Severus in seinem Betgemach neben dem Jesu
aufgestellt haben soll, war eine solche, persönlich vollkommen
lautere Menschengestalt; er erregte als Wundertäter und
Weissager das größte Aufsehen in der hellenistischen Welt,
in seinem Gebaren etwa pythagoräische Züge tragend. In
seiner Biographie erinnert vieles an Szenen aus den Evangelien. Aber
trotzdem ist er nicht der Menschensohn; denn zu dessen Wesen und
Geheimnis gehört es, daß er nur einmal vorkommt, so als ob
sich die Schöpfungskraft einer ganzen Art in einem Individuum
ausgelassen hätte. Anders ausgedrückt: so als ob eine
platonische Idee bei ihrer Verwirklichung im Fleisch das principium
individuationis vergessen hätte. Stimmt damit nicht jenes
untrügliche Gefühl überein, daß wie uns Jesus
stets nur als einen Unfruchtbaren vorstellen können und
daß ja auch niemals der Gedanke aufgekommen ist, er könne
des Geschlechts teilhaftig sein? Kommt nicht sofort ein sicheres
Gefühl zu seinen Gunsten auf, wenn man neben ihn an Muhammed
denkt? Dabei hat das alles nicht das geringste mit Askese zu tun.
Jener Apollonios aber ist wahrscheinlich das Urbild zu dem, was Jesus
»falsche Propheten« nennt; aber die Falschheit liegt nicht
im Moralischen; er ist kein Betrüger wie Simon Magos; sie liegt
nur in der Unberufenheit.
Wenn die Natur bei einigen Tierarten gelegentlich das Phänomen
des Edlen in den Schöpfungsakt einmischte, so kommt uns das wie
ein spielendes Anbahnen vor; denn die Tiere liegen weit ab von ihrer
Achse. Die Sache wird aber brennend beim Menschen, wo sogar eine Not
Gottes im Spiele ist, und es leuchtet hell auf an der
Entzündungsstelle Jesus-Menschensohn; denn hier ist die Achse
erreicht. Und man sieht hier, daß auch »natura
naturans« nicht dasselbe ist wie Gott; man sollte sich dringend
hüten vor dem Begriff »Gott-Natur«, aus goethescher
Luft, der besonders die Deutschen des neunzehnten Jahrhunderts um den
Ertrag ihrer religiösen Urteilskraft gebracht hat. Über
Gott berichtet authentisch nur die Bibel.
Der Titel Menschensohn kreist den Geheimtitel Messias ein und
verdeckt ihn in einer Art List. »Menschensohn« stellt die
Beziehung Jesu zur ganzen Natur dar; so wie ich mit allen
übrigen Menschen zusammen »Mensch« bin und damit meine
Beziehung zur Natur darstelle, so ist Jesus allein
»Menschensohn« und stellt sie damit her.
»Messias« (= Christus) aber bezeichnet nur die zum Volke
Israel; es ist also, als ob ein kleiner Kreis in einen großen
eingezeichnet wäre. Jesus hat lange Zeit seiner
Erlöserrolle national-jüdisch aufgefaßt, wenn auch
nicht politisch gegen die Römer, sondern sakral für das
Volk Israel, das er vorübergehend für das allein
auserwählte hielt. Da aber der Titel Messias für ihn
verboten war, so trat »Menschensohn« dafür als Ersatz
ein; denn dieser konnte wegen seiner dogmatischen Unbelastung frei
passieren; niemand verstand ihn, und doch mußte er wegen seiner
Namenswirkung ständig ausgesprochen werden. Da er aber der
tiefere war und auch dem wirklichen Heilsplane entspricht, so trat
Jesus unter seinem Druck allmählich zu ihm über. Durch
diesen Namen wurde er zum Heilande der Welt und nicht zum Messias
Israels. Zugleich aber gingen die heiligen Schriften Israels in die
Befugnis des Christentums über; sie heißen nicht mehr
Gesetz und Propheten, sondern Altes Testament.
Jesus bezeichnet sich zwar meistens unmittelbar selbst als den
Menschensohn, so als ob das eine bereits entschiedene Sache sei, dann
aber auch versteht er darunter eine noch nicht inkarnierte
eschatologische Gestalt, die erst nach ihrem Erscheinen sich auf ihn
und niemand anderen niederläßt; so in allen
Verkündigungen vom Kommen des Menschensohnes, das mit dem des
Reiches Gottes zusammenfällt. Es bedarf also hier noch einer Art
Metamorphose, und die Szene, in der sich dies andeutungsweise
abspielt, wie das erste Bewegen der noch im Kokon eingesponnenen
Schmetterlingsflügel, ist jene »Verklärung«, in
der sein Leib zu leuchten beginnt und die ja auch in der Tat bei
Matthäus (17, 1ó13) und Markus (9, 1ó13) als
»metamorphosis« bezeichnet wir. Eines aber ist sicher: ist
er dieser Menschensohn (und nicht etwa einer jener falschen Propheten
vom Schlage des Apollonios), dann führt von diesem erlaubten
Titel der gerade Weg zu dem andern, streng verbotenen: ist er der
Menschensohn, den es nur im Singular gibt, so ist er damit auch
zugleich der Sohn Gottes, der sogar im Text als
»monogençs« bezeichnet wird. Das aber entscheidet
sich allein durch den Gehorsam. Er muß es also darauf ankommen
lassen, daß alles, was er in seiner menschlichen Natur denkt,
falsch ist; so die Lehre vom nahen Kommen des Reiches. Das begreift
er zum ersten Male, als die Jünger unerwarteter Weise
zurückkehren; und von hier an beginnt seine Passion. Die letzte
Hergabe eigenen Willens und volle Ergebung in den Willen Gottes - den
er immer noch nicht versteht - erfolgt in Gethsemane. Danach ist die
Bahn frei. Alles, was er nun tut, ist, seinen Opfertod
heraufzubeschwören, und das Stichwort, das hierzu nötig
ist, ist das erste offne Bekenntnis vor Kaiphas, daß er Gottes
Sohn sei. Damit ist sein Schicksal besiegelt.
Man darf nicht vergessen - was die Evangelisten taten -, daß
sich im Selbstbewußtsein Jesu ein schwerer Kampf um die Frage
»Wer bin ich eigentlich?« abgespielt haben muß. Denn
eines Tages mußte er ja entdeckt haben, daß seine Person
jene »doppelte Unendlichkeit« aufwies, die ihn zerspaltete.
Der einfachen Unendlichkeit der Person nach der Tiefe zu, so wie sie
jeder hat, gesellte sich bei ihm eine andere, die noch einmal
unendlich war, obgleich sich das mit dem Intellekte nicht fassen
läßt. Diese doppelte Gefügtheit seiner Person - die
später in der Zwei-Naturen-Lehre des Dogmas ihren Niederschlag
fand - enthielt sein eignes Ringen um seine Gottessohnschaft, von dem
sein melancholisches Gemüt erfüllt war. Niemand hat den
Heiland je lachen gesehen. Denn erlebnishaft bemerkte er, daß
seine mit doppelter Unendlichkeit ausgestattete Person identisch war
mit jener, die gesagt hatte: »Du sollst nicht töten«
und früher einmal »Es werde Licht!« Hierher
gehört das sonst rätselhafte Wort: »Ehe denn Abraham
war, bin ich« (Joh. 8, 58). Dies und dies allein heißt
»Gottes Sohn«. Niemals und bei keinem Menschen sonst hat
dieses Ringen stattgefunden. Die Evangelisten wissen nichts davon; es
muß aber geschehen sein; und nur bei Johannes, der es begriff,
finden wir die notwendige Verknüpfung dieser eingebornen
Gottessohnschaft mit dem singulären Menschensohn. -
Dies zu glauben, ist gewiß eine andere und eine bessere Sache,
als es zu wissen; die Philosophie kann nicht zum Glauben verhelfen:
diesen Sprung muß der einzelne selber tun. Und der erste, der
ihn völlig naiv tat, war jener unbekannte Soldat am Kreuz. Den
Jüngern dagegen ist in dieser Sache durchaus nicht zu trauen;
ihnen fehlt das Naive. Dieses wahrhaft göttlich zu nennende
Ringen um die Gottessohnschaft hat sein diabolisches Widerspiel in
der gewöhnlichen Menschenwelt. Wenn sich jemand zwei empirische
Charaktere zuschreibt, sich also erstens für Herrn X.Y.,
zweitens aber für den Kaiser von China hält und damit nicht
fertig wird, so nennt man diesen einen »Schizophrenen«.
Aber man sieht sofort den Unterschied: schizophren können
beliebig viele werden; zwei empirische Charaktere können sich
wer weiß wie oft verwechseln. Und die zwei Personen haben nur
je eine einfache Unendlichkeit, nie aber eine davon die doppelte. Den
Kampf Jesu aber konnte nur Einer bestehen; denn nur hier ist die
andere Person keine empirische. Selbst wenn der Schizophrene sich
eines Tages für den lieben Gott hält, so ist das auch nur
eine empirische Person. Indessen, man beachte wohl: der einzige, der
ihn während seines Lebens naiv erkennt und als »Sohn Gottes
des Höchsten« anredet, ist jener Dämonische am See der
Gergeneser, der von Jesus geheilt wird und dessen Teufel in die
Säue fahren.*
Wenn man diese Beziehung der Titel Jesu zueinander nicht kennt, so
begreift man auch sein Leben nicht. Und auch die um die
Enträtselung so verdiente eschatologische Schule kann es nicht
begreifen; denn sie hält die Eschatologie ja für
unglaubwürdig. Damit aber ist die Basis der christlichen
Religion zerstört. Ohne diese voll ernstgenommene Relation
»Menschensohn«ó»Sohn Gottes« ist das
Christentum unwahr, und Jesus hat nur »unsere Religion
bereichert«. Damit aber wird die Religion - was sie bei den
meisten Gebildeten ist - ein Fall von Kultur, ein Stück
Geistesgeschichte, eine Überzeugung, die man haben muß, um
ein gebildeter Mensch zu sein. Kurzum: sie kommt noch in die
aufsteigende Linie der Natur zu stehen, statt zu sein, was sie ist:
ihr Heilungsprozeß. Während aber die übrigen
Heilungen sich automatisch abspielen und jedes Lebewesen seine
heilenden Säfte zugleich mit der Schöpfung mitbekam - der
Baum das Harz, das Tier Blut und Lymphe -, steht der Mensch
zunächst verlassen da. Denn bei seiner Schöpfung war es
nicht mit rechten Dingen zugegangen.
4. DIE PROTOLOGISCHEN EREIGNISSE DES BUCHES GENESIS
Wer unbefangen und vorurteilsfrei die protologischen Kapitel des
Buches Genesis liest, der erhält sofort den Eindruck: hier
stammeln zwei verzückte Propheten durcheinander und reden
verworren vom Anfang der Dinge und von der Schöpfung des
Menschen. Es ist kein klarer Fluß eines großen
Prophetenberichtes, an den man sich sicher halten kann, sondern es
erinnert an die Perikopen-Stöße des Markusevangeliums, die
auch nicht zusammenstimmen wollen; nur, daß Markus selber schon
aus Berichten schöpft, jene dagegen aus der Natur und ihrem
Hintergrunde. Sie stehen aber nicht im Widerspruch zueinander,
sondern es ist, wie wenn in einem Duett von Bachs Weihnachtsoratorium
ein Baß und ein Sopran in zwei verschiedenen Textläufen,
die durcheinander zu schwirren scheinen, doch eben dasselbe Lied
singen. Es ist im Buche Genesis nur ein anderes, als man das meistens
glaubt.
Gott hat sich, so klingt es vernehmlich heraus, bei der Erschaffung
des Menschen stören lassen. Während ihm die Tier und
Pflanzenwelt sicher aus den Händen geht, muß er zweimal
ansetzen, nachdem er gesagt hat: »Lasset uns Menschen schaffen,
ein Bild, das uns gleich sei.« Er schafft einmal »nach
seinem Angesichte«, das andremal »aus einem
Erdenkloß« - also aus zwei gänzlich verschiedenen
Schöpfungsgründen. Und was daraus entsteht,
»Adam«, trägt diese beiden in sich, das heißt:
tiefste Bereitschaft für die kommende Absonderung von Gott. Der
Mensch ist also schon in seinem Schöpfungsgrund mißraten,
und jener Apfel der Eva ist wohl die Ursache, nicht aber der Grund
für den Abfall. Wegen dieser innersten Gefährdung wird Adam
auch nicht dem Walten der freien Natur ausgesetzt - er ist zu
anfällig -, sondern in einem Kunst-Park (paradeisos) unter
Schutz gestellt, damit er nicht so unmittelbar dem ausgesetzt ist,
der all dies Unheil im Schöpfungsakte verschuldet hat: der
satanischen Gegenmacht. Diese muß sich daher als Schlange in
den Garten Eden einschleichen, und ihr gelingt die Verführung.
Damit ist die bisher latente Krankheit der Sünde in den Zustand
der offnen Krise eingetreten, so wie der Apfel erst beim Fallen die
schon vorher gehemmt wirkende Schwerkraft sichtbar macht. In dieser
Krise befindet sich nunmehr die gesamte Menschheit; sie ist in
ständigem Fall.
Adam hat aber nicht sozusagen aus heiler Haut, aus Freiheit,
gesündigt - so etwas gibt es nicht -, sondern weil seine
Substanz durch den Störungsakt auf die Sünde hin
präformiert war. Hierfür aber trug Gott die Verantwortung,
denn er hat sich stören lassen. Kein Mensch kann etwas tun,
dessen Keim nicht in seinem angeborenen Charakter schlummert. Niemand
kann dichten, ohne Dichter zu sein, der Seiltänzer muß die
Beherrschung des Gleichgewichtes in sich tragen, und niemand kann
sündigen, ohne vorher Sünder zu sein. Was aber ist die
Sünde Adams? Er hat wissen wollen, »was Gut und Böse
ist«. Durch den Biß in den Apfel erfährt er also
nicht, daß es Gut und Böse gibt, sondern was es ist. Das
heißt also: die Überführung von Gut und Böse in
den Intellekt. So steht es in der Bibel. Wäre er nun, wie immer
behauptet wird, »nach dem Angesichte Gottes geschaffen« und
beginge die Sünde »aus Freiheit«: so wäre das
unsinnig, denn er verfügte dann ja über das göttliche
Wissen von Gut und Böse und bedurfte der Sünde nicht.
Wäre er umgekehrt nur »aus dem Erdenkloß«
geschaffen, so wäre im diese Frage gleichgiltig. Nun aber ist er
aus beidem geschaffen, hat eine korrupte Natur, und auf diese wirkt
der Apfel als zureichendes Motiv. Das Wissen von Gut und Böse,
das nun eintritt, ist ein Vernunftwissen, und das ist die beste Basis
dafür, um etwas für gut zu halten, was in Wahrheit
böse ist. Und wird Gott nicht ironisch, da er zu Adam spricht:
»Siehe, Adam ist geworden als unser einer und weiß, was
gut und böse ist: Nun aber, daß er nicht ausstrecke seine
Hand und breche auch von dem Baume des Lebens und esse und lebe
ewiglich« - so, als wollte er fortfahren: und da du
»weißt«, was gut und böse ist, so kannst du ja
auch gute Taten tun -, die du für gut hältst mit deinem
Wissen, die aber böse sind; gut zu sein aber vermagst du nicht,
denn das kannst du nicht ohne mich! - Hier wird der Fall Robespierre
präformiert. Der Satan aber hat das Spiel gewonnen; denn jetzt
geht es los: Der Mensch, der sich das »Gute« selber macht
über den Turmbau zu Babel bis in unsre Zeit.
Nach der Vertreibung aus dem Paradiese setzt die
Zerstörungsarbeit Satans unvermittelt ein, steigert sich und
treibt die Menschheit bis an den Rand jener Sintflut, die Gott mit
den Worten begleitet: »Denn es reuete ihn, daß er den
Menschen geschaffen hatte« (1. Mose, Kap. 6, Vers 6). Man
wundert sich auch darüber, daß auf einmal, ohne daß
man vorher etwas davon erfuhr, zwei Menschenarten sich mischend und
das ganze Geschlecht noch mehr verderbend, auftreten, nämlich
die »Kinder Gottes« und die »Töchter der
Menschen« (1. Mose 6, 2) - die doch von nichts anderem herkommen
können als von jenen beiden divergenten Schöpfungsakten und
in denen wir unschwer die beiden allogenen Rassen wiedererkennen.
Aber es nützt auch den Kindern Gottes nichts, daß in ihnen
der erste Schöpfungsakt vorherrscht: sie haben den satanischen
Schock der Störung mit durchgemacht und unterliegen der
Sünde Adams genau so wie die Töchter der Menschen. Das
ganze Menschengeschlecht befindet sich daher in einem ständigen
Höllensturz, nur hie und da lichthaft unterbrochen durch die
großen Kulturen, die ihn aber nicht abwenden können; denn
ständig ist die viel stärkere Gegenmacht Satans am Werkt,
der das schwächliche Gemüt des Menschen waffenlos
ausgeliefert ist.
Gegenüber diesem Schöpfungsbefunde der Menschennatur gibt
es nur zwei Möglichkeiten: ihre Vernichtung oder ihre
Erlösung. Die Vernichtung wird durch die Sintflut eingeleitet;
aber hier tritt als unüberschreitbare Grenze doch eben die
Familie des Noah auf, über die Gott nicht hinwegkam. Es ist so,
als ob er bei der Erschaffung des Menschen die Freiheit verloren habe
und nicht wieder zurückkönne. Die Beziehung Gottes zum
Menschen ist eine schicksalhafte auch für Gott. Soll man so weit
gehen zu sagen, was der Dichter OSKAR SCHIRMER in seinen
»Sätzen« ausgesprochen hat: »Jedes Fragment macht
seinen Schöpfer zum Fragmente?« Dann könnte Gott vom
Menschen nicht ablassen - es sei denn, er bliebe selber Fragment. Der
Gang der Bibel und ihrer latenten Heilsgeschichte zeigt, daß
Gott nicht vom Menschen abläßt. Nach dem Verlaufen der
Sintflut verspricht er feierlich, diesen Weg der Vernichtung nicht
mehr zu beschreiten. Bleibt nur der andere, um der satanischen
Gegenmacht Halt zu gebieten: der durch Erlösung.
In den christozentrischen Partien der Theologie, die im Laufe der
Jahrhunderte immer wieder aufgetreten und die den Ton auf den zweiten
Artikel des Apostolikums verlegen, kommt in die Gottesvorstellung
unvermeidlich ein Motiv der Minderung hinein. Das ist am extremsten
bei Markion von Sinope der Fall, der in der alten Kirche ein
Jahrhundert lang Einfluß ausgeübt hat. Bei ihm wir Gott
geradezu ein stümperhafter Demiurgos, der alles schlecht gemacht
hat und der daher auf das Dringendste der Erlösung durch den
»unbekannten Gott« Jesus Christus bedarf. Markion verwies,
gleich Schopenhauer, mit Hohn auf die Worte, die stereotyp
während des Sechstagewerkes wiederkehren »und er sahe,
daß es gut war«. Markion, der Asket war und die Materie
haßte, neigt seiner ganzen Geistesverfassung nach zur
Überspitzung. Aber es soll von ihm, so sagte mir ein
katholischer Geistlicher, ein Wort geben, das lautet:
Deus Creator in diminutione,
Deus Salvator in augmentatione.
»Gott, als Schöpfer, befindet sich im Zustande der
Minderung; Gott, der Erlöser in dem der Erhöhung«. Und
das klingt schon anders. Ich habe dieses tiefsinnige Wort in Harnacks
Markion-Ausgabe nicht gefunden; auch bei Tertullian, seinem Gegner,
suchte ich es vergeblich.* Es muß aber gefallen sein, denn
sonst wäre es nicht da; vielleicht lief es über die
mündliche Tradition. Es verdient, aufbewahrt zu bleiben, weil
es, entgegen dem eigentlichen Extremismus des Markion, gerade eben so
viel enthält als ertragen werden kann. Die Kirche freilich
ertrug es nicht, sondern sie erklärte Markion zum Häretiker
und stellte das volle Glaubensbekenntnis wieder her: »Ich glaube
an Gott den Allmächtigen Schöpfer Himmels und der
Erden.«
Aber man ist doch gezwungen, die protologischen Kapitel der Bibel so
zu lesen, wie jener gemilderte Markion-Spruch es anweist. Denn das
Dogma ist nur Glaubensnorm, nicht der Glaube selber; zudem ist es nur
im Raume der Kirche wahr und nur als Bekenntnis, nicht aber als
Indikativ und assertorisches Urteil außer ihm; sein
asymptotischer Charakter bricht immer wieder durch, sowie man es
anfaßt. Stelle ich die Frage, ob und wieso Gott allmächtig
ist, so gerate ich in einen unheilvollen Widerspruch, der bis zu
Gottes Ohnmacht führt. Das Stammeln gottverzückter
Propheten wiegt nun einmal schwerer, als der in ruhigen Sesseln und
abgemilderter Frömmigkeit durchdachte Gottescharakter. Der klare
Urtext der Bibel spricht eindeutig gegen Allmacht und Allwissenheit
Gottes - so ohnehin -; denn ein solcher läßt sich nicht
mitten im wichtigsten Schöpfungsakte stören und bereut
nicht, was er getan hat. Aber der Anruf Gottes als des
Allmächtigen und Allwissenden vom Gebete her bleibt trotzdem
vollgiltig erhalten. Sowie ich dagegen den bloßen Indikativ
ausspreche »Gott ist allmächtig« und ihn
außerhalb des Glaubens und außerhalb des Gebetes zu
meiner religiösen Überzeugung machen will, geht alles
verloren, und unversehens gerät man gar in Lästerung. So
ist der Glaube nun einmal beschaffen. Die geringste Mitbeteiligung
syllogistischer Verfahren zerstört alles. Denn wenn ich aus dem
Satze: »Gott ist allmächtig« die logische Folgerung
ziehe: also kann er auch machen, daß eines Tages die
Winkelsumme im planimetrischen Dreieck größer ist als zwei
Rechte - so sieht man, wohin man damit kommt. Und ich brauche nur
Gott zu definieren als das »vollkommenste Wesen«,
Çalsoë...und ich stehe mitten in dem famosen
ontologischen Gottesbeweis von Anselmus von Canterbury, der heimlich
das Sein zu einem der Merkmale der Vollkommenheit macht. Gott ist
allmächtig, also kann er machen, daß morgens die Sonne am
Himmel stehen bleibt. Die Sonne aber ist auch im Tale von Gibeon
weitergelaufen trotz des Josua Gebet. Denn die Natur bricht niemals
ihr Gesetz. Wird aber im Glauben gesprochen »Gott der
Allmächtige«, so bleibt das trotzdem wahr, und jeder
weiß auch, was es zu bedeuten hat.
Zu sagen, die Naturgesetze könnten aufgehoben werden, ist genau
dasselbe, als wollte man sagen: der von Gott geschaffene Esel
könne morgen ein Kaninchen sein. So aber sieht die syllogistisch
erschlichene Allmacht aus, und es gibt Menschen, die sie für
eine besonders hohe Art von Frömmigkeit halten. Das Buch Genesis
berichtet stets nur von der Erschaffung einzelner Dinge, der
Gestirne, des Lichtes, der Pflanzen und Tiere, aber es verschweigt
das Gesetz, das sie unverletzlich verbindet. Das aber ist
mitgeschaffen. Denkt man darüber nach, so steht Gott in voller
Ohnmacht da. Denn als er der natura naturans Vollmacht gab,
entäußerte er sich des eignen Eingriffes und nur, weil er
das tat, konnte der Psalmist zu seinem Ruhme singen:
»Herr Gott, wie sind Deine Werke so groß
und viel.
Du hast sie alle weislich geordnet,
Und die Erde ist voll Deiner Güter!«
Die Sonne also ist weitergelaufen im Tale Gibeon und hat nicht
eine Sekunde später den Horizont erreicht, als es der weislichen
Ordnung entspricht. Diese aber ist den Dingen immanent und
unbrechbar; nur der Schöpfungsakt selber ist transzendent und
geschieht aus Freiheit.*
Dennoch ist ein Spielraum für das Wunder frei, ja, die
Unbrechbarkeit der Naturgesetze kann sich in gewissen Lagen nur durch
ein Wunder manifestieren. Wenn Jesus zum Gichtbrüchigen sagt:
»Deine Sünden sind dir vergeben«, und dieser in
Wirkung dieses Wortes aufsteht und wandelt: so ist das ein Wunder,
das im Leben Jesu gar nicht ausbleiben konnte und das genau
wörtlich und nicht anders so geschehen ist, wie es von den
Synoptikern berichtet wir. Denn nachdem das Wort gefallen war,
daß die Sünden »aufgehoben« sind ((apheontai)),
wäre es ein Wunder gewesen, wenn der Kranke nicht aufgestanden
wäre. Jesus hat mit diesem Wort genau die Stelle berührt,
an der die metaphysische Krankheit der Erbsünde und die
empirische ineinandergewoben sind. Diese Verwachsung hat er mit
seinem Wort gelöst und damit die Krankheit aus den Angeln
gehoben. Alle Wunder Jesu hätten auch ausbleiben können -
dieses nicht; denn es trifft genau den Kern der Religion. So kann,
man sieht es, der Streit, »ob es Wunder gibt«, zu einem
bloßen Streit um Worte werden. Wäre Orestes Jesus
begegnet: er hätte zu ihm genau dasselbe gesagt, und die
Erinnyen wären für immer verschwunden. Denn die Natur
bricht niemals ihr Gesetz. »Vergebung der Sünde« aber
und Abheilung der Krankheit sind innerlich verwandte Prozesse; kein
Wunder also, daß es Heilungswunder gibt. Freilich muß das
Wort »Deine Sünden sind dir vergeben« auch die
Wahrheit aushalten; sie müssen wirklich aufgehoben sein. Das
aber kann nicht jeder und nicht jedes Wort; das Wort Gottes aber
immer. Und Jesus läßt sogar die Gelegenheit nicht
vorübergehen, die umstehenden Pharisäer auf das
Fragwürdige der Sache hinzuweisen; denn er sagt: »Was ist
leichter zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben! oder: Stehe
auf und wandle?« Daß aber Krankheit Wirkung der Sünde
ist, steht außer Zweifel. Den archimedischen Punkt freilich zu
finden, aus dem heraus beides gemeinsam aufgehoben werden kann, das
ist die Kunst der großen Wundertäter. Andere Wunder Jesu,
die berichtet werden, sind unglaubwürdig, so das auf der
Hochzeit zu Kana. Er tat so etwas auch ungern. Dagegen halten die
Totenerweckungen stand. Und ich glaube auch an die eigne Auferstehung
Jesu - so oder so -, nur will ich nicht verraten, weshalb ich das
tue. Ob er auf dem Meere gewandelt ist, weiß ich nicht, tut
auch nicht not zu wissen. All das kann ebensogut auch nicht geschehen
sein; die großen Heilungswunder aber nach dem Muster des
Gichtbrüchigen tragen den Stempel der Notwendigkeit, -
nämlich der Religion selber.
Nach alledem - und hier kommt das erste Wetterleuchten des
Heilsplanes auf - rührte Gott ein Verhängnis an, und zwar
sein eignes, als er zu Adam und Eva sprach: »Seid fruchtbar und
mehret euch!« Mit diesem Wort war die Liebe in der Welt. Genau
so aber, wie mit den Gestirnen die Schwere mit gesetzt ist samt ihrem
unfehlbaren Gesetz, genau so auch ist durch die Liebe, da sie nun
einmal da ist, deren Gesetz mit gesetzt und transzendental gesichert.
Das aber reicht in die Tiefe der Natur an den Rand ihrer reinen
Ereignisse. In dieses Gesetz ist Gott mit einbezogen, er konnte nicht
mehr vom Menschen los, gerade weil die Schöpfung mißlungen
war. Aber nur diese Kraft und keine andre war imstande, der
herrschenden Satansmacht etwas Profundes entgegenzusetzen, eine
Schwelle, über die ihr Gebieter nicht hinwegkann.
Der Schöpfungsbericht des Buches Genesis pflegt mit den Augen
des naiven Realismus gelesen zu werden, in dessen Geiste er in der
Tat auch verfaßt ist. Es klingt so, als ob die Dinge, die hier
einzeln nebeneinander geschaffen werden, Dinge an sich selber sind.
Indem aber Gott die Gestirne schuf, sage er heimlich zu ihnen
»Beweget euch!« Denn sie bewegen sich ja. Indem er das aber
sagte, meinte er »Fallet!« und damit »Seid
schwer!«. Denn alles Bewegen der Gestirne ist gehemmtes Fallen
durch die Schwere. Das Gravitationsgesetz aber, das damit in Kraft
tritt, enthält Elemente, die mit Notwendigkeit von einem
erkennenden Subjekt gedacht werden müssen: die Materie und ihre
Prädikabilien, Raum und Zeit sowie die geometrischen Formeln,
nach denen sich die Stärke der Schwere im Vergleich zur
Entfernung regelt. Damit aber ist der subjektive Pol der Naturachse
gesetzt. Denn Mond und Sterne können sein oder nicht sein (das
ist »prawda«); schwer sein aber und nach den Gesetzen der
Schwere sich bewegen, das müssen sie notwendig
(»istina«). Und als Gott sprach: »Es werde
Licht!«, schuf er das Auge. Als Gott aber zu Adam und Eva
sprach: »Seid fruchtbar und mehret euch!«, da holte er
seine eigne Natur mit herauf, und als diese im Eros da war - der auch
nach klassischer Überlieferung der älteste Gott ist -, da
war auch dessen transzendentaler Charakter da, der mit Notwendigkeit
immer auf die Person geht. Denn die Liebe sitzt nicht in der Spitze
des Fleisches als ein Lustreiz auf, sondern sie lagert im subjektiven
Pol der Achse der Natur. So schuf Gott in Wirklichkeit eine Welt, die
Erscheinung ist und transparent, obwohl die Sprache der Bibel so
klingt, als wäre von Dingen an sich die Rede. Wenn man diesem
naiven Realismus traut, so entsteht Widerspruch auf Widerspruch, und
daher datieren auch alle Angriffe der Aufklärung. Und obwohl
Gottes Allmacht durch das von ihm selbst geschaffene Gesetz zugleich
Ohnmacht wird, so ist er doch um des Wortes selber willen der
allmächtige Schöpfer Himmels und der Erden.
Auf die Liebe aber, nachdem sie einmal in die Schöpfung
eingesetzt ist, hat die satanische Gegenmacht es besonders abgesehen.
Denn nichts sichert sie davor, in Haß umzuschlagen und die Welt
in Flammen und Untergang zu versetzen. Da die Menschen ihr ausgesetzt
sind, so muß dieser allein zu Erlösung bereiten Macht
etwas geschehen, das dem Verfall an den Satan eine
unübersteigbare Schranke setzt.
*
Der Schöpfungsbericht des Buches Genesis gilt allgemein als die
vollkommenste Darstellung von den Urszenen der Welt. Allein es gibt
doch eine Ergänzung gleichen Alters, in der zwei Themen
deutlicher herauskommen als dort, nämlich das der Liebe und das
von der Achse der Natur. Es ist der Schöpfungsbericht des
Rig-Veda (in der Übersetzung von PAUL DEUSSEN). Ich führe
ihn hier an.
