DIE RELIGION ALS REINES EREIGNIS DER NATUR
1. ÜBER NATÜRLICHE RELIGION
Sollte es mit der Religion ebenso stehen wie mit der Erkenntnis? Auf
den ersten Blick erscheint das wie eine Blasphemie; auf den zweiten
wird es wie ihre Rettung erscheinen. Denn die Erkenntnis bekommt erst
dadurch ihre Dignität, daß sie aufhört, Sache des
sogenannten Menschengeistes zu sein, und eine solche der Natur selber
wird. Stünde es also mit der Religion ebenso, dann wäre
ihre Unaufhebbarkeit gesichert; freilich müßte man sehr
viel opfern, was von jeher als ewige Wahrheit galt und was sich doch
nur als sekundäre Bearbeitung der Vernunft herausstellt.
Hier stoße ich nun zum zweiten Male auf einen in der Jugend -
um die Dreißig - begangenen genialischen Streich, der mich
schuldig machte, und diese Schuld zu tilgen, muß ich mich jetzt
bemühen. Ich meine den irgendwo in meinen früheren
Schriften vorkommenden Satz: Die Heilung des blutenden Fingers und
die Heilung der menschlichen Seele sei ein- und dieselbe Sache. Auf
diesen Satz stieß Konrad Wilutzky und trieb das Problem weiter.
Vor mir liegt eine Arbeit in Schreibmaschine von neunundsiebzig
Seiten mit dem Titel »Kritik des Christentums, zweiter
Teil«, die er als seine letzte bezeichnet und die mir der
Verstorbene zu treuen Händen übergeben hat. Zudem fielen in
diese Zeit mehrere persönliche Gespräche über dieses
Thema, so daß es sich oft schwer auseinanderhalten
läßt, wo die Arbeit des einen und wo die des anderen
einsetzt. Da Wilutzky so sehr großen Wert darauf legte, stets
genannt zu werden, so möchte ich mich der Pflicht, hier seines
Verdienstes zu gedenken, nicht entwinden, zugleich aber vorziehen,
eigene Wege zu gehen. Denn die Sprache, in der Wilutzky das Thema
behandelt - er nennt es eine populäre Schrift - ist ein derartig
unerträgliches Deutsch, daß ich sie, auch in Zitaten,
nicht verwenden kann. (Man soll nicht populär sein wollen,
sondern so schreiben, wie es die Sache erfordert. Gelingt es, das in
ganz einfacher Form zu tun, so ist der Höhepunkt des
Populären damit erreicht. Alles andere ist Treubruch an der
Sache zugunsten der eigenen Geltung.) Ich bin also wieder allein und
rede auf eigne Verantwortung.
Die Blasphemie scheint durch jene Gleichsetzung des blutenden Fingers
mit der blutenden Seele noch weiter getrieben, allein wenn man
annimmt, daß dieses beides in demselben Verhältnis
zueinander steht, wie der Fall irdischer Körper auf die Erde und
der Lauf der Gestirne, so bekommt die Sache bereits ein anderes
Gesicht. So wie durch den Begriff der Gravitation das
gewöhnliche Fallen geadelt wird, so auch hier. Religion ist
Hilfe und weiter nichts. Da es aber eine andere (und doch die
gleiche) Sache ist, ob einem durch die Axt verwundeten Baume das
heilende Harz hilfreich zufließt (mag der Baum wollen oder
nicht) oder ob der Mensch ruft: »Ich hebe meine Augen auf zu den
Bergen, von welchen mir Hilfe kommt« - so wird die Blasphemie
aufgehoben; denn der Mensch ist Anrainer der Achse der Natur, seine
Leiden sind über ihren empirischen Vordergrund hinweg
metaphysisch verwurzelt; und wenn die Natur auch hier Hilfe schickt -
ob der Mensch will oder nicht -, so ist das die größte
Sache, die es überhaupt geben kann; denn die Natur steht hier in
vollem Aufgebot. Religion ist daher der Heilungsprozeß der
Natur, ist ein objektiver Vorgang, den man so wenig aufhalten oder
»abschaffen« kann wie eben jenen gewöhnlichen
Harzfluß.
Wilutzky hat in seiner Arbeit eine wichtige SCHOPENHAUER-Stelle zu
diesem Thema verwendet, der ich mich hier in meiner Art
anschließen möchte. Sie steht in den »Parerga und
Paralipomena«, Bd. 1 (S. 141, Reclam), und lautet:
«Der Theismus ... ist in der That kein Erzeugnis der Erkenntnis,
sondern des Willens. Wenn er ursprünglich theoretisch wäre,
wie könnten denn all seine Beweise so unhaltbar seyn? Aus dem
Willen aber entspringt er folgendermaßen. Die beständige
Noth, welche das Herz (Wille) des Menschen bald schwer
beängstigt, bald heftig bewegt und ihn fortwährend im
Zustande des Fürchtens und Hoffens erhält, während die
Dinge, von denen er hofft und fürchtet, nicht in seiner Gewalt
stehn ... - diese Noth, dies stete Fürchten und Hoffen, bringt
ihn dahin, daß er die Hypostase persönlicher Wesen macht,
von denen Alles abhinge. ... Der Mensch verläßt sich
lieber auf fremde Gnade, als auf eignes Verdienst: Dies ist eine
Hauptstütze des Theismus. Damit also sein Herz (Wille) die
Erleichterung des Betens und den Trost des Hoffens habe, muß
sein Intellekt ihm einen Gott schaffen; nicht aber umgekehrt, weil
sein Intellekt auf einen Gott logisch richtig geschlossen hat, betet
er. ... Weil also gebetet werden soll, wird ein Gott hypostasiert;
nicht umgekehrt. Daher ist das Theoretische der Theologie aller
Völker sehr verschieden an Zahl und Beschaffenheit der
Götter: aber daß sie helfen können und es tun, wenn
man ihnen dient und sie anbetet - dies haben sie alle gemein; weil es
der Punkt ist, darauf es ankommt.« (Letzte vier Sperrungen von
mir.) Hier erscheint also das Gebet als ein Hilferuf der Natur,
der unwillkürlich einsetzt, also selber aus dem Willen stammt
und sich, erst in seinem zweiten Akt, vermöge des Intellektes,
Wesen schafft, die das individuelle Gebet hören. Da diese
Tätigkeit des Intellektes aber sekundär ist und mit dem
Hilfsvorgang selber nichts zu tun hat, so ist es kein Wunder,
daß die theologischen Inhalte der unzähligen Religionen,
die über die Erde gegangen sind, alle ganz verschieden aussehen,
während der eigentliche Vorgang, die Hilfe, stets derselbe
bleibt. Der unwillkürliche Gebets-Antrieb gehört also zur
Substanz der Religion, ja ist sie selber, die gedachten Adressaten
dagegen sind Akzidenzien, die wechseln. Also ist jeder Versuch einer
»rationalen Theologie« von vornherein zum Scheitern
verurteilt. Nur ist hier sorgsam darauf zu achten, daß unter
Wille nicht die volkstümliche Auffassung davon verstanden wird,
sondern die transzendentale: Wille als Materie von innen gesehen, wie
wir das früher ausgeführt haben.
Was aber jenen Gebetsimpuls angeht, der zwar erst beim Menschen voll
herausbricht, weil er Worte hat, so ist das rein Willentliche an ihm
doch bis in die anderen Naturreiche hin zu verfolgen. Wenn wir es
auch nicht nachweisen können, so können wir doch per
analogiam schließen, daß zwischen dem Axthieb, der den
Baum verwundet, und dem ersten Fließen des heilenden Harzes
eine Art flehender Seufzer der gepeinigten Pflanzenkreatur anhebt,
der die Hilfe aus dem Unbekannten herbeiruft; das verwundete Tier
schreit und schon durch diesen, doch eigentlich sinnlosen Akt, der
nur die Aasgeier herbeiruft, findet es Erleichterung und
verstärkten Zufluß der heilenden Säfte. Wenn der
Psalm singt:
Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser,
So schreit meine Seele zu Dir, Herr ...«,
so ist dieses »Wie« kein bloßer Vergleich, sondern
es redet dieselbe Sache an. Nur so verstanden erhält das Gebet
volle Naturgewalt; aus dem Schrei des leidenden Tieres quält
sich beim Menschen das Wort heraus, das in ihn eingehüllt war,
und wird zum Gebet. Aber es ist derselbe Vorgang.
Nun schreit auch Orestes nach Erlösung, als er von den Erinnyen
verfolgt wird, und hier meldet sich bereits die Frage: woher kommt
es, daß er sie nicht findet? Die Antwort lautet für uns -
was das Altertum nicht wissen konnte -, daß die Adresse falsch
war. Apollon Loxias, der Mitschuldige am Muttermord, ist kein
befugter Spender der Erlösung. Diese Antwort setzt aber doch,
über Schopenhauer hinaus, das Bestehen einer objektiven
Theologie voraus, das heißt einer solchen, die mindestens sagen
kann, was richtige und was falsche Gebete sind. Das aber wiederum hat
nur Sinn, wenn die objektiv helfende Macht eine bestimmte Struktur
hat und nicht willkürlich als vages Gefühl umher schweift.
Da nun jedes Gebet aus Worten besteht, nicht bloß aus Lauten,
so können diese nach dem Gebet auch in ein Urteil umschlagen -
was sie unvermeidlich tun -: und hier beginnt bereits die Krisis der
Theologie, also sehr früh. Worte nämlich, die als Gebet
wahr und richtig sind, brauchen es noch keineswegs als Urteil zu
sein: hier sind sie anfechtbar, dort nicht.
Ich hatte einen Patienten, einen hochgebildeten Mann von völlig
rational-merkurischem Charakter, der auch nicht die leiseste Spur von
Religiosität verriet, im übrigen aber nicht etwa der
Meinung war, das Christentum ließe sich durch Aufklärung
widerlegen. Er war aus der Kirche ausgetreten, weil, was kaum zu
bestreiten ist, die protestantische Kirche liberaler Richtung in der
Verbreitung langweiligsten Unsinns zu den freigebigsten Institutionen
gehört. Was soll da ein Vorstandsmitglied der I.G.-Farben drin?
Das alles war in Ordnung; ich sagte nichts dagegen. Aber dieser
nüchterne Geschäftsmann litt an schweren Angstanfällen
mit grausigen Visionen im Halbschlaf. Eines Tages kam er mit seltsam
versonnenen Blicken an und meinte, es sei ihm diese Nacht etwas ganz
Sonderbares passiert, was er nie für möglich gehalten habe.
Er hätte einen scheußlichen Anfall gehabt mit Aufschrei,
so daß seine Frau erwachte; gräßliche Gestalten
seien ihm erschienen. Da habe er ich in der äußersten Not
gar nicht anders zu helfen gewußt und sei auf einen ganz
ausgefallenen Gedanken geraten. Ich fragte danach. »Ich habe
laut gebetet«, antwortete er mir. »Und was?«
»Denken Sie sich: Der Herr ist mein Hirte ...!« » Und
was geschah darauf?« »Sofort war alles weg! Ich kann es
heut noch nicht verstehen.« Ich fragte ihn, ob er sich
darüber wundere, und er meinte: nein, eigentlich nicht. Eben
weil es natürliche Religion war, deshalb wunderte er sich nicht.
Ich drang indessen weiter in ihn und fragte: »Was Sie also sonst
über die Religion denken, z. B. ob es einen Gott gibt oder
nicht, das hat sich als gänzlich belanglos herausgestellt
gegenüber dem religiösen Vorgang, der sich hier, ob Sie
wollten oder nicht, abspielte?« »Genau so ist es.« -
»Und meinen Sie etwa«, forschte ich weiter, »daß
das ÇSuggestionë gewesen sein könnte?« -
»Ja, dann müßte eben die gewöhnliche
Außenwelt und ihre Vorgänge auch Suggestion sein:
jedenfalls hatte dieser Vorgang den gleichen Realitätscharakter,
und vor allem; die Wirkung war ja da und hielt an.« Ich:
»Und wie kamen Sie gerade auf diese Worte und nicht auf
irgendwelche anderen, etwa selbsterfundenen?« Er: »Die
drängten sich mir auf; ich hatte sie in der Schule
gelernt.« Ich: »Das heißt also hier genauer: in der
Kirche - aus der Sie ausgetreten sind. Ja - und woher hat die Kirche
sie?« Er: »Sie würden sagen, von den Propheten
Israels.« Ich. »Gewiß, das würde ich sagen; aber
weiter: woher habe die Propheten sie?« Er: »Ich kann nichts
anderes sagen als, wie Sie es immer ausdrücken: Der Prophet ist
religiöser Genius und hat seine Inhalte unmittelbar aus dem
Naturhintergrunde.« »Und woran kann man deren objektive
Giltigkeit und Richtigkeit erkennen?« Er: » Allein daran,
daß sie helfen.« Ich: »Das aber tun sie, seit sie
gesprochen wurden, also seit guten dreitausend Jahren, ohne die
geringste Schwächung.«
Das Gebet ist also der subjektive Pol des Hilferufes der Natur, der
in der Religion, das heißt in der vollzogenen Hilfe, seine
Antwort findet. Man lasse diesen Pol weg, und die Religion bricht
zusammen; aber er läßt sich nicht weglassen, da der
Intellekt und der individuelle Wille, das zu tun, zu schwach sind; es
setzt immer wieder von selbst ein; denn die Religion ist ein
»Erzeugnis des Willens«. Die Hilfsleistung auf den Schrei
der Kreatur hin ist dünn bei Pflanze und Tier; denn diese sind
allemal nur gelegentlich verwundet. Beim Menschen aber, der anderen
Stammes ist, muß die Natur in vollem Aufgebote kommen. Der
Mensch ist seinem Wesen nach krank. Die beiden Haupteinfallspforten
für das Leid aber sind das Unglück und die Schuld. Das
Unglück wird in der Gestalt des Hiob verkörpert, die Schuld
in Orestes. Die Schuld aber ist, trotz äußerem Widerschein
das schlimmere Übel. In beiden Fällen aber liegt die Sache
so, daß es Tiefpunkte gibt, in denen der Mensch nicht aus noch
ein weiß, sich aus eigenen Mitteln zu helfen, und nun jenen
Schrei ins Unbekannte ausstößt in dunklem Vertrauen,
daß von dorther ihm Hilfe kommt.
Hierbei ist es eine verständliche Sache, daß das Gebet
zuerst stets in seiner naiven Form auftritt und die Erfüllung
privater Teilwünsche erfleht. Der Kranke bittet um Genesung, der
Arme um Reichtum, der vom Tode Bedrohte um Leben; an diese naive
Gebetspraxis knüpft sich dann das heikle Gebiet der
»Erhörungen«. Das eigentliche Thema des Gebetes aber
ist immer die Wiederherstellung der Person. Wer am Aussatze leidet,
dessen Person ist gefährdet; das erhörte Gebet aber bewirkt
entweder, daß diese wieder hergestellt wird und so die
Krankheit ertragen werden kann oder, falls der pathologische Ort von
der zuströmenden Kraft der Religion getroffen ist, daß
durch die Wiederherstellung die Krankheit von ihm abfällt. Es
gibt durchaus Wunderheilungen durch das Gebet, nur darf man kein
Aufheben davon machen. Religion ist eine schweigsame Sache.
Man kann kulturgeschichtlich feststellen, daß eine bereits
geformte Religion in dem Moment aufhört, Religion zu sein, in
dem sie das Gebet abschafft. Das ist im indischen Altertum durch das
Auftreten des Buddhismus geschehen. In der Vedanta-Religion gibt es
Götter, zu denen gebet wird. Das charakteristische Merkmal aber
des Buddhismus ist die Abschaffung dieses Aktes und sein Ersatz durch
Einsicht in die karmische Kausalverknüpfung. Zwar erkennt er
auch Götter an, aber man betet nicht zu ihnen, sondern sie
unterliegen, wie alles Lebendige, dem heiligen achtfachen Pfad, der
zu ihrem Verlöschen führen soll. Daß der einfache
Buddhist freilich sogar zum Buddha betet, zeugt nur von der
Unauslöschlichkeit des Gebetsdranges, ist aber natürlich
nach der Lehre unsinnig und verboten wie jedes Beten. Die Buddhisten
nennen ihre Lehre ausdrücklich eine »Religion der
Vernunft« (siehe Dahlke), woraus hervorgeht, daß sie eben
keine Religion ist, sondern Weltanschauung, die man in der Sprache
europäischer Schulphilosophie mit »materiellem
Idealismus« bezeichnen müßte. - Ein zweiter Fall, der
uns auf der Haut brennt, ist der liberale Protestantismus des
vergangenen Jahrhunderts. Auch er hat die Religion abgeschafft, wenn
er sie auch mit falschen Organen anerkennt und halten will. Bei ihm
kommt nicht mehr wirklich durch das Gebet »die Hilfe von den
Bergen«, sondern es ist ein schöner Gedanke, daß es
so sein möge. Er wird aber, wie alle Gedanken, immer
dünner, immer verschlissener und endet schließlich in
vollem Verlöschen. Die Religion ist Bildungsgut geworden. Diesem
Kulturprotestantismus, einem Vetter des »deutschen
Idealismus« und auf dem gleichen Boden gewachsen, steht das alte
orthodoxe Luthertum in gesicherter Stellung gegenüber, ebenso
die katholische Kirche. Beide würden nicht einen Augenblick
zögern, die objektive Korrelation von Gebet und Hilfe als den
Kern der Religion anzuerkennen, nur daß sie sich hierfür
theologischer Formeln bedienen.
2. ISRAEL UND DER PROPHETISCHE MONOTHEISMUS
Der Schrei des Orestes nach Hilfe verhallt im Altertum unerhört.
Die Frage tritt auf, warum das so sein muß.
Wir hatten in den Kapiteln über die Grundlegung der Ethik
festgestellt, daß deren formale Seite sich bis auf den
Höhepunkt transzendentaler Gewißheit führen
läßt, daß aber ihr Inhalt aus keinem allgemeinen
Prinzip abgeleitet werden kann, vielmehr durch einen genialen Vorgang
auf die Welt herabgekommen ist. Genau so also, wie das
Gravitationsgesetz durch Newton entdeckt wurde, so der Inhalt der
Ethik durch die Propheten Israels. Bei aller Verschiedenheit in den
Charakteren und den historischen Lagen sagen sie doch alle ein und
dasselbe aus: nämlich daß die Quelle, aus der die
Lebewesen, aber auch die mineralische Natur fließen, und die
Quelle der ethischen Inhalte dieselbe ist. Diese aber ist
persönlich und nicht individuell. Was also sagt: »Es
sprieße auf allerlei Gewächs aus der Erde, ein jegliches
nach seiner Art« und: »Du sollst nicht töten! Du
sollst nicht stehlen! Du sollst nicht ehebrechen!« - das ist
dieselbe Person, die keine Individualität besitzt.
Dieser Gedanke Israels wirft alle Altäre um. Er war für die
heidnische Umwelt des Altertums eine Ungeheuerlichkeit. Und er kann
es auch an Paradoxie mit jedem andern, der aus genialer Quelle
stammt, aufnehmen. Denn der Götterkult des Altertums beruhte
fest auf der Individualität der einzelnen Götter; es
verrät sich damit deren menschliche Abkunft, und es erklärt
sich ihre selbstverständliche Vielzahl. Das nun, was das alte
Israel und auch noch das heutige »Jahve« nennt, ein Name,
den auszusprechen mit Recht verboten ist, dieser Heilige Israels ist
gänzlich anderer Abkunft, und durch das bloße Fehlen der
Individualität ist der Monotheismus als selbstverständlich
da. Nicht also dadurch, daß unter vielen Göttern sich
einer die Herrschaft errungen und damit Monarch geworden ist, sondern
so, daß in dem Bezirk, in dem hier von Gott die Rede ist, es
andere Götter nicht geben kann. Und dieser Bezirk ist der
für die Religion allein giltige. Hierbei ist allerdings zu
bemerken, daß der hebräische Text der ersten drei Kapitel
Genesis den Monotheismus noch nicht so sicher hervortreten
läßt, wie man vermuten sollte; auch ist er nicht frei von
individuellen Zügen. Das aber wirft einen Schatten auf die
Schöpfung selber, wie auf den Sündenfall.
Man soll sich davor hüten, gedankliche Vorgänge auf den
Höhepunkten des griechischen Geistes für Vorstufen der
israelitischen Religion zu halten. Jene Behauptung des Clemens
Alexandrinus, Platon habe den Mose gelesen und plagiiert, ist
bestimmt falsch, weil nämlich das hier allein Entscheidende,
nämlich die Stromrichtung , genau umgekehrt ist. Die Griechen
lebten in der großen Zeit ihres Altertums in der homerischen
Götterwelt, die aus dem Mythos stammte. Diese Götter waren
im Ethischen nicht besser und nicht schlechter als die Menschen, und
sie waren auch keineswegs etwa Schöpfer der Welt, hatten das
Schicksal nicht in der Hand, sondern das Schicksal sie, und es findet
sich nichts von einer sittlichen Weltordnung und ausgleichenden
Gerechtigkeit. Da bemächtigten sich die Dichter und Denker
dieser Götterwelt, und man bemerkt einen langsam sich
vollziehenden Prozeß, die Gestalt des Zeus umzuwandeln und ihm
die Funktion des Weltenrichters zu übertragen. Der Zeus des
grüblerischen Aischylos ist daher ein gänzlich anderer als
der homerische, dem man dies Ansinnen gar nicht hätte stellen
können, und so etwas zu sagen wie: ((Zeus ostis pot estin)),
»Zeus wer immer er auch sei ...« (Ag. 160), wäre
fünfhundert Jahre vorher unmöglich gewesen. Ebenso die
Worte wie:
((upatos daion h tis Apollon
h Pan h Zeus))...
»Aber irgendein höchster Apollon
Oder Pan oder Zeus hat es vernommen ...«
Es wird schließlich in Zeus eine Eigenschaft hineingelegt,
die dem menschlichen Bedürfnis nach ausgleichender Gerechtigkeit
entgegenkommt.
Bei Platon hat Zeus seinen Namen verloren, und wir finden den
Ausdruck ((o theos)), als ob wir uns im Neuen Testament
befänden. Die Götter aber, denen Sokrates opfert, sind
Volksgötter, die man veneriert, teils weil es ungehörig,
teils weil es gefährlich ist, in einer sykophantischen
Demokratie das nicht zu tun.
Diesen Prozeß der gedanklichen Höherspannung des Zeus
nennt JACOB BURCKHARDT treffend einen »monothëistischen
Aufschwung«, der aber, und das ist das Entscheidende, eine Tat
des grübelnden Menschengeistes ist, will also sagen der
Vernunft. Auch was wir bei den Lateinern, bei Cicero und Seneca,
finden, ihr geheimer Monothëismus, ist nichts als eine
Wiederholung dieses griechischen Denkprozesses bei den Gebildeten
Roms.
Aber es ist falsch, was die liberalen Theologen oft meinen, daß
wir uns bei diesem »monotheistischen Aufschwung« und den
Gottesvorstellungen, die er erzeugte, bereits mit einem Fuß auf
biblischem Boden befänden. Denn was uns dort entgegentritt, ist
nicht das Ergebnis eines Denkprozesses, sondern das einer
abkunftlosen Offenbarung; es ist genialer Natur. Völlig
unmittelbar, überfallartig bricht es auf den fast
zusammenstürzenden Empfänger herein: »Ich bin der
Herr, dein Gott!« Es kommt vom Objekt her, auf das Subjekt zu;
der »monotheistische Aufschwung« aber ist eben ein
Aufschwingen des Subjektes über sich selbst hinaus, ohne Boden
im Objekt zu finden. - Während also das
Aufklärungszeitalter die Religion »läutern«
wollte, indem sie nur das an ihr anerkannte, was mit der Vernunft
übereinstimmte, und alle Offenbarung ablehnte, ist es gerade
umgekehrt; nur die ungeläuterte Religion aus Offenbarung ist
echt und hat den Mutterboden der Natur unter sich, alles andere ist
Menschenerfindung. Eine Religion muß sich also ausweisen
können und zeigen: wir haben Propheten, und diese haben
Offenbarungen gehabt - sonst gilt sie nicht. Nur durch die Prophetie
beweist sich die Religion als legitim.
Was also in der Wissenschaft der gründende Genius ist, was in
der Kunst der Dichter, das ist in der Religion der Prophet. Nur eben
daß es hier um alles geht, und daß, was sich hier
offenbart, um keinen Preis aufgegeben werden kann. Man kann ohne
Kunst und ohne Wissenschaft leben; aber wenn die Natur, aus der wir
bestehen, keine Rückverbindung hätte, so glichen wir einem
Baume, dem der Harzfluß fehlt; er würde infolge der
geringsten Verletzung absterben wie ein menschlicher Hämophile,
der ausblutet, wenn er sich in den Finger geschnitten hat.
Wie sich die Spuren der Kunst und der Wissenschaft in den Werken
ihrer Genien zeigen und nur hier, so verläuft die große
Spur der Religion in denen der Propheten, die die empfangenen Inhalte
niedergeschrieben haben. Daher hat die orthodoxe Theologie
völlig recht, wenn sie sagt: nur in den Schriften der Bibel hat
Gott gesprochen und nicht auch in anderen. Nur in ihnen kommt der
begründende Ton der Verkündigung vor. Die Frage, wie weit
die Apokryphen doch mit dazugehören, bleibe hier offen.
Verkündigung ((kataggelia)) ist der Stil und die Ausdrucksweise,
tiefergehend, das eigentümliche, nur hier vorkommende
Gedankengepräge der Religion. Wenn die Worte fallen:
»Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde
Und die Erde war wüst und leer«,
so ist das nicht Dichtung, wie etwa die Szene aus Hesiods
Theogonie, in der aus dem Chaos Gaia, die Erde, hervorgeht und aus
ihr Uranos, der Himmel, der, die Nacht mit sich heraufführend,
die verhängnisvolle Hochzeit vollzieht; es ist nicht Dichtung,
sage ich, denn jener Unbekannte, der sie schrieb, war kein Dichter,
sondern Prophet. Es ist auch nicht Wissenschaft, denn er war kein
Forscher. Gott ist nicht Ursache, sondern Grund der Welt. Würde
man die Anfangsworte des Buches Genesis in die Sprache der
Wissenschaft übersetzen und etwa sagen: »Zu Beginn der Welt
hat ein höheres Wesen, primo motore, prima causa, den
Anstoß zum Weltverlauf gegeben« - so ist ein solcher Satz
weder wahr noch falsch, sondern eine leere Hilfsformel, die eben nur
gerade dem Satze vom Widerspruche genügt, sonst aber nichts
besagt. So aber, wie die Worte vom Propheten gesprochen wurden, sind
sie Verkündigung, und als solche bedeuten sie allerdings etwas.
Sie stehen am Anfang eines Heilungsprozesses, nicht aber eines der
Erkenntnis. Die Frage aber zu stellen: »ob es denn
überhaupt einen Gott gibt?«, das ist genau so angemessen
wie wenn jemand fragte: ob das Fließen des heilenden Harzes
einen Grund, ((ousia)), hat. Im Dienste dieses Heilungsvorganges aber
stehen letzten Endes die Anfangsworte der Bibel, und da sie aus
prophetischem Munde stammen, nicht aber vom Dichter und nicht vom
Forscher, so muß man sich auf sie verlassen - oder man
bekümmert sich überhaupt nicht um Religion. Denn der
Prophet ist der Genius der Religion Organ der Natur und ihres
Grundes.
Letzten Endes gehören demnach alle Disputationen über das
»Dasein Gottes« zu den Hänschen Luther-Fragen. Dieser
intervenierte bekanntlich bei seinem Vater mit den Worten, was denn
der liebe Gott getan habe, ehe er die Welt geschaffen, und bekam die
Antwort: »Er saß auf einem Birkenbaume und schnitt Ruten
für naseweise Jungen, die so dumme Fragen stellen.« -
Solange das heilende Harz fließt und solange die gepeinigte
Menschenseele Trost findet, solange ist auch die Religion im
Vollzuge, und die Verkündigung spricht durch den Mund der
Propheten alles aus, was zu erkennen heilsam ist. Mehr bedarf es
nicht; denn die Religion stammt nicht aus dem theoretischen
Bedürfnis der Welterklärung, sondern aus dem Willen.
Wäre es umgekehrt, dann gäbe es keine.