Damals war nicht das Nichtsein, noch das Sein.
Kein Luftstrom war, kein Himmel drüber her.
ó
Wer hielt in Hut die Welt; wer schloß sie ein?
Wo war der tiefe Abgrund, wo das Meer?
Nicht Tod war damals noch Unsterblichkeit,
Nicht war die Nacht, der Tag nicht offenbar.
ó
Es hauchte windlos in Ursprünglichkeit
Das Eine, außer dem kein andres war.
Von Dunkel war die ganze Welt bedeckt,
Ein Ozean ohne Licht, in Nacht verloren; ó
Da ward, was in der Schale war versteckt,
Das Eine durch der Glutpein Kraft geboren.
Aus diesem ging hervor zuerst entstanden,
Als der Erkenntnis Samenkeim: die Liebe; ó
Des Daseins Wurzelung im Nichtsein fanden
Die Weisen forschend in des Herzens Triebe.
Als quer hindurch sie ihre Meßschnur
legten,
Was war da unterhalb? Und was war oben? ó
Keimträger waren, Kräfte, die sich regten,
Selbstsetzung drunten, Angespanntheit droben.
Doch, wem ist auszuforschen je gelungen,
Wer hat, woher die Schöpfung stammt, vernommen?
Die Götter sind diesseits von ihr entsprungen!
Wer sagt es also, wo sie hergekommen? ó
Er, der die Schöpfung hat hervorgebracht,
Der auf sie schaut im höchsten Himmelslicht,
Der sie gemacht hat oder nicht gemacht,
Der weiß es! - oder weiß auch er es
nicht...?
»Als quer hindurch sie ihre Meßschnur legten« -
das scheint mir wie die Achse der Natur zu klingen. Tausend Jahre vor
Christi Geburt und etwa gleichzeitig mit den stammelnden Propheten
des Buches Genesis!
5. DER HEBRERBRIEF ÜBER DIE ERSCHEINUNG CHRISTI
Frage ich nach dem Sinn der Welt als Ganzem, außerhalb der
Religion, so kann mir niemand diese Frage beantworten. Die einen
sagen, er sei die Vervollkommnung des Menschengeschlechtes - aber da
wird eine neue Unbekannte eingeführt: was heißt
»Vervollkommnung«? Die andern sagen: das Leben ist um
seiner selbst willen und durch Zufall da, wie es der Darwinismus tut:
aber das ist die Negation von »Sinn«; wieder andere: die
Welt sollte nicht dasein, denn sie ist ihrem Wesen nach Leid. Dieser
Standpunkt des Pessimismus aber übersieht, daß Schmerz,
Leid, Unlust, auch wenn sie noch so tief gehen, keine Tiefendimension
haben; diese kommt nur der Freude zu; es wird also mit zweierlei
Maß gemessen. Kurzum: es gibt, wenn man die Religion
ausläßt, keine Möglichkeit, von einem Sinn oder Wert
der Welt giltig zu sprechen.
Die Lage verändert sich aber von Grund aus, wenn ich die
Religion in die Welt als deren wesentlichen Bestandteil einbeziehe.
Dann gehört sie zu ihr, wie das Wachstum zur Pflanze. Dann darf
sie aber auch keine modenhaft wechselnde Affäre des
»menschlichen Geistes« sein - den es nicht gibt; auch nicht
des menschlichen Herzens, das mit zu den Schildbürgereien
gehört, sondern der ständig wirksame Heilungsprozeß
der Natur selber. Wer will die Religion retten vor jenen zielsicher
geführten Angriffen, die schließlich in der so
überzeugenden Parole münden »Opium« fürs
Volk? Niemand kann das. Unangreifbar aber wird ihr Grundbestand, wenn
man sich zu jenem vorerst lästerlich klingenden Satze
entschließt: daß die Heilung der tierischen Wunde und das
Heil der menschlichen Seele derselbe Vorgang sind; er führt aber
in Wirklichkeit zur Apotheose der Religion. Sie wird reines Ereignis
der Natur: und damit hört allerdings der menschliche Geist und
das menschliche Herz auf, eine bloße Krähwinkelei zu
sein.
Ich kann den gewöhnlichen Heilungsvorgang an der tierischen und
pflanzlichen Wunde weder verstehen noch begreifen, wenn ich den
Einzel-Organismus, den ich vor mir habe, nicht als
zweckmäßig ablaufend betrachte. Jeder Biologe und jeder
Arzt, er mag so ungläubig und so aufgeklärt sein, wie sein
Widerspruchsgeist ihm befiehlt: jeder wendet, ohne es zu wissen, die
von Kant entdeckte teleologische Urteilskraft an, sonst kommt er nie
zu einem Ergebnis, und alles, was er redet, geht fehl. Denn die
teleologische Urteilskraft ist a priori und transzendental,
trägt also den Stempel der Notwendigkeit. Ist man frei von
Ressentiment gegen die Kirche, wie es GOETHE war, so bricht man in
Bewunderung aus und spricht von »Gott-Natur«. Dieses Wort
aber, das so viel Begeisterung unter der deutschen Halbbildung
hervorgerufen hat, bezieht sich auf die heilen Organismen. Goethe
mochte das Kranke nicht; denn er war selber ein schwerer Hypochonder
und Melancholiker. Aber es steckt in ihm jener Enthusiasmus, der
jeden ergreift, wenn er - als Nichtdarwinist - auf den archetypischen
Grund der erscheinenden Gestalten gestoßen ist. Keineswegs aber
ist mit jenem Worte gesagt, daß es zur Erklärung der
Naturgebilde eines Gottes im Sinne der Bibel bedarf. Den feinen
Unterschied, der doch später so aufrührend wurde, hat schon
ARISTOTELES gewittert, als er sagte: »Dämonisch ist die
Natur, nicht göttlich.« Die platonischen Ideen aber sind
((daimones)) und das meinte GOETHE mit »Gott-Natur«.
Nun sind aber die Organismen nicht heil, sondern jeder wird im
Verlaufe seines Lebens der Verwundung ausgesetzt, sei es, daß
das Eichenblatt von der Gallwespe gestochen wird - und sich wehrt -
oder der Hirsch, vom Wolf gebissen, sich das Blut leckt; oder
daß Orestes glaubt, seine Mutter töten zu dürfen und
hinterher alle Götterkulte frequentiert: vielmehr »alle
Kreatur ängstigt sich noch immerdar« - das hatten von
altersher alle Mysterienkulte gesagt.
Da aber Heilung vorkommt und die ganze Natur mit dem Menschen
durchzieht, so können die Archetypen der Naturgebilde nicht
unverbunden nebeneinanderliegen, sondern müssen eine gemeinsame
Basis haben. Diese nannte die neuplatonische Philosophie - wenn auch
mit schwankender Sicherheit - den Logos. Mit diesem schwerwiegenden
Wort aber, »durch das alle Dinge gemacht sind«, ist gesagt,
daß auch die Welt als Ganzes der Zweckmäßigkeit
unterliegt, daß sie einen heilsgeschichtlichen Sinn hat. Es ist
nun die Tat des johannëischen Geistes, gesagt zu haben,
daß dieser Logos einmal und zu bestimmter Stunde »Fleisch
geworden« sei.
Das ist eine ungeheuerliche Behauptung, die nicht so ohne weiteres
hingenommen werden kann, sondern an der die Erkenntnis
herausgefordert wird, ihre höchste Probe zu bestehen. - Gott war
es nicht gelungen, Adam nach seinem Ebenbilde zu schaffen; das geht
so weit, daß er nach dem Fall sogar dieses
Schöpfungsmerkmal an ihm - das ja immerhin auch da war -
verleugnet und ihn darauf verweist, daß er ja aus Erde gemacht
sei. »Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden«, so
endet der Fluch Gottes auf sein Geschöpf (1. Mose 3, 19). Kurz
darauf aber hören wir den anderen Propheten, wie in einem
Krampfe reden: »Da Gott den Menschen schuf, machte er ihn nach
dem Gleichnis Gottes« (1. Mose 5, 1). Wer will das alles
sinnvoll vereinigen? Der Sinn, Logos, kann nur in der geheimen
Teleologie der ganzen Natur gefunden werden, wenn man ihren
Heilungsprozeß in sie einbezieht. Es gibt eine objektive
Heilsordnung der Natur aus Liebe, das ist die Verkündigung des
Johannes. Denn die Bindung Gottes an den Menschen war schicksalhaft
geworden - so wie es nur in der Liebe vorkommt -, aber auch des
Menschen an Gott, falls er nicht auf Erlösung verzichten will.
So aber, wie die bloße Schöpfung verlaufen war und weiter
läuft unter ständiger Bedrohung durch die meist siegreiche
satanische Gegenmacht, so konnte es nicht weitergehen. Wie aber, wenn
oberhalb des Menschen sich Schöpfungsakte vollzögen, deren
einer noch außerdem ein Sendungsakt ist? Und wenn in dieser
Sendung das Fleischwerden des unverfälschten Ebenbildes doch
gelungen wäre? Das aber ist es, was Jesus von Nazareth eines
Tages in sich entdeckte und was er mit dem offenen Geheimnamen des
Menschensohnes ohne Unterlaß nannte. Niemand aber verstand ihn.
Der Verfasser des Hebräerbriefes kommentiert die Substanz
Christi mit den alles sagenden Worten: er sei »der Abglanz,
((apaugisma)), von Gottes Herrlichkeit und das Ebenbild seines
Wesens, ((charakthr ths upostaseos autou))« (Hebr. 1, 3). Also
keine Mischgestalt aus Ebenbild und Erdenkloß, sondern reines
Ebenbild und Fleisch geworden. Das ist der geglückte
Zusammenfluß von Schöpfungsakt und Sendungsakt in der
Person Jesu, der zugleich Menschensohn und Sohn Gottes ist. Daß
so etwas einmal kommen würde, drückt sich in der
allgemeinen Erlösungserwartung aus, die, damals gehäuft,
sich aller Völker bemächtigte. Sie spitzt sich,
astrologisch deutlich betont, in Richtung auf Galiläa zu und
ließ auch, was die Zeit angeht, keinen Spielraum offen. Daher
das pünktliche Eintreffen der Magier aus dem Morgenlande.
*
Die Kirche hat alle Einschränkungen der Allmacht und er Weisheit
Gottes im Dogma abgelehnt. Das ist ihr gutes Recht; denn sie ist dazu
da, die Religion dem Volke zu sichern, und darum bindet sie sie, so
wie die Natur das Wasser im Granit. Es wird daher niemals gelingen,
selbst auf den klaren Text der Bibel hin, sie davon abzubringen. Denn
noch niemals hat die Philosophie Einfluß auf das Dogma gehabt
und kann es auch nicht, da ihre Wurzeln verschieden sind. Die
Philosophie redet auch nicht gern von Gott und den protologischen
Dingen; es ist ihr dabei zumute wie den Söhnen Noahs, da sie des
schlafenden Vaters Scham bloßliegen sahen.
6. JOHANNES
Das Evangelium des Lukas zeichnet sich gegenüber den beiden
Urevangelien durch eine reiche Übermalung aus, die ihm seinen
besonderen Reiz verleiht; aber die synoptische Verwirrung wird in ihm
nur noch größer. Wären diese drei ersten Evangelien
Biographien, so müßte man als erstes fragen: wie kann ein
Mensch, der ihr Träger ist, ein solches Leben überhaupt
aushalten? Denn es muß ja doch eine unerträgliche Qual
gewesen sein, daß die Parusie nicht eintreffen wollte, obwohl
sein ganzes messianisches Selbstbewußtsein auf ihr ruhte.
Konnte dieses Leben überhaupt mit rechten Dingen zugehen? Aber
die synoptischen Evangelien sind keine Biographien, sondern
Perikopen-Bündel und Gerüchte; der rote Faden muß
irgendwo im Hintergrunde verlaufen.
Bei Lukas kommt nun noch ein ganz neues Motiv hinzu, das die andern
nicht kennen und das die Lage weiter versteift. Jesus wird (Lk. 17,
20) von den Pharisäern scharf in die Enge getrieben mit der
präzisen Frage, die kein Ausweichen duldet: »Wann kommt das
Reich Gottes?« Und er antwortet überraschend und neuartig
und völlig widersprechend seinem sonstigen Tun: »Das Reich
Gottes komm nicht mit äußerlichen Gebärden...sondern
es ist inwendig in euch«. Dazu freilich braucht man nicht die
zwölf Jünger auszusenden mit den eiligen Worten: »Ihr
werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen...« Und
es ist auch nur wie ein kurzer Blitz in seinem Gemüte, dieses
Wort vom »Himmelreich inwendig in euch«; denn wenige Verse
später bricht es in eschatologischem Hochstil los, dringender
denn je: »Und wie es geschah zu den Zeiten Noahs, so wirds auch
geschehen in den Tagen des Menschensohns. Sie aßen, sie
tranken, sie freieten, bis auf den Tag, da Noah in die Arche ging,
und kam die Sintflut und brachte sie alle um« usw. usw. (LK. 17,
26ff.). Wie ist das durchzuhalten? Jesu Leben ist, daran kann gar
nicht gezweifelt werden, durchweg auf Endzeit-Ereignisse gestimmt.
Aber das Wort vom »Himmelreich in uns« ist gefallen, und es
würde die ganze Eschatologie mit einem Schlage zunichte machen,
wenn es so gemeint gewesen wäre, wie die liberale Theologie, die
Apologetik des bürgerlichen Christentums, es haben will. Es ist
wirklich gefallen, und es ist wirklich ernst gemeint; Lukas hat es
nur nicht verstanden. Und bei Matthäus geht es ja ähnlich
her: da haben wir zunächst die großen Kapitel der
Bergpredigt, die man als eine Verkündigung des innerlich
gedachten Reiches Gottes verstehen muß; dann folgen eine Reihe
Wunderheilungen, und schließlich kommt es doch zu jener
Aussendung der Zwölf (Matth. 10, 22), die nur eschatologisch
verstanden werden kann.
Das Himmelreich ist ja aber kein bloßes Gewitter, das einfach
niedergeht, es ereignet sich nicht neben den empirischen
Unglücksfällen: es hat vielmehr seine Wurzel im
Welthintergrunde und, um Erfahrung zu werden, bedarf es des
subjektiven Poles. Denn nichts ist Erfahrung, was nicht beides hat.
»Himmelreich in uns« heißt also das, was über
die bloße Buße hinaus noch nötig ist, um für
die frei vom Objekte her herandrängenden uranischen Kräfte
Empfangsorgan zu sein und Erfahrung zu werden. Denn auch diese
Erfahrung ist echt und vollgiltig, das heißt aber, sie ist
Erscheinung. Wie die Lichtätherwellen solange im dunklen
Weltraum sich vergeudeten, als die Lebewesen an ihrem Kopfe nur
nervös empfindliche Warzen trugen, aber Licht wurden, als diese
sich zu Augen bildeten: genau so vergeuden sich die
Himmelreichskräfte nutzlos, ja gar zerstörend, ehe nicht
das »Himmelreich in uns« da ist, der subjektive Pol, durch
den das Reich selbst Erfahrung wird. So aber, im transzendentalen
Sinne, besteht das Lukaswort zu Recht, und es ist der wichtigste Satz
im ganzen Evangelium; nicht aber so, daß das Himmelreich
überhaupt bloß »in uns« sei, wie das
Bürgertum glaubt, das sich die Sache gemütlich machen will.
Denn damit wäre die übrige Natur von der Erlösung
ausgeschlossen; das aber hat nie ein Christ geglaubt. Jesus aber hat
richtig gehört.
Ganz im Vordergrunde liegt die Lehre des Herrn von der
»Drangsal«, die dem Anbruch des Reiches vorausgeht. Sie
trägt den griechischen Namen »peirasmós« und
kann, von innen gesehen, auch mit »Versuchung«
übersetzt werden. Sie zu erleiden, bedarf es keiner Neubildung
im subjektiven Pol; hier regnet es Pech und Schwefel vom Himmel, die
Erde tut Klüfte auf, das Meer rauscht über, und die Sonne
verfinstert sich, die Menschen verüben Krieg und Mord aneinander
und verraten sich; der Vater ist nicht vor dem Sohne, der Bruder
nicht vor der Schwester, der Bräutigam vor der Braut nicht
sicher: jeder kann der Denunziant des andern sein, und die Herrschaft
der satanischen Gegenmacht läßt keinen Zweifel zu. Das ist
Peirasmós; und man kann daher sowohl beten »und
führe uns nicht in Versuchung«, wie auch - eschatologisch -
»und führe uns nicht in die Drangsal«. Zeiten der
Drangsal gibt es viele, und auch Euripides hat sie gehört, als
er den Orestes in der taurischen Iphigenie sagen läßt:
»Ein großes Wirrnis ist im
Götterreich
Und bei den Menschen...« (572).
Sie kehren periodenhaft wieder; aber damit ist nicht gesagt,
daß hinter ihnen das Reich Gottes kommt. Sie können sich
ebensogut wieder verlaufen; aber es kann auch sein, daß sie
jenseits eines bestimmten limes in das Reich des Satans münden.
Das hängt davon ab, was der Mensch anbetet. - Jesus aber stand
daneben mit unruhigem Fuße, sagte, dieser Peirasmós sei
der letzte, und jetzt käme das Reich Gottes, gleich jetzt,
diesen Herbst, spätestens, ehe der erste Heilige stirbt; - aber
es kam nicht. Bleibt hier bloß noch ein Träumender
übrig, der die Welt nicht kannte, oder doch noch etwas anderes;
vielleicht gar Alles?
Man kennt die ausgesprochene Geringschätzung, mit der die
protestantische Bibelkritik das Johannes-Evangelium gegenüber
den Synoptikern behandelt. Diese allein seien historisch
beachtenswert, in ihnen sei das wahre Leben Jesu enthalten,
während »Johannes« eine Art Dichtung sei oder
Apologetik, wenn nicht Schlimmeres; natürlich sei es auch
»unecht« und stamme von Presbyter Johannes oder sonst
jemandem, keinesfalls aber vom Jünger. Es liegt hier aber mehr
eine unbewußte Verschwörerstimmung gegen Johannes, den
Autor, vor, ähnlich wie die gegen Homer seinerzeit; denn die
philologischen Einwände reichen nicht aus. Um aber eine solche
Frage zu entscheiden, muß man auch hören können; und
die Stimme des Jüngers tönt deutlich genug. Es ist nur ein
Nebenbeweis, wenn man auf die merkwürdige Detail-Kenntnis an
ganz unwesentlicher Stelle hinweist bei jemandem, dem es gerade nur
um das Wesentliche zu tun ist. Wichtig ist dagegen, daß ihm
etwas bekannt war, was jedem andern entgehen mußte, der nicht,
wie er, eine privilegierte Stellung einnahm. Johannes wußte von
einer geheimen reservatio mentis Jesu, die nicht etwa List war,
sondern die sich unwillkürlich einstellte, nachdem er mit so
überzeugender Sicherheit das Eintreffen des Gottesreiches
für ein bestimmte, und zwar kurze Zeit behauptet hatte. Die
reservatio mentis aber lautet: Das Reich Gottes tritt im Unendlichen
ein. Das ist die Entdeckung des Johannes an seinem Meister, und aus
ihr ist sein Evangelium geschrieben.
Sage ich: das Reich Gottes kommt, von heute an gerechnet, in drei
Monaten, dann aber, es kommt, ehe der erste Heilige stirbt, zuletzt:
ehe dieses Geschlecht vergeht - so habe ich endliche Termine
angegeben, an denen, wie das Jesus tat, die Wirklichkeit gemessen
werden kann. Sage ich aber, durch den Verlauf dieser Wirklichkeit an
den Rand der Verzweiflung gedrängt: »das Reich Gottes kommt
im Unendlichen« - so sage ich damit, daß es überhaupt
nicht kommt. Und diesen Standpunkt, das hat ihm Johannes ablauschen
können, hat Jesus für einen Augenblick eingenommen. Der
nächste aber schon brachte bei ihm ganz etwas anderes, als jenes
verzweifelte Abzählen ins Unendliche, durch das nichts gewonnen
war. Er brachte nämlich den plötzlichen Übergang aus
dieser gedachten und gezählten Welt in die anschauliche, wobei
der Begriff des Unendlichen mitgenommen und nicht etwa draußen
gelassen wurde. Dieser aber drohte den Zusammenhalt der empirischen
Außenwelt zu sprengen, und es geschah ein neuer Sprung: vor
dieser Welt des Vordergrundes verschloß Jesus die Augen (muein)
und drang durch einen Akt der Versenkung, der ein besonderes Charisma
des homo religiosus ist, in deren Raumtiefe ein. Durch diesen Akt
aber wurde der aus der gezählte Welt mitgenommene Begriff der
Unendlichkeit in den der Ewigkeit verwandelt. Das aber ist der
Standpunkt der Mystik. Diese ist demnach das genaue Widerspiel zur
Wissenschaft, durch die allemal die anschauliche Welt in eine
gezählte aufgelöst wird. Die Mystik, eine große
Wohltäterin des Menschengeschlechtes, führt alles Gedachte
und Gezählte in Anschauung über, geht dann aber noch weiter
über die Formen hinweg in die Tiefe. Von dorther strömen
ihr heilsame Kräfte zu, falls ihr Weg von Gebeten begleitet war.
Alle mystische Erkenntnis aber ist Wissen durch Nichtwissen. Die
Wissenschaft, die gar nicht beten kann, fällt mit derselben
Sicherheit in die Hände der satanischen Gegenmacht. Mystik aber
ist, rein gebraucht, frei von Schwärmertum und Willkür.
Ewigkeit ist das Erlebnis des Unendlichen in der anschaulichen Welt.
Aus ihr heraus und von ihr spricht der johannëische Jesus. So
aber hat er wirklich gesprochen, die Synoptiker haben das nur nicht
verstanden. Man kann die Mystik in ihrer strengen Form im Leben Jesu
nicht auslassen, ohne dieses Leben zu unterbrechen. Spricht er also
vom »ewigen Leben«, so meint er nicht ein Leben, das
unendlich lange dauert, im übrigen aber, leicht verbessert,
bleibt, was es ist, sondern dann ist von einem qualitativ anderen die
Rede, das in das gewöhnliche »von dieser Welt«
heimlich eingehüllt ist, und das keine Beziehung zur Zeit hat.
Es ist aber unvermeidlich, daß die Zeit sich immer wieder
meldet und Unruhe stiftet, da das Erlebnis der Ewigkeit ja selber in
ihr geschieht. Das ist die Klippe, um die alle Mystik herum
muß. In einen sub specie aeternitatis gesprochenen Satz, wie
den »Ehe denn Abraham war, bin ich« (Joh. 8, 58), mischt
sich immer das empirisch Zeitliche ein, und die Pharisäer, die
ihn hörten, entsetzten sich über ihn; denn sie verstanden
es natürlich nicht und waren schnell mit dem, was sie unter
Gotteslästerung verstanden, bei der Hand. Daß aber auch
die Schöpfung selber in die Ewigkeit gehört und in der Zeit
nie stattgefunden hat, daß Adam ständig aus dem Paradies
vertrieben wird und immer der Biß in den Apfel erfolgt, das ist
die furchtbarste Konsequenz der reinen Mystik. Denn es ist doch so:
zähle ich in der Zeit meine Vorfahren bis in das graueste
Altertum zurück, so stoße ich doch niemals auf Adam,
sondern immer nur auf meine Vorfahren, von denen jeder seinen Vater
hat. In diese Reihe gehört Adam nicht. Er ist keine
geschichtliche, sondern eine protologische Gestalt, mit der allemal
ich selber gemeint bin. Und ich habe natürlich die Erbsünde
nicht etwa im biologischen Sinne von ihm erworben, sondern ich
besitze sie, Adam, der ich bin, in transzendentaler Weise. Der
johannëische Jesus aber redet vom Standpunkt der Mystik, und so
gehört auch das Himmelreich, das er bei den Synoptikern zeitlich
verkündet, in die Ewigkeit. Seine Parusie erscheint daher in
einem ganz besonderen Lichte. Aber es läßt sich unter dem
Druck der Buchstabenschrift und der Grammatik nun einmal nicht anders
darstellen als in zeitlicher Reihenfolge. Wäre das
Johannesevangelium, dazu das Buch Genesis gleich dem Taoteking in
chinesischer Bilderschrift verfaßt - es wäre gar nicht
auszudenken, welche Herrlichkeit da entstanden wäre. Aber
Zauberworte und Bilderschrift, und dann noch dieses Thema, das
wäre zuviel für das gebrechliche Menschengeschlecht
gewesen.
Bei alledem bricht für Johannes die eigentliche Endzeit-Lehre
Jesu bis auf einen kleinen Rest zusammen; denn in der Ewigkeit gibt
es keine letzten Tage. Ein solcher Rest findet sich etwa in dem
Gespräch mit der Samariterin am Jakobsbrunnen, da der Herr sagt:
»Hebet eure Augen auf und sehet in das Feld; denn es ist schon
weiß zur Ernte!« (Joh. 4, 35). Aber er treibt darum keine
eschatologische Politik mit allen Finessen, wie bei den Synoptikern;
es wird niemand »bedräuet«, wenn er an das
Messianitätsgeheimnis rührt, sondern ganz offen spricht er
selbst davon: »Ich binís von dem du redest!« Er
selber nennt sich im Tempel Gottes Sohn; man will ihn steinigen, aber
niemand legt Hand an ihn, »denn seine Stunde war noch nicht
gekommen«. Und die Pharisäer sind ratlos über solch
einen Menschen. »Ihr sehet, daß ihr nichts ausrichtet;
siehe, alle Welt läuft ihm nach.« Diese voll ausgebrochne
Unbekümmertheit um jede eschatologische Situation ist das
Merkmal des johannëischen Jesus.
Aber noch etwas anderes kommt bei Johannes zur Entscheidung: es
ist die Sache mit den Titeln. Während der synoptische Jesus im
Rahmen seiner eschatologischen Politik mit ihnen Mimikry treibt,
kommt es bei Johannes zum effektiven Zusammenschluß der zwei
entscheidenden »Menschensohn« und »Sohn Gottes«.
Hier wird das Rätsel, das die protestantischen Theologen der
hundert Jahre stehen lassen mußten, gelöst. Der Titel
Messias = Christus ist ja, wenn man ihn sprachlich und geschichtlich
untersucht, dekorativ, und könnte ebensogut durch einen anderen
ersetzt werden. Statt des »Gesalbten« hätte der
Erwartete auch z. B. der Gebenedeite oder der Erhabene oder der
Erleuchtete heißen können; das hätte nichts am
Bedeutungsbefunde selber geändert. Zudem ist der Titel »der
Gesalbte« von intern-jüdischer Struktur, also
partikulär und fast schon abgenutzt. »Menschensohn«
dagegen kann man nicht durch etwas anderes ersetzen; denn dieses Wort
bedeutet eine bestimmte Naturstelle substanzieller Art, für die
kein anderes brauchbar ist. Dieser Titel wurde von Jesus selbst als
die tiefste Anrede seiner Person entdeckt, und nur von ihm aus kann
man »Gottes Sohn« verstehen, zu dem es kraft kosmologischer
Fügung gehört; eines nicht ohne das andere. Menschensohn
heißt, als Art zum Menschengeschlechte so stehen wie der Sohn
zum Vater als Individuum; aber auch als höhere Art, die zum
Menschen steht, wie dessen primäre Rasse zur sekundären;
die Kluft ist aber exakt und scharf, zudem größer; denn
der Menschensohn kommt nur in einem Exemplar vor, das die ganze Art
erschöpft. Das aber sichert ihm - scheintís - auch die
Möglichkeit der Auferstehung. So allein und nicht anders kann
dieses Wort verstanden werden, oder die ganze Christologie bricht
zusammen. Das Wunder ist stehengeblieben, aber das Rätsel
gelöst, und nur mit diesem Schlüssel in der Hand kann man
überhaupt die Evangelien lesen; es verschwindet jenes
unerträgliche Gefühl des Mißbehagens, das einen sonst
bei der Lektüre ankommt und das so gar nicht dazu geeignet ist,
»Trost« zu gewähren.
Die ganze Frage nach der Gottessohnschaft Jesu aber hängt allein
von der andern ab, ob zwischen »Menschensohn« und
»Sohn Gottes« eine kosmologische Brücke besteht.
Gerade das aber wird von Johannes gleich am Anfang verkündet (3,
12). »Glaubt ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage,
wie würdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen
sagen würde? Und niemand fähret gen Himmel, denn der von
Himmel herniederkommen ist, nämlich des Menschen Sohn, der im
Himmel ist...Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen
eingebornen Sohn gab«...usw. Aber noch deutlicher: »Denn,
wie der Vater das Leben hat in sich selber, also hat er dem Sohn
gegeben, das Leben zu haben in sich selbst; und er hat ihm Macht
gegeben, auch das Gericht zu halten, weil er des Menschen Sohn
ist« (Joh. 5, 26f.). Die notorische Menschensohnschaft Jesu
also, in diesem ganz präzisen naturhaften Sinne, ist der allein
zureichende Grund für die Gottessohnschaft und das an ihr
hängende Richteramt. Dieses Lebensgeheimnis Jesu hat Johannes
gewußt und er allein. Es gibt eine Naturstelle oberhalb des
Menschen, die einmal, dreiunddreißig Jahre lang in der Zeit
gerechnet, durch Fleisch und Blut eingenommen wurde, von deren
Verhalten in der Passion das Schicksal der Welt abhing. So
Johannes.
Dabei schreckt der sonst als zart verrufene Jünger auch vor dem
ußersten nicht zurück. »Werdet ihr nicht essen
das Fleisch des Menschensohnes und trinken sein Blut, so habt ihr
kein Leben in euch. Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der
hat das ewige Leben« (Joh. 6, 53). Hier klafft für einen
Augenblick eine grauenhafte Vorstellung auf, die gar nicht
auszudenken ist. Schon PORPHYRIUS, der vegetarische Feind des
Christentums, macht ihm den Vorwurf des Kannibalismus: »Ist denn
dies nicht tierisch und widersinnig, ja vielmehr widersinniger als
jeder Widersinn und tierischer als tierische Rohheit, daß ein
Mensch Menschenfleisch essen und seine Stammesgenossen und Verwandten
Blut trinken und dafür das ewige Leben bekommen sollen?«
(zitiert nach Harnack, »Mission und Ausbreitung des
Christentums«, S. 169). Hatte Porphyrius recht? Wenn man den
Kannibalismus als bloße Triebgier ansehen will, dann ja:
indessen, er ist in seinem Ursprung sakraler Art: der Wilde, der den
Körper des getöteten Feindes ißt, wählt sich
dessen tapfersten Exemplare, um damit deren überlegene Seele
für sich zu gewinnen. Und so ist das auch hier gemeint,
nämlich wörtlich, kannibalisch: bis hierhin war Jesus in
der Tat vorgedrungen, aber indem er das sagte, keimten in ihm schon
die Einsetzungsworte des Abendmahles und wandten das Schrecknis ab.
Schon darum heißt es: »Dies ist mein Leib!«. - Ich
frage aber, wer steht der Religion näher: jener Kannibale oder
ein durchschnittlicher Konsistorialrat liberaler Fasson?
Frage mich jemand, wie wohl das Seelengefüge des Menschensohnes
beschaffen war, so würde ich ohne Bedenken antworten: so wie das
Zarathustras. Auf der Basis einer schweren Melancholie - niemand sah
je den Menschensohn lächeln -, die das empirische Leben
»von dieser Welt« ständig an den Rand des Selbstmordes
drängt, erhebt sich urplötzlich durch einen Akt bejahender
Freiheit aus Notwendigkeit eine rauschhafte Freude äonischer
Art, die ihresgleichen in der bloß psychologischen Ebene nicht
kennt. Nietzsche nannte sie das Dionysische, und Jesus nannte sie
»meine Freude«; es ist der Schatten der Güte. Diese
setzt Jesus (Joh. 15, 11) deutlich und unverkennbar den bloß
empirischen Freuden der Jünger entgegen. »Solches rede ich
zu euch, auf daß meine Freude in euch bleibe und eure Freude
vollkommen werde«. Seine Freude ist die äonisch-dionysische
und ihre Freude ist die empirisch-irdische. Es ist genau dieselbe
Sache, wie in Nietzsches Zarathustra, und kein Unterschied. Hierin
ist ja auch der Grund zu suchen für das ungeheure Aufsehen, das
Nietzsches Verkündigung erregt hat: sie enthielt eben genau das
Stück Christentum, um das die Menschheit bisher betrogen wurde.
Der inspirationsartige Durchbruch der Zarathustra-Vision, die
Nietzsche selbst in »Ecce Homo« beschreibt, trägt so
durchaus Offenbarungszüge, daß an ihrer Herkunft vom
Objekt her gar kein Zweifel bestehen kann. Die Natur, die nicht davon
ablassen kann, versucht es immer wieder, in der Nähe der
Menschensohn-Sphäre Gestalten zu erzeugen, obwohl der Platz
besetzt ist. Von da aus gesehen, muß man sogar das Genie als
Kümmerform des Menschensohnes betrachten: so groß ist der
Abstand.
Daß Nietzsche selbst substantiell Christ war, daran besteht
heute kein Zweifel mehr. Er verweigerte nur stolz die Annahme jeder
Hilfe. Immerhin gehört sein »Antichrist« zu dem
Lesenswertesten, das es für einen Christen geben sollte. Und
seine Eschatologie vom »Europäischen Nihilismus«
(Peirasmós) ist eingetroffen - gesehen zu einer Zeit, als
alles noch in belsazarhafter Stimmung schwelgte. Man hat seine
Warnungen nicht gehört. Sein Zusammenbruch in Turin war das, was
für Paulus Damaskus war, nur eben, daß sich bei ihm der
düstere Vorhang für immer senkte. Weil aber Nietzsche mit
seinem Leibe und Leben gebürgt hat, deshalb ist er der erste
Heilige der Philosophie, auch wenn man von seiner eignen keinen Stein
auf dem andern läßt. Es gibt auch keinen Philosophen
außer ihm, der ein mythisches Gepräge anzunehmen vermag.
Irgendwie spürt man: hier hat die Natur wieder einmal ein
Experiment von »Menschensohn« gemacht, einen
Nachzügler, der zerschellen mußte. Denn es ist ja eben
freilich so: sein »Übermensch-Zarathustra«, trotz
aller Herrlichkeit im Klange des Seelischen, zerstiebt ins Wesenlose;
man weiß nicht recht, wo das hinführen soll. Jesus aber,
der seine einsamsten Stunden dazu verwandte, jene kosmologische
Brücke zum Sohne Gottes zu schlagen, nimmt damit eine feste
Naturstelle ein, die ein reines Ereignis umhüllt.
7. DER MYTHOS ALS GRUND DER GESCHICHTE
Nach den Einsichten der eschatologischen Schule fällt der
Umschwung im Leben Jesu mit dem Momente der unerwarteten
Rückkehr der Jünger zusammen. Von da an nimmt ein
völlig neues Motiv von seinem Leben Besitz, das die Jünger
gar nicht, er selber nur zögernd versteht: das des Opfers. Man
kann sich denken, daß er plötzlich anfällig wurde
für die Weissagung Jesaia 53, 4: »Fürwahr, er trug
unsere Krankheit und nahm auf sich unsere Schmerzen...« Neben
dem Nachdenken über die Gottessohnschaft war dies das zweite
große Thema seines Lebens. Nur war es von solcher
Ungeheuerlichkeit, daß er allein damit nicht durchkam und es
schließlich in Gottes Hände legen mußte. Und es ist
dasselbe Thema, von dem Karl Hillebrand sagt: daß
»wir« nicht mehr an die erlösende Kraft des Opfertodes
Christi glauben und deshalb keine Christen mehr sind,...daß
aber zugleich eben dieser Glaube zum wesentlichen Bestandteile der
Geschichte gehöre, ohne welche diese ein unverständliches
Buch sei...Hier muß irgend etwas nicht stimmen.
Es handelt sich jetzt darum: verfügt die Philosophie über
das Mittel, das, was das Christentum seinen Glauben an die
Erlösertat Christi nennt, in Wissen überzuführen?
Hierbei möge dahingestellt bleiben, ob es jene sokratische Form
des Wissens durch Nichtwissen annimmt. Wäre der Glaube nur ein
abgeblaßtes Wissen, so würde er durch einen solchen
Vorstoß der Philosophie zerstört werden; es bliebe nur
Wissen übrig, und das wäre weniger als der Glaube. Da aber
der Glaube als eine selbständige Macht im Objekte gründet,
so wird er durch jenen Vorstoß nicht berührt. Das Problem
kreist also um den Begriff des Opfers und: ob ihm wirkliche Bindungen
ans Objektive zugrunde liegen.
Merkwürdigerweise ist nun das Opfer an einer sehr verschwiegenen
und bisher nicht aufgefundenen Stelle in das Wesen der Geschichte
eingebettet; dort findet man es, so wie man den Achat im Urgestein
findet, und man muß erst das Problem jener zuende denken, ehe
man mit dem Opfer zu Rande kommt. Ich habe diesen Tatbestand auf dem
Wege langen Nachdenkens, nach langem Mühen schließlich
herausgefunden und muß den Leser bitten, wider Erwarten noch
einmal das schon behandelte Gebiet der Geschichte zu betreten; wir
kommen heute von einer anderen Seite her.
Wenn ich von der »römischen Geschichte« oder von der
»Geschichte des peleponnesischen Krieges« spreche und
hinterher von der »Geschichte des Hauses I. P. Morgan« oder
von der »Geschichte des Zeitungswesens«, so verspüre
ich sofort, daß das zwei gänzlich verschiedene Dinge sind.
Gäbe es diesen grundlegenden Unterschied nicht, so gäbe es
auch keine Historiker, die Geschichte schreiben. Denn diese sind sich
des durchaus Spezifischen ihres Metiers bewußt, sie haben ein
sicheres Fingerspitzengefühl dafür, was ein geschichtlicher
Stoff ist und was nicht. Freilich vermochten sie bisher nicht zu
sagen, worin diese differentia specifica besteht, aber sie
bemühen sich darum. So wie der Kunstgelehrte mit voller
Sicherheit kraft der großen Übung sagen kann: dies ist
Kunst und dies nicht! - so auch der Historiker. Ein ausgelernter
Akademieschüler, der für eine Modenzeitschrift ein Pferd
zeichnet und sich dabei das einzelne empirische Exemplar zum Modell
nimmt, liefert niemals Kunst. Führt ihm aber die archetypische
Idee des Pferdes die Hand, dann ist es immer Kunst, und man kann nur
über ihren Höhenstand streiten. Ebenso ist ein Komplex von
öffentlichen Handlungen, und mag er die Dimensionen eines
Weltkonzernes haben, niemals Geschichte, weil das, was dort
geschieht, ohne Rest aus den gewöhnlichen Bestrebungen der
menschlichen Natur erklärbar ist: wohingegen es das ständig
bewahrte Charakteristikum des Geschichtlichen ist, einen reinen
Ereignisgrund zu haben, den man freilich nicht aussprechen kann,
eben, weil er Idee ist und darum dem Objekte angehört. Die reine
Geschichte ist das geheime Band, das alles Historische a priori
verbindet und daher auch, im Reflex, alle Historiker. Setze ich sie
nicht voraus, so fällt jedes Unterscheidungsmerkmal zwischen
Geschichte und Geschäft fort, und es ist aus mit der Würde
des Historischen. So wenig die Eiche ohne die Idee der Eiche sein und
erkannt werden kann, so wenig jeder geschichtliche Vorgang ohne den
reinen historischen Ereignisgrund. Davon sprachen wir schon. Aber nun
geht es um den Inhalt.
Jedes Naturwesen hat sein Schema: es gibt von der Eiche jenes
berühmte »Monogramm der Natur« (KANT: »der
Einbildungskraft«), das, in uns eingeprägt, durch den
geringsten Aufwand an Formelementen und gerade eben noch, aber
sicher, das Bild der Eiche aufnötigt: ihren Habitus. Dieses
Monogramm kommt zwischen der Idee und ihrer Erscheinung als
Mischgebilde von Bild und Begriff zu liegen und flimmert
gewissermaßen dort auf, um den Akt der logischen Subsumierung
möglich zu machen. Bei den Menschen-Monogrammen ist das
bekanntlich die große Verführung zur Karikatur. - Was nun
für den empirischen Einzelgegenstand das Schema, das ist
für die historischen Vorgänge der Mythos. Dieser aber ist
so wenig wie jenes eine Sache der Einbildungskraft, er ist nicht etwa
eine Art pseudologia phantastica der Völker über sich
selbst, sondern, genau wie das Schema, ruht er unruhig im Objekt und
meldet sich als »Monogramm« im Subjekt. Es gibt also eine
objektive mythenbildende Kraft der Natur, die sofort den
Menschenschlag, den sie ergreift, umgestaltet; ihr entsprechend aber
eine mythengestaltende dichtende Kraft der menschlichen Seele. Beides
ist durchaus zu trennen; sie strömen in jeweils umgekehrter
Richtung. Die objektive Herkunft des Mythos ist unergründlich,
wie die Natur selber, muß ja aber schließlich irgendeine
Verbindung zu deren Tiefenereignissen haben.
Also nicht: die Griechen haben sich ihre Mythen ersonnen, sondern:
der Mythos schuf die Griechen und nachher sangen ihre Aöden
davon.
Die mythischen Kräfte verdichten sich im Heros. Das geschieht
aber nur bei einem Teil von ihnen, der sich in der Ethik der Heroen
bindet; ein anderer durchtränkt, unnachweisbar, das
Unbewußte des Volksganzen, wobei viel in die Mysterien
abfließt. - Wer also unseren Satz leugnet, daß der Kern
alles Historischen in mythisch-heroischem Grunde lagert, gehalten vom
System der reinen Geschichte, - wer das will, sage ich ,der setze
sich hin und schreibe an der Hand unzähliger Akten eine
Abhandlung über die Kriegskosten Friedrichs des Großen im
Unglücksjahre 1759; dann aber, nachdem er diese Detail-Arbeit
geleistet hat, behandle er in gleicher Weise die laufenden
Jahresbilanzen eines bekannten Weltbankiers; und er wird finden,
daß er im ersten Falle Historiker war, im zweiten aber
Buchhalter. Die Grenze ist unübersteiglich, und der Herr wird
Wert darauf legen, aus Gründen der guten Reputation beim ersten
zu bleiben, auch, wenn er nicht weiß, warum. Jene Schranke
aber, die das Mythisch-Heroische setzt, gleicht der
Unzerstörbarkeit der Materie, die sich ständig erhält,
auch, wenn jemand die Stoffe in ihre kleinsten Teile zerlegt. Die
Kriegsbilanz Friedrichs des Großen ist nun einmal suo genere
etwas anderes als der hundertmal größere
Jahresabschluß eines Bankhauses. Dies spüren moderne
Historiker recht gut, und es ist rührend zu sehen, wie der kluge
Holländer Johann Huizinga versucht, Amerika eine historische
Note zu geben dadurch, daß er nach mythisch-heroischen Motiven
sucht. Er weiß ganz gut, daß hier der Angelpunkt liegt.
Indessen: Geschichte muß alt sein, und zweihundert Jahre
reichen nicht aus.
Ich habe, als Einzelmensch, mein Schema, das jedermann in wenig
Strichen zeichnen kann. Das ist eine milde Sache, die nicht viel auf
sich hat; zudem ist es stabil, denn mein empirischer Charakter ist es
auch. Außerdem aber bin ich Schicksalsträger mit meinem
Volk, d. h. ich habe eine historische Note und die ist nicht stabil,
denn die Geschichte, der ich angehöre, legt in heftiger
Bewegung: das ist der Mythos, dem ich verfallen bin. Für einen
Deutschen ist es vorwiegend der Nibelungenmythos, unter dem er steht.
Diesem Schicksal - auf der Etzelburg - zu entrinnen und es durch ein
gnädigeres zu ersetzen, ist der immer wieder vergebliche Versuch
der deutschen Geschichte gewesen. Früher gelang es einem der
germanischen Stämme, ihm in Würde zu erliegen, so unter
Teja am Vesuv; heute gelingt es nicht mehr. Ein sicheres Zeichen
für den Untergang ohne Würde ist das Auftreten der
Thersitesse, die ja eben gerade das tun, was dem Geschichtlichen ein
Ende bereitet, und eine Fellachenzeit heraufbeschwören, die
allemal der traurige Nachhall ist; sie leugnen das
Mythisch-Heroische, entwurzeln damit die Geschichte, und kein
Odysseus ist da, der ihnen das Handwerk legt.
Die Geschichte greift immer den Staat auf, nie die bloße
Gesellschaft. Zoon politikón heißt
»staatenbildendes Tier«, nicht bloß geselliges, denn
das sind Rehe und Raben auch. Daher ist es charakteristisch für
alle geschichtsverleugnenden Systeme, daß sie allemal auch
staatsverleugnend sind; sie billigen dem Staate keine naturhafte
Wurzel zu, sondern leiten ihn aus vertragsähnlichen
Willkürakten des Menschen ab. Was also SHAKESPEARE den Odysseus
in »Troilus und Kressida« (eigentlich ganz unenglisch)
sagen läßt:
»Ein tief Geheimnis, welches kein Bericht
Noch je enthüllt, wohnt in des Staates Seele,
Des Wirksamkeit so göttlicher Natur,
Daß Sprache nicht, noch Feder sie benennt«
-,
das wird von ihnen ausdrücklich und meist leidenschaftlich
bekämpft. So mag Schopenhauer den Sinn des Staates und damit der
Geschichte ableugnen: aber er unterliegt seinen Gesetzen, die er z.
B. als Rechtsschutz benutzt. Er mag sich dem deutschen
Befreiungskriege entziehen und seinem Freund August Goethe die Rolle
eines Lützower Jägers überlassen, das ist das Vorrecht
des Genius; aber ändern kann er es nicht, daß die
staatlichen Dinge ihren Weg auch ohne ihn gehen. Staat aber ist, wie
sein Gegenteil, die Revolution, stets verbunden mit Massenerregung,
die nur im Falle des Staates gebändigt ist. An der nächsten
Straßenecke kann es dem Philosophen begegnen, daß ein
Hoch auf den König ausgebracht wird; an der
übernächsten kann ein sozialistischer Agitator seine
Versprechungen kundtun; er wird beiden, besonders dem zweiten, betont
ausweichen, aber nur, weil er Schopenhauer ist. Jeder andere ist
diesen Wellen der Massenerregung mehr oder minder preisgegeben.
Es findet nun, so könnte man es ausdrücken, im Laufe der
menschlichen Geschichte ein stets blutiges Ringen um jene »Seele
des Staates« statt, und zwar streiten sich zwei von Grund auf
verschiedene Auffassungen um sie; es sind das die Demokratie und die
Monarchie. Jede behauptet von sich, das Wesen des Staates am tiefsten
begriffen zu haben und ihn selbst daher am besten vertreten zu
können. Die Demokratie hat die Herrschaft des freien
Bürgers zum Ziel, die Monarchie die des Königs von Gottes
Gnaden. Beide haben ihre Zerrformen; die Demokratie kann in
Pöbelherrschaft entarten, die Monarchie in Tyrannis. In den
politischen Kämpfen aber wird das klare Urteil meist dadurch
verhindert, daß willkürlich Urbild oder Zerrform
füreinander gesetzt werden. Von diesem Unterschleif lebt die
politische Propaganda. In Wirklichkeit haben beide in ihren
Höhepunkten ein sehr nahes und bewunderungswürdiges
Verhältnis zur »Seele des Staates«. Dabei muß
man die Monarchie als das geschichtlich ältere ansehen, die
Demokratie als eine Antwort auf Entartung zur Tyrannis, also als ein
Zweites, mehr der vernünftigen Leidenschaft Entsproßnes.
Keineswegs aber darf man die Demokratie als einen objektiven
Fortschritt über die Monarchie verstehen; vielmehr sind beides
abwechselnd auftretende Gewänder des Staates. Die
geschichtsbefugten Demokratien sind durchweg in blutigem Kampfe und
meist in heldenmütiger Aufopferung der reinen Geschichte
abgerungen worden. So im Altertum die beiden großen Gebilde der
hellenischen Polis und der römischen Republik. Auch die modernen
westlichen Demokratien sind aus siegreichem Kampf unter dem Segen der
Geschichte entstanden: so die Schweiz im Kampfe der Eidgenossen gegen
Habsburg, Amerika im Kampf gegen den englischen König;
Frankreich und England selbst aber haben sich ihre Demokratie blutig
gegen das Königtum erstritten. Sie sind demnach
geschichtsbefugt. Unbefugt dagegen ist die deutsche; denn sie wurde
stets nur nach verlorenen Kriegen vom Feinde aufgenötigt; und
während die westlichen im Kampf um die Freiheit waren, ist die
deutsche nur der Ausdruck des Unterwerfungswillens. Ihr fehlen also
schlechthin alle Merkmale geschichtlicher Befugnis. Die reine
Geschichte Deutschlands und sein Mythos ist seit einem Jahrtausend
auf die monarchische Staatsauffassung gestimmt; das aber
läßt sich nicht durch Pädagogik ändern.
Geschichte ist stärker als Gewohnheit eines knappen
Menschenlebens.
Bei den Insektenstaaten läßt die Natur jene
Massenerregungen geschlossen in der Art bleiben; wenn in einen
Ameisenhaufen ein fremder Käfer eindringt, so entsteht spontan
eine heftige Bewegung des ganzen Staates, der alle seine Kräfte
einsetzt, um den Eindringling zu vertreiben. Das geht so in die
Millionen Jahre ohne nderung, und die Art der Ameise wir
dadurch nicht berührt. Anders beim Menschen: hier greift die
Natur tiefer in ihr archetypisches Potential. Die Massenerregungen
gefährden ihn, können ihn umbilden und gar zerstören.
Man darf sich durch die Tatsache, daß es in unserem
barbarischen Zeitalter im wesentlichen nur solche gibt, die um den
Hunger kreisen, nicht darüber hinwegtäuschen, daß es
auch andere gab, durch die das Altertum seine Prägung erfuhr.
Denn eine dieser Erregungen, bei der die Natur sehr tief in sich
selbst hineingreift, ist die mythische.
JACOB BURCKHARDT hat im Beginn seiner »Griechischen
Kulturgeschichte« das wahrhaft konstitutive Verhältnis der
Griechen zu ihrem Mythos meisterhaft dargestellt: »Der Mythos
als eine gewaltige Macht beherrschte das griechische Leben und
schwebte über demselben wie eine nahe herrliche Erscheinung. Er
leuchtete in die ganze griechische Gegenwart hinein, überall und
bis in späte Zeiten, als wäre er eine noch gar nicht ferne
Vergangenheit, während er im Grunde das Schauen und Tun der
Nation selbst in höherem Abbilde darstellte«. Dieser
Schlußsatz zeigt freilich noch jene subjektivistische
Betrachtungsweise, mit der man nicht zu Rande kommt. »In diesen
früheren Zeiten sind die Griechen a priori mythisch
gesinnt«, das heißt: es gehört eo ipso zum Griechen,
mythisch zu sein. Im übrigen war er historisch, mochte er wollen
oder nicht. Das Historische aber wurde ihnen erst durch ihre
großen Geschichtsschreiber beigebracht; sie haben es lernen
müssen, weil es schließlich Hand und Fuß hatte, aber
sie haben es ausgesprochen ungern getan. »Die Erinnerungen an
Großtaten der historischen Zeit sind, einige wenige
Schlachtfelder ausgenommen, wo die Totenopfer an den
Kriegsgräbern das Andenken wach hielten, so viel als Null; es
gab niemandem zu denken, wo einst ein Solon, ein Perikles, ein
Demosthenes in entscheidenden Augenblicken möchte aufgetreten
sein, während man über die klassischen Stellen der
Fabelzeit auf das genaueste Bescheid wissen wollte.«
Diese seltsame Geistesverfassung, die aber zu den glücklichsten
gehört, die ein Volk haben kann, erklärt sich daraus,
daß das Mythische ein polarer Vorgang ist und nicht, wie das
Wort mythos anzudeuten scheint, im bloß sprechenden Subjekte
ankert. Es spaltet sich also auf in »objektive mythische
Kräfte« und »subjektive mythenbildende
Tätigkeit« dichterischer Art. Die Vorherrschaft und
Überstärke der objektiven Kräfte aber wird dadurch
erwiesen, daß es über den Mythos einen consensus gibt, man
also nicht Mythen willkürlich machen kann; ferner durch das
riesenhafte Interesse, das an ihnen genommen wird. Denn
Nur-Subjektives ist auf die Dauer uninteressant. Nur die tiefe
Überzeugung, daß der mythenbildenden Phantasie etwas
entspricht, das nicht von ihr erfunden ist, gibt dem Mythos jene
Kraft, die sogar das handgreiflich Geschichtliche in den Schatten
stellt und ein ganzes Volk jahrhundertelang in Spannung halten
kann.
8. DER OBJEKTIVE MYTHOS UND SEINE HERKUNFT
Es gibt in der Natur Rudimente, welche anzeigen, daß dort
früher einmal ein volles Organ stand; je nach dem Grade seiner
Rückbildung kann man mit mehr oder minder großer
Deutlichkeit die Funktion und den Bau des ehemals lebendigen Organes
erkenne. Ich will ein Beispiel für die Wirksamkeit des
objektiven Mythos in rudimentärer Form an einem Krankheitsfalle
geben:
Zu mir kam einst ein Patient, der litt in furchtbarer Weise an einer
nicht zu bezähmenden Angst vor »bellenden Hunden« und
»flügelschlagenden Vögeln«. Er war ein starker,
sonst mutiger Mensch, der natürlich genau wußte, daß
diese Tiere ihm nichts taten; auch hatte seine Angst nichts mit deren
Größe zu tun. »Finden Sie nicht«, sagte er,
»daß es etwas ganz Fürchterliches ist, wenn ein
Kanarienvogel im Bauer jemandem, der ihm Zucker geben will,
flügelschlagend und fauchend in den Finger beißt...?«
- Woher kam diese unerklärliche Angst? Ich versuchte es
zunächst schulgerecht mit der Freudschen Methode. Allein die
lange und geduldig ausgeübte Behandlung schlug fehl, und nichts
regte sich. Die Kausalkette wollte vor allem auf nichts Sexuelles
führen. Da entschloß ich mich zur anderen, von C. G. Jung
ersonnenen Behandlungsart und gab dem Patienten auf, einen Bleistift
in die Hand zu nehmen und den Inhalt seiner Angstvorstellungen zu
zeichnen. Er wandte ein, er habe noch nie in seinem Leben gemalt oder
gezeichnet; ich meinte aber, es würde schon gehen und er solle
sich nur einfach von seinen Vorstellungen wie willenlos die Hand
führen lassen; es käme nicht darauf an, daß er ein
getreues Abbild liefere, sondern nur, daß eben diese
Vorstellung ganz unmittelbar ohne jeden Anspruch auf
künstlerische Qualität sich durch seine Hand
manifestierten. Ich hatte auch inzwischen bemerkt, daß, wenn
ich Reizworte, wie »Vogel Rock«, »Harpyien«,
»Vogel Greif« oder ähnliche aussprach, oder wenn ich
ihm Tafeln von vorweltlichen Tieren zeigte (Schrecksauriern), er in
eine merkwürdig unruhige Bewegung geriet. Von dieser aber wollte
ich ein Abbild haben. Zur nächsten Sunde kam er mit deutlichen
Anzeichen der Erleichterung, die sich schon im Gang bemerkbar
machten. Er legte mir drei Bleistiftzeichnungen vor. Die erste
stellte ein Fabelwesen nach Art des Höllenhundes Kerberos vor;
die zweite ein unheimliche Vogelgestalt, sitzend mit hängenden
Flügeln und zweihufigen Füßen; die dritte, die einen
künstlerischen Einschlag verriet, einen großen Vogel mit
mächtigem Geierkopf, hart nach unten gebogenem Schnabel, und
dabei, was das Merkwürdige war, mit zwei Füßen, an
denen je eine Riesenkralle war. Das waren also alles sagenhafte
Gebilde mit Anlehnung an die Wirklichkeit, aber offenbar nicht ihr
entnommen. Denn der Patient äußerte sich, er habe so etwas
noch nie gesehen und er sein beim Zeichnen nur seiner Eingebung
gefolgt. (Das kann man vielleicht beim »Kerberos« noch
einigermaßen bezweifeln). Er fühle sich nun aber sonderbar
erleichtert und möchte gern wissen, woher das komme und was das
sei.
»Was das ist« - sagte ich - »kann ich Ihnen nur
vermutungsweise sagen; aber was das nicht ist, mit Sicherheit; auch,
wo es liegt, werde ich Ihnen verraten können. Ich muß hier
aber leicht mythologisierend sprechen; denn anders will der Gedanke
in diesem Falle nicht in die Sprache hinein. Das aber liegt daran,
daß dieses gedankenlose Zeitalter der Meinung ist, zur
Ergründung der Wahrheit sei nur das da, was es »die
Wissenschaft« nennt. Es gibt aber weite Strecken im
Erkenntnisprozeß und nicht die schlechtesten, die nur vom
Dichter ausgefüllt werden können, und auf solche werden wir
bald stoßen. ÇWissenschaftë ist stets nur ein
Mittel für die Wahrheit und manchmal sogar, um mich mit
NIETZSCHE auszudrücken Çein fein gesponnenes gegen
sieë. Als Sie zu mir kamen, waren Sie, wie alle Patienten der
Meinung, daß Ihre Krankheit eine Art psychischer Tumor sei, der
vom Arzt etwa in der Hypnose fortoperiert werden könne. Es
stellte sich aber bald heraus, daß dieser Vergleich nicht
stimmte; denn Sie waren ja ganz und gar besessen von Ihrer Krankheit
und an eine Lokalisierung war gar nicht zu denken; es war eine
Krankheit Ihrer selbst. Und diese war eine zusammengesetzte
Größe; fragt sich nur woraus? Durch den Akt des Zeichnens
nun haben sie, wie in der Chemie, eine Scheidung vorgenommen, und
zwar zwischen sich selbst und dem Inhalte Ihrer Angstvorstellungen,
deren Abbilder plötzlich auf dem Papier standen. Und was Sie mit
dem größten Staunen erfüllt: Sie sind auf einmal frei
davon. Diese Phobien konnten nun zweierlei Ursprung haben: erstens
individual-psychisch, in dem sich Ihre Sexualität durch
Verdrängung in Angst verwandelte - was sie tut - und sich nun
die Angstinhalte (Hunde, Vögel, usw.) aus dem empirischen Leben
nach dem Gesetz der Assoziation herausgeholt hätte. Das ist die
Methode Freuds, nach der wir zuerst die Behandlung versuchten. Da sie
aber zu keinem Ergebnis führte, so mußten die Angstinhalte
eine andere Herkunft haben. Diese Methode Freuds ist nicht etwa
falsch, sondern sie erklärt nur diejenigen Fälle von
Neurose und Traum, die wir selbst in unserm Unbewußten
inszeniert haben. Nun gibt es aber außer dem individuellen
Unbewußten noch ein sogenanntes Çkollektivesë, das
Gemeingut des Menschengeschlechtes ist und von C. G. Jung entdeckt
wurde. Dessen Inhalte sind autonom und werden nicht vom Individuum
erzeugt. Es ist ein Unterschied, ob ich von meinem Vater träume
oder ob mir mein Vater im Traum erscheint; dieser zweite Fall setzt
den Eingriff eines Psychisch-Objektiven, von außen Kommenden
voraus. Die Griechen haben das gewußt und unterschieden daher
die ((enupnia)), die ich selber mache, von den ((oneirata)), die von
den Göttern stammen; und nur diesen galt ihre Aufmerksamkeit. So
auch stammen jene angsterregenden mythischen Fabelwesen nicht aus der
Einzelseele, sondern sie sind psychisch-objektiv, das heißt
autonom, und dringen von außen her auf den einzelnen ein. Ob
sie überhaupt objektiv sind, diese Frage hat die Psychologie
nicht angefaßt, und sie hat auch nicht die Mittel dazu.
Daß aber die mythischen Gestalten nicht willkürlich
gebildet werden können, also ein consensus des Mythischen
besteht, das erklärt sich aus dem kollektiven Unbewußten.
Die Erkrankung nun, das heißt in Ihrem Falle die Angstneurose,
entsteht dadurch, daß Sie irgendwann in einem unbedachten
Augenblick, der einem Infektionsmoment ähnelt, diese Gebilde in
sich hineingelassen haben, so daß sie überrumpelt wurden.
Auf einmal waren Sie ein Gefangener dieser Mächte, und alles
Anrennen dagegen half Ihnen nichts; denn wie immer, so auch hier, ist
das Objektive das Stärkere. Eine besondere Infamie der Neurose
ist es nun, in Ihnen die Überzeugung zu wecken, daß sie in
Ihnen stecke, wie ein Tumor im Gehirn. Von hier an beginnt die
Verzweiflung. Durch den Akt des Zeichnens nun haben Sie die Lage
geklärt; Sie haben die Angstvorstellungen objektiviert und sich
selbst gegenübergestellt; von Stund an waren sie ein freier
Mann. Denn ins Objekt gehören sie hin. Außerdem haben Sie
damit einen kulturhistorisch bedeutsamen Prozeß in
verkleinerter Form wiederholt; denn die ganze Menschheit hat von
jeher dasselbe getan: sie hat die andrängenden psychischen
Mächte, die sie zu erdrücken drohten, durch bildliche und
worthafte Mittel gebannt. Diese Zaubermittel sind von Natur
häßlich, dennoch sind sie die Basis für die bildende
Kunst und die Dichtung, indem die Schönheit sich ihrer
bemächtigt. Dieser große Griff ist erst den Griechen
gelungen, und er bedeutet ihre Unsterblichkeit.«
Man beachte also die Stadien des Heilungsprozesses, der hier vor sich
ging: erst nimmt der Patient seine Phobien als »psychischen
Tumor«, der in ihm liegt. Durch den Akt des Zeichnens wird
dieser zerlegt, und zwar in einen objektiven und einen subjektiven
Teil. Das Blatt Papier aber, das er mit den Zeichnungen in der Hand
hält, gehört zu den »Werken der Kultur«, also
hier der bildenden Kunst. Das, was ihm die Hand führte, sind die
amorphen mythischen Mächte. Im Augenblicke des Vollzuges aber
ist der Patient frei, »steht auf und wandelt«. Zwar
gehört hierzu noch etwas Drittes, das hier nicht behandelt
werden kann, sondern seinen Platz in dem Kapitel über den
»pathologischen Ort« im »Traktat über die
Heilkunde gefunden hat. Ferner verweise ich auf die Gestalt der
»Priesterin der Astaroth«, bei welcher derselbe
Prozeß vorlag. Freilich: Orestes wird die Erinnyen auf diese
Weise nicht los: »siehst du die
Höllen-Drachenbrut...?« Hierzu gehört noch etwas mehr;
denn diese Phobie sitzt im Ethischen fest, einer bedrückenden
Realität mehr, und hier versagen alle psychologischen
Methoden.