Der heraufgeklügelte, wenn auch mit frommen Gefühlen
belegte Monotheismus der griechischen Philosophie trägt also in
sich einen unverkennbaren Substanzunterschied zum biblischen
Gottesglauben. Das kam einmal sehr deutlich zur Sprache, als der
Apostel Paulus in Athen redete. Denn hier hatte er sie vor der
Klinge, die Epikuräer, Stoiker und Neuplatoniker, und konnte mit
ihnen umspringen, wie er wollte. Er konnte ihnen zeigen, daß
sie in einer Sackgasse festgefahren waren. Was uns von der
großen Rede auf dem Areshügel überliefert ist, sind
nur Stichworte, die der Verfasser der Apostelgeschichte (17,
16ó34) sich wohl auf notiert hat; aber man sieht doch an
ihnen, daß er den wesentlichen Gang der Religion damit traf. Es
geht da zunächst um die unterschiedliche Art, wie der Mensch
jenem »unbekannten Gott« zu begegnen in die Lage kommt,
falls er ihn sucht. Wenn ein heidnischer Gott an einen Sterblichen
nahe herantritt, so wie Athene an Odysseus, so bleibt immer ein
Zwischenraum, eben weil die Götter mit der Individualität
belastet sind. Diese hört auch dann nicht auf, wenn der
monotheistische Aufschwung erfolgt ist; denn jener Gott der Stoiker
und Neuplatoniker kann durchaus seine Herkunft nicht verleugnen. Der
unbekannte - und unerkennbare - Gott Israels aber hat diese Belastung
nicht; er »ist nicht ferne von einem Jeglichen unter uns«
und nimmt voll von der Person des Sterblichen Besitz, denn »in
ihm leben, weben und sind wir«. Diese zwischenraumlose
Besitzergreifung aber ist eben gerade deshalb allein möglich,
weil Gott reine Person ist, ohne Individualität. Und hierbei
steht die Person Gottes zu der des Menschen wie das Unendliche zum
Endlichen. Keinesfalls aber darf man diesen Übertritt und das
»Leben, Weben und Sein« als Pantheismus verstehen, so wie
man etwa von »Alles in Gott«, »Gott in Allem«,
»Gott-Natur« und ähnlichen Formeln redet: so etwas
kommt im ganzen rechtgläubigen Christentum, noch weniger aber in
Israel vor, sondern immer bleibt die Person und das Schöpfertum
gewahrt. Wenn Luther sagt, Gott sei in jedem Blatt, so meint er nie
»deus sive natura«, sondern immer Gott als Schöpfer
und Person. Daher gibt es seit der Verkündigung durch die
Propheten Israels und die Apostel nur entweder Gottesglaube oder
Atheismus, aber nichts dazwischen. »Pantheismus« ist, wie
Schopenhauer das richtig sah, ein unsinniger Gedanke und nur eine
höfliche Form des Atheismus, zu dem auch jede Art von gedachtem
Gott gehört. Paulus nun in Athen meint, Gott habe jene Zeit des
Heidentumes mit seinen individuellen Göttern -
einschließlich des gedachten Monotheismus -
»übersehen« ((uperidon)); jetzt aber sei es Zeit, die
Verkündigung seiner selbst zu hören und
»umzudenken« ((metanoein)). Der stoische und neuplatonische
Weg sei nicht mehr gangbar; denn das seien Menschengedanken, die zu
nichts führen und schließlich stehen bleiben. Der Glaube
aber an den lebendigen Gott, der sich durch den Mund der Propheten
als Offenbarung kundtut, führt zur »Auferstehung des
Fleisches« ((anastasis ths sarkos)). Unter »Fleisch«,
so fügen wir hinzu, ist nicht nur der physische Stoff dieses
Namens gemeint, sondern auch dessen Manifestation im inneren Sinn,
der Wille. Auferstehung des Fleisches ist ein anderer Ausdruck
für den Heilungsvorgang der Natur, auch beim harzenden Baum;
»Auferstehung von den Toten« aber, das ist der
äußerst mögliche Fall, der bisher nur einmal vorkam.
Dieser Weg aber, so sagt der Apostel, ist der einzige, der zum Heile
führt.
Man kann sich denken, daß eine solche Rede für die
Zuhörer in Athen neuartig und verwirrend gewirkt hat; denn in
der Tat: so etwas hat es im ganzen Altertum nicht gegeben. Deren
Mehrzahl verblieb denn auch bei den alten Meinungen und
schüttelte die Köpfe. Bei einigen Wenigen aber vollzog sich
doch jener Prozeß, der mit »metanoia« bezeichnet wird
und den man keineswegs immer, hier jedenfalls gar nicht, mit
»Buße« übersetzen darf. Diese Wenigen
spürten die Umkehrung der Stromrichtung, die sich beim Worte
»Gott« innerlich vollzog, wenn es von Paulus kraft
apostolischer Autorität ausgesprochen wurde. Die Bekehrungen
aber, die hier am Schlusse als Ertrag der Reden stattfinden, machen
den Eindruck von Einzelereignissen bei hervorragenden Personen; so
werden mit Namen genannt Dionysios Areopagita und eine Frau namens
Amaris: unter der Menge bloßer Zuhörer fanden sich hier
diese Wenigen »und einige Gefährten«, bei denen die
»Umkehr« innerlich während der Verkündigung
stattgefunden hat. Das entspricht der Tatsache, die Christus stets
betonte, daß das Christentum eine natürliche Seltenheit
ist. An anderen Stellen der Apostelgeschichte finden wir dann
freilich wieder Szenen offenbaren Massenwahns, wie das berühmte
»Zungenreden«, bei deren Lektüre einem angst und bange
werden kann.
Der prophetische Monotheismus des alten Israels hat eine feste
Barriere gegen alle anderen Religionen errichtet. Wir verstehen es
heute kam noch, daß die Propheten und Könige des Alten
Testamentes mit solch unerbittlicher rabies gegen den
»Götzenkult« vorgingen; diese Wut erscheint uns
beinahe überflüssig und wie ein Kampf gegen
Windmühlenflügel: denn es gibt ja eben keine
Götterkulte mehr, und jeder Versuch, sie wieder zu beleben,
würde den Fluch der Lächerlichkeit auf sich laden.
Das hat schon Kaiser Julianus Apostata, der ja noch in zeitlicher
Berührung mit ihnen lebte, erfahren müssen. Nach zwei
christlichen Kaisern hatte sich die Korruption der Kirche und ihrer
Beamten in einer Weise geltend gemacht, die eine unerträgliche
Lage im Reiche bewirkte und die Sehnsucht nach den alten Göttern
im Gemüte des edelmütigen, aber weltfremden Julian
aufkommen ließ. Er war eine anima candida und glaubte,
wenigstens als Übergangslösung eine Art Vermischung der
christlichen Wahrheit mit der heidnischen heraufführen zu
können. So hielt er selber Ansprachen ans Volk, in denen er es
etwa in die Geisteslage zurückbringen wollte, in der sich
Dionysios Areopagita und Damaris kurz vor ihrem Übertritt
befanden. Und das schien auch zu gelingen, die heidnische
Restauration in bestem Gange zu sein. Da setzt er eines Tages alles
auf eine Karte und veranstaltete ein Opferfest zu Ehren des Apollon.
Die christlichen Festgenossen kamen schon mit sehr erstaunten
Gesichtern hin, leisteten aber immer noch keinen Widerstand im
Vertrauen auf die Toleranzedikte des Kaisers. Wie aber Julianus
selber, als Opferpriester auftretend, dem ersten weißen Stier
die Axt in den Nacken sausen ließ, da war es aus mit der
christlichen Geduld. Das Volk erhob sich und schrie:
»Gotteslästerer! Götzendiener!«, ein Tumult
entstand, den auch die Legionäre nicht bändigen konnten;
dazu ging plötzlich ein wolkenbruchartiger Regen auf das Haupt
des unglückseligen Apollonpriesters nieder, und der tötende
Fluch der Lächerlichkeit war da. - Wer, um ein modernes Beispiel
anzuführen, sich jenes Wiedertäuferspukes erinnert, der die
letzten zwölf Jahre des Deutschen Reiches vor seinem Untergang
erfüllte, der wird auch daran denken, daß man von diesen
»germanischen Orden« aus auf eine Wiederbelebung der
nordischen Götterwelt sann, daß man aber, obwohl man sich
doch sonst alles leistete und obwohl rechtgläubige Priester der
Religion in Gefängnissen schmachteten, man eben dies nicht
wagte. Man sah schon tempelartige Gebäude mit Pferdekopf-Motiv
hie und da aus der Landschaft herauswachsen, und zwar gar nicht
schlechte, die Opfermesser aber blieben unterm Tisch und die Priester
der germanischen Restauration mußten stillschweigend
zugestehen, daß es eben nur den Gott Abrahams, Mose und der
Propheten gibt, sonst keinen.
Weniger sicher hat die Barriere des verkündeten Monotheismus
gegenüber dem andern Religionskomplex gehalten, der aus dem
alten Indien stammt. In den Upanishaden der Veden wird das
Schwergewicht der Lehre gerade auf die Unpersönlichkeit des
objektiven Welthintergrundes, genannt brahmân, gelegt, zudem
man gelange, wenn man das subjektive Prinzip, atmân, durch
einen allmählichen Abbau alles Individuellen, also
Beschränkenden, frei macht. Die Identität von brahman und
atman ist darum das hohe Ziel der Erkenntnis und damit der
Erlösung; hierbei wird die Außenwelt, aber auch die
innere, zu bloßem Schein (nicht Erscheinung!). Das ist der
Standpunkt der Mystik, die sich ja auch im christlichen Abendlande
findet; hier aber kann sie nie ganz frei auftreten, da das
Trinitäts-Dogma Schwierigkeiten bereitet. Nun besteht kein
Zweifel, daß das mystische Grunderlebnis, die unio mystica, das
»Einssein mit Gott«, von hohem religiösen Range ist,
wie die großen Mystiker selber; eine andere Sache aber ist, ob
das Urteil, das daraus gefällt wird, sich halten
läßt. Denn wenn ernsthaft behauptet wird, Gott und Ich
könnten in das Verhältnis der Identität geraten, so
kann die Philosophie den Dominikanern nur recht geben, wenn sie dem
großen Meister Eckehard auf die Finger sahen. Luther, der
starke mystische Einschläge hatte, wäre nie in diese
Verlegenheit geraten; er hatte, wie Sokrates, hier sein sicher
warnendes »daimonion«. Und auch unsere religiöse
Urteilskraft ist im Recht, wenn sie gegen die berühmten Worte
des ANGELUS SILESIUS, daß Gott »ohne mich auch nicht ein
Nu kann leben«, Worte, die durch ihre hybride
Großartigkeit wirken, doch eben Einspruch erhebt. Es ist
natürlich völlig falsch, wenn unter dem Ich hier das
empirische verstanden wird - so aber ist es nicht gemeint -, aber der
Einspruch gewinnt an Richtigkeit, wenn vom transzendentalen Subjekt
die Rede wäre. Da aber Gott nicht zum transzendentalen
Gegenstande gehört, sondern transzendent ist, weicht die
Wahrheit auch hier noch zurück. Sagen aber: »Ich und der
Vater sind Eines«, durfte nur Einer; dessen Subjekt aber hatte
eine andere Lage. Es gibt im übrigen keine Stelle im Universum,
an der nicht das Objekt stärker wäre. Die Sinnesorgane
liefern uns nur Fragmente aller sinnlichen Möglichkeiten, in der
genialen Zone drückt die Natur stets aus einer überstarken
Tiefe auf das Subjekt, und dieses Kraftverhältnis verstärkt
sich nur noch, wenn der Mensch vor den Grund der Natur tritt;
dafür sind die Propheten Zeugen. Niemals aber kommt es dazu,
daß Subjekt und Objekt sich die Waage halten und gar identisch
werden. Wäre das so, dann könnte das Subjekt ja das Objekt
zwingen, bei ihm zu bleiben, und das wäre das Erste, was es
wegen der großen Seligkeit täte; das ist aber nicht der
Fall, sondern das Objekt zieht sich aus Freiheit wieder zurück,
wie es aus Freiheit kam. Die Heilsquelle der Religion fließt
nicht reichlich. Gott ist nur gerade eben »nicht ferne von einem
Jeglichen unter uns«. Der Bau des Universums selber aber ist es,
der die mystische Theologie zum Scheitern bringt.
Diese Lehre, die im vergangenen Jahrhundert, in dem sich in Europa
der Aufklärungsprozeß und damit die Säkularisierung
der Religion vollzog, Eingang in die gebildete Welt fand,
stützte die schon vorhandene Tendenz, nicht mehr an einen
persönlichen Gott zu glauben. Man galt als ungebildet, wenn man
das tat. Aber hier liegt nur eine Verwechslung vor; man unterschied
nämlich nicht das principium individuationis, dem Gott nicht
unterliegt, von dem der Personalität, das er selber ist; denn
»Jahve«, das ist der »eigentlich Seiende«. Da es
nun besonders in der Pädagogik unvermeidlich ist, daß sich
das individuelle Prinzip heimlich einschleicht, eben weil die
paradoxe Lehre von der reinen Personalität schwer begreiflich
ist und nur im Stile der Verkündigung faßbar, und da die
Erzieher der Jugend meist keine Gläubigen, sondern Schulmeister
sind, so ist die Erziehung schlecht, der reifende Mensch streift bald
die Fesseln ab und schüttelt mit der Individualität Gottes
- die es nicht gibt - auch die Personalität aus, die er im
Momente des Abfalles vom Glauben der Väter mit ihr verwechselt.
So entsteht - als mißglückte Pädagogik - die
Gebildeten-Religion vom »unpersönlichen Gott« =
»Deus sive natura«, »Gott-Natur« und dergleichen,
die aber an der nächsten windigen Ecke des Schicksals in
Scherben geht; denn es sind lauter Phrasen.
Der wahre Unterschied aber zwischen dem gebildeten Gläubigen und
dem naiv-frommen Manne aus dem Volk ist nicht der, daß der
Gebildete an keinen persönlichen Gott glaubt, während es
der Einfältige tut, sondern sie glauben beide an den
persönlichen Gott, nur daß beim einfachen Manne sich
unvermeidlich die Individualität einmischt, während der
Gebildete durch Wissen imstande ist, die Trennung zu vollziehen. Die
Philosophie hat ihn belehrt, aber sie hat ihm nichts von seinem
Glauben genommen, ganz einfach, weil sie das nicht kann.
Glauben aber ist die Urteilskraft der Religion. Genau so, wie
jemand, der durch Belehrung davon überzeugt werden soll,
daß ein Gegenstand der Erfahrung schön sei, dies doch
nicht zu erleben vermag, es sei denn, er habe ästhetische
Urteilskraft - die von den Dingen selber ausgeht -, genau so wird
niemand der Religion teilhaftig, der die hierfür spezifische
Urteilskraft, also den Glauben, nicht besitzt. Daher sind alle
religiösen Behauptungen nur durch den Glauben wahr. Diesen aber
als geminderte Erkenntnis anzusehen, ist ein grobes
Mißverständnis. Mit »für wahr halten« hat
er nichts zu tun, und »religiöse Überzeugungen«
sind leeres Stroh. Mit der Definition aber des Glaubens als
religiöser Urteilskraft ist der Streit zwischen Glauben und
Wissen beendet.