Neuentstehende Einzelwissenschaften werden, wenn ihre Resultate
Aufsehen erregen, leicht von einer eigentümlichen
Expansionssucht befallen, die in einer Richtung zu verlaufen pflegt,
in der ihre Bedeutung gerade nicht liegt. Der Sinn der Entdeckung C.
G. Jungs liegt darin, bewiesen zu haben, daß es
Objektiv-Psychisches überhaupt gibt. Bisher stellte man sich
unter dem »Psychischen« stets das Subjektive par excellence
vor; seit Jungs Kollektivum wird es wie von einer Art Zellteilung
befallen: und auf einmal stehen sich in ihm selbst Subjektives und
Objektives gegenüber. Und das ist ein bedeutender Schritt in die
übrige Natur hinaus. Der aber wird von der Psychologie nicht
getan, und sie hat auch nicht die Mittel dazu; statt seiner kommt
gewöhnlich ein unhaltbarer Panpsychologismus zustande. Aber das
psychologische Subjekt ist nun einmal, man mag sich drehen und
wenden, wie man will, nicht dasselbe wie das transzendentale; doch es
ist leichter zu verstehen und daher populärer. Gewonnen aber ist
das Eine: wir können heute und immer im Sprechzimmer des Arztes
feststellen, daß es objektiv-mythische Kräfte gibt, die
sich hier in rudimentärer Form melden.
*
Wäre es so, wie die Menschen vor Lamarck und Darwin dachten,
daß die Tierwelt seit endlosen Zeiten von der Schöpfung an
fest an ihre Arten gebunden sei, die sich als ewige Ideen im
Welthintergrunde befinden und sich niemals bewegten, so wäre in
der Welt nichts los; es passierte nichts, was sich eines Liedes
lohnte. Wäre es aber so, wie es sich Lamarck und Darwin dachten,
daß diese Arten selber in der empirischen Welt durch Anpassung,
Vererbung, Kampf ums Dasein entstanden wären und gar keine
Wurzel im Welthintergrunde hätten (LAMARCK: »es gibt keine
Arten, sondern nur Individuen«), so wäre gleichfalls nichts
los. Es ist aber etwas los, das des Liedes wert ist, nämlich
Geschichte. Durch die Entdeckung des kollektiven Unbewußten ist
ein Stück Bahn zur Klärung ihrer Fragwürdigkeit frei
geworden, das es vorher nicht gab und das sein Entdecker C. G. Jung
wahrscheinlich nicht einmal anerkennen würde. Indessen, es ist
oft vorgekommen, daß Entdecker keine Macht über ihre
Entdeckung haben. Seltsamerweise hat nun der bedeutende Mann für
gewisse »Kategorien der Einbildungskraft«, »Formen a
priori der Phantasie« den Ausdruck »Archetypen«
gewählt, der neben drei oder vier termini seiner Psychologie
ständig und dominierend auftritt. Er will ihn von Augustin
entlehnt haben. Es ist mir nicht gelungen, die Notwendigkeit für
die Verwendung dieses Wortes bei ihm einzusehen; diese
psychologischen »Archetypen« hätten auch anders
benannt werden können, und dadurch wäre die Verwechslung
mit dem Wort, wie es das Altertum brauchte, vermieden worden. Dieses
Wort nämlich wird fast mit Notwendigkeit der Sprache abgewonnen,
und es erläutert die platonischen Ideen und schützt sie vor
Mißbrauch, und da es bisher, wenn überhaupt, nur in diesem
Sinne verwendet wurde, so liegt hier ein tiefbegründetes
Prioritätsrecht vor. Wenn wir also von Archetypen sprechen, so
meinen wir niemals psychologische wie Jung, sondern metaphysische,
wie Platon.
Es wäre also nichts los in der Welt, das des Liedes wert
wäre, wenn eine der beiden Thesen über den Ursprung der
Tierarten richtig wäre. Sie sind es aber nicht, sondern es hatte
sich herausgestellt, daß jenes staunenerregende Phänomen
der Entwicklung, auf das man stieß, als man die ersten Funde
vorweltlicher Knochenreste freigrub, seine Wurzel in den Archetypen
der Art hat. Hier bewegt sich etwas, und was nun als Entwicklung in
der empirischen Welt erscheint, ist ein Produkt der Anpassung, die
gelingt oder fehlschlägt. Auf jeden Fall spielt sich ein
paläontologisches Drama von größter Tragweite ab, das
in den erdgeschichtlichen Zeitaltern seine Szenenbilder findet.
SCHOPENHAUER hat es hier wieder einmal, wie so oft, verstanden, der
Natur hinter die Kulissen zu schauen. Seine Lehre von der Einheit des
Willens gibt Aufschlüsse, die sonst keine Philosophie zu bieten
vermag, möge sie im übrigen besser fundiert sein.
»Jede Thiergestalt, ist eine von den Umständen
hervorgerufenen Sehnsucht des Willens zum Leben: z. B. ihn ergriff
die Sehsucht, auf Bäumen zu leben, an ihren Zweigen zu
hängen, von ihren Blättern zu zehren, ohne Kampf mit andern
Thieren und ohne je den Boden zu betreten: dieses Sehnen stellt sich,
endlose Zeit hindurch, dar in der Gestalt (platonische Idee) des
Faulthiers. Gehen kann es fast gar nicht, weil es nur auf Klettern
berechnet ist: hilflos auf dem Boden, ist es behend auf den
Bäumen, und sieht selbst aus wie ein bemooster Ast, damit keine
Verfolger seiner gewahr werde.« (»Wille in der Natur«,
zweite Auflage; S. 35. Sperrungen von mir.) Dieses
»Faulthier-sein-wollen« ist es, das wir meinen und auf das
wir jetzt unser Augenmerk richten. Oder »So z. B. hat der
Ameisenbär nicht nur an den Vorderfüßen lange Klauen,
um den Termitenbau aufzureißen, sondern auch zum Eindringen in
denselben eine lange cylinderförmige Schnauze mit kleinem Maul
und eine lange, fadenförmige, mit klebrigem Schleim bedeckte
Zunge, die er tief in die Termitennester hineinsteckt und sie darauf
mit jenen Insekten beklebt zurückzieht; hingegen hat er keine
Zähne, weil er sie nicht braucht. Wer sieht nicht, daß die
Gestalt des Ameisenbären sich zu den Termiten verhält wie
ein Willensakt zu seinem Motiv? (Sperrung von mir.) Dabei ist
zwischen den mächtigen Armen, nebst starken, langen, krummen
Klauen des Ameisenbären und dem gänzlichen Mangel an
Gebiß ein so beispielloser Widerspruch, daß, wenn die
Erde noch eine Umgestaltung erlebt, dem dann entstandenen Geschlecht
vernünftiger Wesen der fossile Ameisenbär ein
unauflösliches Rätsel seyn wird, wenn es keine Termiten
kennt.« (ebenda S. 39)
Der Ameisenbär wäre also die gelungene Fleischwerdung des
Verlangens, sich von Termiten zu nähren, das den Charakter des
sonderbaren Lebewesens bestimmt. Aber man unterscheide: das Fressen
von Termiten ist ein empirischer Willensakt und mit jedem andern,
auch uns bekannten, vergleichbar. Das Verlangen aber, solch ein
Lebewesen zu werden und in der Welt vorzukommen, dieses Verlangen,
von dem man nicht wissen kann, ob es sich durchsetzt, dieser Wille
zum Leben überhaupt ist nicht vordergründig-empirisch,
sondern dämonisch; aber doch eben »Wille«. Wer sah
hier so tief wie Schopenhauer! Fast gelang es ihm an dieser Stelle,
uns vorzumachen, daß wir uns selber geschaffen hätten! Er
gibt sich reichliche Mühe darum.
Solche extremen Tierformen, wie das Faultier und der Ameisenbär
hat es unzählige in der uns bekannten Fauna gegeben. Sie wirken
wie Herausforderungen, und sie sind es auch. Denn ihr Wollen ist
partikulär; Faulsein wollen und Termitenfressenwollen und das
als Lebensinhalt, das ist fast frivol. Aber die Natur hat sie
zugelassen. Nirgends besser als an diesen Tierformen aber kann man
SCHOPENHAUERs Satz bestätigt finden, daß die
äußere Form der »sichtbar gewordene Wille« ist.
Schnauze, Magen und Darm sind der »Hunger von außen
gesehen«, die Genitalien die Wollust von außen. Und
niemand sieht anders aus als so, wie er im Grunde seines Wesens sein
»will«. Wer ein Antlitz trägt wie das Spinozas, der
kann nicht Kompaniechef bei Wallenstein sein wollen - selbst wenn er
es »wollte«. Dieses Wollen schon ist unmöglich, und
das ist es, was LUTHER das »servum arbitrium« nannte.
So hat es besonders im Tertiär Tierformen gegeben, bei denen es
uns heute schwer fällt zu sagen, was sie eigentlich
»wollten«, so die Schrecksaurier und jene Zwischengebilde
von Vogel und Flugechsen, die wir dann - aus jetzt bald klar
werdenden Gründen - in den Mythen wiederfinden. Denn jene
Gebilde sind von vornherein, darüber herrscht Einmütigkeit,
stark bedroht. Würden eines Tages die Termiten beginnen,
auszusterben, so stünde ein so extrem spezialisiertes Lebewesen
wie der Ameisenbär am Rande des Verhängnisses. Es fiele
eine Entscheidung. Bildete sich die Körperform durch Anpassung
etwa auf den Genuß von Ameisen und Bienen um, so wäre das
ein Zeichen für die Lebensfähigkeit des Typus
»Ameisenbär« und sozusagen seine Zugehörigkeit
zur offiziellen Fauna. Oder aber, die Umbildung unterbleibt: dann
steht er auf dem Aussterbeetat. Und es ist hier Gelegenheit, ein
logisches Exerzitium zu wiederholen: das Aussterben der Termiten
wäre die Ursache für das des Ameisenbären; der Grund
aber läge in der archetypischen Schwäche und dem
verhängten Schicksal. Seine Stunde hätte geschlagen. Ebenso
ist es bei Tierarten, die plötzlich einen mächtigen Feind
erhalten, der sie mit Ausrottung bedroht. An einer bestimmten
Dezimierungsgrenze setzt dann als Gegenwirkung vom Archetypus her
ungeheure Fruchtbarkeit ein; bleibt sie aus, so ist ihr Schicksal
besiegelt.
Jene Stelle, die Schopenhauer sah, als er vom Faultier und vom
Ameisenbären sprach, ist eine Welt-Stelle. Aber sie wurde von
ihm ungenügend ergründet, da er die Achse der Natur nicht
kannte. Denn in dem »Ameisenbär-sein-Wollen« ist
zweierlei enthalten: erstens der »Wille zum Dasein«, der im
Gegensatz zu zum bloß empirischen dämonisch ist. Darunter
verstehen wir nicht einen verstärkten, rasenden empirischen
Willen, im Volkston geredet, sondern eine Variante von ihm, die ihre
Kraft unmittelbar aus dem archetypischen Potential der Natur bezieht.
Dämonischer Wille ist daher qualitativ anders und kann, je nach
dem Lebewesen, das ins Dasein treten will, von ganz verschiedener Art
sein .Der Zeisig hat einen anderen als der Brontosaurus. Was der
Zeisig »will«, können wir leicht ablesen; jene
ungeheure Heiterkeit und Grazilität, die jedesmal in uns
einbricht, wenn das Tierchen an uns vorüberfliegt: diese ist
auch »dämonisch«, sowie wir sie als Daseinsimpuls
verstehen. Hinzu kommt hier das logoshafte Element, das heißt,
die bestimmte Form. Logoshaft heißt es nach dem archetypischen
Potential zu gewendet; denn es ist ja die Urform, die hier besiegelt
wird. Nach dem Subjekt zu gesehen aber stoßen wir auf den
empirischen Begriff, der mit allen andern, sowie mit den reinen
Verstandesbegriffen durch die Logik verbunden ist. Das alles aber ist
in jedem Zeisig, der am Zweige der Birke hängt, lebendig, und
ohne dies wäre sein Dasein so wenig möglich wie ohne
Materie.
Die Wissenschaft der Paläontologie, die seit einem Jahrhundert
sich so erfolgreich aufgetan hat, zeigt uns nun, wie seit
Jahrmillionen Tiergestalten ins Dasein drängen, die oft bald
wieder zurückgenommen werden, bald aber, wie etwa das Pferd, mit
gewaltiger Persistenz die Erdzeitalter überdauern, um sich
schließlich, einem sonderbaren Drange gemäß, in den
Schutz des Menschen zu begeben. Beim Walfisch wiederum hat man das
Gefühl: hier hat ein Lebewesen nicht recht gewußt, was es
eigentlich sein wollte. Andere Mischgestalten machen den Eindruck des
Frevels; so die fürchterlichen Zwischengebilde von Vogel und
Echse, wie wir sie in der Trias finden. Und es sind überhaupt
Mischformen, die später so grausige Verwüstungen im
kollektiven Unbewußten des Menschen anrichten sollten; so etwa
die zwischen Schlange, Echse und Vogel, die als Drachen auftreten.
Man sieht hier, daß von den allgemeineren archetypischen
Machtgebilden, die sich in der Logik als Gattungen widerspiegeln,
besonders heftige Vorstöße in jenes Gebiet der doppelt-
und dreifach durchwobenen Tiergestalten unternommen werden. Freilich
sind es immer verwandte Gattungen, in denen die Natur experimentiert,
und keine Kentauren, Chimären und Sphingen, in denen der
subjektive Mythos antwortet. Andrerseits könnte vom
archetypischen Potential der Gattung der Caniden her sehr wohl einmal
ein bösartiges Lebewesen in die Welt getreten sein, das, heute
ausgestorben, die Griechen zur mythischen Vorstellung vom
dreiköpfigen Kerberos gebracht hat.
Man kann sich mit dichterischer, aber doch wahrheitsforschender
Phantasie jene kosmologischen Szenen vorstellen, in denen aus der
Tiefe des platonischen Welthintergrundes hervorkommend tierische
Wesen in die empirische Welt einzudringen versuchen, die dort bisher
noch nicht erschienen waren. Das gäbe für einen Dichter
homerischen Maßes ein Bild ähnlich dem der Unterweltszene
der Odyssee, da die kraftlosen Häupter der Verstorbenen zum
Opferblute drängen, das Odysseus bereit hält. Aber nicht
alle werden herangelassen, viele müssen in den dunklen Erebos
zurück. So drängen sich jene archetypischen Urgestalten -
die noch gar nicht Gestalt sind -, die etwas Bestimmtes oder noch
Unbestimmtes sein wollen, an die Keimbahnen der schon lebenden Arten
heran, unterschleichen sie in der Hoffnung, sie umzubilden und ihnen
ihren Stempel aufzudrücken. Vielen gelingt das, und es folgt
nun, nachdem sie unter das principium individuationis getreten sind,
die Probe aufs Exempel: ob sie den Kampf ums Dasein bestehen und so
eine neue Art sich im Leben festklammert, oder ob sie frühzeitig
zum Rückzuge gezwungen werden. Das große in Kalkstein
geschriebene Buch der Erdzeitalter jedenfalls meldet uns, daß
dieses Schauspiel stattgefunden hat. Die fossilen Knochenreste
untergegangener Arten sind da, die von jenem Ringen der Tierformen
ums Dasein Zeugnis ablegen. Aber der »Wille zum Dasein« und
sein Formcharakter - wo ist der?
Zu jeweils gleicher Zeit aber lebte der Mensch. Es gibt keine
Möglichkeit, sein Leben auf dieser Erde zu limitieren und zu
sagen: »damals gab es noch keine Menschen«; denn der
Anpassungskoeffizient ist eine unbekannte Größe. Die
Wissenschaft der Paläontologie jedenfalls rechnet heute mit
einem hohen Alter des selbständigen, vom Tiere unableitbaren
Menschenstammes. Der Mensch aber kann jenen dämonischen
Willensakt, wie ihn der Ameisenbär oder das Faultier vollzieht,
nicht begehen. Er kann nicht sagen »Ich will Mensch sein«
im selben Sinne wie jene. Ameisenbär und Faultier tun es aus der
Kraft der übergeordneten Gattung heraus, der sie angehören,
im Anschluß an sie und dem archetypischen Willen zur neuen Art,
die sie sein wollen; und immer gibt es nur die Spannung zwischen der
Art und den Individuen, auf die sie lossteuern. Der Mensch aber hat
keine Art im gesicherten Sinne der Tierheit. Mensch kann niemand sein
wollen. - Oder wie ist jenes eisige Schweigen im
Schöpfungsbericht des Buches Genesis zu verstehen, das immer
überlesen wird...? Es wird ausdrücklich und vernehmlich
verschwiegen, daß der Mensch eine »Art« habe,
während alle anderen Lebewesen ebenso ausdrücklich
»nach ihr« geschaffen werden ((kata to genos auton))* Der
Mensch ist Person; auf sie würde er stoßen, wenn er jenen
Willensakt begehen könnte, und davor zurückschrecken. Hier
liegt die Grenze, die Schopenhauer übersah, als er meinte, man
habe sich selber geschaffen. Würde so etwas möglich sein,
wie, daß ein Wesen sagt »Ich will Mensch sein« - es
fiele beim Vollzuge in jene Kluft, die zwischen den zwei
Schöpfungsakten Gottes sich auftut, tief hinein und hörte
unten dann noch die Stimme: »Adam, so bist du...?« Das aber
kann niemand auf sich nehmen wollen. - Der Mensch steht aller
Tierheit als Ausnahme gegenüber.
Der Augenblick, da der letzte Brontosaurus verendete, machte den
Dämon der Art frei; von nun an gab es nichts mehr, das da sagte
»ich will Brontosaurus sein«. Da aber nichts verloren gehen
kann, die Natur zudem ein transzendentales Kontinuum ist und die Art
dem Objekte angehört, wenngleich sie sich im Intellekt als
Artbegriff spiegelt, so entsteht die Frage: Was wird aus dem
Dämon dieser Art, wenn ihre empirischen Individuen sterben? Das
Grab des Fleisches und der Knochen ist dort, wo wir sie finden: im
Kalkschlamm der Trias. Das Grab des Dämon aber ist gleichfalls
dort, wo wir ihn finden: im kollektiven Unbewußten des
Menschen. Und zwar befindet er sich dort im Erkenntnisstadium des
Schemas. - Es besteht auch nicht der leiseste Unterschied zwischen
der Auffindung von Knochenresten im Kalk der Trias und der von
mythischen Gestalten im kollektiven Unbewußten krankgewordener
Menschen, wie meines Patienten. Nur daß die mythischen Gebilde
einer ständigen sekundären Bearbeitung durch die subjektive
mythenbildende Kraft unterliegen: also lebendig geblieben sind und
erhalten werden. Von nun an wird alles ganz licht und klar, bald wird
sich das Rätsel von Geschichte und Opfer lösen, und die
Einheit der Natur leuchtet in ihrer vollen Kraft. Es geht nichts
verloren.
Die sich unter unseren Händen zu Ende formende Theorie des
objektiven Mythos hat in den letzten Jahrzehnten Fortschritte
gemacht, wenn auch in die falsche Richtung. Immerhin war es ein
Gewinn, daß man die Herkunft von Sage, Mythos, Märchen nur
in der freien Phantasie des spielerischen Subjekts zu suchen aufgab,
weil sich sonst der Konsensus mit seinem eigentümlichen
objektiven Gefühlston nicht erklären ließ. Es
mußte etwas geben, das die allgemeine
Gesetzmäßigkeit der Mythenbildung erhellte; das aber
konnte nur etwas Objektives sein. Da verfiel man nun auf die
simpelste, aber auch gedankenloseste Erklärung: der Mensch,
dessen mesozoisches Alter man inzwischen gefunden, hat die letzten
Saurier eben einfach gesehen, und das weiter erzählt! Und an
diese Erzählungen knüpfte sich dann die breite
Ausschmückung durch die Phantasie. Das aber ist leicht zu
widerlegen: Die Augenzeugen des Unterganges der »Titanic«
im Jahre 1912 haben etwas weit Furchtbareres gesehen als es
schließlich der immerhin gewohnte Anblick eines Riesensauriers
war. Jene welterregende und symbolhafte Katastrophe ergriff damals
alle Gemüter und schuf für lange Zeit eine Art Massenfurcht
vor dem Meere. Das sind nun fünfunddreißig Jahre her, und
heute weiß man kaum noch etwas davon. Und da soll der Anblick
der Saurier und Flugechsen Erdzeitalter überdauern, auch wenn
man ein hierzu extra erfundenes Erbgedächtnis zu Hilfe ruft!
Zudem - und das ist ja die Hauptsache - erklärt diese
Erinnerungstheorie die Tatsache nicht, daß die Dämonen der
ausgestorbenen Tierarten ja im Gemüte des Menschen noch heute
lebendig sind, und zwar ungeschwächt. Was mein Patient
durchmachte und was sein Leben zu zerstören drohte, war ja nicht
bloß erinnerungsmäßige Vorstellung von Kerberos und
Sagenvögeln, sondern deren Dämonen trieben ihn um und
hetzten ihn in die Verzweiflung - solange er die falsche Haltung zu
ihnen einnahm. Kurzum: die Angst ist nicht zu erklären. Und man
braucht nur die Krankengeschichten der modernen
»Dämonischen« durchzulesen, um unwiderleglich zu
finden, daß diese Dämonen, eingebettet im kollektiven
Unbewußten des Menschengeschlechtes, noch heute lebendig sind.
Die Forschungen C. G. Jungs haben gezeigt, daß sie die
religiösen Kultvorstellungen in der gesamten Geschichte der
Menschheit beherrschen, und wir werden bald finden, welchen Anteil
sie am eigentlich Geschichtlichen im Sinne von Historie haben.
Aber vor welch einer Wundertat der Natur stehen wir hier! Und bald
wird sich dazu noch eine der griechischen Sprache gesellen. Der
letzte Schrecksaurier verendet, weil er den Kampf ums Dasein aufgeben
muß; das was sein Leben früher möglich machte, dieses
intime »ich will Schrecksaurier sein«, gelingt nicht mehr;
er kann es nicht mehr wollen. Fleisch und Knochen versinken im
Triasschlamm. Aber der Archetypus wird frei; dies natürlich
nicht im Sinne des naiven Realismus, als »Ding an sich«
herumlaufend, sondern gebunden an den subjektiven Pol der Achse der
Natur, die in diesem Augenblicke leicht erbebt. Der Archetypus nun
schwebt nicht unabhängig von den unzähligen andern umher,
sondern er hat mit ihnen eine gemeinsame Basis von logoshafter Natur,
die wiederum sich in der Logik fängt. So hat es uns Johannes
tiefsinnig gelehrt. Denn der Archetypus ist natürlich weder
Materie noch Wille. Logos aber heißt »Wort«. Diese
logoshafte archetypische Macht nun kann keinen Augenblick frei in der
Luft schweben, sondern im Momente des Verendens schlägt sie -
selbst ihrer unbewußt - um und sucht im kollektiven
Unbewußten des im Innersten anders gebauten Menschenstammes
Unterkunft. Dort eingebrochen wird sie als Dämon spürbar,
was sie von jeher war, nur jetzt rein und gewissermaßen
filtriert; und so greift sie in das Schicksal des
Menschengeschlechtes ein. Wir wissen, was für eine
Dämonenfurcht besonders wilde Völkerschaften zu haben
pflegen. - Es gibt aber eine Möglichkeit, dem andrängenden
Dämon entgegenzuwirken, und zwar vom eben entstandenen
objektiven Mythos aus. »Mythos« aber heißt
gleichfalls »Wort«. Während aber Logos sowohl das
schöpferische wie das logische Wort bedeutet, ist Mythos immer
nur das sprechende. Kaum also, daß jene Umschichtung aus der
empirischen Natur der Tierarten in das kollektive Unbewußte
vollzogen ist, hat sich auch schon die Wurzel des Mythischen in
Zauberwort und Dichtung befestigt. Beide stehen im Dienste der Abwehr
vor den andrängenden dämonischen Mächten. Das erste
übernimmt der Schamane oder Opferpriester, das zweite der
»heilige Sänger«. Beide haben in der lateinischen
Sprache sogar dasselbe Wort: vates. Denn die menschliche Phantasie
hat inzwischen begonnen, sich des Mythos zu bemächtigen, und wir
nennen das deren subjektive mythenbildende Tätigkeit.
Wenn C. G. Jung davon spricht, daß der menschliche Körper
über alle Rassenunterschiede hinweg eine gemeinsame Anatomie
aufweise, nach der man sich zuverlässig richten kann, und
dementsprechend auch die Psyche jenseits aller Kulturen ein
gemeinsames Substrat, das kollektive Unbewußte, so fragen wir:
im menschlichen Knochen kommt Kalk in organischer Form vor;
draußen in der Natur aber gibt es denselben Kalk mineralisch;
wie kommt nun dieser in den menschlichen Knochen? Die Antwort lautet:
durch den Stoffwechsel bei der Ernährung. Durch ihn stellt das
menschliche Individuum den Kontakt mit der Natur her. Ebenso aber
muß man fragen: »Wie kommen die Archetypen in das
kollektive Unbewußte?« Diese Frage aber stellt Jung nicht,
er stößt die Tür nach außen nicht auf, und es
bleibt daher bei bloßer Psychologie. Das aber ist zu wenig. Wir
dagegen sagen: es sind die echten naturhaften - nicht die
psychologischen - Archetypen der Tierarten, die im Momente des
Aussterbens durch eine Art Osmose - oder wie man es sich
verbildlichen will - ins menschliche Kollektivum eindringen und von
da an objektiv-mythisch werden. Durch diesen Einbruch aber entsteht
Angst, deren Beseitigung zum Urthema für Kultur und Geschichte
wird. Damit aber ist der Naturanschluß hergestellt.
Man muß hier Angst und Furcht deutlich unterscheiden. Furcht
hatte der Mensch, als er dem einzelnen Schrecksaurier
gegenüberstand; sie ist durch Tapferkeit besiegbar. Daher die
Drachentöter aller Kulturen. Für die Aufnahme des
Dämons aber ist die menschliche Seele zu eng und so entsteht
Angst; diese kann man nicht durch Tapferkeit besiegen, weil sie sich
im Subjekt festgewurzelt hat. Die Siegeslaufbahn beginnt hier in dem
Augenblick, da der Mensch zum Griffel greift und zeichnet, sei es auf
Höhlenwände der Urzeit, sei es im ärztlichen
Sprechzimmer. Durch diesen Akt setzt er sich - ohne es zu wissen -
mit dem Dämon auseinander: ich hier - er dort! Und, wenn an
diesem therapeutischen Vorgange gar die Schönheit teilgenommen,
so steht der Mensch durch einen Segen am Anfange der bildenden Kunst.
- Daß hier nicht gefrevelt werden darf, versteht sich von
selbst. Mir erzählte eines Tages eine Patientin von einem
Plastiker, dem es einfiel, bei einer Figur, die in Ton voll zuende
geführt dastand, eine Umknetung vorzunehmen und alle erhabenen
Partien in Vertiefungen zu verwandeln und umgekehrt. Vor dem
schrecklichen Anblick aber, der hier entstand, sei der Frevler
wahnsinnig geworden. Immerhin bezeugt es, daß er ein echter
Künstler war.
Der Übertritt des Logos in den Mythos gehört zu den
tiefsinnigsten Meistergriffen der griechischen Sprache und zeugt von
einem echten Geschehen in den Dingen selber. Hier kann man es mit
Händen greifen, daß die Sprache »von Natur« ist,
denn wenn etwas an einer Stelle so ganz genau stimmt wie hier, so tut
es das der Möglichkeit nach immer. Hier war einmal die
Sprachdecke genau so groß wie das Sachgut und dieses wie das
Gedankengut. Dabei entsinnen wir und, daß wir immer noch den
alten Sokrates im Gespräch mit Kratylos haben stehen lassen,
obwohl nun schon etliche Winter darüber gegangen sind...
*
«Der Archetypus aussterbender Tierarten tritt im Todesmoment des
letzten Individuums durch einen osmoseähnlichen Akt in das
kollektive Unbewußte des menschlichen Geschlechtes über
und wirkt dort als objektiv- mythische Kraft«: dieser unser Satz
hat einen unverkennbar dogmatischen Geschmack an sich und kann, auf
eine wahrheitsdürstende Menge Halbgebildeter losgelassen,
Verheerungen in deren Gemütsleben anrichten, wie wir es etwa bei
den anthroposophischen Dogmen erleben. In der Tat hat er etwa die
Erkenntnisqualität der Reïnkarnationslehre, - wobei aber
gleich zu bemerken ist, daß ohne sie nicht auszukommen ist. Die
meisten Denker haben sie nur heimlich bei sich versteckt, wie wir das
sogar bei Kant finden. Man muß den Mut haben, den Satz zu
gebrauchen, dann aber hält er auch Wort. Denn wie will man den
Tierkult und, daran anschließend, die Tierkultur erklären?
Warum stehen jene rätselhaften Standbilder am Nil: Sphingen und
Menschenleiber mit Vögelköpfen, die göttliche
Verehrung genossen? Hier entstand doch der gypter aus
bloßer Urbevölkerung! Diese aber wurde in der Form der
Massenerregung bedrängt von angsterregenden Motiven
dämonisierender Art und tat unter der Führung des
Schamanentums dasselbe wie mein Patient, als er zu zeichnen begann.
Weil dies aber ein ganzes Volk tat, mit dem Staat im Hintergrunde,
deshalb trat hier eine Apotheose ein; es bekam seine Götter, und
die Götter bekamen ihr Volk. Diese Götter aber sind
wirklich, und zwar nicht bloß im Rahmen des psychologischen
Unbewußten, sondern in dem der Natur, denn sie stammen ja vom
dämonischen Willen ausgestorbener Tierarten zum Dasein und haben
Stromrichtung vom Objekt auf das Subjekt. Götter und
Dämonen aber sind, auch bei den Griechen, dasselbe gewesen und
nur dem Range nach verschieden. Wäre nun jener Vorgang
bloß psychologisch, so gäbe es keine Apotheose; da er aber
von der Natur stammt und das Objekt stärker ist, so sind auch
die Götter auf einmal da, die, um dem Volke gnädig zu sein,
Opfer und Gebete fordern. Und sie sind deshalb wahre Götter
geworden und nicht bloß Tierdämonen geblieben, weil sie
inzwischen durch das mythenbildende Gemüt des Menschen
hindurchgegangen waren wie durch ein Filter; nun stehen ihre
rätselvollen Standbilder da als Produkte jener andrängenden
angsterregenden Macht, die wir das Objektiv-Mythische nannten, und
der fabulierenden Kraft des mythenbildenden Subjektes. Daß hier
nun ägyptischer Stil entstand, das hat denselben Grund wie der
Einzelne seiner Zeichnung die Prägung seines Charakters nach
graphologischen Gesetzen aufdrängt.
«Das untergehende Tier hinterläßt die Spuren seines
Archetypus im kollektiven Unbewußten des Menschen« - so
ist der Satz auch auszudrücken, durch den das von Jung entdeckte
Kollektivum erst seinen Naturanschluß erhält. Der Mensch
aber steht hier dem Tier in charakteristischer Weise völlig
selbständig und unableitbar gegenüber; sein
Schöpfungsbefund enthält eine durchaus andere Dramatik. Die
Entwicklungsgeschichte der Tierarten verläuft laut
paläontologischer Aussage in langen oder kurzen Linien je nach
der Persistenz: die einen halten länger durch, die andern
verschwinden wieder früh. Der Mensch aber hat mit sich selbst
etwas ganz anderes zu tun. Seine Entwicklung ist zirkulär in
sich selbst, kyklodisch ((genesis en kuklos)). Da ist zunächst
das gewaltige anthropologische Massiv seiner sekundären Rasse,
das schier undurchdringlich ist; nach unten zu befinden sich schon im
Stadium der Abstoßung alle ethnologischen Unterrassen nach Art
der Maoris, Pygmäen, Feuerländer, Neandertaler,
Eiszeitmenschen, und ganz in der Ferne sieht man, schon
abgestoßen und längst nicht mehr zurückfindend, den
Affen mit seinem erinnerungsschweren Auge sein sonderbares Dasein
verträumen. Nach oben zu stößt man auf die langsam
sich abhebende dünne Schicht der primären Rasse, die von
der genialen Zone durchkreuzt wird; an ihr allein kann man erkennen,
was mit dem Menschen überhaupt gemeint sein möge. Dann
kommt die Heroen-Rasse, die die Basis für das Epos bildet. Noch
weiter hinaus liegt die Menschensohn-Sphäre. Zwischen all dem
aber waltet noch das principium personalitatis als Reiz und
Verhängnis des Menschengeschlechtes. Man sieht: das ist ganz
etwas anderes. Und in das psychologische Kollektivum dieses
Menschenwesens brechen seit Jahrmillionen die Archetypen der
ständig absterbenden Tierarten ein und werden im Momente der
Berührung objektive mythische Kräfte. Mit ihnen hat der
niedrigste der Maori in seiner Art ebenso zu tun, wie der
Menschensohn - der freilich die Mittel hat, sie in Schach zu
halten.
9. DER PRAKTIZIERENDE PLATONISMUS UND DIE ABENDMAHLLEHRE
Die Frage, »wie die Vernunft in die Philosophie kam«, ist
bekanntlich zuerst von NIETZSCHE gestellt worden (in der
»Götzendämmerung«) und hat höchstes
Erstaunen erregt, da ja, seit den Tagen des Aristoteles, die
Philosophie selber nie aus etwas anderem bestanden hat, denn aus
Vernunft. Der Zugang zu den platonischen Ideen wurde ja ein
vernünftiger! - Wie aber, wenn es noch einen anderen gäbe?
Einen, der nicht Weisheit zutage förderte, sondern Macht; also
auf den Willen geht. Gelingt es, an jene Weltstelle hinzukommen, die
SCHOPENHAUER im »Willen in der Natur« berührt hat: wo
da ein »Wesen« - das noch nicht ist - Ameisenbär
»sein will«, ehe es so etwas wie Ameisenbär gibt! Jene
Verwachsungsstelle also von platonischer Idee und dämonischem
Willen zum Dasein...oder, was war früher? Schopenhauer nennt die
Idee die adäquate Objektivation des Willens im Gegensatz zu den
empirischen, die dem principium individuationis unterliegen. Damit
beabsichtigt er, dem Willen den Vorgang zu geben und die Idee durch
ihn, allerdings adäquat, objektiviert sein zu lassen. Das ist
aber natürlich dogmatisch. In Wirklichkeit ist die Frage, was
früher da war, die Idee oder der Wille, so wenig lösbar,
wie die nach der Priorität von Huhn oder Ei.
Aber es gab von jeher einen praktischen Weg, dort
hineinzustoßen, und diesen beschreitet jener Schamane, der den
»Büffelgeist« aus den empirischen Büffeln durch
Tanz und Zauberwort hervorzulocken und auf Menschen zu
übertragen vermag. Der Leser entsinnt sich jener eindrucksvollen
Szene, in der der Medizinmann eines Indianerstammes in Gegenwart
eines französischen Comte aus der Zeit Louis XV. den
Büffeltanz aufführt und es dazu bringt, daß der
gepuderte Graf F. vom Büffelgeiste ergriffen mittanzt. Wir
können diese kulturgeschichtlich späte Szene als einen
verkümmerten Abkömmling des antiken Stierkultes auffassen;
sie ist ein Rudiment. Außerdem ist sie praktizierender
Platonismus. Dieser ist die eigentliche Quelle der Zauberei, die
meistens zu bösen, oft aber auch zu guten, heilwirkenden Zwecken
verwendet wird. Schamane muß man sein; jeder kann das nicht.
Das Hauptwissen des Zauberers beruht auf der durch Tradition
vererbten Erfahrung darüber, welche Mittel, die man in ihrer
Gesamtheit »Begehungen« ((teletai)) nennt, angewandt werden
müssen, um den Erfolg, nämlich das Aufrühren
archetypischer Kräfte und ihr Einströmen in den Willen, zu
bewirken. Da diese Mittel nur etwas mit dem Willen und nichts mit der
Erkenntnis zu tun haben, so erscheinen sie meist unsinnig und sind
ganz unerklärbar, werden nur durch Schamanen-Erfahrung
heraufgeholt und wirken, wie etwa das Zauberwort, nur durch das
Gesprochenwerden in der richtigen, niemals in einer anderen
Reihenfolge. »Richtig« heißt aber hier nur
»wirksam«. Es ist das also eine Stelle, an der die
Kontinuität der Natur unter Überspringung der Einzeldinge
unmittelbar durch das menschliche Wort erwiesen wird.
Bei den höher entwickelten, den eigentlichen Kulturvölkern
rückt der Schamane in den Rang des Priesters auf, der aber nun
tief eingreift und eine unvermeidliche Komponente der Geschichte
ausmacht. In jenen rund zweitausend Jahren, während welcher der
quinoktialpunkt im Tierkreiszeichen Stier stand, bestimmte die
Vergöttlichung des Stieres unter Führung des
zugehörigen Schamanentums fast die ganze mittelmeerische Kultur.
Es muß im Archetypus dieses Tieres damals etwas los gewesen
sein, das die Priester aufzufangen und als Stierkraft auf die
Menschheit zu übertragen vermochten. Anders läßt sich
die tiefe Wirksamkeit dieses Kultus, der weit ins folgende
Widderzeitalter hinein noch bei den Griechen bemerkbar ist, nicht
erklären. Denn es wimmelt im Mythos und bei den Tragikern von
Stier-Motiven. Dabei weiß man nie recht, ob der heilige Stier
eigentlich Gott oder Opfer ist. Jedenfalls gehört das
fließende Stierblut zu den bedeutendsten Begehungsakten bis
über das Ende des Widderzeitalters, also über Christi
Geburt hinaus, da schon längst das Lamm Opfertier war.
Alle priesterlich-schamanischen Begehungsworte nun - das muß
man wissen - sind so beschaffen, daß sie zum wesentlichen Teile
objektiv-mythisch, aber nicht logisch sind. Sie lassen sich also
niemals in die Begreifbarkeit überführen, sondern verharren
auf ihrem Anspruch, nur durch das Gesprochenwerden (mythos) zu
wirken. Wer diesem sakralen Anspruch nicht Folge leisten will und
nachgrübelt, »was sie bedeuten«, der stellt sich
bereits außerhalb ihrer Wirksamkeit. »Mythos« und
»Logos«, beide »Wort« bedeutend, stehen sich also
in diesen Formeln unentschieden gegenüber. - Hätte man das
von jeher gewußt, so würde der ganze
bibliothekenfüllende Streit um die Einsetzungsworte Christi
nicht nötig gewesen sein. Denn diese Worte »Dies ist mein
Leib, er für euch gegeben wird zur Vergebung der
Sünde« sind die bisher höchste Stelle, an die das
priesterlich-schamanische Zauberwort gelangt ist. Sie sind
unauflösbar und unbegreiflich, aber sie sind richtig, nur weil
sie so vom Herrn gesprochen worden sind. Daher ist das Abendmahl das
Grundsakrament des Christentums. Alle andern kann man aufgeben; auch
die Taufe. Denn man ist getauft, wenn man wünscht, getauft zu
sein, und der priesterliche Taufakt kann sehr wohl als bloße
Feierlichkeit verstanden werden. Das Abendmahl dagegen nicht.
So wie durch die Zauberworte und den Tanz des Büffelschamanen
der Büffelgeist in die Feiernden übergeht, ohne, daß
sie denken; so genießt der gläubige Christ im Abendmahle
wirklich den anwesenden Leib des Herrn und wird dadurch auf
unmittelbare, von jedem Gedanken freie Art der Gnadenwirkung
teilhaftig. Er genießt nicht das »Fleisch« des Herrn,
also das empirische, sondern den »Leib«, also das Wesen und
die innerste Art des Menschensohnes. Dieser aber ist real; denn zum
Charakter des Wirklichen gehört eben nur die Stromrichtung vom
Objekt zum Subjekt, nicht aber die Materialität, die nur ein
Fall dieser Stromrichtung ist. Voraussetzung für das Gelingen
des Abendmahles ist nur, daß es von jemandem gereicht wird, der
das kann, - und hier erhebt sich die bange Frage nach LUTHERs
»allgemeinem Priestertum«. Jener indianische Schamane steht
eben dem Vorgange näher als ein evangelischer Geistlicher
üblicher Art. Trotz aller rechtgläubig-lutherischen Lehre -
gegen Zwingli und Oekolampadius - ist es praktisch ja doch so,
daß in der evangelischen Kirche das Abendmahl eben doch nur als
Erinnerungsmahl, zwinglianisch, genossen wird. Die Nabelschnur zur
Natur ist längst durchgeschnitten, und man muß hier
schlimme Befürchtungen hegen. Protestantismus muß zwar
sein, er ist zu eigenartig geschichtlich pointiert, aber man
weiß nie recht, wozu. Zum mindesten ist das protestantische
Ingenium lutheranischer Färbung immer dazu da, vom
freigebliebenen Teil des Christentumes her dem gebundenen zu Hilfe zu
kommen.
*
Luther hat in Sachen des Abendmahles in einer Weise Wachtposten
gestanden, die einer Rettung der Religion gleichkommt. Das geschah im
Marburger Religionsgespräch vom Jahre 1529, das in der
Hauptsache zwischen ihm und Zwingli stattfand, beide mit noch anderen
als Gäste des trefflichen Landgrafen Philipp von Hessen. Den
Hintergrund -besser freilich den Vordergrund - des Gespräches
bildete ein politisches Thema. Zwingli und Landgraf Philipp wollten
eine Union aller evangelischen Länder, um dadurch einen Druck
auf die katholische Gegenpartei ausüben zu können.
Besonders Zwingli wünschte seine fünf katholisch
gebliebenen Kantone, die ihm Schwierigkeiten machten und gegen die
der tapfere Mann einst im Kampfe fallen sollte, in Schach zu halten.
Aber auch Philipp war politisch an einer Einigung interessiert.
Abgesehen aber von diesen Sonderinteressen war natürlich eo ipso
eine solche Union ein erstrebenswertes Ziel, dem man noch heute
beipflichten muß.
Nun hatte man sich über alle anderen Punkte bereits geeinigt und
hatte die Abendmahlslehre als letzten auf die Tagesordnung gesetzt,
wohl in der stillen Hoffnung, daß, wenn die anderen durchgehen,
diese wenigstens durchschlüpfen würde. Aber da stieß
man auf Luthers unbrechbares Nein. Zwingli und, ihm verwandt,
Oekolampad vertraten die Meinung, daß Jesus mit seinen
Einsetzungsworten habe sagen wollen: »Dieses Brot, das ich hier
breche, bedeutet soviel als mein Leib, und das sollt ihr nach meinem
Tode zu meinem Gedächtnis feiern«. Damit wäre also das
Abendmahl eine bloße Erinnerungsfeier, wie es ja noch heute in
den reformierten Gemeinden aufgefaßt wird. Zwingli gehört
zu den liebenswertesten Gestalten der damaligen Zeit, aber für
ihn war die Religion ein göttlich geführtes System der
Moralität. Er verstand also nicht viel davon. Luther dagegen,
eine der unliebsamen Erscheinungen, hatte einen tödlich sicheren
Blick, wenn es um das Wesentliche ging. Die Natur muß in ihrer
Rückläufigkeit durch ein Mysterium hindurch, sonst ist die
Religion nicht echt und bleibt Menschenwerk. - Da schlägt LUTHER
die Tischdecke zurück, holt ein Stück Kreide aus der Tasche
und schreibt die Worte: »Hoc est corpus meum!« als eine
unübersteigliche Wehr gegen die Feinde des Mysteriums auf den
Tisch. Und diese ist nicht überstiegen worden; das Gespräch
flog auf, und es kam zu keiner Einigung. »Wir haben einen andern
Geist als ihr!« das heißt, LUTHER hatte den Geist des
Christentums, und die andern nicht.
Diese Szene war ein symbolischer Akt - kein allegorischer, mit dem
man etwas erklären will. Symbol ist Zusammenballung im Realen.
Luther stand mit dieser Tat voll im Wirkungsbereich der reinen
Geschichte und die andern nicht. Es ging hier sogar um mehr als nur
um die Kirche. Wer kurz denkt, verwirft diese »eigensinnige
Hartnäckigkeit« Luthers und seine »Rechthaberei«;
er hätte doch beigeben können »um der gemeinsamen
guten Sache willen«. Nein, er hätte das nicht können,
genau so wenig wie in Worms. Und was ist heute schließlich jene
politische Bagatelle, die sich »Schmalkaldischer Bund«
nannte, gegenüber dem Abendmahl! Nichts gegen alles! Dieses Nein
Luthers gehört zu den großen Rettungstaten der
Weltgeschichte.
Sie wiegt mehr und ist wichtiger als seine Schrift »Daß
die Worte Christi ÇDies ist mein Leibë usw. noch
feststehen«; denn sie geschah in der mythischen Ebene der reinen
Geschichte, jene aber ist ein Erzeugnis der polemischen Vernunft. Es
ist nun schwer, gegen die Vernunft zu predigen und dies mit Worten zu
tun, denn die Vernunft notwendig anhaftet. Allein es geht nicht
anders. Wenn Luther nun mit dem sehr fragwürdigen Argument
arbeitet, »es steht geschrieben«, so muß man sagen,
daß er hier wirklich Glück gehabt hat, denn diese Worte
stehen wahrhaft geschrieben und sind gar nicht umzustoßen: aber
eben nicht aus dem Grunde, weil sie »geschrieben stehen«.
Es heißt, sich auf das Glatteis der Verbalinspiration begeben,
wenn man mit diesem Sektierer-Argument arbeitet. Denn es steht noch
eben sehr viel in der Bibel geschrieben, was ganz weit weg ist von
Gottes Wort. Diese Einsetzungsworte aber haben mit die stärkste
Prägung vom ungesprochenen Worte Gottes her, die es in der Bibel
überhaupt gibt. Sie gehören in die Ordnung der Zauberworte
und haben deren Funktion - erschöpfen sich aber auch in ihr. Das
Zauberwort (...Eiris sazun Idisi...usw.) soll Wunden heilen durch das
bloße Gesprochenwerden (mythos); die Einsetzungsworte sollen
von der Wunde aller Wunden heilen, der Erbsünde ((aphesis ths
amartias)), und sie tun es durch ihr bloßes Erklingen ohne
nderung des Textes. Sie sind Jesus in dem kritischen
Augenblicke eingefallen, da sein Leben und Sterben besiegelt waren;
die erste Station des Passionsweges war überschritten: Judas
hatte eben das Abendmahl verlassen, um dem Synedrium das
Messianitätsgeheimnis seines Meisters zu verraten. Es konnte
kein Zweifel mehr sein: es war das letzte Mal, daß er vom
Gewächse des Weinstockes getrunken hatte, und in wenigen Tagen
mußte sich alles erfüllen. Da staute sich in ihm die Frage
auf: in welcher Art er nach seinem Tode würde anwesend sein;
hierbei war die sonst unter den Menschen übliche der
bloßen Erinnerung natürlich unzureichend. Nun konnte Judas
wohl das Messianitätsgeheimnis an Kaiphas verraten; das andere
aber, das eigentliche seines Lebens, das zu verraten hatte niemand
die Macht, denn niemand verstand es: das Menschensohn-Geheimnis. Das
war nur ihm selbst bekannt. Jener kluge Theologe der
Leben-Jesu-Forschung hatte nur allzu recht, wenn er sagte, daß
dies der Schlüssel zum Rätsel seiner Persönlichkeit
sei. Da »Menschensohn« der tiefste aller Titel ist, die er
trug - nur eben mit »Sohn Gottes« auf einer Ebene, - so lag
auch sein Geheimnis am tiefsten verborgen. Und er hatte erfahren,
daß seine Unsterblichkeit eine andere sei als die der andern
Menschen, von denen er durch eine Art getrennt war. Genau so, wie
seine Personalität das Merkmal der doppelten Unendlichkeit trug
- was ihn zu Gottes Sohn machte -, genau so hatte seine
Unsterblichkeit eine Dimension mehr. Wenn er starb, so starb eine
Art. Denn die Art Menschensohn war nur durch ihn vertreten. Bei
seinem Tode also zerriß nicht nur der Vorhang des Tempels,
sondern darüber hinaus wurde das allgemeine unbewußte
Seelentum des ganzen menschlichen Geschlechtes um ihn, um sein
»sôma« bereichert; denn er drang dort ein. Das
geschah nach dem Gesetz, wonach die Archetypen einer Art beim Tode
des letzten Individuums ins kollektive Unbewußte des Menschen
gelangen. Er aber war der erste und der letzte jener Art, die den
Namen Menschensohn trägt. Da er das wußte, so wußte
er auch - es fiel ihm plötzlich ein - die Formel und den
Begehungsritus, durch den die Anwesenheit seiner Wesenheit bei den
Gläubigen verbürgt wird. Diese Formel und dieser Ritus aber
lauten: »Und er nahm das Brot, dankte, brachís und gab es
den Jüngern und sprach: ÇNehmet, esset, das ist mein
Leib.ë Und er nahm den Kelch und dankte und gab ihnen den und
sprach ÇTrinket alle daraus. Das ist mein Blut des neuen
Testamentes, welches vergossen wird für viele zur Vergebung der
Sünden. Solches tuet zu meinem Gedächtnisë«. - So
und nicht anders. Die Worte haben ungeheures Aufsehen erregt, und der
mysterienkundige Paulus vermerkt sie ausdrücklich im ersten
Korintherbrief.
Das Wort »sôma« nun, das hier gebraucht wird und das
Luther mit »Leib« übersetzt, ist nicht dasselbe wie
Fleisch; denn dann hätte dort ((sarx)) stehen müssen, was
im Neuen Testament sich immer dann findet, wenn es wirklich um
Fleisch geht. »Das Wort ward Fleisch« - da heißt es
folgerichtig ((sarx)). Hier aber geht es um mehr als bloß
Fleisch. Die Griechen verwandten das Wort »sôma«
vielfach im ähnlichen Sinne wie »demas«, das etwa in
die Nähe von Person kommt, aber mit dem Klang des Gebautseins
behaftet (demo).* Der Leib Christi ist im Abendmahl anwesend: das
heißt also eher etwa soviel als Christus selbst ist anwesend,
aber es ist doch ein gewisser Unterschied in Richtung auf das
Materielle zu, denn sonst würde die Sprache ihn nicht betonen.
Es liegt ähnlich wie beim Worte »pneuma« - dem
Gegenspiel -, das etwas vom Winde an sich hat.
Wenn man leugnen will, daß der »Leib Christi« nach
seinem Tode ins unbewußte Seelentum des menschlichen
Geschlechtes übergegangen ist, so frage man einen beliebigen
Missionar, und der wird berichten, daß sie besonders bei wilden
Völkerschaften darauf stoße und daß es nur der
Entflammung durch die Predigt bedarf, um das Unbewußte frei zu
machen: was dann Bekehrung heißt. Die richtige Art zu
missionieren ist freilich nur die, zunächst die Sprache des
wilden Volksstammes genau kennen zu lernen und dann in ihren Mythos
einzudringen; ist der richtige Griff getan, so bricht plötzlich
mit Leidenschaft die Gestalt Christi durch, die präformiert
darin war. So ist die Predigt wohl die Ursache für die Bekehrung
aber nicht der Grund, und so ist auch die Bekehrung im
mittelmeerischen Raume durch die Urapostel vor sich gegangen. Es war
immer schon etwas vorher da, das bereit lag und das auch den
consensus schuf.**
Das Apostolikum von Nicäa hat in den Worten »niedergefahren
zur Hölle« (descendens ad infernos) diesen Eintritt des
Leibes Christi, will sagen seiner selbst, ins kollektive
Unbewußte des Menschen andeuten wollen, denn wenn man dieses
näher untersucht, so findet man ein Vorherrschen höllischer
Gestalten, und da die Hölle ja kein Raum ist, so bleibt nichts
anderes übrig, als dies. - Ganz verkehrt ist natürlich die
Vorstellung des Grafen Keyserling, daß das Christentum durch
»sinnvolle Reklame« sein Aufkommen bewirkt hat.
In dem Verhalten Luthers in Marburg kann man mit großer
Deutlichkeit den Unterschied zwischen dem Genie und dem Theologen
erkennen. Es kommt gar nicht darauf an, daß Zwingli später
zu der Meinung Luthers übergetreten ist: im Grunde kann er das
gar nicht. Luther traf mit voller Sicherheit die Stelle, auf die es
ankommt, und es ist keine Spur von persönlicher Unnachgiebigkeit
und Rechthaberei zu finden; vielmehr ist alles in der Sache
begründet, und nur er hatte recht. Manche Probleme der Theologie
sind aber noch nicht spruchreif und werden es erst, wenn die
Philosophie Beistand geleistet hat. So war das zwischen Luther und
Erasmus behandelte von der »Willensfreiheit« damals noch
nicht anfaßbar, weil es noch nicht von der Philosophie auf die
ihm gebührende Höhe gehoben war: David Hume, Kant und
Schopenhauer waren noch nicht da; erst nach ihnen kann man die Frage
der Freiheit des Willens behandeln. So standen Luther auch in der
Abendmahlsfrage noch nicht die philosophischen Einsichten zu Gebote,
die wir heute haben. Trotzdem hat er richtig gegriffen.
Den Fehlgriff in dieser Sache hatte vielmehr die katholische Kirche
begangen, die von Thomas von Aquin und Aristoteles schlecht beraten
war. Sie behauptet nämlich, daß in der Messe die Hostie
durch den Spruch des Priesters in den Leib Christi verwandelt
würde. Davon aber kann gar keine Rede sein; es handelt sich
vielmehr um die Anwesenheit des Leibes Christi im Brote des
Abendmahles. Da nun trotz aller priesterlichen Bemühung das Brot
bleibt, was es ist, und der Wein auch, so verfiel man auf die
aristotelische Unterscheidung von Substanz und Akzidenz und sagte: in
der geweihten Hostie sind zwar die Akzidenzien unverändert
geblieben, also Farbe, Geschmack, Geruch, Form, die Substanz aber
habe sich in den Leib Christi verwandelt. Die Hostie tut also
bloß so. Unvermeidlich tritt hier die Vorstellung ein,
daß es sich doch um das Fleisch Christi handelt, durch welchen
unerlaubten Reiz ein starkes Movens zwar nicht für den Glauben,
wohl aber für die Suggestion entsteht. Die Reformatoren haben
diese Transsubstantiationslehre abgelehnt. Und in der Tat: es
geschieht ihr recht, daß das Wort »Hokuspokus« die
Verballhornung der Einsetzungsworte »Hoc est Corpus«
ist.*** Die Reformatoren selber aber spalten sich in den westlichen
Teil, der das Mysterium ausklammert, und in den deutschen, der es
durch Luthers Wachsamkeit in Marburg erhalten hat. Hieran aber
hängt der ganze deutsche Kulturraum.
Der große Scharfsinn Luthers in dieser Lebensfrage des
Christentums zeigt sich in einigen Sätzen seiner Streitschrift
vom Jahre 1527: »Da steht nun der Spruch und lautet klar und
hell, daß Christus, indem er das Brot reichte, seinen Leib zu
essen gibt. Darauf stehen, das glauben und lehren wir auch, daß
man im Abendmahl wahrhaftig und leiblich Christi Leib ißt und
zu sich nimmt. Wie das aber zugeht oder wie er im Brot ist, das
wissen wir nicht, sollen es auch nicht wissen. Gottes Wort sollen wir
glauben und ihm nicht Weise noch Maß setzen. Brot sehen wir mit
den Augen, aber wir hören mit den Ohren, daß der Leib da
sei« (Sperrung von mir). Luther stellt also hier den offnen
Widerspruch zwischen der Welt des Auges und der des Ohres fest. Die
katholische Auffassung versucht ihn durch die
Transsubstantiationslehre zu überbrücken. Luther tut das
nicht, sondern stellt sich auf die Seite des Ohres und
läßt die Welt des Auges dahingestellt sein. Das Wort
Gottes gehört zum Ohr und nicht zum Auge. Und wenn irgend etwas
wahrhaftig Wort Gottes ist, so sind es die Einsetzungsworte. Diese
aber sind kein Urteil, das wahr oder falsch sein kann, sondern
Zauberwort, das seine Kraft im Wirken erschöpft. Darum aber
muß aus dem ganzen sakramentalen Vorgang die Vernunft
ausgeschaltet werden: sacrificium intellectus. Voll erhalten aber
bleibt der Verstand in allen seinen Rechten. Dominierend freilich
muß der Glaube sein, der keine verminderte Vernunft ist,
sondern Kraft vom Objekte her, die im Subjekt nur die Bereitschaft
vorfinden muß.
Es ist also der höchste aller möglichen Begehungsakte, der
sich im Abendmahl vollzieht, und seine Frucht ist, daß
»nicht nur unser Leib leiblich gespeist, sondern auch unseres
Leibes Natur und Wesen zum ewigen Leben genährt, gemehrt und
erhalten und dadurch ein Glied des Leibes Christi wird« - so
begreift es Luther im Anschluß an Irenäus. Das alles aber
spielt sich in der mythischen Ebene ab. Dieser Satz erscheint
zunächst als eine Minderung, ist aber in Wirklichkeit das
Gegenteil davon. Denn solange man, wie das bisher geschah, den Mythos
in das Subjekt verlegte, verstand man unter christlichem Mythos
notgedrungen das, was der Mensch hinzugedichtet hat. Versteht man ihn
aber wie wir, dann liegt ihm das Objektiv-Mythische als ein Primum
zugrunde, und das wird durch die Vorgänge beim Tode Christi
gesichert. Daß das überhaupt da ist, das schafft die
Grundlage für den höheren Realitätscharakter des
Sakramentes. Denn real ist alles, was Stromrichtung vom Objekt zum
Subjekt hat. Bin ich in die mythische Realität eingefangen, so
habe ich einen Zuschuß und einen Vorzug vor anderen, die nur
die materielle haben. Würde man etwa -ich denke hier ein
sacrilegium - von jenem Grablinnen Christi, das in Turin aufbewahrt
wird und an dessen Echtheit m. E. kein Zweifel möglich ist, die
tatsächlich vorhandenen Blutstropfen Christi abkratzen und in
Wein vermischt trinken, ohne dabei den gebotenen Begehungsakt so zu
vollziehen, wie er vorgeschrieben: so wäre das eine bloße
Verdauung, wie jede andere auch, aber kein mythischer Vorgang; meines
Leibes Natur und Wesen würde dadurch nicht »zum ewigen
Leben genährt«. Das kann nur das Sakrament. - ADOLF HARNACK
hat eine sehr kluge Formulierung gebracht, indem er sagte:
»...nicht im ußeren spiegeln sich die Vorgänge
ab; aber die Symbole bringen der Seele das, was sie bedeuten
wirklich. Ein jedes Symbol steht mit der Sache, die es bedeutet, in
einem mysteriösen, aber realen Zusammenhang. (Mission des
Christentums, S. 169).
10. DIE GRIECHISCHE THEOGONIE UND DER GÖTTERVERFALL
Es ist eine große theogonische Tat der Griechen gewesen, vom
Tierkult abgelenkt und an seine Stelle den Menschen gesetzt zu haben.
Der Mythos spricht von der Tötung des Minotauros und der
Befreiung der Ariadne durch Theseus. Den Griechen war genau so wie
den Israeliten der Tierkult ein Greuel, wenn auch aus anderen
Gründen; er ließ das Menschentum nicht aufkommen.
Daß aber die griechischen Götter früher Menschen
gewesen seien, war ein offnes Geheimnis; man zeigte im späten
Altertum noch die Wiege und das Grab des Zeus auf Kreta. Aber die
Natur hat in diesen Menschen freilich besondere Vorstöße
gemacht, die nicht alle Tage vorkommen und die aufgefallen sind. So
ist die Zeus-Kraft zwar in jedem Menschen schwach vorhanden; man
findet sie im Geburtshoroskop, jene richtende und ordnende
Löwen-Gewalt, die vom Schafott bis zum dröhnenden
Männersaale reicht. Aber in dem, der später der Gott wurde,
war sie bis ins Dämonische hinein gesteigert. Nun bedeutet hier
dämonisch nicht dasselbe wie bei den Tierarten, sondern es ist
die äußerst gesteigerte Person. Die Griechen verwandten
das Wort daimon bei jedem Charakter, sowie er nur ganz rein er selbst
war und sehr betont hervortrat. So nennt Hektor im sechsten Gesange
der Ilias bei seinem berühmten Abschied von Andromache diese
wahrhaft Weinende »((daimonih))«, in durchaus zarter
Bedeutung; aber auch Andromache hatte den in die Schlacht
stürmenden Hektor so genannt. - Wie nun jemand, der danach war,
im Mittelalter in den »Geruch der Heiligkeit« kommen
konnte, mit all seinen Folgen, so konnte ein Heros der Antike leicht
in den Verdacht geraten, ein Gott oder Dämon zu sein. Das aber
griff die Gefolgschaft auf, und die schamanisch-priesterlichen
Charaktere betrieben dann schon bei Lebzeiten die
Vergöttlichung. Mit dem Tode aber trat die Apotheose ein, was
nur durch Begehungen möglich war, und ein besonderes Priestertum
verkündigte die Weisheit und die Macht seines Gottes. Gelang
das, so rückte der Dämon des verstorbenen Heros,
ähnlich wie die Archetypen der Tiere, ins kollektive
Unbewußte ein, der objektive Mythos bemächtigte sich
seiner, und so entstand die griechische Götterwelt. Aber
wohlgemerkt: der Eintritt in das Kollektivum ist hier erzwungen, und
zwar durch die Begehungen des Priestertums, während die
Archetypen aussterbender Tierarten von allein dorthin gelangen. Der
subjektive Mythos aber kam nun hinzu, und es entstand die
Göttersage. Bei AISCHYLOS finden wir in den ersten Versen der
Eumeniden jenen Zug des Apollon von Delos nach Delphi, der in einem
eigentümlichen Lichte gehalten ist, so daß man nicht recht
weiß, ob er noch Mensch oder schon Gott ist. Die Pythias
spricht:
»Er schwang sich von Delosí See und Klippe
sich
An Pallas segelreichem Strande landend
Und kam von dort nach des Parnasses Hang
Von des Hephaistos Kindern fromm geleitet,
Die ihm die Pfade bahnten und zuerst
Ihm hier der Landschaft rauhen Boden zähmten.