Man sieht an dieser Stelle deutlich, wie unabkömmlich der
Begriff der Naturachse auch für die Religion und die Theologie
ist. Kant hat die Urteilskraft in die Philosophie eingeführt;
aber er hat nicht bemerkt, daß in ihr zwei deutlich geschiedene
Elemente mit verschiedener Stromrichtung enthalten sind. Er schlug
sie ganz auf die subjektive Seite, wie als sei sie ein Stück
Vernunft. Dabei rumorte unter ihm der Boden und trieb Dinge wie das
»Schema« und das »Monogramm (der Natur in
[HB.]) der Einbildungskraft« hervor, rätselhafte
Gebilde, die es ihm anrieten, das schwankende Territorium schnell zu
verlassen. Das alles kommt daher, daß die Achse der Natur
mitten durch die transzendentale Urteilskraft hindurchläuft, das
Wort in zwei Teile zerlegt und gebieterisch die »Kraft« auf
die Seite des Objektes, das »Urteil« aber auf die des
Subjektes verweist. In diesem tiefen Begriff ist etwas los, und er
gehört zu Kants größten Griffen. Genau so aber ist
der Glaube beschaffen. Nur läßt sich das Wort nicht
teilen, und es gilt hier einen Kampf gegen den Sprachgeiz. Es stecken
in ihm gleichfalls zwei Elemente mit verschiedener Stromrichtung, die
erst durch Übersetzung in alte Sprachen einigermaßen zum
Vorschein kommen. »Pistiw« und »fides« kommen auf
die objektive Seite zu stehen, wurzeln dort, »credo« und
»puto« auf der andern. So zerteilt wird der Glaubensvorgang
durchsichtig, indem sich wiederum die Achse der Natur
dazwischenschiebt und unerbittlich trennt. Von der objektiven Seite
her strömt etwas herauf, das, aus dem Grunde der Natur kommend,
den Menschen anruft, ihm zu vertrauen; das ist die Glaubenskraft, die
aus Freiheit geschenkt wird. Der Intellekt aber fängt sie auf
und bildet, um auch für ruhige Zeiten gesichert zu sein, das
Dogma. Das aber ist keineswegs ein willkürliches Gebilde der
Vernunft, sondern ein notwendiges des Glaubens, und stellt sich fast
automatisch ein. Das »credo« aber, das hier einsetzt, hat
Stromrichtung vom Subjekt zum Objekt und bleibt daher leer, falls es
vom Glauben alleingelassen wird. («Begriffe ohne Anschauung sind
leer.«) Daher sind alle Sätze des Dogmas nur im Glauben
wahr - wobei das »nur« aber eine Erhöhung bedeutet.
NOVALIS hat es richtig erfaßt: »Glauben ist hienieden
wahrgenommene Wirksamkeit und Sensation in einer anderen Welt, ein
vernommener transmundaner Aktus«.
3. DER BIBLISCHE SCHÖPFUNGSBEGRIFF
Die Offenbarung an die Propheten Israels ist original und leitet sich
nicht aus anderen ab. Hierfür ist kennzeichnend der
Schöpfungsbegriff der Bibel, der, wenn man ihn im ganzen nimmt,
keine hnlichkeit mit irgendeinem andern hat. Wenn man die
Schöpfungsberichte liest, die uns das hellenische und
lateinische Altertum hinterlassen hat, so handelt es sich bei ihnen
immer um eine handwerkliche Tätigkeit des Demiurgos oder
»ille opifex rerum«, kurz jeder Art von erdachten
Weltschöpfers. Ein Absenker davon ist noch der zweite
Schöpfungsakt des Buches Genesis, in dem der Mensch aus einem
Erdenkloß, also von außen her wie von einem Töpfer,
gemacht wird.* Wovon aber wirklich die Rede ist und was die Propheten
im eigentlichen meinen, wenn sie von der Schöpfung sprechen, das
ist der geniale Akt, der aus der Tiefe der Person kommt und das Werk
ganz durchdringt.** Die menschliche Entsprechung hierzu wäre
also die Tätigkeit des Genius in statu nascendi, und zwar im
besonderen des Genius der Kunst. Die Israeliten haben während
des ganzen Verlaufs ihrer Geschichte die bildende Kunst verworfen,
weil diese nach ihrer Meinung die Gefahr des Götzendienstes
heraufbeschwört. Der Dichtung aber ließen sie freien Lauf,
und das Alte Testament erreicht in seinen Höhepunkten auch den
der großen Dichtung aller Zeiten. Daher geht die Welt
folgerichtig aus dem Worte Gottes hervor, das tief bis in jede Faser
des Geschaffenen dringt und dort auch anhält. Wenn daher
»Gott in jedem Blatte« ist, so ist das Blatt damit
keineswegs Gott, wie es der Pantheismus will, sondern es bleibt in
ihm stets geschieden: der Schöpfungsakt und das Geschaffene. Man
rede hier nicht von »Anthropomorphismus« - der geniale Akt
ist ein Vorgang der Natur selber, der nur über den Menschen
läuft. Daß aus diesem Stoffe aber der Heilungsprozeß
der Natur besteht, das ist die Entdeckung der Propheten Israels.
Dabei muß man bemerken, daß überall, wo der Mensch
durch geniale Akte Werke erzeugt, diese, trotz ihrer Schönheit,
doch eben mißlingen; daß aber der Schöpfungsakt
Gottes dem nicht unterworfen ist und daher die Worte der Genesis zu
Recht bestehen: »Und Er sahe, daß es gut war«. Zum
mindesten gilt das allemal dort, wo Gott in vollem Singular und
unbeeinträchtigt durch störende Mächte schafft. Dies
Gefühl des Mißlingens aller menschlichen Werke dringt in
das Bewußtsein aller Völker ein. So gibt es einen
japanischen Holzschnitt in der Manier des Hokusai, der den heiligen
Berg Fujijama im Hintergrunde zeigt, davor einen Dichter, der auf
einer Tafel die Zeichen aufgemalt hat, die den Schöpfungsakt
wiederholen sollen; er stützt aber mit verzweifelt gerungenen
Händen und verzerrtem Gesicht hintenüber in der
vernichtenden Erkenntnis, daß sein Menschenwerk, schon ehe es
zustande kommt, mißlingt. Der Fujijama aber steht da in seiner
Herrlichkeit.
Daß die Propheten Israels ihren Schöpfungsbegriff in
Verwandtschaft mit dem künstlerischen gedacht haben und nicht
dem handwerklichen, das geht, wenn nicht schon aus der allgemeinen
Stimmung, in der alles gehalten ist, so aus Worten hervor wie
»nach dem Angesichte Gottes geschaffen«, dann aber auch der
Haltung der Psalmen. Es geht alles von innen nach außen, nicht
umgekehrt. So konnte Paulus, darauf fußend, später den
Sprung tun zur Wiederholbarkeit des Schöpfungsaktes im Menschen
und von einer »neuen Schöpfung« ((nea ktisis))
reden.
Die Schöpfung aber ist immer von der Zeugung zu trennen, und
auch die Beziehung von Idee und Einzelwesen liegt von ihr getrennt.
Die Sonnenblume, die hier vor mir im Garten steht, zeugt und ist
gezeugt über ihren Samen weg; und, daß aus ihm stets
wieder Sonnenblumen kommen, das erfolgt aus ihrer Idee; das ist
gewiß ein Wunder der Natur, aber nicht das
Schöpfungswunder. Das liegt vielmehr darin, daß sie
überhaupt da ist, daß da etwas ist, was Sonnenblume sein
will; daß diese prachtgründige Form den Willen gefunden
hat, der ihr Dasein in der Materie verbürgt, das ist das
Schöpfungswunder. Also nicht immanent »die Welt im Innern
zu bewegen«, sondern gerade transzendent »ein Gott, der nur
von außen stieße« - nur ist das eben eine falsche
Sache und ein falsches Bild; es heißt nun einmal »Und Gott
sprach: es werde Licht!«, denn nur das ist Verkündigung.
Und es hat sich so gefügt, daß diese immer akustisch ist
(eine »Audition« nach MARTIN BUBER) und nie optisch. Diese
protologischen Ereignisse können nur gehört werden, weder
gesehen noch gedacht. Hier wirkt sich der ständig und
verhängnisvoll übersehene Unterschied von Verstand und
Vernunft auch in der Theologie aus. Jeder Künstler aber
weiß, daß, wenn er eine Blume zeichnet, er dies aus der
Freiheit seiner Person tut, ohne die jeder Strich unmöglich
wäre: die Propheten Israels aber verkünden, daß die
wirkliche Blume und alle Umwelt um sie, aus der Freiheit der Person
Gottes heraus ins Dasein getreten sind. Und darum preist der
Psalmensänger:
«Herr Gott, wie sind deine Werke groß und
schön.
Du hast sie alle weislich geordnet
Und die Erde ist voll deiner Güter«.
Zur Erklärung des Naturverlaufes ist die Annahme eines
persönlichen, aber auch eines unpersönlichen Gottes
überflüssig und störend. Die Forschung soll nur wacker
atheistisch sein und nicht mit »Gott-Natur« sich und
anderen die Gedanken vernebeln. In dem Augenblick aber, da die Natur
rückläufig wird, ihrer Verwundung zu erliegen droht, setzt
das prophetische Wort ein und verkündet den persönlichen
Grund im Schöpfungsbestande der Dinge. Das würde es heute
und sofort, in diesem Augenblicke tun, wenn es nicht vor viertausend
Jahren geschehen wäre. Die Medizin ist eingeschenkt. Denn die
Religion ist nichts anderes als der Heilungsprozeß der Natur in
toto. Die Psalmen aber sind nicht Dichtung, obwohl sie in ihrem
Gewande auftreten, sondern gehören in eine objektive
Wirkungsebene, in der es, genau wie in der Heilkunde, richtig und
falsch gibt.
4. DAS GESETZ UND DIE ANTINOMIE DES GESETZES
Die Philosophie hat feststellen müssen, daß die
Gründung der Ethik auf einem ihr fremden Territorium erfolgte.
Es hat sich gezeigt, daß ihre eignen Mittel nicht hinlangen, um
eine Konstituierung glaubwürdig zu machen; es reicht nicht hin
und nicht her, und die Rechnung geht nie auf. Leitet man die Ethik
aus der Vernunft ab, so entsteht im Handeln selber ein Hohlraum, der
den Täter fast lächerlich macht; greift man aber, was im
Prinzip richtig wäre, einen materialen Faktor auf und wählt
das Mitleid, so fällt wohl der Hohlraum fort, aber die Inhalte
der Ethik selber kommen zu kurz. Weder Hohlraum, noch Armut treten
auf beim Entdeckungsakt der Propheten, der besagt: daß es ein-
und dieselbe Person sei, die der Welt als Schöpfer zum Grunde
liegt und die aus derselben Freiheit gebietet, was sein soll. Natura
naturata also und Ethik sind nicht ableitbar, sondern müssen
entgegengenommen werden so wie sie sind. Ich kann nichts daran
ändern, daß vor mir diese Sonnenblume im Garten
blüht, mit dem Ewigkeitsstempel der Schöpfung versehen; ich
kann sie ausreißen, aber den Schöpfungsakt greife ich
damit nicht an. Und ich kann nichts daran ändern, daß es
heißt: »Du sollst nicht töten!« Ich kann das
deshalb nicht, weil es ein- und dieselbe Quelle ist, aus der beides
kommt. Schöpfung und Ethik sind unergründlich.
Wen mich nun jemand fragen würde, welchen Wahrheitscharakter das
hat, was die Theologie das »Wort Gottes« nennt, so antworte
ich: Jener - und kein anderer - Apfel, der vor den Augen Isaak
Newtons - und niemandes sonst - zu Boden fiele und das
Gravitationsgesetz in ihm auslöste, rückte in diesem
Augenblick in die mythische Ebene der Erkenntnis ein, die aber, da
sie Wissenschaft war, sogleich deren Ausdrucksweise annahm. Wäre
das Gravitationsgesetz falsch, so wäre das bloß ein
gewöhnlicher Apfelfall gewesen und die geistige Tätigkeit
Newtons bloß subjektiv. Ebenso sind die Worte der Propheten
Israels - und niemanden sonst - Worte sakralen Gehaltes; auch sie
stehen in der mythischen Ebene, aber sie werden nicht Wissenschaft -
und als solche sind sie ohne Wahrheitsgehalt - sondern
Verkündigung. Führten diese Worte nicht zur Hilfe, so
wären sie bloß subjektiv und Produkte kranker Menschen; da
sie aber helfen, so stammen sie aus dem Objekt und sind damit
»Worte Gottes durch die Propheten«, deren Deutung freilich
oft den größten Schwierigkeiten unterliegt. Aber der
Heilungsvorgang ist da, und deshalb bestehen sie zu Recht. Das
heißt: wir haben hier wieder einen Wahrheitsbeweis ex
juvantibus; der aber ist giltig, weil die Religion nichts anderes ist
als Hilfe. Einen anderen könnte man gar nicht gebrauchen.
Würde man darauf bestehen wollen, daß sie außerdem
noch Erkenntnisquelle sei, so fiele alles zusammen und nichts
ließe sich halten. So aber ist ihr Dasein genau so gesichert
wie das der Natur selber. Es liegt hier ein ähnlicher Beweisgang
vor wie in der Philosophie Kants, in der die Giltigkeit der
transzendentalen Logik und damit der Naturwissenschaft dadurch
gesichert wird, daß die Welt Erscheinung ist. Nimmt man sie als
Ding an sich, so ist Erkenntnis überhaupt nicht möglich,
alles wird Unsinn und löst sich in Hänschen Luther-Fragen
auf. Die Beschränkung aber hier auf »Erscheinung«,
dort auf »Hilfe« ist nur eine scheinbare; es ist doch vom
Ganzen die Rede.
Wo aber fragt man nun, liegt das subjektive Kriterium dafür,
daß die Bloßlegung des Grundes der Ethik auch wirklich zu
Recht besteht? Wie sich das Gravitationsgesetz an der Bewegung der
Gestirne erweist, so muß es auch hier einen Prüfstein
geben. Der aber kann naturgemäß nur in der moralischen
Urteilskraft liegen, die ja älter ist als jener Entdeckungsakt.
Und da entsinnen wir uns, daß eine hohe Welle von Ehrfurcht
(verecundia) in uns aufstieg, als wir erfuhren, daß jener
Mörder vom Morde abließ, als er dabei auf den Willen
Gottes stieß, über den sein Gehirn in ruhigen Zeiten jeden
beliebigen Unsinn ausplauderte. Wir lächelten noch, als er es
mit der »praktischen Vernunft« machte, aber hier vergeht
uns das Lachen. Wir wissen seitdem von ihm, daß er weit
sicherer als jeder andere davor geschützt ist, wirklich einen
Mord zu begehen; in seinen Schoß können wir uns weit
ruhiger legen als in deren, die Gott nur in Gedanken-Spaß
kennen. Sein inneres Mördertum wird durch die Macht des
Schöpfers in Schach gehalten. Aus dieser Urszene wissen wir ja
auch, daß Gott - wenn überhaupt - so nur persönlich
sein kann; denn nur eine Person kann zu mir sagen: »Du sollst
nicht töten!« An diesem ethischen Du aber entzündet
sich auch die Personalität des Schöpfers. - Das ist es denn
auch, was Kant gemeint hat, als er sagte, eine Handlung sei erst dann
wahrhaft gut, wenn sie »um des Gesetzes willen« getan werde
und allein aus ihm. Er genierte sich hier, den Namen des
persönlichen Gottes zu nennen; denn er fürchtete, dem
Zeitgeschmack gemäß, für abergläubisch gehalten
zu werden. Darum sprach er nicht vom Gesetzgeber, sondern vom Gesetz.