Und wie er ankommt, huldigt ihm das Volk
Samt Delphos, jener Zeit des Landes König.
Und Zeus, mit Kraft und Weisheit ihn begeisternd,
Setzt ihn als vierten ein auf diesen Stuhl.
Des höchsten Vaters Mund ist nun Apollon.«
(Übersetzung VOLLMÜLLER)
Es kann also keine Rede davon sein, daß die griechischen
Götter etwa der dichtenden Volksphantasie entstammen und sonst
nichts sind. Wir lesen bei Euripides in den »Bacchen«, wie
Dionysos um die Anerkennung als Gott kämpft und dabei jenen
berühmten dionysischen Weiberschwarm vorausschickt. Dabei fallen
die drohenden Worte, die der Apostel Paulus kannte: »Es wird
euch nicht gelingen, wider den Stachel zu löcken«. Eine
halb steckengebliebene Apotheose ist die des Herakles; er gelangte
nicht in den Olymp, und bei Homer finden wir ihn (Od. XI) im Hades;
aber man hat ihm doch Heiligtümer errichtet. Was aber zu dieser
so entstehenden Götterwelt innerlich gehörte, jener
Volksstamm am Mittelmeer, das war Grieche, eben durch die
Götter, die früher Menschen waren. Hier hat der objektive
Mythos eingegriffen. Wenn man »Griechen« denkt, so denkt
man immer die Götter mit. TERTULLIAN hat freilich gut reden,
rund zweitausend Jahre nach jenem Apotheosen-Sturm, in einer Zeit, in
der vom Senat eingesetzte Kommissionen römische Kaiser zu
Götter erklärten, wenn er sagt: »Wenn übrigens
Liber (Dionysos) deshalb Gott ist, weil er auf den Weinstock
aufmerksam gemacht hat, so hat man an Lucullus, der zuerst die
Kirschen aus Pontus nach Italien gebracht hat, nicht schön
gehandelt, weil man ihn nicht apotheosiert hat...« (Apologeticus
11). Das ist Journalistenstil des großen Kirchenvaters: er
treibt Götterhetze. Dionysos war eben Jemand, Lucull war
Feldherr und Gourmand. Die Ereignisse wogen damals, als die
Götter erschienen, schwerer.
Die Wirklichkeit der Götterwelt aber ist eine reale und
keineswegs etwa projiziert; in Jacob Burckhardts Satz: die Griechen
seien mythisch gesonnen, lassen wir das »gesonnen« weg und
sagen: sie waren mythisch. Das heißt, sie gerieten in einen
mythischen Prozeß hinein, durch den sie erst Griechen wurden.
Dieser aber kreist um den objektiven und den subjektiven Pol des
Mythischen. Der Höhepunkt nun der Götterwirklichkeit, ihre
olympische Phase, fällt in die Zeit Homers, in der das mythische
Subjekt die größte Kraft besaß, den
andrängenden Gewalten des objektiven Mythos Widerstand zu
leisten und ihnen im Epos die höchste Gewalt der Schönheit
anzutun. Daher gibt es keine Griechen ohne Homer. Wir würden
Solon, Lykurg, Leisthenes, Themistokles, Perikles gar nicht kennen,
wenn diese nicht durch den Mythos vorher zu Griechen geschaffen
wären und damit den ersten Schritt in die Geschichte getan
hätten. Für gleichzeitige Barbarenhelden interessiert sich
kein Mensch; denn sie können den Sprung in die Geschichte nicht
tun, und ihr Mythos bleibt auf bloße Stammessagen reduziert.
Der Bau der Götterwirklichkeit ist also kein anderer als der der
empirischen Realität, die man nur kantisch als Erscheinung
begreifen kann; das Baumaterial freilich ist ein anderes.
Der Verfall der Götterwelt und ihr endlicher Untergang aber
vollzog sich dadurch, daß an die Stelle der mythenbildenden
subjektiven Tätigkeit, die also dichterisch war, die Vernunft
trat. Das wiederum geschah - es wird im periklëischen Zeitalter
sichtbar - durch eine Polverlagerung der Naturachse. So wie durch
Verlagerung des Erdpoles, verursacht durch die Nutation ihrer Achse,
tropische Landschaften vereisen, so erzwingt eine leichte Bewegung
der Achse der Natur die allmähliche Entkräftung der
mythenbildenden Tätigkeit, und es entstehen statt der geglaubten
und erlebten Götter die gedachten; dadurch aber wird ihnen der
Boden des Gedeihens entzogen. Diesen Vorgang müssen die Griechen
vorher gespürt haben, denn wir sehen sie in ihrer Angst, die
Götterwelt könne versiegen, strenge Asebie-Gesetze
erlassen, die den Zweifel an den Göttern verbieten. Die Griechen
waren mit instinktiver Sicherheit an den Glauben gebunden, daß
es sie ohne die Götter nicht mehr geben könne; daher zogen
sie es vor, statt der Sache auf den Grund zu gehen, die Götter
einfach zu schützen und damit sich selbst. Wehe dem freien
Staatsbürger, der es wagte, hieran zu rütteln! Sokrates ist
dem Asebie-Gesetz zum Opfer gefallen; er und Euripides waren die
Hauptträger jener Polverlagerung. Die Wut der Athener gegen den
Denker war erklärlich, ihre Toleranz gegen den Dichter auch; der
freilich zog es vor, sich im Alter in das halbbarbarische Makedonien
zurückzuziehen.
Es war keine christliche Schmähsucht gegenüber den
olympischen Göttern - die im übrigen reichlich vorhanden
war -, wenn man sagte, sie hätten sich in böse Dämonen
verwandelt. Jeder Christ des Altertums sah vielmehr diesen
Prozeß sich vor seinen Augen abspielen und war sich nicht
einmal sicher, ob er nicht mit hineingezogen würde. Man
muß nun festhalten, was freilich nach einem Jahrhundert des
Subjektivismus schwer fällt, daß das Merkmal des
Wirklichen nicht die Materialität ist, sondern die Stromrichtung
vom Objekt zum Subjekt. Treffen die objektiv mythischen Kräfte
eines Tages nicht mehr auf das angemessene Organ der subjektiven
mythenbildenden Tätigkeit, sondern auf die Vernunft, singt da
nichts mehr entgegen im Rhapsodentakt, sondern denkt es, so
stoßen sie in Richtung auf das Subjekt ins Leere und
zertrümmern die Randgebiete: auf einmal ist es nicht mehr so,
daß diese Kräfte sich, von der Schönheit getragen, in
der ewigen Huld der Pallas sammeln, sondern es entsteht ein
Zerrgebilde, es keift und beißt, und eine neue Art von
bösen Dämonen bricht in der Tat durch. Wir lesen die
Berichte von einer unerhörten Zunahme der »Besessenen«
aus den christlichen Schriftstellern; es wimmelt davon. Und wie das
hohe Altertum der Griechen von der olympischen Göttergnade
getragen war, so wird das zerfallende von untergehenden Göttern
zerrissen. Es geht den Griechen so wie jenem Patienten, ehe er den
Griffel in die Hand nahm, nur daß ihre Hand, unsicher geworden,
ständig nach einem falschen Griffel sucht. Lesen wir uns ins
angehende dritte Jahrhundert hinein, so stoßen wir auf den
hellen Hohn des Tertullian, der diesen Prozeß hat kommen sehen.
Er weidet sich förmlich an der niedergehenden Göttermacht.
Die Götter versinken wie, nach hellenischem Mythos, die Giganten
und Titanen im Sumpf auf dem pergamenischen Altar. Aber kein Christ
hat je gezweifelt, daß diese Götter - jetzt nur noch
»Dämonen« genannt - volle Wirklichkeiten seien und
nicht etwa Hirngespinste. Damals war, so berichtet Tertullian, der
geringste der Gemeindechristen imstande, durch bloße Anrufung
des Namens Christi jeden Dämon zu stellen und ihn zum
Rückzuge aus der Seele des Besessenen zu zwingen. »Auf
eines beliebigen Christen Befehl zu reden, wird jener Geist - und
zwar mit gutem Grund - so sicher ein Dämon zu sein bekennen, wie
er sich anderswo fälschlicherweise für einen Gott
ausgibt«; »wenn sie nicht sofort bekennen, daß sie
Dämonen sind, indem sie einen Christen nicht zu belügen
wagen, so vergießt auf der Stelle das Blut dieses
unverschämtesten aller Christen!« (Apol. Kap. 23) - Was
für eine Sprache konnte die Kirche damals noch führen der
vollen Natur gegenüber! Heute muß sie sich mit einer
mickrigen »Menschenseele« begnügen. Der Name Jesu
Christi, Logos und Mythos zugleich, im Munde eines einfachen
Gläubigen tut solche Wunder! »Der Name Jesus übt
solche Gewalt über die bösen Geister aus, daß er
manchmal diese Wirkung hervorbringt, auch wenn er von lasterhaften
Menschen ausgesprochen wird« (Origines: contra Celsum I, 6).
11. EURIPIDES AN DER VERWACHSUNGSSTELLE VON GESCHICHTE
UND MYTHOS. - IPHIGENIE IN AULIS
An betonter Stelle der theogonischen Polverlagerung im hellenischen
Altertum stehen Sokrates und Euripides. Sie sind die Seismographen
des Götterverfalles; daß der Demos von Athen sie für
die Ursachen hielt, trug Sokrates Prozeß und Tod ein, dem
Euripides nur die Angriffe des Aristophanes. Man hat es ihm von jeher
zum Vorwurf gemacht, daß er in seinen Dramen, von denen nur
eines eine echte Tragödie ist, die Heroen herabsetze und auch
die Götterwelt niederbeuge. Das wäre eine schlimme Sache
und reiner Verfall gegenüber den beiden älteren Tragikern,
wenn sich dahinter nichts anderes verbergen würde. Jene Tendenz
nach unten, die bei Euripides zunächst bemerkbar ist, steht aber
bei ihm im Dienste einer anderen nach oben, die weder Sophokles noch
Aischylos mit ihren frommen Mitteln erreichen konnten. Euripides ist
der Denker unter den Dichtern und ihm sollte es gelingen, schwerste
Probleme des Daseins arte poetica zu meistern. Er und keiner sonst
trifft auf das Problem der Geschichte und des Opfers. Dahinter bebt
der Welthintergrund, und es fallen die Worte:
((polus taragmos en te tois theois eni
kan tois broteiois)) (Iph. Taur. 572)
«Ein großes Wirrsal braust im
Götterreich
Und unter den Menschen...«
«Taragmos«, das hat Anklang zum neutestamentlichen
»Peirasmos.«
Die Iphigenie in Aulis, eines seiner Meisterwerke, ist der Schauplatz
jener tiefsten Denkleistung in Mitteln der Poesie. Hier haben seine
Zeitgenossen erstaunlich aufgehorcht. Dieses Drama traf sie dort, wo
der Mythos gerade eben seine Macht an die Geschichte abgibt. Der
Agamemnon des Aischylos war noch ganz und gar eine archaische Figur,
die wie ein Bronzestandbild aus dunklem Hintergrunde hervortritt. Es
wäre ungereimt, dieser Gestalt, die nur König von Argos
ist, zärtliche Gefühle für die Familie oder gar
Seelenkonflikte zuzutrauen; dieser Charakter ist, wie alle des
Aischylos und des Sophokles, gerade eben dem Epos entstiegen, also
fertig und geschlossen, entwicklungslos; das einzig Menschliche, das
wir an ihm vernehmen, ist sein Todesschrei. Die Atmosphäre, in
der er auftritt, ist die Gewalt des Schicksals. Die Hellenen aber,
die das mit anhörten, erstarrten in eigner mythischer Macht.
Unberührbar ist dieser Agamemnon von allen Intrigen politischer
oder menschlicher Art. - Völlig anders aber geht es mit dem des
Euripides in der aulischen Iphigenie zu. Hier ist, wie überall,
Bewegung im Charakter; Euripides tut dasselbe, was der Meißel
des Phidias in der Plastik tat: er löst die Starre des Apoll von
Tenea, der noch ägyptische Züge trägt in freie
Bewegung auf.
Wir stoßen gleich in der ersten Szene der aulischen
Iphigenie auf ein zerrissenes Vaterherz. Die Flotte der geeinten
Griechen liegt in Aulis abfahrbereit nach Troja; aber der Wind setzt
nicht ein, Dürre und Seuche wüten, und das Jahr vergeht.
Die Mannen sind mürrisch geworden, und auch in die Könige
sind Zweifel und Zwiespalt gefahren: wozu eigentlich jene Fahrt? Da
hat der Seher Kalchas verkündet: Es läge ein Zorn der
Artemis gegen König Agamemnon vor, der eine heilige Hindin in
ihrem Tempelbezirk erlegt hat, und nur durch das Opfer der
Königstochter Iphigenie könne der Zorn der Göttin
besänftigt werden. Agamemnon, den der fürchterliche
Seherspruch traf, hatte eingewilligt, sein Kind zu opfern; ein Bote
war nach Mykene gesandt zur Königin Klytaimnestra, sie solle
kommen mit Iphigenie, denn Achill, Fürst von Phthia, begehre sie
zum Weibe. Das Heer wartet ungeduldig auf die Ankunft des
königlichen Wagens. - Da sendet Agamemnon, schwankend geworden,
heimlich einen Boten mit einem Brief nach Mykene: die Königin
und Iphigenie sollen nicht kommen! Denn warum, so denkt er, solle er
sein Kind dem Heere opfern und diesem Kriegszug nach Ilion, der
letzten Endes doch nur dazu da sei, seinem Bruder Menelaos die
entführte Ehegattin Helena zurückzuholen! Wie käme er
dazu...? sagt das blutende Vaterherz. Aber der Bote wird abgefangen,
und der Brief kommt in des Menelaos Hände. Ein schwerer Konflikt
zwischen den Brüdern setzt ein; Menelaos wirf Agamemnon vor, er
habe sich seinerzeit in unwürdiger - nämlich demokratischer
- Weise um den Königsposten (so könnte er etwa gesagt
haben) bemüht und jetzt, nachdem er ihn erhalten, wolle er nicht
einstehen und übe Verrat an ihm und dem Heer. Agamemnon steht
diesen Vorwürfen waffenlos gegenüber, aber es dreht sich
bei dem Streit immer um die Frage: wer ist eigentlich mehr wert,
Helena, die Buhlerin, oder Iphigenie, das unschuldige
Königskind? Und letzten Endes verläuft er im Rahmen eines
Familienkonfliktes.
Da wird plötzlich die Königin Klytaimnestra, mit ihr
Iphigenie, gemeldet, und die Verzweiflung des unglücklichen
Vaters kennt keine Grenzen. Furchtbar ist das
Begrüßungsgespräch zwischen ihm und seiner Tochter,
die ihr Schicksal noch nicht kennt und sich für die Braut des
Achilleus hält. Aber die Sache wird durch einen alten Sklaven
verraten, und plötzlich steht sich alles in seiner kalten
Unerbittlichkeit gegenüber: das zu Tode geängstigte
Königskind, die wutschnaubende Mutter Klytaimnestra und er, der
König Agamemnon mit dem gebrochenen Vaterherzen, das aber soeben
in einer andern Richtung zu heilen beginnt. In Menelaos sind
inzwischen Brudergefühle aufgekommen, und er reicht dem
Schwergetroffenen versöhnend die Hand, Ja, noch weiter; er
rät ihm: löse das Heer auf! Zieh nicht nach Ilion! Unbillig
wäre es, wenn du dein unschuldig Kind dafür gäbest,
daß ich Helena, die Schuldbeladene, wiederbekomme! Aber auf
einmal sagt Agamemnon: Nein! Er hat erkannt, daß er in eine
Zwangslage geraten ist; denn das Heer fordert von ihm die Opferung
des Kindes, es besteht auf seinem Schein; das Heer will nach Ilion.
»Flöhe ich zurück nach Mykene, sie würden mir in
ihrer Raserei die kyklopischen Mauern schleifen, sie würden
meine Kinder erwürgen, auch euch und mich: ich kann nicht mehr
zurück, denn Kalchas hat gesprochen!« Wenn im Altertum
einer jener fürchterlichen Schamanen gesprochen hatte, die
Kalchas und Teiresias: da gab es kein Entrinnen mehr. Das alles aber
- und hier spitzt es sich scharf zu - sind nur die Motive seines
Handelns, unter deren Zwang er steht: der Grund ist ein anderer.
»Nicht Bruder Menelaos hat meinen Willen geknechtet, Kind, nicht
um seinetwillen zog ich mit dem Heer nach Aulis, sondern Hellas ist
es, das mich zwingt, dich zu opfern. Denn frei soll es werden in dir
und mir, mein Kind, und nie wieder soll das Bett einer hellenischen
Königin von Barbaren geschändet werden!« - Agamemnon
ist wieder König geworden und steht auf einmal an
geschichtlicher Stelle. Diese hat er sich nicht ausgesucht, wie das
ein Ideologe tut, sondern er ist von der reinen Geschichte berufen
worden, und dieser Zwang, unter den er sich nun begibt, ist Zwang aus
Freiheit. Er kommt nur in auserlesenen Fällen vor. »Der
Mensch hat einen freien Willen, das heißt, er kann einwilligen
ins Notwendige« (HEBBEL). Iphigenie aber, die noch kurz vorher
ihr Trauerlied sang, stimmt in den Ruf des königlichen Vaters
ein, verwirft den Rettungsplan des Achill und bietet sich zum Opfer
an.
Euripides hat mit diesen Wendungen arte poetica genau in den Kern des
Geschichtlichen getroffen. Denn Geschichte spielt sich nur dort ab,
wo Personen in mythischer Atmosphäre von der reinen Geschichte
getroffen und zum öffentlichen Handeln bestimmt werden. Diese
aber - das ist ihr inneres Lebensgesetz - setzt sich niemals auf
bloße Plünderer oder Geschäftsleute nieder - wobei
das zweite nur die moderne Form des ersteren ist -, sondern dort, wo
das Mythisch-Heroische lebt. Das ist es, was uns an der Geschichte
»enthusiasmiert«, wie GOETHE es ausdrückt. Es ist die
Quelle zugleich für den epischen Gesang, wie für das
historische Ereignis selber. Troja, das wissen wir heute seit den
Ausgrabungen Schliemanns und Dörpfelds ganz genau, ist siebenmal
im Laufe der Jahrtausende verbrannt und ausgeplündert worden,
aber nur das eine Mal, das homerische, war vom Anruf der reinen
Geschichte getroffen. So singt HORAZ die unsterblichen Verse:
Vixere fortes ante Agamemnona
Multi; sed omnes inlacrimabiles
Urguentur ignotique longa
Nocte, carent quia vate sacro. (Carm. IV, 9)
Viel Tapfre lebten vor Agamemnon schon,
Doch alle werden sie tränenlos, unbekannt
Dahingerafft von langer Nacht, weil
Ihnen kein heiliger Sänger beschert war«.
[H. B.]
Der heilige Sänger aber setzt nur dort mit seinem Liede an,
wo etwas ist, was sich des Liedes verlohnt. Das aber wiederum
geschieht nur da, wo derselbe Stoff, hier also das Objektiv-Mythische
am Werke ist: hier greift das Epos als Ausdruck des
Subjektiv-Mythischen ein. Daß aber die objektiven Kräfte
des Mythos in einem Falle sich ansetzen und im andern nicht, das
geschieht nach einem uns völlig undurchdringbaren Gesetz. So
waren eben die Eroberer Trojas, die damals sich um Agamemnon
versammelten, von jener über das bloße Plündern
hinausgehenden Kraft umstrahlt, durch die ihr Feldzug sowohl
Träger eines geschichtlichen Vorganges wurde, als auch das Thema
zum Liede Homers und der kyklischen Dichter. Es ist dieselbe
objektiv-mythische Kraft, deren Herkunft wir oben abgeleitet
haben.
Man kann an keinem Beispiel das Problem der Geschichte so gut
demonstrieren wie an dem von Ilion. Es scheint uns mit seiner
ungeheuren Anziehungskraft vom Weltschicksal hereingegeben. Wer zu
Beginn dieses Jahrhunderts das Gymnasium besuchte, der lernte dort
den troischen Krieg als einen sagenhaften kennen. Der Sache nach
hieß es, sollten die griechischen Stämme das letztemal vor
den Perserkriegen in jenem zehnjährigen Kampf um Ilion im
Zustande der nationalen Einigung gelebt haben; aber, so meinte man,
das sei eben alles Sage, Dichtung, Produkt Homers und der kyklischen
Sänger. In Wirklichkeit beginne die griechische Geschichte mit
der dorischen Wanderung, und von da an ging man gleich zu Solon und
Kleisthenes über; Lykurg sei auch eine sagenhafte Gestalt, also
ungeschichtlich. Dabei merkte man nicht, von wem man eigentlich
redete; man übersah, daß man weder die dorische Wanderung,
noch Solon, noch Kleisthenes und Themistokles auch nur eines Blickes
würdigen würde, wenn diese alle nicht die
homerisch-mythische Substanz als geschichtliches a priori in sich
getragen hätten. Ein Solon, der die Ilias nicht auswendig kann,
ist eben kein Solon, sondern heißt nur so. An diesen
schwierigen Gedankengang muß man sich erst gewöhnen, wenn
man das historische Problem verstehen will. - Von jeher freilich gab
man zu, daß möglicherweise in diesen Sagen ein
»wahrer Kern« enthalten sei, den man dann, nur deshalb,
weil hier etwas passiert war, einen geschichtlichen nannte; als ob
das Passieren schon an sich etwas Geschichtliches sei!
Nun ist der Wind in den letzten Jahrzehnten deutlich umgeschlagen.
Die Grabungen Schliemanns und Dörpfelds haben es erzwungen,
daß man heute dem troischen Kriege geschichtliche Realität
zuerkennt. Man spricht von den Heerführern der Griechen mit
einer Selbstverständlichkeit als von historischen Gestalten, wie
von den Generälen Friedrichs des Großen. Und in der Tat:
es liegt auch nicht der allergeringste Grund dazu vor, abzuleugnen,
daß Agamemnon König von Mykene, Menelaos König von
Sparta war, daß in Pylos der alte Neleide Nestor als Herrscher
saß und Odysseus auf Ithaka, dem heutigen Leukas. Der
Unterschied zu der sonstigen Historie liegt nur in der mangelnden
Kontinuität: es klafft ein zeitlicher Spalt von mehreren
Jahrhunderten zwischen der Zerstörung Trojas und den ersten
Ereignissen, die man üblicherweise als »historisch
beglaubigt« anerkennt. Wie im Weinkeller eines alten Schlosses
in einer vergeßnen Ecke ein Jahrgang lagert, bei dem die
Mäuse die Etiketten abgefressen haben: der Wein ist sehr alt,
aber darum hört er doch nicht auf, Wein zu sein und denselben
Gesetzen der Gärung und Reife zu unterliegen. Dieser zeitliche
Spalt gab der subjektiven mythenbildenden Kraft Gelegenheit, sich auf
das Lebendigste auszuwirken, lebendiger, weil historisch betonter als
etwa der Kampf der »Sieben gegen Theben«, dem
natürlich auch mehr historische Wirklichkeit zugrunde liegt als
die Wissenschaft zugeben will. Nur: dieser Krieg war von der reinen
Geschichte her gesehen nur schwach getroffen; auf dem troischen aber
ruhte ein gewaltiger mittelmeerischer Akzent.
Jene Umwandlung in der Beurteilung des troischen Krieges beruht
einzig und allein auf dem Gedanken Schliemanns, daß Homer in
seinen Ortsangaben die Qualitäten eines Reiseführers
besitze. Seitdem ist nicht nur das Problem des troischen Krieges
gelöst, sondern das der Geschichte selber an seiner
entscheidenden Stelle getroffen. Das freilich hat der sonst einfache
Schliemann nicht begriffen. Denn nicht obwohl der troische Krieg
mythisch ist, ist er doch geschichtlich, sondern weil er es ist.
Dieser Satz aber ist nur dann richtig, wenn man vorher sorgsam
zwischen dem objektiven Mythos und der subjektiven mythenbildenden
Tätigkeit des Dichters geschieden hat. Weil die achäischen
Heerführer mythisch-heroisch sind, deshalb wurde dieser
(sechste) Plünderungsfeldzug ein historisches Ereignis, deshalb
fand er in Homer den heiligen Sänger und deshalb wurde der
homergeleitete Mythos das geschichtliche a priori des hellenischen
Volkes. Bloßes Heldentum macht das nicht. Wenn wir von den
Helden der beiden Weltkriege sprechen, so ist das etwas anderes;
Helden sind noch keine Heroen, sondern können ohne Rest ethisch
bestimmt werden als Exemplare der Tapferkeit. Doch an ihnen geht der
heilige Sänger vorbei...«vixere fortes ante
Agamemnona...« Heroentum aber ist Heldentum, durchtränkt
vom Mythos, der unergründlich aus der Tiefe der Natur stammt.
Die Ur-Heroen, aber befinden sich stets im Kampf mit Ungeheuern und
Tiergottheiten einer alten Welt, so Theseus und Herakles. Was aber
von diesem mythischen Geiste nicht angeweht ist, das wird von der
Geschichte ausgelassen, die sich niemals um Tugendbolde
kümmert.
Auch an diesem Orte der Problemstellung hält die Beziehung
Mythos-Logos, deren sprachlichen Tiefsinn wir schon einmal
bewunderten, ihr Wort. Es darf nämlich nicht der wildumwuchernde
Mythos sein - was die Griechen am liebsten hatten -, sondern in
diesem Mythos muß vom Logos her ein teleologisches Thema
einbrechen, das von der reinen Geschichte heraufgebracht wird und
seine bändigende Kraft ausübt. EURIPIDES läßt es
die Iphigenie in Aulis sagen:
»....Ich gebe Griechenland mein Blut.
Man schlachte mich, man schleife Trojas Feste!
Das soll mein Denkmal sein auf ewige Tage,
Das sei mir Hochzeit, Kind, Unsterblichkeit!
So willís die Ordnung und so seiís. Es
herrsche
Der Grieche und es diene der Barbar!
Denn der ist Knecht, und jener frei geboren!«
(SCHILLER)
Hier wird also ein objektives Thema angeschnitten, das sein Wurzel
nicht im Mythos hat. Man hört die Perserkriege schon von ferne
heraufdröhnen, und die Selbstbejahung des freien Hellenentums in
einem Groß-Hellas: das ist ein politischer Gedanke. Nie wieder
soll es einem Barbarenfürsten erlaubt sein, das Bett einer
hellenischen Königin zu schänden!
Aber noch etwas anderes soll für alle Zeiten unmöglich
gemacht werden, etwas, was vom Dichter wegen seiner Poesielosigkeit
nicht behandelt wird. Die griechischen Stadtstaaten waren, da der
Boden zu wenig Getreide trug, auf Zufuhr aus dem Pontosgebiete
angewiesen. Ihre Schiffe also mußten den Hellespont und die
Dardanellen passieren: dort aber saßen die troischen
Fürsten samt ihrem Anhang ((epikouroi)) und erhoben Zoll. Sie
hatten es in der Hand, ob Hellas bei einer Mißernte verhungern
sollte, zum mindestens aber, wie teuer ihm sein Brot zu stehen kam.
Das aber war ein politisch unerträglicher Zustand,
vorausgesetzt, daß das Subjekt dieser Politik, nämlich
Hellas, als eine Einheit existierte. Diese Existenz aber war nur
verbürgt, wenn diesem Hellas im archetypischen Sinne (nicht im
ideologischen) eine Idee zugrunde lag, deren Wurzel in der reinen
Geschichte liegt und deren Sprache der hellenische Mythos ist. Das
jahrhundertelange vergebliche Ringen um diese Einheit Hellasí
ist, wie bekannt, dessen politische Tragödie. Ein Volk freilich,
das als eine Leidenschaft das Scherbengericht zur Beseitigung
überlegner Männer und das stattlich konzessionierte
Sykophantentum zur Ausplünderung des Besitzes bestätigte,
ein solches Volk konnte nicht hoffen, dieses Ziel zu erreichen. Aber
als Thema war es da.
Was also die Freiheit der Dardanellendurchfahrt angeht, so zeigt
dieses noch heute nicht erloschene Motiv an, daß Geschichte
niemals sein kann ohne Materie; die Materie der Geschichte aber ist
die Ökonomie. Was keine ökonomische Grundlage hat, das ist
nicht geschichtlich: darum zum Beispiel ist der Nibelungenzug zur
Etzelburg nicht geschichtlich, sondern nur mythisch. Wir würden
uns dem Verdacht aussetzen, Schulknaben belehren zu wollen, wenn wir
hier etwa damit begönnen, den sogenannten »geschichtlichen
Materialismus« zu widerlegen, was bekanntlich ebenso leicht ist
wie den erkenntnistheoretischen, und darum von uns verschmäht
wird. Kein Denkvorgang findet jemals statt, ohne daß
Eiweiß im Gehirn zersetzt wird; deswegen aber ist das Denken
selber keine Eiweißzersetzung, und die Gesetze der Logik sind
aus ihr nicht verstehbar. Ebenso wenig findet je ein geschichtlicher
Vorgang statt ohne Ökonomie: deshalb aber ist die Geschichte
nicht ökonomisch, und ihre Gesetze sind aus ihr nicht
verstehbar. Der große Thukydides hat hier das rechte Maß
gefunden, wieweit in der Darstellung geschichtlicher Vorgänge
ökonomische Dinge berücksichtigt werden müssen. So
meint er - Kapitel 11 seines Werkes -, daß der troische Krieg
nicht hätte zehn Jahre zu dauern brauchen, wenn nicht ein
großer Teil des griechischen Heeres ständig hätte zu
ökonomischen Zwecken verwendet werden müssen; hierzu
gehörte die Landbestellung des Chersones und die Plünderung
kleiner Ortschaften der Troas. Dies beides um den Geldmangel
((achrhmatia)) zu beseitigen. So weit darf der Geschichtsschreiber im
Ökonomischen gehen, weiter nicht.
12. DIE METHODE DES THUKYDIDES
Der wahre Grund dafür, daß Thukydides der bisher von
niemandem erreichte Höhepunkt der Geschichtsschreibung ist,
liegt darin, daß er die Elemente, aus denen die Geschichte
selber besteht, in genialer Umkehrung zu deren Darstellung verwendet.
Daher kommt es auch, daß er nicht überboten werden kann.
Wer hier ein Element zu wenig oder eines zu viel nimmt, der irrt im
Letzten, und sein Werk muß mißlingen. Die modernen
Historiker aber nehmen allemal ein Element zu wenig, nämlich das
mythische, weil sie, im Banne ihres Zeitalters stehend, denken, die
Natur habe nur eben gerade soviel Kräfte zur Verfügung, als
zur Bildung des aufgeklärten Menschentypus notwendig ist. Eine
derartig dürftig gesehene Natur als Hintergrund reicht aber
nicht aus, um das Phänomen Geschichte zu erklären.
Der Gegenstand nun des Thukydideischen Geschichtswerkes, der
Peloponnesische Krieg, entbehrt heute des Interesses; die Art aber,
wie er dargestellt ist, bleibt die ständig giltige. Thukydides
hat in den Anfangskapiteln 1ó23 seines Werkes das
Grundsätzliche seiner Geschichtsschreibung auseinandergesetzt.
So kurz und klar hat noch niemand darüber geschrieben. Ihm kommt
es gar nicht in den Sinn, daß der Krieg um Troja etwa nicht
passiert sein könnte, und zwar in den wesentlichen Zügen
so, wie die homerische und kyklische Dichtung ihn darstellen; ihm
kommt es nicht in den Sinn, daß es Agamemnon nicht gegeben
haben könnte. Minos von Kreta ist ihm kein sagenhafter
König, sondern ein König, an dem die Sage haftet. Hellen
aber, der Sohn des Deukalion - das reicht bereits an jene Grenze, an
der Japhet, der Sohn des Noah steht, und doch ist er ihm eines mit
Sicherheit nicht: nämlich nicht »Produkt der dichtenden
Volksphantasie«. Es ist schwer zu sagen, was ihm Herakles ist,
dem volle Realität zukommt: erdichtet aber ist er keinesfalls.
Die mythischen Kräfte, die hier am Werke waren, sind eben selber
volksgründend gewesen, und damit sind sie Elemente der
Geschichte. So wurzelt bei ihm jeder Grieche, von dem er spricht, im
Mythos, und auch Perikles ist, mag er es selber leugnen, Herakles und
Prometheus verhaftet; die Brücke bilden Minos, Pelops,
Agamemnon. Dabei ist schon die erste Zeile, die er schreibt, von
kritischem Geiste getragen: er verspricht - und hält es - sein
Werk so zu verfassen, »ohne, daß man glaube, was die
Dichter davon gesungen und durch die Kunst vergrößert
haben, oder auch was unsere Sagenschreiber ((logographoi)) mehr, um
den Leser zu vergnügen, als sich an die genaueste Wahrheit zu
binden, davon aufgezeichnet haben, weil sie niemand der Unrichtigkeit
überführen konnte« (Kap. 21). Und so entstand, das
sagt er mit bleibendem Stolz, sein Werk, das kein
»Schaustück für den Augenblick« ((agonisma es to
parachrhma)), sondern »Besitztum für alle Zeit«
((kthma es aei)) sei. Und hierhin hat er recht behalten. Folgt noch
am Schluß eine Unterscheidung von Grund ((alhthestath
prophasis)) und Ursache ((es to phaneron aitia)), die aristotelische
Klarheit hat.
Thukydides hält also mit der rechten Hand die vom objektiven
Mythos geschaffenen historischen Gestalten fest, indem er auch von
ihnen gehalten wird, um zugleich mit der linken die Anmaßungen
des subjektiven in Schach zu halten: was niemandem vor oder nach ihm
gelang. Alle nach ihm aber sind befangen vom kritischen Geist, den
sie ihre »Wissenschaft« nennen, und der sich doch hier
wieder einmal als ein »feines Mittel gegen die Wahrheit«
erweist. Denn wie soll man eigentlich einem heutigen Privatdozenten
der Geschichte helfen, der die Bilanz des friderizianischen
Unglücksjahres 1759 ausrechnet und der nun, je weiter er mit
seinem kritischen Geiste kommt, schließlich gar nicht mehr
unterscheiden kann, was denn nun eigentlich an seiner Tätigkeit
noch historisch ist und was kaufmännisch. Ihm tritt ja der
Angstschweiß auf die Stirn in dem Augenblick, da im die
historische Substanz verlorengeht und er selber nichts weiter ist als
ihr Buchhalter. Denn schließlich stößt er ja auf die
»Geschichte« irgend einer Fabrik, die die
Uniformknöpfe für das Heer verfertigte, und er selber wird
in den Strudel der ökonomischen Geschichtsauffassung
unweigerlich hineingezogen! Und man frage doch heute irgend jemanden
von diesem Metier, was nun eigentlich Geschichte sei: man wird keine
Antwort erhalten. Denn das darf er ja gerade nicht: die Werke des
objektiven Mythos als Urphänomene einfach stehen zu lassen, wie
es Thukydides tat, da gerade sie ja dem »kritischen Geiste«
unterliegen! Damit aber unterliegt die ganze Geschichtsforschung. Im
Falle Friedrichs des Großen ist diese objektiv-mythische Macht
sein Königtum. Es ist eine grundlegend andere Handlung, ob der
König eine Bestellung bei einer Knopffabrik macht oder ein
anderer Fabrikant; es ist nämlich eine historisch tingierte. Wer
immer von königlichem Geblüte ist, in dem steckt stets noch
ein ferner Nachhall von jenen Kräften, die, oft in furchtbarer
Steigerung, bildhaft in jeden Standbildern von Menschenleibern mit
Vogelköpfen sich ausdrücken, die im archaischen Zeitalter
der Griechen sich abmilderten zu dem, was Homer »heilige Macht
des Alkinoos« nannte, und die noch bis in unsere Zeit eine
deutlich gesonderte Substanz bilden. Goethe würde das
Königtum in Analogie zur Farbenlehre, »historische
Repräsentanz« nennen. Ein König aber, der sich seine
Herrschaftsbefugnis durch eine Volkswahl bestätigen
läßt und sich damit dem Volke verantwortlich bekennt -
statt für das Volk verantwortlich vor Gott -, ein solcher hat,
indem er das tut, das Königtum aufgehoben. Keine Infamie, die
ein König begeht - und sie begingen sie reichlich -, hebt die
objektiv mythische Sanktion des Königtums selber auf: eine
demokratische Wahl aber tut es sofort. Das Mythische selber aber
tritt erst hervor, wenn ein bestimmtes Zeitmaß erreicht ist.
Geschichte muß alt sein. Über den mythischen Gehalt neu
auftretender Mächte kann man erst nach Jahrhunderten
entscheiden. Es gibt daher heute noch keine eigentliche Geschichte
Amerikas oder des modernen Rußlands; damit ist nicht gesagt,
daß sie sie nicht haben können. Man spürt sogar in
beiden bereits heute eine sichtliche Suche nach mythischen
Motiven.
Je mehr man im geistigen Range der landläufigen Historiker
heruntergeht, umso mehr sieht man die Angst um die
»Wissenschaftlichkeit« zunehmen. Denn heimlich sind sie ja
alle - sie wollen es sich nur nicht zugeben - auf jene
Verwachsungsstelle zwischen objektivem Mythos und subjektiver
dichterischer Phantasie gestoßen. Die Zwangstheorie der
Aufklärung aber verlangt die Auflösung des objektiven in
den subjektiven, schließlich aber dessen Beseitigung durch den
»kritischen Geist«. Und wenn man das tut, so bleibt auf
einmal nichts übrig, was man deutlich als Geschichte bezeichnen
kann. Bei Thukydides aber blieb es übrig! Wie kommt das? Eben
weil er diesen verhängnisvollen Schritt nicht tat. Die
großen Historiker geben aber immer freimütig zu, daß
ihre Wissenschaft eine »Kunst« sei, oder wie sie es sonst
ausdrücken mögen. In der Tat: Homer und Thukydides stehen
zunächst auf genau dem gleichen Boden des Mythos. Homer aber
verwandelt ihn durch die Dichtung in Ilias und Odyssee, samt den
kyklischen Gesängen: hier ist keine Zeile Wissenschaft:
Thukydides verwandelt dasselbe durch Wissenschaft in die
»Geschichte des Peloponnesischen Krieges«, ohne eine Spur
von Dichtung. Wie die beiden Großen das machten, das ist ihr
Geheimnis; aber sie machten es. Also ist die Frage: Wie kann
Geschichtsschreibung als Wissenschaft auftreten? Eine Frage für
die Unbegabten, deren Auflösung sich nicht lohnt.
In der latenten Anwesenheit der reinen Geschichte unterscheidet sich
das Werk des Thukydides von dem des Herodot. Dort entsteht
Geschichte, hier Geschichten. Er weiß es nicht in abstracto,
spricht es nicht aus, aber, wie es die deutsche Sprache treffend
wiedergibt: er ist dieser Meinung.
Es gibt Völker ohne Geschichte. Obgleich in ihrem oft auf
Jahrtausende verfolgbaren Dasein schließlich dieselben Dinge
passieren, wie bei den spezifisch geschichtlichen: Kriege,
Palastrevolutionen, Morde, Friedensschlüsse, so bleibt doch das
Motiv der historischen Bedeutsamkeit aus. So etwa bei den Indern. Das
liegt an ihrer Religion, den beiden Systemen des Vedanta und des
Buddhismus. Beide treiben einen Keil zwischen die reine Geschichte
und den objektiven Mythos, so daß es hier zu keiner Vereinigung
kommt. Der Mythos wird, wie sich JACOB BURCKHARDT ausdrückt,
»auf das Märchen reduziert« und kommt damit unterhalb
der schöpferischen Linie zu liegen. In diesem Zustande befinden
sich aber die weitaus meisten Völkerschaften, die demnach im
Bewußtsein des menschlichen Geschlechtes nie Gegenstand der
Historie werden, sondern nur der Ethnologie. Stammessagen und
Märchen haben bei ihnen überwuchert, und es kommt zu keinem
realen Kontakt zwischen ihnen und der reinen Geschichte. Zahllos, wie
das Menschengeschlecht selber, strömen sie dahin, kommen und
vergehen, und meistens bleiben nur die Namen übrig. -
Merkwürdig, aber auch denkwürdig ist das Verhältnis
der beiden großen ostasiatischen Reiche zur Geschichte: China
und Japan. Zweifellos haben sie mehr davon als Indien; es pocht hier
etwas anderes als dort, weil das Gesamtverhältnis zum Leben ein
anderes ist. Aber die Natur ist physiognomisch bei ihnen in einen
Weise sparsam gewesen, daß wir hier doch an ein Minus
gegenüber dem Europäer gemahnt werden. Dieser stereotype
Gesichtsausdruck kann doch kein Zufall sein. Hier ist eben etwas
Bestimmtes nicht durchgebrochen, ohne das wir Europäer nicht
leben können.
Die Historiker behaupten, daß es ein »geschichtliches
Fingerspitzengefühl« gäbe, das mit instinktiver
Sicherheit entscheide, wo ein historischer Vorgang sich abspielt und
wo nicht, und welches man eben von Natur haben müsse, um ein
rechter Historiker zu sein. Es gibt also historische Urteilskraft in
demselben Sinne, wie es ästhetische, moralische, teleologische
und transzendentale gibt. Das aber besagt, daß ihr im Objekt
etwas entsprechen muß, denn sonst stieße sie ins Leere.
Das Dasein der Geschichtsschreibung beweist das Dasein eines
spezifisch geschichtlichen Agens. Es muß etwas beunruhigend
Historisches im Welthintergrunde verborgen sein, denn sonst
hätte die ganze europäische Erregung um die Geschichte
keinen Sinn. So also, wie die Kunst Bürgschaft für die
Schönheit leistet, so verbürgt die Geschichtswissenschaft
durch ihr bloßes Dasein - ob gelungen oder nicht - einen
Erregungszustand im menschlichen Geschlechte, der eine bestimmte,
wenn auch noch nicht klar erkennbare Richtung haben muß. Wenn
nicht, so gibt es nur Chronistik. Ich mache also das Experiment und
setze die historische Urteilskraft des Lesers in Tätigkeit; er
soll mir sagen, ob er in der folgenden Reihe aufgezählter Arten
von »Geschichte« stets dasselbe empfindet oder ob sich bei
ihm spezifische Unterschiede im Anschlagen seiner historischen
Urteilskraft bemerkbar machen; ich meine so, wie ein Seismograph bei
einem Erdbeben ausschlägt. »Geschichte der Malerei«,
»Geschichte des Hauses Israel, »Geschichte des
Peloponnesischen Krieges«, »Römische Geschichte«,
»Geschichte der Erfindungen«, »Geschichte
Amerikas«, »Geschichte des Hauses Rothschild«,
»Geschichte der Päpste« - »Weltgeschichte«.
Man kann die Reihe beliebig fortsetzen. Überall geschieht etwas,
und doch ist nicht alles Geschichte, so wie unsere historische
Urteilskraft es fordert. Dieses sondert vielmehr aus und eignet sich
nach einem noch undurchsichtigen Gesetz bestimmte
Bewegungsvorgänge als ihr zugehörig an; andere
stößt sie ab als nur im übertragenen Sinne
geschichtlich. Von einer Gleichsetzung jeder Art dieser Reihe mit
jeder anderen kann jedenfalls keine Rede sein. Besonders die
»Weltgeschichte« holt tief auf und macht Miene wie von
höherer Art. Möglich, daß hier überhaupt die
Wetterecke ist.
13. DIE METAPHYSISCHE WIRKSAMKEIT DES OPFERS
Diesem unsicheren Ausschlagen der historischen Urteilskraft
könnte ein Ende bereitet werden, wenn es gelänge,
Geschichte in statu nascendi festzuhalten. Ohne es zu wissen, hat das
Euripides in der aulischen Iphigenie getan, als er das Thema des
Opfers aufgriff. Der Dichter drang hier tiefer hinein, als es Denker
je vermochten; das sichert der Poesie den ebenbürtigen Platz in
Sachen der Wahrheit. -
Wir kennen das Opfer in der modernen Zeit nur in seiner
säkularisierten Form: wenn wir etwa sagen »der Soldat
stirbt den Opfertod fürs Vaterland«. Hierbei bleibt alles,
was geschieht, bis zuletzt im Banne des Zweckmäßigen.
Arnold Winckelried, der die Speere der Feinde auf seine Brust
vereinigt und damit den Kameraden eine Gasse schafft, handelt
sinnvoll und zweckmäßig. Aber diese Art von Opfer ist hier
nicht gemeint; sie kommt schon zu spät in die bereits abrollende
Geschichte hinein. Sondern von dem Opfer ist die Rede, dem alle
Merkmale des Sinnvollen fehlen und das aller teleologischen Vernunft
Hohn spricht: es ist das sakrale Opfer. Das ganze Altertum war von
der Überzeugung durchdrungen, daß günstige Wendungen
im ablaufenden Schicksal einträten, wenn das Blut des jeweils
Edelsten, das im Umkreis liegt, zum Fließen kommt. Es ist genau
derselbe schauerliche Gedanke, vor dem Jesus in Gethsemane
zurückbebte. Darum waren sich auch im ganzen Stierzeitalter mit
seiner Tiervergottung die besten Exemplare dieser Art ihres Lebens
nicht sicher; aber auch unter den Menschen-Göttern der
Widderzeit hielt das an und dauerte genau bis zu dem Moment, als
Kaiser Julianus Apostata jenes historisch verspätete Stieropfer
vollzog und - ausgelacht wurde. Der Kaiser-Priester stand mit seinem
bluttriefenden Beile da und wußte nicht, wie ihm geschah.
Die Frage aber, die im Großen hier vorliegt, lautet: hatte das
Altertum recht, das den Vollzug des Opfers mit seinem Geschehen
objektiver Art in Verbindung brachte und also daran glaubte,
daß die Götter dadurch gnädig gestimmt wurden? Oder
hat das Zeitalter der Aufklärung recht, das diesen Zusammenhang
leugnet, die Opferhandlungen als bloß subjektiv und demnach
abergläubisch betrachtet? Zu denen dann natürlich auch -
und das ist der Kern der Frage - die Opferhandlung auf Golgotha
gehört.
Die Menschheit ist schon so oft von einem »Jahrtausende alten
Vorurteil befreit worden« - öfter, als ihr gut tat -, so
etwa von dem, daß die Erde als Scheibe auf dem Meere schwimmt:
aber dabei handelte es sich um Empirisches. Hier dagegen, beim Opfer,
steht mehr im Spiel, denn die Menschheit läßt ihrem
Gefühlsleben nicht davon ab. Man kommt dabei auf den Gedanken,
daß es sich hier um eine Art anthropologisches a priori
handelt, dem, wie dem transzendentalen, doch etwas im Objekt
entsprechen muß, wenn es Sinn und Giltigkeit haben will.
»Es scheint nämlich in der Natur der Dinge nach gewissen
verborgenen Gesetzen, die nicht für jedermann verständlich
sind, begründet zu sein, daß der freiwillige Tod eines
gerechten Mannes für das allgemeine Beste die Macht und die
Gewalt der bösen Geister bricht, welche Seuchen, Mißwachs,
Stürme und dergleichen Dinge über die Menschen
bringen« - so schreibt ORIGINES (ca. Cels. I, 31), den GUSTAVE
FLAUBERT »den ungeheuren« nennt. Diese Beobachtung,
daß das Opfer »in der Natur der Dinge liegt«,
bedeutet, daß es mit zum Polgebiet der Naturachse gehört,
denn es muß ja eine bestimmte Lage haben. Das Opfer kann
demnach aus dem Menschengeschlechte nie ausgelöscht werden und
kann nie aufhören, helfende Kräfte heraufzuholen. Das aber
hat Euripides offenbar begriffen, und es beschäftigt ihn tief;
denn es kann doch kein Zufall sein, daß er, der
»Aufklärer«, der »Moderne« unter den
Tragikern, so oft und so glanzvoll das Opferthema darstellt,
während die beiden Alten davon schweigen. Noch weniger ist es
Zufall, daß von allen attischen Tragödien nur das
Opferthema der Iphigenie in die moderne Dichtung einging und bis auf
den heutigen Tag lebendig geblieben ist, während man immer die
größte Mühe hat, Meisterwerke, wie »König
Ödipus«, »Elektra«, »Agamemnon« auch in
ihren modernen Varianten auf der Bühne zu halten. Das macht:
jenes anthropologische a priori des Opferthemas kann nie seine
Wirksamkeit verlieren. Es liegt »in der Natur der
Dinge«.
Wie aber war die Lage in Aulis...? (Wir müssen das wiederholen.)
Heer und Flotte der versammelten Griechen liegen abfahrbereit nach
Troja im Hafen. Aber es kommt kein Wind auf, monatelang brütet
eine unbarmherzige Sonne und dörrt das Land aus. Hunger und
Seuchen dezimieren das Heer, Unwille und Empörung machen sich
breit: die einen wollen nach Hause, die andern drängen nach
Ilion. Es ist herumlungernde Soldateska, kein Heer. Auch die
Fürsten sind uneins, Agamemnon schwankt, und sogar Menelaos, den
es doch am meisten angeht, stimmt für die Rückkehr. Die
Situation ist alles andere, nur trägt sie keinen historischen
Akzent. Auf des Messers Schneide stand es, und alles hätte sich
aufgelöst. Das ändert sich auch nicht, als Kalchas, der
Opferpriester, das furchtbare Wort von der beleidigten Artemis
ausspricht, die nur durch den Tod der Iphigenie besänftigt
werden könne; die Spannung verstärkt sich nur. Aber das
ganze Heer samt Fürsten gerät in einen Zustand
höchster Empfänglichkeit für die aus einem sakralen
Opfervorgang frei werdenden Kräfte. In diesen hinein fällt
der Entschluß der Iphigenie für den Opfertod. Er ist ein
freier, denn die Freiheit gehört zu den Bedingungen der Wirkung.
Und das Opfer geschieht. Es gehört auf die Seite des subjektiven
Mythos, ob ihr Blut wirklich geflossen ist oder ob jene
Entführung nach Tauris stattfand. Man sieht hier, daß es
nicht immer auf das Tatsächliche ankommt, sondern auf das
Ethische, genau wie beim Isaak-Opfer. Die Szene selber reichte hin,
um die Entscheidung auszulösen:
»...zur Erde blickend stand das ganze Heer.
Der Priester nahm das Opferschwert und betete
Mit einem Blick zur Mädchenkehle für den
Stoß.
Mir aber schnitt kein kleiner Schmerz das Herz entzwei,
Ich stand den Blick zur Erde. Da: ein Wunder plötzlich
anzuschauín!
Noch hatte jeder klar den Opferstoß gesehín,
Doch niemand, wo die Jungfrau erdenwärts verschwand!
Unfaßlich Wunder, das aus Götterhand
geschah...« H. B.
(Eur. Iph. Aul. 1577)
Aber was geschah denn nun eigentlich wirklich? Daß nach dem
abgemilderten Opfer der Wind einsetzte, ist natürlich Zufall. Er
tat es, weil ein Tiefdruckgebiet sich inzwischen in Richtung nach
Ilion verlagert hatte; zwischen diesem rein meteorologischen Vorgang
und dem Opfer besteht kein Zusammenhang. Hätte der Wind vierzehn
Tage später eingesetzt, der Priester hätte triftige
Gründe dafür gefunden, denn daraufhin ist diese Kaste von
altersher geschult. Auf diesem empirischen Terrain, das freilich
für das niedere Volk allein besteht, war überhaupt nichts
geschehen. Wohl aber in jenem Raum, dem sie alle unterworfen waren,
ohne es zu wissen: im objektiven Mythos, im kollektiven
Unbewußten und in der reinen Geschichte. Dort mitten hinein
aber fiel endlich das befreiende Wort der Iphigenie und ihre
erlösende Tat. Mit einem Male war alles da, was zum
geschichtlichen Entschluß gehört; aus der lungernden
Soldateska wurde das Achäerheer gegen Ilion, dessen Stunde damit
schlug. Das Opfer aber war die zündende Tat, die das alles
zusammenfügte; denn es liegt »in der Natur der Dinge nach
gewissen verborgenen Gesetzen«. Es hatte ein geheime Weihung des
Heeres stattgefunden, und diese vollzog sich in der selben mythischen
Ebene, in der sich auch das Abendmahl abspielt. Es ist durch und
durch wirklich.
Wäre es nicht geschehen: der Wind hätte trotzdem
eingesetzt; die Soldateska aber wäre geblieben, was sie war. Ein
Teil wäre nach Hause zurückgekehrt, ein anderer nach Ilion
gefahren, um zu plündern und die heilige Stadt das sechste Mal
zu zerstören, sang- und klanglos, wie bisher. Denn dieser
Raubzug hätte keinen heiligen Sänger gefunden, den Griechen
wäre ihr Mythos zur bloßen Stammessage reduziert worden,
kein Homer und kein kyklischer Sänger hätte ihn
gebändigt und ihn so in jedes Griechengemüt
eingemeißelt; kurzum, es hätte überhaupt keinen
Griechen im historischen Sinne gegeben. Sie wären ein
mittelmeerischer Volksstamm geblieben, wie andere auch, mit leidlich
auffallender Begabung für allerhand Kunsthandwerk. Da aber das
Opfer in Aulis wirklich fiel, so wurde die Einheit Hellasí
auch in der Wirklichkeit geschaffen, die archetypisches Urbild
für alles ist, was man mit Fug und Recht seine Geschichte nennt.
- Wenn diese nun in statu nascendi so aussah: wie steht es dann in
der gleichen Lage mit der Weltgeschichte?
14. DER DURCHBRUCH VON GOLGATHA UND DIE WELTGESCHICHTE
Wer das Wort Weltgeschichte ausspricht, meint damit einen Singular.
Also nicht die zahllosen Historien vergangener Reiche, wie wir sie in
solchen Kompendien finden, die sich mit erheblicher Anmaßung
Weltgeschichte nennen, sondern die Geschichte dieser einen Welt, die
es nur gibt und die also notwendig immanent sein muß. Wäre
das Opfer der Iphigenie ausgeblieben, so wäre der Krieg um Troja
kein historischer geworden, mit ihm aber wäre auch die
Geschichte von Hellas ausgeblieben. Und wäre das Opfer auf
Golgotha nicht geschehen, so gäbe es keine Weltgeschichte. Das
ist kein Glaubensbekenntnis, sondern Wissenschaft. »Welt«
aber bedeutet stets das konstituierte Prinzip im Gegensatz zu
»Natur«, die das konstituierende ist; also ein
ähnlicher Gegensatz wie der zwischen status nascendi und actus
demonstrandi. Die Welt hat keine Achse, wohl aber die Natur. Sie
steht unter der Wucht des kosmologischen Dreiklanges: Schöpfung,
Sünde, Erlösung, der vom Historischen her durch die reine
Geschichte und den Mythos gekreuzt wird.
Das Opfer der Iphigenie hat das Volk von Hellas in den Stand der
Geschichte erhoben. Aber alle Königstöchter und
Erstgeborenen der Welt reichen nicht aus, um die Welt selber dorthin
zu erheben. Das geht über die Reichweite menschlicher Handlungen
hinaus; denn so wenig der Mensch durch noch so große
Häufung explosiver Stoffe die Erdbewegung beeinflussen kann, so
wenig langt das Opfer noch so vieler und noch so edler Menschen hin,
um Einfluß auf die kosmologische Weltbewegung zu haben. Diese
Macht hat nur das Opfer des Menschensohnes.
Im eschatologischen Denken Jesu von Nazareth - seinem wichtigsten -
tritt nach dem Zusammenbruch seines ersten Reich-Gottes-Planes
anstelle der verkündeten Haltung die grüblerische;
daß er selbst, der Menschensohn, dieses Opfer sei. Darüber
sinnt er ständig nach, wenn er sich mit seinen Jüngern in
die Einsamkeit zurückzieht. Aber er kommt nicht zum Ende und
kann es nicht, weil das sakrale Opfer im Gegensatz zum säkularen
dem Gedanken undurchdringlich bleibt und reines Mysterium der Natur
ist. In der Tat weiß er noch bei den ersten Nagelungen nicht,
was das alles für einen Sinn haben soll; aber er lehnt
betäubende Getränke ab. Völlig ratlos sind
natürlich die Jünger, einfach weil sie das immer waren.
Aber mitten zwischen den verzweifelten Worten am Kreuz: »Mein
Gott! Mein Gott! Warum hast du mich verlassen?« und dem letzten:
»Es ist vollbracht!« muß der Durchbruch in voller
Gedankenklarheit erfolgt sein. Dies ist der Augenblick, in dem die
Natur in die Welt einbricht und sie in den Stand der Heilsgeschichte
versetzt. Besäßen wir hinreichende Kenntnisse des
Gestirnstandes bei der Geburt Jesu, so könnten wir diesen auf
die Sekunde genau bestimmen.
Was aber geschah in diesem Moment, der die volle Autorität einer
Naturkrisis enthält? Die Natur bricht niemals ihr Gesetz und
arbeitet stets mit den gleichen Mitteln. In den Tagen des
Paläozoikums, in denen noch kein Tier lebte, das Augen hatte,
gab es noch kein Licht »und es war finster in der Tiefe«.
Wohl aber gab es den Lichtäther, jene unleuchtend-lichthaften
Kraftwellen, die von der Sonne ausgingen; diese war wohl da, aber sie
schien nicht. Auf der andern, der subjektiven Seite, gab es bei
einigen Würmern und den Vorläufern der Insekten und Krebse
nervöse warzenartige Gebilde am Kopf, die die Tendenz hatten,
sich jenen sie eigenartig reizenden Wellen entgegenzubilden, so, als
ob sie füreinander da wären. Und sie waren auch für
einander da. Eines Tages trat dann der Augenblick ein, da sich beides
fand; die Warze wurde Organ für die Wellen, das heißt also
Auge, und auf einmal wurde es hell, wenn auch in
allerschwächster Dämmerung. Aber die Dunkelheit war
durchbrochen, und fortan verlief das Naturgeschehen, in dem es bis zu
Menschenauge hinauf immer heller wurde, nicht mehr ohne Augen. Da nun
die Materie, die an diesem Prozeß beteiligt war, von innen
gesehen Wille ist, so kann man sagen: der Lichtäther strebte
sehnsüchtig nach dem Organ, das ihn, der sonst ruhelos
umherirrte, aufnähme. Und auf der andern, der subjektiven Seite
strebte der Organismus jener noch ganz niederen Tierheit dem
lockenden Drängen entgegen und bildete das Auge, damit es Licht
werde. Denn das Licht wird begehrt.
Nun gibt es aber noch eine andere Kraft der Natur, von der wir
wissen, daß sie einmal, lange Zeit vergeblich, nach ihrem
zugewiesenen Organ gestrebt hat ohne es zu finden. Diese Kraft ist
die Güte, vom Apostel Paulus mit dem wohlklingenden Namen
Agathosyne benannt. Die Güte aber hat ihren Raum nicht im
Empirischen, wie der Lichtäther, sondern sie liegt noch hinter
den Archetypen in der »Raumtiefe der Natur« (WILUTZKY) etwa
da, wo der johannëische Logos heimisch ist. Die Güte kann
demnach als zugewiesenes Organ kein solches von der Art der fünf
Sinnesorgane haben; sie paßten nicht aufeinander und es
käme hier nur zu inadäquaten Reizen. Vielmehr bedarf sie
eines solchen, das von transzendentalem Charakter ist. Das aber ist
allein der Eros.
Während nun bei der Entstehung des Lichtes es so zuging, wie
wenn man in einem dunkle Zimmer einen Span zum Entflammen bringt, das
Zimmer nebenan aber dunkel bleibt: geriet die ganze Welt in einen
anderen Zustand, als die Güte ihr Organ fand. Denn das
Transzendentale geht auf die Welt als Ganzes. Nun ist der Eros schon
einmal Organ geworden, nämlich »damals«, als durch ihn
die Person entstand und das principium individuationis, das für
die Tierheit allein gilt, in das der Personalität verwandelt
wurde. Dieses wahrhaft trächtige und schwer überlastete
Organ wird nun durch die Güte, die es als das ihrige sucht, zum
zweiten Male angerufen. Nachdem der Kontakt gelang, die Liebe als
Organ für die Güte gefestigt war, erscheint mit einem Male
in der Ethik dies neue Phänomen: das Altertum kannte in seinen
Höhepunkten nur Handlungen aus Edelmut oder »gute
Handlungen« aus dem Gesetz; das erste gilt für die
Hellenen, das zweite für die Juden. Jetzt aber gibt es etwas
Drittes, nämlich Handlungen aus Güte »getrennt vom
Gesetz« ((choris)). Diese sind naturunmittelbar und
unterscheiden sich auch von denen aus Edelmut. Handlungen aus
Güte sind daher christliches Privileg.