Aber es ist klar, daß er hier nur die Unterscheidung von
Individuum und Person unterlassen hat; das erste wäre
Aberglauben, das zweite Glauben und Wissen zugleich.
Könnten die Tiere denken, so würde ein jedes auch seine Art
denken können; ein Pferd würde bald darauf stoßen,
daß seine Individualität ihm durch seine Idee garantiert
wird; solange es lebt, kann es durch seine
»Pferdhaftigkeit« immer Pferd sein. So aber ist es auch
beim Menschen, nur, daß seine Beziehung zur
»Menschhaftigkeit« ihn gar nicht interessiert; sie hat nur
etwa Bedeutung in der Abstammungslehre. Darum hat der Verfasser des
Buches Genesis diese Beziehung auch vergessen zu erwähnen,
obwohl er sie bei den Tieren immer nennt («ein jegliches nach
seiner Art«). Anders steht es mit der Personalität. Dieses
Einmalige, das ich selber bin, steht zur Person Gottes in demselben
Verhältnis wie das einzelne Pferd zu seiner Idee. Was aber
Person ist, das lernen wir am sichersten in der irdischen Liebe
kennen; und Gott bewilligte mir eines Tages durch den Zeugungsakt
meiner Eltern mein Dasein auch in der empirischen Welt. Meine Person
findet in der unendlichen Personalität Gottes ihren
transzendentalen Grund. Davon aber reden die Propheten im Stile der
Verkündigung, der hier allein am Platze ist, und weshalb ich das
Thema abbreche. - Weil also die moralische Urteilskraft erst hier aus
vollem Tiefgang anschlägt, deshalb ist die Entdeckung der
Propheten Israels auf Wahrheit gegründet. Niemand kann sich ihr
entziehen, ob er will oder nicht.
Wenn Religion nichts als Hilfe ist, dies ihre nüchternste,
aber zuverlässigste Formel, und wenn die Ethik in ihr
gründet, so fragt es sich: wie paßt das beides zusammen?
Zur Hilfe gehört Not. Die eine kommt von außen durch
Unglück, die andere von innen durch Schuld. Als Sokrates die
Frage stellte, was besser sein, Unrecht tun oder Unrecht leiden,
wurde er ausgelacht - aber Orestes lachte nicht. Den hatte es
erfaßt. Daß Unrecht-Leiden das Schlimmste sei, was dem
Menschen begegnen könne, das drängte sich dem Altertum mit
solcher Lebhaftigkeit auf, daß darunter die Frage nach dem
Unrecht-Tun ganz verschwand. Und man weiß nie recht, ob das
heute so sehr viel anders geworden ist, wenn man es rein empirisch
nimmt. Die Menschen denken doch auffallend lange darüber nach,
wenn man ihnen diese Frage vorlegt. Aber es gibt auch ein
Schuldigwerden aus Versehen, verbotene Früchte, denen man es
nicht ansieht, was in ihnen lauert. So wie neben dem Edelpilz, ihm
täuschend ähnlich der giftige wächst, so gibt es unter
den menschlichen Taten einige, die besonders verlockend sind, auf
denen aber ein objektives Verbot ruht; das zu übertreten,
bedeutet, daß aus unergründlicher Tiefe die Erinnyen
heraufkommen und das Gemüt des Täters zerstören.
Solange die Menschheit besteht, hat es das gegeben; aber es gab
niemanden, der der geheimnisvollen Sache dieser Gewissenskrankheit
auf den Grund kommen konnte. Da fiel der Spruch der Propheten Israels
und seitdem weiß der Mensch, prophylaktisch, vor allem, was er
nicht tun darf, damit er nicht in Schuld und Leid verfalle. Jetzt
aber kommt, kaum geboren, die große Antinomie.
Wenn nämlich Orestes das Gebot Gottes »Du sollst nicht
töten« und »Mein ist die Rache, spricht der Herr«
gekannt hätte und abgelassen vom Muttermord, so wäre er
nicht den Erinnyen verfallen, aber - er wäre nicht Orestes. Und
hier liegt die Grenze des Gesetzes Mose. Ehe Orestes in die Lage kam,
den Doch zu zücken, war er Orestes; der Schöpfungsakt
seiner Person geht voraus und kann nicht aufgegeben werden. Er war
zur Blutrache für den Vater zwar erzogen, aber auch geboren; und
dahinter in der Tiefe steht ein Schöpfungsakt. Die Taten des
Menschen stammen nicht vom »Menschen überhaupt« - wie
die des Pferdes -, vielmehr von einem jeweils besonderen; der aber
ist der Repräsentant eines einmaligen Schöpfungsaktes. Von
der »Idee des Menschen« ist in der Religion nirgends die
Rede. Darum ist sie auch im Schöpfungsberichte ausgelassen, der
aufs Ethische zielt und nicht aufs Biologische, und daher führt
die Linie, die von der steten Befolgung des Gesetzes bezeichnet wird,
wohl zum »rechten Israeliter«, der schließlich der
»wahre Mensch« wird, - aber nicht weiter. Indessen erst
jenseits dieser Grenze beginnt das Tun des Menschen echte Tiefe zu
bekommen. Das ist es ja, was den Nikodemus beunruhigt: er hat das
Persönliche, das eigentlich Geschaffne, in sich verdrängt
und ist durch das Gesetz zum großen Pharisäer geworden,
mit gutem Gewissen - aber krank. Er sieht nicht, daß die weite
Ebene des Allgemein-Menschlichen eine Sackgasse ist. Daher das Wort
Christi, der ihn durchschaut: »Und wenn du nicht wiedergeboren
wirst, so wirst du nicht in das Reich Gottes kommen«. Das alles
will sagen, daß es ein Irrtum der nachchristlichen Synagoge
ist, das Alte Testament auf sich und das Volk Israel zu beziehen und
die Religion damit für abgeschlossen zu halten. Denn es entsteht
hier ein Widerspruch, den die Synagoge nicht lösen kann: ich
bin, was meine Personalität betrifft, Geschöpf Gottes, habe
mich nicht selbst gemacht, und das hat doch etwas zu bedeuten;
zugleich aber stehe ich dem Gebote Gottes gegenüber, das ja aus
derselben Quelle stammt, und dieses kann mich hindern, gerade die Tat
zu begehen, die meinem und keines anderen Charakter entspricht: womit
ich aber Verrat an meinem Geschaffensein verübe. Man braucht
nicht gleich ein geborener Bluträcher zu sein, um das an sich zu
bemerken. Was für ein Wagnis geht doch jeder ein, der aus
tiefster Überzeugung sich zu geistigem Tun berufen fühlt
und beim Vollzuge dieses Tuns Gram und Elend auf seine alten Eltern
bürden muß! Das aber ist ein unvermeidlicher Vorgang, wie
fast jede Biographie geistiger Menschen uns erzählt. Er ist so
unvermeidlich wie das »Ansehen, ihrer zu begehren«, das
schon Ehebruch ist. »... Ich habe das Talent auf Kosten des
Menschen genährt; was in meinen Dramen als aufflammende
Leidenschaft Leben und Gestalt erzeugt, das ist in meinem wirklichen
Leben ein böses unheilgärendes Feuer, das mich selbst und
meine Liebsten und Teuersten verzehrt« (HEBBEL, Tagebuch 2509).
Unter dem Gesetz also - das doch gilt! - kommt Orestes nicht dazu,
Orestes zu werden, sondern er wird Tugendhafter und Gerechter vor dem
Herrn. Aber, was soll das...? Wieso ist das Religion...? Wo ist hier
Hilfe? Gesetzt, die Menschheit in toto handelte danach, so würde
sie aufhören, persönlichen Schöpfungscharakter zu
tragen. Sie mündete dann in ein »wahres Menschentum«
ein, in eine »Idee des Menschen«, so wie es eine Idee des
Pferdes gibt: diese aber hat das Buch Genesis geflissentlich
ausgelassen! Dieser Verrat an Gott, dem Schöpfer, aber ist das
heimliche schlechte Gewissen aller Pharisäer. Denn es handelt
sich in der Religion nicht darum, die Menschheit zu verbessern und
sie ihrer »Idee« näherzuführen, sondern darum
Hilfe zu bringen, wenn die Tat geschehen ist und ihre Folgen ruchbar
werden. Hierzu aber reicht das Gesetz des Mose nicht aus; denn es
bewirkt ja gerade das, was der Apostel Paulus an ihm als seine
einzige Funktion entdeckte: dem Menschen die Sündhaftigkeit
alles Tuns vor Augen zu führen. MEISTER ECKEHARD hat einmal
gesagt: »Ich möchte zwar um keinen Preis sündigen;
aber wenn ich gesündigt habe, so möchte ich um keinen Preis
nicht gesündigt haben.« Das ist ein für einen
rechtgläubigen Israeliter völlig unverständliches
Wort; aber es dürfte zu den tiefsten gehören, die je ein
Christ über das menschliche Tun gesprochen hat.
Da ich geschaffen bin, bin ich unschuldig; sowie ich dem Gesetz
gegenübertrete, das vom selben Schöpfer stammt, und nur
darum, bin ich schuldig: kein Mensch kann diese Antinomie lösen,
die ja kaum noch eine des Gedankens, vielmehr des Fleisches ist. Sie
entstand aber erst in dem Augenblick, als die Propheten Israels den
Schöpfer und den Gebieter in Eines setzten. Es ist eigenartig,
daß die nachchristliche Synagoge gerade dieses entscheidende
Stück nicht beachtet und damit ihre eigne Bedeutung verkennt.
Aber freilich: würde sie das tun, so müßte sie zum
Christentum übertreten; und damit sie das - aus unerforschlichen
Gründen - nicht tue, ist ihr »die Binde vor die Augen«
gelegt. Hier liegt die Grenze Israels.
5. DER DEKALOG UND SEINE VARIANTEN
Durch die Tat der Propheten werden alle Versuche der Philosophie, aus
eignen Mitteln Ethik zu begründen, abgetan. Deren Inhalte werden
schlechterdings gegeben, genau, wie die der empirischen
Außenwelt. Man kann nicht sagen, warum es Elefanten gibt,
außer, weil sie geschaffen sind, und man kann nicht sagen,
warum das Gebot »Du sollst nicht töten!« gilt,
außer, weil es verkündet ist, und zwar von derselben
Macht. Man kann immer sagen, daß jedes Lebewesen a priori
zweckmäßig ist, und jedes Sittengebot trägt die Form
des kategorischen Imperatives an sich: aber das Was ist vom Gedanken
unauflösbar. Auch ist die immanente Zweckmäßigkeit a
priori, die von der teleologischen Urteilskraft erfaßt wird,
nicht dasselbe, wie die relativen Zwecke, die ein Lebewesen etwa
erfüllt (so, daß der Elefant dem Menschen Elfenbein
liefert); ebenso sind die Zwecke der Ethik, ihre Wirkungen (daß
etwa die Menschen sich nicht alle gegenseitig töten) nicht
dasselbe wie ihr Sinn, der um seiner selbst willen da ist aus
unbegreiflichen Gründen. Es hat wirklich keinen Zweck, einen
blödsinnigen Krüppel, der »sich und anderen zur
Last« ist, am Leben zu erhalten auf Kosten einer gesunden
Umwelt; aber es hat einen Sinn, wenn es ein barmherziger Samariter es
dennoch tut und sein Leben dafür läßt. Ethik lebt auf
eigenem Boden.
Aber genau so, wie im Laufe der Jahrmillionen die Tier- und
Pflanzengeschlechter ihre Inhalte wechseln am Leitfaden ihrer
Archetypen, so auch die der Ethik. Die Plesiosauren und Mammuts sind
aus der Schöpfung zurückgenommen; an ihre Stelle sind
andere Tierarten getreten, die durch den Ausfall belebt wurden, aber
immer ist die Tierwelt in reicher Vollständigkeit da. Ebenso
unterliegen die ethischen Inhalten den Wandlungen. Wir wissen aus der
Völkerkunde, daß vieles heute und bei diesem Volke als
erlaubt gilt, was morgen und bei jenem die schrecklichsten
Zerklüftungen des Gemütes zur Folge hat. Immer aber ist
etwas da, was den Menschen in sie hineinzutreiben droht, und dieses
unterliegt den sittlichen Gesetzen, ganz gleich, ob man das
weiß oder nicht. Unkenntnis des Gesetzes schützt nicht vor
Strafe. Denn das Gesetz hat seine Wurzel nicht in der Vernunft, die
es nur bewacht, sondern in demselben Grunde der Natur, aus der die
Tier- und Pflanzengeschlechter stammen. Dort, in er
Schöpfungstiefe sind sie miteinander verwachsen. Daher
beobachten wir im Laufe der Jahrtausende ein gewisses Verwelken und
dann Absterben vorher heilig gehaltener Gebote, dafür ein
Heraufkommen und Festigen anderer.
Da ist an den breiten Gürtel des jüdischen
Zeremonialgesetzes zu erinnern, das, wie mir von theologischer Seite
berichtet wird, über sechshundert Einzelgebote zur Führung
des jüdischen Lebens enthält. Es hat die Funktion der
Sicherung jenes eigentümlichen, nur bei Israel vorkommenden
Prozesses der Samengründung, der mit Abraham beginnt und sich
durch die prophetischen Jahrhunderte bis auf die heutige Zeit
fortsetzt. Immer handelt es sich hier darum, ein Volkstum zu sicher,
das seine Wurzeln nicht im Erdhaft-Biologischen hat, sondern im
Vorgang der Gesetzesoffenbarung. Von einem sehr begabten
Halb-Israeliten, der durch seine schwierige Blutmischung zu ernstem
Nachdenken gebracht wurde, Herrn EUGEN KAHN, übernehme ich gern
den Begriff der »volkstumslosen Volksgemeinschaft«, den er
für die Juden prägte. Anstelle der erdhaften Elemente des
Volkstums tritt hier das Zeremonialgesetz. Dessen Herkunft aber
erklärt sich aus der Wirksamkeit uralten Schamanentums. Wir
hatten bei jenem indianischen Schamanen schon erfahren, daß die
Archetypen der natürlichen Dinge sich nicht nur an den Intellekt
wenden und dort als Artbegriffe auftreten, sondern auch - aber als
Ausnahme - an den Willen, so daß eine Verfügungsgewalt
besonderer Art entsteht. Aus dieser Quelle stammt das
Zeremonialgesetz, dessen Bestimmungen aus folgerichtigem Denken gar
nicht zu erklären sind; so entsteht etwa der Begriff des
»unreinen Tieres«, der nichts mit Unsauberkeit zu tun hat.