Diese Unterscheidung ist heute noch so nötig zu treffen, wie vor
zweitausend Jahren, denn noch heute vermag kein Kantianer und kein
Calvinist, aber auch kein Israelit den völlig heterogenen
Ursprung der Handlung aus Güte zu erkennen; sie leiten vielmehr
die sogenannten guten Handlungen aus dem Gesetz ab. Nur LUTHER
hält hier stand, und wäre er in seiner Übersetzung des
Römerbriefes auf den griechischen Text zurückgegangen und
hätte gelesen, was dort steht, so hätte er nicht
geschrieben »ohne des Gesetzes Werke allein durch den
Glauben«, sondern »getrennt ((choris)) von den Werken des
Gesetzes durch den Glauben«. So steht es da, so ist es auch
richtig und so allein durfte man übersetzen. Ist es denn
erlaubt, das Neue Testament zu interpretieren, ohne es in der Sprache
zu lesen, in der es geschrieben ist? War LUTHER nicht eigentlich
gewarnt worden, als er damals zu seiner tiefsten Erschütterung
in der Erasmischen Ausgabe las, daß für
»poenitentia« im Griechischen »Metanoia« steht -
und doch übersetze er mit »Buße«...? Durch jenes
verhängnisvolle »ohne« des Gesetzes Werke hat er sich
die ganze Sippschaft um Karlstadt und Thomas Münzer auf den Hals
geladen und sich damit die Reformation verdorben.
Was aber »Taten aus Güte« sind, ist freilich nur
andeutungsweise zu sagen, denn sie machen eben das christliche
Tatgeheimnis aus. Nur das weiß man mit Sicherheit: daß
die in ihnen wirksame Güte nicht Eigentum der Täter ist.
Diese durchdringende Eigentumslosigkeit des Menschen an der Güte
ist der giltigste Beweis dafür, daß sie aus dem Objekt
stammt. Und wäre er nicht im Besitze der Liebe, die sie
heraufholt, wie das Auge das Licht, so entbehrte das menschliche Tun
seiner obersten Blüte; es gäbe dann nur gute Handlungen,
vollzogen mit gutem Willen - den der Mensch halbwegs hat -,
gegründet auf dem Sittengesetz, so wie sich Kant und CalvinSiehe
Barmherzigkeit die Ethik vorstellen und wie jeder fromme Jude sie
denkt. Wäre das Opfer auf Golgatha ausgeblieben, so wäre
das menschliche Tun - und damit sein Schicksal überhaupt - um
diesen Betrag dunkler geblieben, und die Religion wäre nicht
vollzogen worden. Das heißt aber: der ganzen Natur wäre
der Weg zur Erlösung versperrt geblieben.
Die Güte ist nicht zu verwechseln mit der natürlichen
Gutherzigkeit mancher Menschen und wohl auch mancher Tiere. Diese
gehört zu deren empirischem Charakter und kann dasein oder
nicht. Auch die im Liebesleben aufkommende Neigung, dem geliebten
Partner allerhand Gutes anzutun, ist nicht gemeint. Denn diese
unterliegt psychologischen Gesetzen, und wehe ihm, wenn die Liebe
sich eines Tages in Haß verwandelt und die Rache der Medea
nimmt! Aber Schatten der Güte ist sie immerhin. Erst aber, wenn
sich die Liebe von ihrer transzendentalen Organfunktion, ohne sie
aufzuheben, ablöst und sich, der geliebten Person mit ihren
Besitzansprüchen die Treue brechend, vertrauensvoll dem reinen
Objekt öffnet - welches geschieht durch Gnade -, erst dann ist
der Standpunkt erreicht, in dem Metaphysik als Vorgang auftritt.
Transzendental ist alles das, was mit Notwendigkeit die Welt der
Erfahrung bildet, auch die der Person; Metaphysik dagegen ereignet
sich, tritt auf - aber nicht »als Wissenschaft«. Die
Güte also bricht metaphysisch ein und hilft der Welt. Niemand
aber hat Zugang zur Religion, der nicht, ob glücklich oder
nicht, die irdische Liebe kennt.
Aus alledem geht hervor, daß die Liebe, von der im Christentum
die Rede ist, unmöglich die »Nächstenliebe« sein
kann, sondern nur die wirkliche des Hohen Liedes Salomonis - das
keinerlei allegorische Deutung zuläßt - und der heidnische
Eros. Denn »Nächstenliebe« gibt es nicht; sie ist
nirgends in der Natur gegründet. Sondern Nächstenliebe soll
es geben. Was aber nicht ist, sondern nur sein soll, das kann nicht
Organ sein. Hier gibt es gar kein Entweichen: entweder so ist es
richtig, oder die Religion steht im Christentum auf Flugsand. - Wohl
aber enthält der christliche Charakter, den es seit dem
Kreuzestode gibt, die caritas als seinen wesentlichen Bestandteil.
Erst der Christ kann seinen Nächsten lieben und das Gesetz
erfüllen, gerade weil diese Erfüllung »getrennt vom
Gesetz« stattfindet. Es gibt im christlichen Menschen eine
letzte Hemmung der Humanität, die es ihm unter allen
Umständen verbietet, das Leben des Mitmenschen bedenkenlos zu
zerstören. Diese Hemmung kannte das Altertum nicht. Die caritas
ist demnach ein Produkt des christlichen Weltprozesses.
Das Umherirren des Lichtäthers, ehe er sein Organ im Auge fand,
tat nicht sonderlich weh aus Gründen der Stumpfheit des Willens
auf dieser Stufe: wohl aber das der Güte - die noch nicht
Güte war. Denn sie ist die einzige erlösende Kraft; ihr
zugewiesenes Organ aber, die Liebe, befand sich in der Hand des
Menschen schon auf einer sehr hohen Stufe tiefster Verworfenheit
durch die Erbsünde. Zwischen der organsuchenden Güte aber
und dem Organ selber lag als Naturverhängnis - das Opfer. Um
dieses Drama geht es im Christentum. Gott kann, ohne sich selbst
aufzuheben, das dunkle Opferverhängis der Natur nicht zu Fall
bringen, sondern es muß vollzogen werden. So wie die Natur in
ihrer aufsteigenden Linie in den Zeugungsakten durch ein Mysterium
der Schöpfung symbolisiert, so ist auf dem Wege
rückwärts zur Erlösung das Mysterium des Opfers als
ein undurchdringliches Geheimnis gesetzt. Dem gilt das Nachdenken
Jesu in seinen einsamen Stunden; es fragt sich für ihn, ob er
dem Opfer ausweichen könne, und als er die verneinende Antwort
erhielt, nahm er es gehorsam auf sich. Nur wenn es geschah, sprang
der Funke über, nur wenn alles bis zum Letzten ohne
Betäubung ausgehalten wurde, konnte die Liebe Organ für die
Güte werden. Das ist der Sinn der Worte »für uns
gestorben zur Vergebung der Sünde«. Also nicht, was Jesus
gelehrt hat, bricht den Bann, nicht darum dreht sich die Achse der
Natur, sondern nur um den Opfertod. Jenes ist nicht so sehr vieles
mehr, als was schon andere vor ihm lehrten; und wenn tausend
Propheten seinesgleichen unisono dasselbe gepredigt hätten: es
wäre nichts anderes dabei herausgekommen als ein kurzer
Massenwahn, und es hätte sich aufs neue erwiesen, wie
beschränkt die Reichweite menschlicher Handlungen ist. Der
Opfertod aber war eine Sanktion des Naturgesetzes aus Freiheit des
Menschensohnes, und das war ein reines Ereignis der Natur. So ist sie
nun einmal, und wir sind ihr, zu unserm Glück, unterworfen.
Die Liebe also ergreift die Güte nicht in der Art, wie die Hand
eine hölzerne Kugel ergreift, sondern wie das Auge den
unleuchtenden Lichtäther. In diesem Sinne allein ist sie Organ,
nicht wie die Hand. Denn die hölzerne Kugel ist auch ohne die
Hand hölzern und rund, die Güte aber ist nicht ohne die
Liebe Güte. Sie müssen sich treffen, sonst bleibt beiden
ihr tiefster Sinn verschlossen. Das macht: die Welt ist Erscheinung
und nicht Ding an sich. Hätten sie sich nicht - auf Golgatha -
getroffen, so wäre die Ethik des Altertums bestehen geblieben
und die Weltgeschichte um einen Akt verkürzt. So aber bekam sie
mit einem Schlage Naturtiefe. Ein ganzer Komplex von Handlungen aus
Güte entstand, der im Altertum unmöglich war und auch
nirgends bezeugt ist. Das, was das Neue Testament die »Liebe
Gottes« nennt, und was eigentlich die »Güte
Gottes« (Agathosyne) heißen muß, ist das an die Welt
abgegebene Stück Schöpferlust, von der es heißt,
daß sie »nimmer aufhört«. Von da an hat die
Ethik die Möglichkeit, aus geschenkter Freiheit getrennt vom
Gesetz zu handeln; es ist der höchste Ort, den sie erreichen
kann, und eben das nannten die Apostel das Evangelium. Denn es ist
ich ihm noch mehr enthalten als das gesetzesfreie Handeln: eine
deutliche Durchbrechung der Erbsünde (so muß man ((aphesis
ths amartias)) übersetzen, und nicht bloß »Vergebung
der Sünde«) und der ebenso deutliche Geschmack für ein
»ewiges Leben«. Wie die Erde im Tertiär von einer
dichten Wolkenschicht eingehüllt war, so daß kein Mensch
den blauen Himmel und die Sonne sehen konnte, von der doch alles
Leben stammt; so ist des Menschen Tun von der Erbsünde
umhüllt. Erst ein Riß in der Wolkenschicht legt den blauen
Himmel frei. - Hierbei wird die Frage des »Lebens nach dem
Tode« übergangen, weil jeder, der davon befallen ist,
weiß, daß er »den Tod nicht schmecken« wird,
ganz gleich, ob er eintritt oder nicht. Dem Tode ist die Gewalt
über die menschliche Seele genommen, die sonst so
vollständig über sie zu triumphieren vermag. - Das alles
aber wäre nicht geschehen, wäre es bloß gepredigt und
verkündet worden, sondern nur das Opfer konnte es wirklich
machen. Seitdem aber gibt es auch kein Opfer mehr, sondern nur noch
symbolische Kulthandlungen dieser Art. Jeder Versuch, ein sakrales
Opfer ernsthaft zu vollziehen, ist nach Golgatha mit dem Fluche der
Lächerlichkeit beladen; wovon Kaiser Julianus Apostata ein Lied
zu singen wußte.
Man fragt nun: wenn es so ist, daß der Kern des Christentums
in der natürlichen Liebe liegt, die Organ für die Güte
wird - warum hat Jesus von Nazareth mit keinem Worte davon geredet,
und warum wissen auch die Evangelisten und Apostel nichts Rechtes
davon? Es ist doch immer nur von »Liebe untereinander« die
Rede, der geforderten Nächsten- und Menschenliebe also, ja von
»Feindesliebe«, deren abwegige Natur auf der Hand liegt.
Ist das hier Gesagte demnach nicht eine willkürliche
Interpretation, vielleicht gar »aus dem Eignen heraus«,
weil dieses Eigne nicht von der irdischen Liebe lassen will...? Die
Antwort lautet in der Form der Gegenfrage: Wie wäre es
möglich gewesen, daß Jesus von Nazareth dies hätte
verkünden können, ehe er es selber wußte? Und vor
allem, ehe es geschehen war? Denn die Entscheidung hierüber fiel
ja erst am Kreuz zwischen dem »Warum hast du mich
verlassen...?« und »Es ist vollbracht!« Der
Prozeß, dem Jesus unterliegt, ist ja der geniale in des Wortes
reinster Bedeutung. Er hat nichts hinzugefügt, ergänzt oder
vervollkommnet, sondern neu geschaffen ohne jede Vorgängerschaft
aus der Tiefe der Natur heraus, wie es eben allein der Genius tut.
Der aber weiß nichts vorher, ehe denn der Funke
überspringt. Fragt man mich aber, warum er denn nach der
Auferstehung nichts davon gesagt hat und sogar bei dem dürftigen
»Liebet euch untereinander« geblieben ist, so antworte ich
darauf: das weiß ich nicht.
Der geniale Prozeß in der Menschheit aber hat sich bisher so
abgespielt, daß er auf dem Gebiete der Kunst in reicher
Fülle strömte und bis zur Anonymität sich aufgab; in
der Erkenntnis ist schon die Seltenheit bemerkbar; in der Ethik aber
gibt es nur zwei: Mose und Jesus. Denn nur diese beiden haben
ethische Substanz aus der Tiefe heraufgefördert. Die
großen Gesetzgeber der Völker blieben auf dem Territorium
der Legalität, Philosophen treffen nur das Problem und verfehlen
es zugleich, weil der Platz in der Vernunft nicht ausreicht. Nur hier
aber, bei Mose und Jesus, wird Metaphysik Ereignis. Dem Mose wird das
Gesetz offenbart und er bleibt dabei selber bis in sein hohes Alter
erhalten. Jesus ist nicht Prophet, sondern Menschen-Sohn und
reißt die letzte Tiefe der Ethik durch das Opfer auf.
Darüber hinaus gibt es nichts. Die Abdrängung des
Christentums aber auf das soziale Gebiet, die im Zunehmen begriffen
ist, bedeutet eine Verdunkelung der Tat Christi. Ihr gegenüber
sind auch die Dokumente des Neuen Testamentes kein adäquater
Ausdruck, und auch Johannes und Paulus, die am tiefsten sahen,
reichen hier nicht aus. - Wo wäre aber heute der christliche
Priester, der von der Kanzel laut und vernehmlich zu verkünden
wagte: »Wir sind nicht dazu da, um euch etwas zu essen zu geben,
sondern um der Vergebung der Sünden willen« - und der es
darauf ankommen ließe, ob sie aufstehn und wandeln?
Wer im Frühjahr mit der Axt eine Birke anschlägt, der wird
bemerken, daß der Baum von der Natur überschnell einen
Strom heilenden Saftes an die wunde Stelle geschickt bekommt. Aber
der Saft heilt nicht nur die Birke, sondern der Mensch, der von ihm
trinkt, wird durch ihn überraschend schnell von allen jenen
ermüdenden Stoffen befreit, die der trübe Winter in ihm
aufgesammelt hat und die sich an seinem Schlaf vergreifen. Mit einem
Male steht er in voller Frühlingsfreude da, so wie jemand, der
ein Glas edlen Weines trinkt, im Augenblicke selig wird. Wenn das nun
wahr ist, was hier vom Menschensohn gesagt wurde, der zugleich Sohn
Gottes ist, dann war das Kreuzesopfer auf Golgatha der Axthieb, der
Welt und Natur zugleich getroffen hat. Das aber ist kein Gleichnis,
sondern dieselbe Sache, wie bei der verwundeten Birke. Jesus von
Nazareth aber, der als Prophet Schiffbruch gelitten hat, wie keiner
vor ihm, hat hier nicht fehlgegriffen. Gethsemane aus Freiheit war
der richtige Griff, denn Freisein heißt: einwilligen in das
Notwendige. Jedenfalls strömt von diesem Opfertage an aus der
letzten Tiefe der Natur, dort, wo die Güte lagert, jener
unnachahmliche Heilungssaft der christlichen Substanz - ((soma
Christou)) -, der nicht nur den Nazarener selber heilte bis zur
Auferstehung, sondern auch ständig für das
Menschengeschlechte quillt, das willig ist, ihn zu trinken.
15. DIE VERWIRRUNG PLATONS MIT DER »IDEE DES GUTEN«.
Ein abgelaufenes Zeitalter hat der Meinung gehuldigt, daß das
Christentum aus einem Entwicklungsprozeß hervorgegangen sei,
dessen eine Spur auf die hellenische Antike, besonders die
Philosophie Platons führe, »schon Platon hat
gesagt...« usw. Deren Macht soll nicht bestritten werden, und es
soll auch der Klang zu seinem Rechte kommen, der sich von hier erhob.
Aber PLATONS »Idee des Guten« hat nichts mit der
paulinischen Agathosyne zu tun und ist auch nicht die Güte. Sie
stellt sich vielmehr bei näherem Zusehen als ein
mißglücktes Gebilde dar, dessen Entstehung man betrachten
muß, um seine Unhaltbarkeit zu durchschauen.
Sie kam auf folgende Weise gemäß der
sokratisch-platonischen Denkmethode zustande: es gibt allerhand gute
Dinge in der Welt; so einen guten Schuhmacher, einen guten Soldaten,
einen guten Steuermann, einen guten Staatslenker usw. Durch den
logischen Prozeß der Abstraktion nun kann ich »das
Gute« an all diesen Einzeldingen eliminieren und erhalte dadurch
den Begriff des Guten ((eidos)), das heißt das »Gute an
und für sich«; und durch eine neue Denkoperation kann ich
es definieren ((orizein)) und komme zu dem Ergebnis: das Gute ist das
zweckmäßig Richtige. Weiter nichts; also die positive
Beziehung eines Gegenstandes zu dem, wozu er da ist. Hier würde
also eine volle Ernüchterung eintreten, käme nicht
außer dem guten Schuhmacher und dem guten Soldaten noch der gut
handelnde Mensch in der Erfahrung vor. Sokrates hatte auf dieses, das
ethische Phänomen verwiesen, als er unter dem Gelächter des
Alkibiades die Frage aufwarf, was besser sei, Unrecht tun oder
Unrecht leiden. Ganz Athen hatte sich darüber aufgeregt. Hier
aber stellte es sich heraus, daß wieder einmal der Sprachgeiz
seine verhängnisvollen Hände im Spiel hat. Denn
während das Gute am guten Schuhmacher seine empirisch greifbare
Basis im Schuhwerk hat, das er herstellt, das des guten Soldaten im
Kriege, des Steuermannes im Schiff, fehlt diese Basis beim gut
handelnden Menschen: sie wäre demnach - wenn überhaupt -
nur im Metaphysischen zu suchen, und hier wird »gut« in
völlig anderer, ja entgegengesetzter Bedeutung gebraucht. Denn
die guten Handlungen sind weder zweckmäßig, noch
nützlich. Merkwürdig ist, daß die deutsche Sprache
hier plötzlich freigebig wird, wenn es sich um das Gegenteil
handelt; denn das Gegenteil von gut im empirischen Sinne heißt
schlecht, im metaphysischen aber böse. Das klassische Griechisch
hat keinen wirklich treffenden Ausdruck für böse:
((aischros)) und ((kakos)) - beide bleiben empirisch. Die deutsche
Sprache aber hat auf das Phänomen freigebig geantwortet. So, mit
dem Sprachgeiz zugleich und mit einem Denkfehler belastet, rückt
die vorgebliche »Idee des Guten« in die metaphysische
Betrachtung ein. Platon unterliegt hier wieder einmal seinem eignen
Denken; er findet sich nicht zurecht, weil seine Philosophie keine
Orientierung hat. Er verwechselt von neuem »Begriff« und
»Idee«, die sich durch ihre Lage unterscheiden, das
heißt, er läßt sich vom metaphysischen Bestandteil
des »Guten« dazu verleiten, den gedachten Begriff der
bloßen Beziehung »gut« ins Objekt zu verlegen, so als
sei er auch eine Idee im archetypischen Sinne des Wortes. Das alles
tut er in dem berühmten »Höhlengleichnis«.
Dort finden wir die Menschheit in einer unterirdischen
höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten
Zugang hat. In dieser sind die Menschen von Kindheit an gefesselt an
Hals und Schenkeln, so daß sie auf demselben Fleck bleiben und
auch nur nach vorne hin sehen, den Kopf aber nicht herumdrehen
können. Licht aber haben sie von einem Feuer, das hinter ihnen
brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen, also hinter deren
Rücken werden Gefäße und Bildsäulen, sowie
andere Bilder allerlei Arbeit herumgetragen. »Meinst du
nun« - heißt es -, »daß dergleichen Menschen
von sich selbst und voneinander etwas anderes zu sehen bekommen als
die Schatten, die das Feuer an die Wand wirft...Und von den
vorübergetragenen Gegenständen nicht eben dieses?« Bis
hierhin, also genau zur Hälfte, ist das Höhlengleichnis
richtig; es schildert in der Sprache des Bildes die Ideenlehre, wobei
streng gewahrt wird, daß es Ideen nur von wirklichen Dingen
geben kann, also von solchen, deren Urbild einen Schatten zu werfen
vermag. Nun kommt die großartige Szene, daß einer von
ihnen sich losreißt und gezwungen wird, kraft Fügung der
Natur, aufzustehen, den Hals herumzudrehen, und nun, statt der
bloßen Schatten das Schattenwerfende, also die Urbilder selber
zu sehen bekommt. Er dringt damit, platonisch gesprochen, in die
Region der Erkenntnis (epistéme) vor, während er bisher,
als er noch, gefesselt, die Schatten für das Wahre hielt, in der
bloßen Meinung (doxa) befangen war. In unserer Sprache geredet:
er gerät in die geniale Zone, nimmt den Posten des Genius ein,
der, im Kontakt mit den Archetypen der Dinge, deren Gesetz erkennt.
»Und wenn sie dort unter sich Ehre, Lob und Belohnungen für
den bestimmt hatten, der das Vorüberziehende am schärfsten
sah und sich am besten behielt, was zuerst zu kommen pflegte und was
zuletzt und was zugleich, und daher also am besten vorhersagen
konnte, was nun erscheinen werde: glaubst du, es werde ihn danach
noch groß verlangen und er werde die bei jenen Geehrten und
Machthabenden beneiden...?« (Rep. VII, 516). - Bis hierhin ist
alles im Lot und das Gleichnis stimmt. Nun aber findet außer
diesem ersten Blick auf die schattenwerfenden Urbilder noch ein
zweiter statt, der tiefer hineinreicht und in das Licht selber geht.
Dabei verwirrt sich das Bild noch, indem statt des Feuer, von dem
ursprünglich die Rede war, auf einmal die Sonne auftritt; das
Gleichnis hat zweifellos einen korrupten Text, es wird nicht
durchgehalten und ähnelt einem Traumbilde, in dem sich
plötzlich eine andere Kulisse einschiebt. Jedenfalls heißt
es auf einmal: »Gott mag wissen, ob mein Glaube richtig ist; was
ich wenigstens sehe, das sehe ich so, daß zuletzt unter allem
Erkennbaren und nur mit Mühe die Idee des Guten erblickt wird.
Wenn man sie aber erblickt hat, so wird sie auch gleich dafür
erkannt, daß sie die Ursache alles Richtigen und Schönen
ist...als Herrscherin sie allein Wahrheit und Vernunft
hervorbringt.«
Diese »Idee des Guten« hat nun mit der Güte nicht das
mindeste zu tun, sondern wir entdecken hier, daß Platon jenen
bloßen Begriff einer bloßen Beziehung zu einer Idee
macht, der Sein, ja »eigentliches Sein« zukomme. Seine alte
Verwirrung! Denn es wird, wenn man sich das Bild nur selber in der
Vorstellung deutlich vor Augen führt, klar, daß diese
vorgebliche »Idee des Guten« keine Gemeinsamkeit mit jenen
echten Urbildern hat, deren Schatten die Gefesselten sehen. Sie hat
keine Substanz, und sie kann auch keinen Schatten werfen.
Darüber aber, wovon es Ideen gibt, entscheidet nicht die
Philosophie in eigner Machtvollkommenheit, sondern die Natur. Diese
aber läßt Ideen nur zu, wo sie selbst mit Stempel und
Abdruck schafft. Oder im Stil des Höhlengleichnisses: nur da, wo
etwas einen Schatten wirft, Ideen sind immer archetypisch und nur in
dieser Beschränkung behält die Lehre von ihnen
Größe und Sinn.
Platon und Sokrates aber ringen vergeblich mit dem Problem der Ethik;
es war ihnen nur beschieden, es aufzuwerfen, nicht aber es zu
lösen. Wäre die Ethik eine bloße Lehre, dann
könnte man so großen Denkern wohl den Vorwurf machen,
daß sie ungenügend nachgedacht haben. Aber hier hat ja die
Natur ihr Wort mitzusprechen und die forderte ihr Opfer, ehe sie das
Geheimnis preisgab. Es ist wahrlich schon viel, daß Platon in
einem eigentümlich sichern Instinkt seine Idee des Guten in die
Tiefe der Natur verlegte; wir stoßen hier, beim
Höhlengleichnis, auf den ersten Versuch, Perspektive in die
Natur zu bringen. Daran aber war die verlockende Kraft schuld, die in
der einen, der ethischen Bedeutung des Wortes »gut« liegt.
Alles andere aber ist verfehlt. Die Güte ist keine Idee, sondern
eine Kraft. Die echten archetypischen Ideen sind zwar auch dynamisch,
aber sie haben immer eine Beziehung zur Form. Die Güte aber hat
keine Form. Der Lichtäther ist eine Kraft der Natur, die auf die
Netzhaut des Auges einwirkt; sie liegt im Vordergrunde. Die Güte
ist auch eine »Kraft der Natur« (WILUTZKY), aber sie lagert
in deren Tiefe. Das ihr zugewiesene Organ aber ist nicht die
Erkenntnis, wie Platon meint, sondern die Liebe. Das aber war zu
seiner Zeit noch nicht fällig. Darum gelang es ihm wohl, den
Eros zum ernsten Gegenstande der Philosophie zu erheben, aber er wies
ihm Funktionen zu, die nur zweiten Ranges sind, pädagogische und
die »Zeugung im Schönen«. Daß er Organ sei,
erkannte er nicht. Aber das war er ja damals auch noch nicht.
16. DIE POSITION DER SATANISCHEN GEGENMACHT
Hier drängt sich, wie von selber, die Frage auf: Wenn die Liebe
das Organ für die Güte ist, - muß dann nicht
»folgerichtig« der Haß das Organ für das
Böse sein? »Folgerichtig« ja, und wenn es erst
Philosophie gäbe und dann die Natur, so würde es auch
zweifellos so sein. Allein es ist anders entschieden worden.
Wir lassen aus der Betrachtung all jenen Haß aus dem Spiel, der
aus dem Futterneide stammt; denn dieser ist bloß empirisch, hat
keine Wurzeln in der Tiefe und ist schnell wieder geschwunden, wenn
der Hunger gestillt ist. Dagegen ist der aus verletzter Liebe
entstandene transzendental, wie die Liebe selber; er tritt daher in
höherer Dimension auf und macht den Eindruck der
Unaufhaltsamkeit. Das Selbstbekenntnis der Medea redet hier eine
vernehmliche Sprache, ebenso wie der fürchterliche Haß der
Kriemhild gegen Hagen Tronje, der auf der Etzelburg zu seinem Austrag
kommt. Hier wird am Weltgeheimnis gerührt, wie das alles
Transzendentale tut. Da es nun keinen Menschen gibt, dessen Liebe
nicht beschädigt ist, so gibt es auch keinen, der nicht dem
echten Hasse anheimgefallen wäre. Die Geschichte, besonders der
Revolutionen ist voll davon.
Aber es ist ein Irrtum zu meinen, daß Liebe und Haß in
einem polaren Verhältnis zueinander stünden, das
heißt indem zweier Kräfte, die sich gegenseitig durch
bloßes Dasein in gleicher Stärke bedingen. Vielmehr
scheint es ein komplementäres zu sein. Ein lange betrachtetes
Violett auf weißem Grunde hinterläßt als
»geforderte Farbe« (GOETHE) einen orangegelben Fleck im
Auge. Während aber das Violett von einem wirklichen Veilchen
stammt, hat das Orangegelb keine Wurzel im Objekt, sondern ist eine
bloße Reaktion der Retina. Ebenso ist das Verhältnis
LiebeóHaß gebaut, und der Liebe gebührt ohne jeden
Zweifel der Vorrang des Primären. Sie ist allemal eher da. Ihre
Störung aber ist durch den Weltlauf unvermeidlich; sie beginnt
schon durch eine versagte Säugung an der Mutterbrust. Von da an
nehmen die Störungen ständig zu und steigern den Haß
bis zu einer fast aufzehrenden Inbrunst; immer aber steht die vorher
geliebte Person als das eigentlich Primäre im Hintergrund. Aber
trotz aller Mächtigkeit bleibt der Haß ein Phänomen
von sekundärer, nachfolgender Natur, wie die geforderte Farbe im
Auge.
Dies alles aber bliebe ohne Belang und im Individuellen befangen,
wenn nicht eine objektive Macht, die schon bei der Schöpfung
zugegen war, ihre gewaltige Anziehungskraft auf dieses zunächst
nur psychologische Phänomen des Hasses ausüben würde.
Diese Macht ist das Böse, und ihr ist es gelungen, den Haß
aus der psychologischen Verstrickung herauszulösen. Die Existenz
des Hasses als Massenwahn ist dafür der Beleg. Er gehört zu
den stärksten Motiven der Geschichte.
Wer das alles unbefangen betrachtet, der kommt zu dem Schluß,
daß in der Natur ein gewaltiges Ringen darum stattfindet,
daß das Böse, die satanische Gegenmacht, den Haß,
den es schon kosmologisch aufgestachelt hat, zu seinem Organ machen
will. Ist das aber geschehen, so gibt es kein Halten mehr, vielmehr
bräche dann nach kurzen Schlägen das siegreiche Satansreich
an. Und es hat manchmal den Anschein, als ob die Welt kurz davor
stünde. Davon aber allein hängt es ab, ob hier ein festes
Organverhältnis gegründet wird, das nie wieder gelöst
werden kann, so wie der Lichtäther sich nie wieder vom Auge
löst. Solange aber der Haß nur als sekundäre
Erscheinung da ist, gleich der objektiven Komplementärfarbe im
Auge: solange ist dieses Ziel des Bösen nicht zu erreichen, und
immer wieder müssen die satanischen Scheingründungen
zusammenbrechen. Satanisch aber ist alles, was den Menschen in die
Hände des Menschen spielt.
Es hat also hier ein Ringen stattgefunden, das sich um den Beginn
unserer Zeitrechnung auf das heftigste zuspitzte. Aber es ist nun
einmal so abgelaufen, daß wohl die Güte in der Liebe ihr
Organ fand, nicht aber das Böse im Haß. Diese beiden sind
zu einem ständigen Fehltreffen verurteilt, so sehr auch, was die
Ausdehnung und Massivität betrifft, das Übergewicht auf
ihrer Seite liegen mag. Aber nicht auf sie kommt es an, sondern auf
das Eigentümlich-Qualitative des andern. Die satanische
Gegenmacht hat in der Tat keine Möglichkeit mehr, das Spiel zu
gewinnen; denn man kann, nachdem das Opfer auf Golgatha geschehen und
die Entscheidung gefallen ist, das Verhältnis nicht mehr
umkehren. Man kann nicht die Komplementärfarbe zum farbigen
Gebilde machen, das aus dem ewigen Borne der Natur selber
schöpft.
Freilich steht außer Zweifel, daß die Liebe nicht so fest
und sicher zum Organ für die Güte geworden ist, wie das
Auge für den Lichtäther. Und es handelt sich auch nur um
ein erstes Dämmern, für das man bangen könnte, es
möge wieder verlöschen, wenn der Vorgang, auf dem es
gründet, ein empirischer wäre; aber es ist metaphysischer
Natur und kann nicht zurückgenommen werden. Satan bleibt im
Vorhofe des bloß Transzendentalen: was immerhin genügt,
die Welt ständig in Schrecken zu halten. Aber metaphysisch ist
hier nichts geschehen. Es gibt keinen kategorischen Imperativ des
Bösen; den gäbe es aber sofort, wenn eines Tages das
Böse sein Organ im Haß gefunden hätte. Oder gibt es
einen Mann von Menschensohn-Charakter, der von sich sagen
könnte, daß er nur das Böse wolle aus reinstem Herzen
und der es auch wirklich wollen kann und der dafür sein Blut als
Opfer fließen läßt? Die schwarzen Messen reden wohl
davon, aber historisch ist das alles nicht.
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