Es hat hier in der Tradition offenbar ein hartnäckiges Ringen
der israelitischen Priesterschaft mit den Tierkulten gyptens
stattgefunden, die ihre Forderungen übersteigerten. »Und es
wurde Mose in der ganzen ägyptischen Weisheit erzogen«
(Apg. 7. 22). Daß Israel hier unübersteigbare Grenzen
setzte, war zweifellos der Hauptgrund für den Exodus. Daß
aber das Verbot des Schweinefleisches etwas mit einer vorgeahnten
Trichinengefahr zu tun habe, das ist natürlich eine Auslegung,
würdig des Jahrhunderts, das sie aufgebracht hat.
Dieses Zeremonialgesetz, dem jede gesamtmenschliche Bedeutung fehlt
und das eben nur auf Israel Bezug hat, wurde nun aber auch von diesem
in vollem Ernste hingenommen, so daß man den Unterschied zum
Dekalog kaum bemerkt. Es sind ja eben beide Gesetzesteile
Offenbarungen Gottes, und das Zeremonialgesetz bestimmt jenen zweiten
Schöpfungsakt am Volke Israel, durch den es zur Sakralrasse
wurde; kein Wunder, daß es für die Juden in den Dekalog
überging. Der Nichtjude sagt sofort: was geht uns das an? Der
gläubige Israelit aber zermürbt sich Herz und Hirn, wenn er
ein Gebot übertritt, weil er weiß, daß er damit Gott
verletzt. Wie zäh aber das Zeremonialgesetz mit dem Dekalog
verschmolzen war, geht u. a. aus der Einigungsformel hervor, die man
auf dem sogenannten Apostelkonzil des Jahres 51 zwischen der
judenchristlichen Gemeinde und Paulus fand. »Darum urteile ich,
daß man denen, so aus den Heiden zu Gott sich bekehren, nicht
Unruhe mache, sondern schreibe ihnen, daß sie sich enthalten
von Unsauberkeit der Abgötter und von Hurerei und - vom
Erstickten und von Blut« (Apg. 15. 19/20). Die Vollwichtigkeit
der ersten beiden Forderungen ist ebenso einleuchtend wie die
gänzliche Gleichgiltigkeit der dritten; denn was hat es schon
auf sich, ob ein Christ, ja überhaupt ein Mensch (außer
den Juden), »Ersticktes« ißt oder nicht! Aber damals
drehte sich ein Stück Weltgeschichte um diese Forderung.
Das Gebot »Du sollst dir kein Bildnis noch Gleichnis
machen« schwankt in seiner Kraft während der
Zeitläufe. Am stärksten ist es im israelitischen Altertum,
wo es das Bollwerk gegen die heidnischen Individualkulte war,
während es für uns überhaupt nicht mehr besteht; denn
niemand wird die »Schöpfung Adams« von Michelangelo
als Gotteslästerung betrachten. Dann machte es
Gelegenheitsvorstöße bei den Ikonoklastenkaisern in Byzanz
und bei den Bilderstürmern in der Reformation; aber es hat doch
kein eignes Leben mehr. Ein Gebot dagegen, das danach schreit, wieder
Leben zu bekommen, ist dies: »Du sollst den Namen des Herrn
deines Gottes nicht unnützlich führen«; die frommen
Juden nehmen in tiefer Einsicht in die innere Gewalt der Namengebung
dieses Gebot furchtbar ernst und sprechen den Namen Gottes
überhaupt nicht aus, umschreiben ihn vielmehr mit der
wunderbaren Formel »Der Heilige Israels, gesegnet sei Sein
Name!« Aus dieser Haltung spricht eine religiöse Begabung,
wie sie noch nie ein Volk gehabt hat. In dem Nicht-Aussprechen und
doch Wirkenlassen des Namens liegt der ganze Ernst der Religion; es
ist, wie wenn die Natur, auf ihren Grund kommend, den Atem anhielte.
Und das wird gefordert. Jedes Aussprechen aber ist eine Minderung;
und welcher Schwund seit zwei Jahrtausenden durch die immer mehr
zunehmende Geschwätzigkeit der Kirchen, besonders der
evangelischen, eingetreten ist, das bemerken diese selber leider am
wenigsten, vor allem aber zu spät. Israel aber bleibt noch immer
dem Gebote treu und verstummt vor dem Namen.*
Gegenüber diesen zur Veränderlichkeit neigenden Geboten -
denen man noch etwa das über die Sabbatheiligung hinzufügen
kann - stehen auf festem Grunde das fünfte und sechste, die die
Mitte des Dekaloges erfüllen: »Du sollst nicht
töten!« und »Du sollst nicht ehebrechen!« Mord
und Wollust, diese zwei Handlungen des Menschen, die sich ihm am
lautesten aufdrängen, haben die am meisten zerrüttende
Gewalt über sein Gemütsleben. Dadurch aber, daß sie
nicht von individuellen Landesgöttern, sondern von der einzigen
Person des Weltschöpfers verboten werden, wird ihre Unterlassung
von einer bloß legalen zu einer guten Tat umgeprägt; es
entsteht immerhin ein positiver Kern im ethischen Tatgefüge des
Menschen; er begeht gute Taten, die ihren ständigen und sicheren
Grund haben. Es ist schön und erhaben, wenn Achill den alten
Priamos nicht tötet, der in seiner Gewalt ist; aber es ist eine
andere Sache, wenn so etwas aus Gehorsam gegenüber dem Gebot
überhaupt nicht geschieht. Freilich hat man schon gesagt,
daß das die schlechtere Sache sei; und auch das läßt
sich hören, sowie man die Klippe sieht, an der das Gesetz Mose
eines Tages scheitern muß.
Mit dem sechsten Gebot »Du sollst nicht ehebrechen«, aber
hat es noch eine besondere Bewandtnis; denn es ist nicht einzusehen,
warum eine letzten Endes menschliche Institution mit wechselnder
Personenzahl und wechselndem Inhalt den Rang einer freien
Schöpfung Gottes, wie es das Leben jedes einzelnen Menschen ist,
einnehmen soll. Würde der Ton und die Bedeutung des Gebotes auf
die Erhaltung dieser jeweiligen Institution zielen, so wäre es
mehr als ein Variante des siebenten («Du sollst nicht
stehlen«) anzusehen. Auch kann man unmöglich glauben,
daß die kasuistischen Vorschriften des codex canonicus
darüber, was hier Sünde sei und was nicht, den Kern der
Sache treffen. Die Spärlichkeit des Erlaubten beim sogenannten
coitus canonicus verwehrt dem Menschen in der Tat hier jede Kultur
und setzt den Eros zum bloßen Zeugungsakt, wie beim Tiere,
herab. Indessen ist der Wortlaut zweifellos die Umkleidung von etwas
tiefer Gelegenem, auf das allerdings nicht verzichtet werden kann,
ohne das höhere Menschentum anzugreifen. Ein mir befreundeter
märkischer Edelmann macht mir eines Tages, wie er sagte, das
»Geständnis«, daß er keusch in die Ehe gegangen
sei. Auf meine erstaunte Frage, wie das gekommen wäre, da ihm
doch jede Befangenheit in diesen Dingen und jedes Muckertum fehle,
erzählte er mir, wie sein Vater ihn beim Ausbruch der
Geschlechtsreife zu sich gerufen und ihm die bekannten Ermahnungen
habe angedeihen lassen. Es kam aber anders als gewohnt. »Ich
weiß, mein Junge«, habe der alte Graf gesagt, »was du
jetzt von mir hältst. Du denkst, ich werde dich verwarnen und
abschreckende Bilder vor dich hinzeichnen, damit du vielleicht ganz
gegen deine innerste Natur, aus Angst unterläßt, was du
eigentlich gern tun willst. Freilich sage ich dir, welche Gefahren du
läufst; aber ich weiß ja, daß du sie meistens schon
kennst und vielleicht nicht einmal scheust. Aber eines sage ich dir
mit aller Dringlichkeit: »Vergiß nicht, daß du es
hier mit einer heiligen Sache zu tun hast! - So, nun geh, und tu, was
du willst«. - Das war sechstes Gebot.
6. SAULUS VON TARSUS ENTDECKT DIE ERBSÜNDE
((xoris tou nomou amartia
nekra))
Röm. 7,8.
Es ist ein verführerischer und gar nicht zu vermeidender
Gedanke, der sich mit der Sicherheit eines Reflexes einstellen
mußte, daß ein Gesetz, von solcher Herkunft und von
dieser Autorität verkündet, zu gar nichts anderm da sein
könne als allein dazu, erfüllt zu werden. Und da sich an
diese Erfüllung sogar die Verheißung knüpfte,
daß durch sie das Reich des Friedens und der Gerechtigkeit auf
der Erde kommen würde - gebunden und verbürgt durch die
Existenz Israels -: wie könnte man anders denken, als daß
damit auch die Bedeutung des Gesetzes erschöpft sei? Zudem ruht
im Ethischen tief verborgen doch eben immer der Gedanke, daß es
sich lohnt.
Es ist der Orden der Pharisäer, der als Träger der
Gesetzesgerechtigkeit und des Guten aus dem Gesetz jene Auslegung auf
die Spitze getrieben hat. Man muß ihn zunächst des Odiums
der Heuchelei entkleiden, unter dem er im Neuen Testament zu leiden
hat; vielmehr spielt er eine gewisse tragische Rolle im Prozeß
der Ethik, weil sich an ihm die Unhaltbarkeit der Auffassung am
deutlichsten erweisen sollte. Denn das Gesetz Mose und der Propheten
ist so gebaut, daß es nicht gehalten werden kann, die
Pharisäer aber so, daß sich ihr ganzes Leben auf der These
von seiner Erfüllbarkeit aufbaute. Der erste Teil dieses Satzes
klingt für ein israelitisches Ohr wie eine Gotteslästerung;
denn da ja auf der Erfüllung des Gesetzes die messianische
Verheißung ruht, so wäre ein unerfüllbares Gesetz
eine Untreue Gottes an seinem Volk, Und so denkt auch noch heute
jeder gläubige Jude. -
Es handelt sich hier aber nicht um eine quantitative
Unerfüllbarkeit. Wenn das Gebot lautet: »Du sollst den
Feiertag heiligen«, so enthält dieses einen
unzerstörbaren Kern, der aus dem Wesen des Gesetzes selber
stammt; wenn aber nun, im Kommentar dazu, eine Unzahl von
Einzelgeboten herausgebracht wird, die besagen, wodurch diese
Heiligung stattfinden soll, so liegt darin eine quantitative
Ausweitung in actu demonstrandi, die steigend lauter Erschwerungen
des natürlichen Lebens enthält und damit das Gesetz - das
ja hier auch ins Zeremonialgesetz überwechselt - an die Grenze
der Unerfüllbarkeit rückt. Und so bei allen andern Geboten
auch. Aber diese ist nicht gemeint, sondern die qualitative und dem
Gesetze wesentliche steht zur Rede. Das Gesetz Mose enthält
ontische Antinomien: es steht im organischen Widerspruch mit sich
selbst, dessen Aufhebung nur durch eine andere Kraft erfolgen kann.
Würde es sich um die Gesetze handeln, die Lykurg oder Solon oder
Hamurabi erlassen haben, so träte eine solche Antinomie nicht
auf, obwohl sie den gleichen Inhalt zu haben scheinen; sie werden
gehalten oder übertreten, ohne daß am Menschen etwas
geändert wird. Das Gesetz des Mose, das auf anderm Grunde ruht,
verlangt die Anwesenheit Gottes in den menschlichen Taten. Das
heißt: die Ethik nimmt Bezug darauf, daß sie aus
derselben Quelle stammt wie die Geschöpfe der Natur. Wenn von
einem dieser Geschöpfe aber Gott sein Wort zurücknimmt, so
kann es nicht mehr leben und wird aus der Schöpfung
ausgeschieden. Das geschieht allenthalben im Laufe der Erdzeitalter.
Vom Menschen aber wird dieses Wort niemals zurückgenommen. In
der Ethik nun muß Gott ebenso da sein, und das müßte
sich in einer eigentümlichen Schöpfungsfreude erweisen, die
sich deutlich von allen anderen Freuden des Lebens abhebt und die
wohl jener fromme Chasside gemeint hat, als er von der
»Süße des Gesetzes« sprach - sonst ist das
Handeln tot, und der Mensch, wenn er auch als Individuum am Leben
bleibt, stirbt doch als Person ab. Nun liegt es aber nicht in der
Hand des Menschen, Gott zu zwingen, in seinen Taten bei ihm zu sein,
sondern es gehört zur Freiheit Gottes, dies zu tun, aber auch,
ihn zu verlassen, so wie er aussterbende Tierarten
verläßt, die dann an irgendeiner Ursache zugrunde
gehen.
Die Wahrheitsliebenden unter den Pharisäern waren nun auf diesen
betrüblichen Tatbestand gestoßen, der sich in der
Griesgrämigkeit ihrer Gesetzeserfüllung bemerkbar machte;
der aber mußte sie notwendigerweise am Gesetz irre werden
lassen. Daher stellten sie immer dieselbe Frage an Christus:
»Herr, wie komme ich ins ewige Leben...?« Dieses
»ewig« hat nichts mit der Zeit zu tun und bedeutet weder
»nicht endend«, noch »Leben nach dem Tode«,
sondern es bedeutet »nur« das Leben der Person im Gegensatz
zu dem des Individuums. Das ewige Leben gebietet dem ständigen
Sterbevorgang der Person Einhalt und bewirkt die »Auferstehung
des Fleisches«, also einen Heilungsprozeß. Der aber
geschieht durch den Geist. Auch hier wird es wieder klar, daß
dieses mißbrauchte Wort nichts mit dem Intellekt zu tun hat,
sondern Geist ist das »Herüberwehende« (pneuma); es
ist also von derselben Substanz wie das, was beim genialen Vorgang
die Entscheidung herbeiführt. Hier aber im Ethischen, wo es ums
Ganze geht, trägt er noch den Namen Àgiow, das
heißt »heiliger Geist«. Man wundert sich immer
darüber, daß Christus in so herber, fast liebloser Weise
jene wahrheitssuchenden Pharisäer abweist, den reichen
Jüngling, indem er ihm unmögliche Zumutungen stellt, und
Nikodemus, indem er ihm die Lehre von der Wiedergeburt entgegenwirft,
der jener fassungslos gegenübersteht. Der Grund dafür liegt
wohl darin, daß der Vollzug dieser Heilungen von seinem eignen
Opfertode abhängig ist, der ja noch nicht eingetreten war.
Die größte Klippe des Gesetzes Mose aber ist seine eigne
Zusammenfassung in der gedrängten Form: »Du sollst Gott
deinen Herrn lieben und deinen Nächsten als dich selbst«:
Eine gesollte Liebe aber ist ein Widerspruch in sich selbst. Wenn das
Wort einen Sinn haben soll, so kann es nur der sein, den die
Erfahrung gibt, nämlich die wirkliche Liebe von Person zu
Person; deren Hauptmerkmal aber ist, daß sie niemals einem
Imperativ gehorcht. Ich bin nicht imstande, meinen Nächsten zu
lieben, außer in Freiheit, und wenn ich es auf Grund des
Gesetzes versuche, so muß das herauskommen, was man den
Pharisäern immer als die üble Seite ihres Charakters
vorgeworfen hat: die Heuchelei. In der Tat: gesollte Liebe gibt es
nicht. Damit aber ist nicht gesagt, daß es nicht
Nächstenliebe gibt als natürliches Gebilde; diese aber
stammt nicht aus dem Gesetz.
Die Pharisäer hatten nach oben zu eine aufgelockerte Schicht,
die heimlich zweifelte, die aber schwächlich war und nicht
durchkam. Anders der Jüngling Saulus aus Tarsus Schüler des
großen Gamaliel, der von Anfang an als Genie auftritt. In den
Jüngern Jesu war ihm etwas entgegengetreten, was er bisher noch
nicht gekannt hatte; diese Menschen handelten aus einem Motiv, das
ihm neu war, von dem sein sicherer Pharisäer-Instinkt ihm aber
sagte, daß es die Grundlage der Lehre vom Gesetz
erschüttern mußte. Das aber geschah unbewußt, und
ebenso war auch die Reaktion, die es auslöste: er »schnob
und mordete wider die Apostel« (Apg. 9. 1), er besichtigte mit
Vergnügen das Martyrium des Stephanus und betrieb systematische
Inquisition. Aber eben, weil das alles nur eine unbewußte
Abwehr gegen das aufkeimende bessere Wissen war, eine
Verdrängung, eben deshalb konnte es nicht vorhalten. Der Tag von
Damaskus, wie wir ihn in der Apostelgeschichte geschildert finden,
ist die dramatische Umkleidung des genialen Durchbruches, und zwar
von einem Ausmaß, wie wir es sonst nirgends, weder in der
Wissenschaft noch in der Kunst, finden. Es handelt sich ja auch um
die Ethik und um nichts weniger. Was hier geschah, ist nicht die
Gründung eines christlichen Dogmas, sondern eine Entdeckung des
Christentums, die jedermann annehmen muß. Die Erbsünde,
also der Inhalt des genialen Durchbruches, ist keine christliche
Sonderlehre, wie etwa die von der jungfräulichen Geburt Jesu,
sondern der modus des menschlichen Handelns überhaupt, ganz
gleichgiltig, ob man sich zum Christentum bekennen will oder
nicht.
Mit einem Schlage bricht die bisher krampfhaft festgehaltene
pharisäische Auffassung vom Gesetz bei Saulus von Tarsus
zusammen, zugleich er selbst, mit ihm sein Name, und es entsteht die
paradoxe Lehre: der wesentliche Sinn des Gesetzes ist kein
praktischer, sondern gehört in die Erkenntnis; diese aber
lautet, daß der Mensch durch das Gesetz die Sünde im
Singular, als die Form a priori seines Tuns begreift. Man nehme alle
Sünden, die im Gesetz stehen, fort: die Sünde ((h amartia))
bleibt übrig - genau, wie der Raum übrig bleibt, wenn man
alle in ihm erscheinenden Gegenstände fortnimmt. Paulus begeht
das transzendentale Experiment mit der Sünde und beweist,
daß sie dem menschlichen Tun immanent ist. Er bedient sich
dabei der dialektischen Methode, indem er sich in Gedanken einen
Gegner schafft, den er in der Unterhaltung (dialegesthai) widerlegt.
Diese ist in die Verkündigung eingewoben, spielt meistens die
führende Rolle, und ist ihrem ganzen Charakter nach echte
Wissenschaft (Theologie).
So, wie die Stoffe zur Materie, so verhalten sich die Sünden des
Gesetzes Mose zur Sünde. Und wie die Stoffe während ihrer
Verwandlungen niemals die Materie loswerden, da diese transzendental
ist, so wird das Tun des Menschen, auch das Gute durch das Gesetz,
niemals die Sünde los - weil diese gleichfalls transzendental
ist. Die Sünden des Gesetzes und ihre Unterlassungen sind
abgeteilt, diskontinuierlich, kasuistisch faßbar, wie die
Stoffe; die Erbsünde aber ist das ethische Kontinuum des
menschlichen Geschlechtes. Das ist kein Teil des christlichen
Glaubensbekenntnisses, das man haben kann oder nicht, sondern die
Entdeckung des Christentums, die jedermann annehmen muß, auch
wenn er nicht will. Goethe wollte nicht, denn es ging ihm nicht in
den Sinn, daß unschuldige Kinder »schon« sündig
sein sollten; aber er hatte nur nicht genügend darüber
nachgedacht; denn sonst hätte er nicht die Erbsünde mit dem
Bösen verwechselt, womit sie nichts zu tun hat.
Jetzt fallen die meilentiefen Worte des Römerbriefes:
»Getrennt vom Gesetze war die Sünde ein Leichnam. Ich aber
lebte einst getrennt vom Gesetz; da aber das Gebot ankam, da lebte
die Sünde auf, - ich aber starb ab. Was mir also Leben bringen
sollte, das Gebot, das brachte mir den Tod« (7.8). Mit andern
Worten, die auch im Römerbrief stehen: das Gesetz Mose ist nicht
dazu da, um die Sünden aus der Welt zu schaffen, dadurch
daß es dem Menschen gebietet, sie nicht zu begehen (denn das
tut es), sondern um ihm klar zu machen, daß er, der Mensch, in
seinem tiefsten Wesen, dem ethischen, krank ist. Was für eine
Sicht! Welch ein blendendes Bild war hier durch Mose und die
Propheten aufgestellt! Ein ganzer großer Blütenkranz
göttlicher Gebote, tief überzeugend, genial gefunden, den
Stempel der Offenbarung an sich tragend: sie erfüllt - und die
Menschheit blüht herrlich auf, ohne Zorn widereinander, ohne
Mord, ohne Diebstahl und Ehebruch, ja nicht einmal mit Begehren zu
alledem; und die geheiligten Feiertage betonen in gemessenen
Abständen die Herkunft des Menschen nach dem Angesichte Gottes!
Ja, wenn nur eines dieser Gebote wirklich und von jeder Tiefe her
erfüllbar wäre, es risse die andern fort wie im Spiele, und
die »Süße des Gesetzes« wäre der Geschmack,
den, unter Führung Israels, alle Menschenkinder auf der Zunge
hätten! Aber dies alles ist falsch, sagt der Apostel Christi.
Dazu ist das Gesetz nicht da - das im übrigen in voller
Giligkeit bleibt; es trägt den Stempel herausfordernder
Unerfüllbarkeit an sich bei voller Geltung! Und solange es
besteht, damals doch schon tausend Jahre seit dem Sinai, hat die
Natur des Menschen sich noch nicht um einen Deut geändert, und
heute, dreitausend Jahre nach dem Sinai, genau so wenig. Die Juden,
sagt der Apostel, mißverstanden seinen Sinn, und es ist
höchste Zeit, das Denken zu ändern ((metanoein)) und zu
sehen, daß die Sünde mir wesentlich innewohnt als die Form
a priori meines Tuns ((h oikousa en emoi amarti)). Hier also ist,
durch den Apostel, die Religion wieder erreicht, die Hilfe gegen
Krankheit ist. Die Erbsünde aber, als die Materie der
Sünden, wurde durch die Entdeckung des Apostels - eine Art
umgekehrte kopernikanische - in die Sphäre des Erlebnisses
gerückt, was vorher unmöglich war. Da sie Wille ist, wird
sie mit Lust gewollt, und in dem Augenblick, in dem sie sich
spürt, weiß sie sich zugleich als das kategorisch
Nicht-Seinsollende. Wie, als ob der Raum nicht sein dürfte. Ecce
homo!
Die Erbsünde ist echte Krankheit, die nicht dadurch behoben
werden kann, daß man, dem Gebote gemäß, versucht,
nicht zu sündigen. Die einzelne Sünde wäre dann
freilich nicht getan und würde »nicht angerechnet«,
aber die Sünde bliebe. Es ist genau dasselbe, wie in der
Medizin, in dem man von »Disposition« ((katastasis))
spricht; jeder Mensch ist prinzipiell zur Krankheit disponiert, und
jeder hat einen locus minoris resistentiae, an dem eine bestimmte
Krankheit bei ihm Einzug hält. Die Disposition ist die
»Krankheit zum Tode« in der Medizin.
Wir befinden uns mitten im größten Entdeckungsakt der
Ethik und an deren tiefster Stelle: weiter geht es nicht. Dem Saulus
von Tarsus war, wie wir schon erwähnten, contre coeur
aufgefallen, daß die Jünger Jesu und was weiter um sie
war, Handlungen begingen und ertrugen nach einem Prinzip, das
geheimnisvoll war, wie jeder echte Anfang, und das nicht aus dem
Gesetz stammte. Die Jünger selber wurden damit nicht fertig, und
es war höchste Zeit, daß der erste Theologe des
Christentums auftrat, der die Sache richtig stellte. Es handelte sich
also nicht, und des handelt sich auch heute nicht um
»christliche Ethik«, so wie man von mohammedanischer,
israelitischer, buddhistischer oder heidnischer Ethik spricht, wobei
man jeweils im Zweifel sein kann, welches wohl die beste sei, sondern
es handelt sich um die Entdeckung der Ethik durch das Christentum,
eine Sache also, der niemand ausweichen kann. Was den Saulus
zunächst verwirrte und ihn in die Opposition trieb, war eben
jene Unableitbarkeit dieses neuen Tuns aus dem Gesetz; das durfte
nicht sein für einen rechtgläubigen Israeliten! Was aber
den Umschwung, das heißt Damaskus, herbeiführte, war die
Tatsache, daß der Grund dieser Handlungen stärker war als
er. »Es wird dir nicht gelingen, wider den Stachel zu
löcken!« - Ist es ein Zufall, daß Dionysos als
unbekannter Gott in den Bacchen des Euripides (795) dieselben Worte
»((pros kentra laktizoimi))« gegenüber dem
ungläubigen Pentheus - auch einem Tugendhaften und Gerechten
nach heidnischer Fasson - gebraucht?
Es gibt gute Handlungen aus dem Gesetz, und es gibt Handlungen aus
Güte »getrennt vom Gesetz«. Diese aber kommen erst
seit der Erscheinung Christi vor; und das wollte Saulus von Tarsus im
ersten Zusammenstoß nicht verstehen: gerade er, der
Pharisäer höchsten Grades, durfte es ja am wenigsten. Wenn
jemand einen unentdeckbaren Mord, der ihm allen Reichtum eingebracht
hatte, schließlich doch nicht begeht, und zwar nur, weil Gott
es verbietet, so ist das ein gute Handlung aus dem Gesetz (in der
Form der Unterlassung). Wenn jemand, der das Weib eines andern schon
in der Gewalt hat, es schließlich doch nicht berührt, so
ist das eine gute Handlung aus dem Gesetz, wenn es aus Ehrfurcht vor
dem Gebote Gottes allein geschieht; und eine gute Handlung aus dem
Gesetz ist es auch, wenn jemand selbstlos dem leidenden Nächsten
hilft, weil Gott es so will. Nur dadurch werden die Handlungen gut,
daß sie diese Basis haben. Aber das alles ist das Gute aus dem
Gesetz. Wenn aber jemand, statt seinen Mitmenschen zu ermorden,
diesen und seine Angehörigen mit Wohltaten
überschüttet und sein ganzes Leben damit zubringt, so
daß niemand weiß, woher der Segen auf einmal kommt: so
ist das ein Handlung aus Güte »getrennt vom Gesetz«.
Güte aber ist nicht zu verwechseln mit Gutmütigkeit - wir
haben es ja mit einem angehenden Mörder zu tun;
Gutmütigkeit ist eine angeborne Eigenschaft des empirischen
Charakters wie die Farbenblindheit oder die Schwindelfreiheit, nur
mit einem ethischen Einschlag. Güte aber ist niemals angeboren,
da sie niemals Eigentum des Menschen wird. Handlungen aus Güte
kommen erst seit der Erscheinung Christi vor und durch sie. Achill,
der dem flehenden Priamos die Leiche seines Sohnes zurückgibt,
handelt nicht aus Güte, sondern aus Edelmut; weder im
klassischen noch im israelitischen Altertum gibt es auch nur eine
einzige Handlung aus Güte. Was aber den Saulus vor Damaskus zum
Paulus machte, war neben der dialektischen Einsicht auch diese rein
ontische, daß in der Person des von ihm verfolgten Rabbi Jesus
von Nazareth die reale Bürgschaft für die Giltigkeit dieser
Einsicht lag und daß es ohne ihn nicht geht.
Ich muß hier ein Stück empirischen Weges zurücklegen,
was in der Philosophie oft genug angebracht wäre, wenn das
systematische Denken an einer verwickelten Stelle angelangt ist. -
Bekanntlich hat Dostojewsky mehrfach in seinen Romanen Menschen
geschildert, die einer solchen rätselhaften Umwandlung
unterliegen, wie jener Mordwillige, der sein Opfer mit Wohltaten
überhäuft, und von hier stammt der Begriff der
»russischen Seele«, von der Dostojewsky meinte, daß
an ihr einmal die Welt genesen werde. Ich habe Gelegenheit gehabt,
diese russische Seele in empirischen Fragmenten zu erleben und sie
auf den Kern zu prüfen.*
In mein Haus drangen in den Tagen der Eroberung Berlins russische
Plünderer ein, von denen mir einer in besonderer Erinnerung
geblieben ist. Es war ein wilder Geselle von unheimlichem
Gesichtsausdruck, der mit einer Axt über der Schulter einbrach
und zunächst einige Zerstörungen anrichtete, ehe ich im
entgegentreten konnte, und der nun ans Stehlen ging. Er war dabei,
mir meine Winterhandschuhe zu entwenden, als es mir gelang, ihn zu
stellen. Was sollte ich, ein waffenloser Mann ohne russische
Sprachkenntnisse, diesem Ungeheuer gegenüber tun? Was anderes,
als ihm zunächst ruhig ins Auge zusehen und keinerlei Furcht zu
zeigen. Ich nahm dabei eine Haltung an, wie als wollte ich ihm sagen,
daß »Eigentum« etwas sei, das noch unter einem
anderen Schutze stünde als der ist, den der Staat gewährt,
oder, in diesem Falle, nicht gewährt. Wie es nun geschehen war,
weiß ich nicht: jedenfalls bemerkte ich eine gewisse
Unsicherheit in seinem Wesen; er war in seinem brutalen Raubwillen
irgendwie geschwächt. Inzwischen kam ein Dolmetscher an, und wir
verhandelten; er ließ mir sagen, daß er mir die
Handschuhe wiedergeben würde, wenn ich ihm dafür zwanzig
Zigaretten gäbe. Ich willigte ein, ging ins Nebenzimmer und
holte das Lösegeld. Als ich wiederkam, zog er bereits die
Handschuhe aus. Aber wie ich ihm die Zigaretten geben wollte,
bemerkte ich eine vollkommene Wandlung in seinen Zügen: er fing
an zu lächeln, gab mir die Handschuhe zurück - lehnte aber
die Zigaretten ab. Statt dessen fing er an in seiner Hosentasche zu
kramen, holte ein Stück Zeitungspapier und eine Dose Tabak
heraus, drehte daraus in Blitzesschnelle eine Zigarette und bot sie
mir mit den Worten: »Gut Freund!« an. Dabei legte er die
Hand auf meine Schulter und betrachtete mich mit vollkommener
Friedfertigkeit. Dann ging er an mein Sopha, hob das Kissen auf und
zog darunter drei Eier hervor, die er vorher aus einem
Hühnerstall gestohlen hatte: »Da! Gut Freund!«, sagte
er wieder mit einem eigentümlichen, fast umflorten Blick in den
Augen. Er ist dann noch eine Zeit lang in meinem Haus geblieben, hat
sich alles mit Neugier und Verwunderung angesehen; dann lief er
hinaus, wo sein Steppenpferd an einem Baum angebunden stand, und ritt
ohne Abschied von dannen. - Ich frage mich und frage den Leser: woher
stammt dieses überschüssige Tun? Ich meine jene
plötzlich aggressive Friedfertigkeit und Freundlichkeit, die
sich auf einmal über das Wesen dieses sonst wilden Gesellen
ergoß? Er hätte es ja mit dem Austausch der Handschuhe
gegen die Zigaretten bewenden lassen können, das wäre guter
Kriegsbrauch und anständig gewesen. Aber nein, seine Seele fand
kein Genüge daran, sondern mußte
»Überschüssiges tun« - und das nennt Dostojewsky
die »russische Seele«.
Da ich ähnliche Schilderungen von anderen hörte, so nehme
ich an, daß es sich hier um einen charakteristischen Zug
handelt. Besonders lehrreich sind dabei noch die Berichte, die ich
über die vielbesprochenen Frauenschändungen hörte. Ich
glaube durchaus, daß so etwas vorkommt, einfach weil besonders
auf diesem Gebiet es kaum etwas Unmögliches gibt. Ich glaube
aber ebenso, daß die weitaus größte Zahl dieser
Vorgänge den Namen nicht verdient, weil sie auf einer
tiefgeheimen, oft nur sekundenhaft bewußten, dann wieder
verdrängten Zustimmung der Frau beruhen. Wo aber der Eroberer
auf Abwehr stieß, da stellten sich mit einer zum Nachdenken
zwingenden Regelmäßigkeit jene
Überschuß-Handlungen ein, von denen wir nicht sagen
können, woher sie stammen. Diese Abwehr mußt aber eine
absolute sein; das heißt, sie mußte einer
Nachverkündigung des Gesetzes Mose gleichkommen, für die
man bereit ist, das Leben ohne jedes Zögern zu lassen; denn man
hat es hier »mit einer heiligen Sache zu tun«, wie der alte
Graf Finckenstein sagte. Davon berichtete mir ein junges Mädchen
persönlich, ohne recht zu wissen was sie damit sagte. Sie wohnte
in einer Stadt, die, was Frauenschändungen betraf, besonders
hart mitgenommen war. Aus altem Adelsgeschlechte stammend, nahm sie
ein derartig stolze Haltung ein, daß sie, das verkörperte
sechste Gebot ohne Worte, völlig unberührt die böse
Zeit überstand. Als eines nachts Plünderer in ihr Haus
eindrangen und einer von ihnen die bewußte Forderung an sie
stellte, drang er zwar hart vor, ließ aber dann auf einmal
nach, beruhigte sich und - küßte der weinenden alten
Mutter, die dabei stand, die Hand.
Diese russischen Plünderer hatten nun ihr Leben lang nicht vom
Gesetze Mose gehört. Im Gegenteil, ihre Weltansicht, die sie von
Kindheit an in der Schule gelehrt bekamen, verbot ihnen den Gedanken
an Gott; und in Gedanken waren sie auch ganz gewiß redliche
Atheisten. Trotzdem arbeitet das Gesetz; denn es tut seine Wirkung.
Es ist also genau so wie bei der Erdbahn: sie lief schon immer um die
Sonne, aber erst durch die kopernikanische Lehre wurde ihr Lauf
entdeckt, die Menschheit dabei innerlich verändert, indem der
unendliche Weltraum, hohlraumschaffend, in ihr lebendig wurde. Das
Gesetz Mose arbeite auch vor Mose - es war schon immer objektiv
verboten zu töten - und Orestes war sein Opfer; durch die
Verkündigung aber kommt es ins Bewußtsein der Menschheit,
verändert sie, indem es den ethischen Hohlraum der Erbsünde
schafft. Es ist also echte Entdeckung in des Worte präziser
Bedeutung.
Also ist es gleichgiltig, ob jemand in einem theologischen Sinne
»an Gott glaubt« oder nicht, und
»Gottlosenbewegungen« tun nichts zur Sache, so wenig wie
das Gegenteil: die Natur aber bricht niemals ihr Gesetz. Unweigerlich
fällt das Meteor zur Erde, sowie dessen Schwere die Kraft der
Eigenbewegung übersteigt; und ebenso unweigerlich wird der
Mensch durch das Gesetz Mose als Sünder à tout prix
ertappt, sowie er eine Handlung begeht, die objektiv verboten ist.
Dann leuchtet für einen Moment die Erbsünde als Erlebnis
auf, des Apostels Paulus ((epignosis ths amartias) (LUTHER: Denn
durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde, Röm. 3. 20),
und das allein ist der Sinn des Gesetzes. Auf diesem Boden nun, und
auf keinem andern, gedeihen jene Taten, die wir hier an der
russischen Seele bewundern. Es ist nämlich so, daß dieses
Erlebnis der Sünde nicht lange ausgehalten werden kann und
daß der Mensch sofort sich hilfesuchend umsieht; denn er ist in
dieser Lage ((talaiporos)) = unglücktragend (LUTHER:
»elend«). Aber, und das ist das christliche Tatgeheimnis:
diese selbe Erbsünde hat seit dem Opfertode Christi die
Fähigkeit, in Gnade umzuschlagen und Taten hervorzubringen, die
als Überschuß und Heilkraft wirken und die ihrer Natur
nach außerhalb des Gesetzes stehen ((xoris tou nomou)).
Daß jener Frauenschänder der weinenden Mutter die Hand
küßt, das steht nicht im Gesetz und kann nicht in ihm
stehen; denn diese Tat würde völlig ihres Glanzes und ihrer
inneren Würde verlustig gehen, wenn sie aus einem »Du
sollst« erfolgte. An dieser Stelle wird die Ethik auf einmal
frei von der Form des kategorischen Imperatives, aber nur hier. Diese
Taten tragen das Merkmal an sich, daß sie durch und durch und
bis in ihre letzte Faser hinein positiv sind. Die Taten aus dem
Gesetz sind durchweg verhinderte Negativa: »Du sollst nicht
...«, und wo es heißt »Du sollst«, da kann man
stets das Gesetz auch negativ ausdrücken. Aber jener Kuß
auf die Hand der Mutter paßt in kein Gesetz und verträgt
nie eine negative Ausdrucksweise. Positive Handlungen aber sind
seltene Handlungen, und jene alchymistisch zu nennende Umwandlung der
Erbsünde in Gnade geschieht auf Auswahl ((eklogh ths xaritos))
und als freies, unverdientes Geschenk ((dorean)).
Hier folge als Beispiel noch eine Variante aus dem
angelsächsischen Kulturkreis. FRANK HARRIS erzählt in
seiner Selbstbiographie (S. Fischer Verlag, Berlin 1926) von seinem
ersten Theaterbesuch: »... Es war eine gewöhnliche,
romantische Liebesgeschichte, aber die Heldin war wunderschön,
liebevoll und treu; und ich verliebte mich in sie auf den ersten
Blick. Als das Stück zu Ende war, kam ich auf die Straße
mit dem festen Entschluß, mich für eine solche Frau wie
die Heldin rein zu halten. Keine Morallehre, die ich vorher oder
seither bekam, kann mit dieser ersten Theatervorstellung verglichen
werden. Die Wirkung hielt monatelang an. Die Prediger mögen
diese Tatsache in Ruhe verdauen.« - Da die Prediger des
bürgerlichen Christentums überwiegen Gesetzesprediger sind,
nur daß sie dem Gesetz des Mose noch ein - vorgebliches -
Gesetz Christi anhängen, so wird ihnen diese Verdauung nicht
gelingen. Man erkennt aber die erstaunliche Geistesschärfe des
Verfassers, der ganz richtig sieht, daß hier ein Problem liegt,
und zwar das des Christentums selber. Denn keineswegs ist es
möglich, seine Tat, den freiwilligen Keuschheitsentschluß,
aus dem sechsten Gebote des Dekalogs abzuleiten; er verlöre
damit seinen eigentümlichen Glanz, um den es ja eben geht, und
weshalb die Tat der Erwägung wert wird. Diese ist vielmehr
gleichfalls ein Tun aus Güte, das seinen subjektiven Pol in der
Liebe hat; und man kann es hier ganz deutlich sehen, daß es
nicht gebotene Nächstenliebe ist, sondern die wirkliche: die
Liebe zur Schauspielerin. Diese aber erschöpft sich nicht im
Habenwollen oder Verzichten, wie das üblicherweise so geht,
sondern sie empfängt, Organ geworden, einen Zustrom von
Güte aus der Tiefe der Natur, und aus beider glücklichem
Zusammentreffen entsteht die ungebotene Keuschheit von rein positivem
Charakter. Güte aber ist wiederum nicht die menschliche
Gutmütigkeit, auch nicht die platonische »Idee des
Guten«, sondern die paulinische »Agathosyne«. Man
sieht: ein völlig anders gebautes Tatgefüge als das unter
dem Gesetz, und zwar ein höher geartetes. Denn niemand, der
Geschmack für das Ethische hat, wird bezweifeln, daß diese
Keuschheit mehr wert ist als die aus dem Gesetz.
Nachdem also die Erbsünde einmal entdeckt ist, wird es klar,
daß der Mensch nicht ohne sie handeln kann und daß auch,
Luthers Einsicht zufolge, die guten Werke unter ihrem Gesetze stehen.
Um aber überhaupt rein positiv, das heißt aus Gnade
handeln zu können, ist die Sünde ebenso nötig wie der
Humus für den Pflanzenwuchs; sie ist der Boden aller Taten, die
die größte Bewunderung des Menschengeschlechtes verdienen.
Luther hat daher in seiner drastischen Weise das berüchtigte
Wort geprägt: »fortiter pecca!« - »sündige
kräftig«. Das ist natürlich eine bedenkliche
Formulierung und hat ihm Karlstadt und Thomas Münzer auf den
Hals gehetzt; denn das absichtliche Sündigen bringt gar nichts
ein außer einer Schlechtigkeit. In die letzte Tiefe des
christlichen Tatgeheimnisses dringt dagegen jenes Wort des MEISTERS
ECKEHARD, das wir schon erwähnten: »Ich möchte zwar um
keinen Preis sündigen; aber, wenn ich gesündigt habe, so
möchte ich um keinen Preis nicht gesündigt haben«.
Diese Empfindung, wenn auch ganz dunkel und verworren, muß
jener Frauenschänder gehabt haben, als er nach dem Kuß auf
die Hand der Mutter das Haus verließ. Er befand sich, eben weil
ihm »durch Auswahl der Gnaden« eine jener seltenen rein
positiven Handlungen gelungen war, für eine Zeit im Zustande des
ewigen Lebens. Und da Religion - ganz gleichgiltig, was für eine
religiöse Überzeugung der Mensch hat - nie etwas anderes
ist als Heilung, so können wir sagen: würde der verwundete
Baum, der den zuströmenden Heilungssaft spürt, in
menschlicher Weise empfinden können, so würde er
gleichfalls den Geschmack des ewigen Lebens haben. Der Mensch aber
muß am Rande der Sünde stehen, wenn er zu solchen
Handlungen oder gar zu einem Dauerzustande für sie befähigt
werden soll. Aus den Tugendhaften und Gerechten wird gar nichts.
Wieviel Erbsünde aber ein Mensch im Antlitz trägt, daran
kann man ermessen, wie tief er ist.
Da die Sünde nun ein Krankheitszustand des Menschen von
kosmologischem Charakter ist, so folgt daraus, daß alle seine
Handlungen, sofern er sie aus sich selbst heraus begeht, »unter
der Sünde stehen«. Sie tun das aus derselben
transzendentalen Notwendigkeit mit der die Dinge der Außenwelt
materiell sein müssen, eben weil die Materie selbst
transzendental ist. Es gibt daher keine guten Werke des Menschen von
rein positiver Natur. Der geringste Versuch einer selbstlosen Wohltat
aus eigner Kraft belehrt den Wahrheitsliebenden, was für ein
Betrüger er ist. Die Einsicht aber, daß es so ist und
nicht anders sein kann, trägt den Namen des
Sündenbekenntnisses. Dieses bezieht sich allein auf die
Erbsünde und ist nicht mit der Ohrenbeichte zu verwechseln, die
auf einzelne peccata geht. Das Sündenbekenntnis aber bedeutet,
nachdem das christliche Faktum nun einmal in der Welt ist, die
Voraussetzung für das höhere Menschentum. Denn es handelt
sich hier um eine Entdeckung der Ethik, nicht etwa um kirchliches
Sondergut. Niemand kann daran vorüber.
Das griechische Wort für Sünde, »»martia«,
ist von großer Durchsichtigkeit. Es heißt soviel als
»Verfehlung« und wird schon gebraucht, wenn jemand mit dem
Stein wirft und danebentrifft. Das ist nun schon bei der bloß
handwerklichen Tätigkeit der Fall: der Schuster bringt den
Stiefel nicht so heraus, wie er sein soll; da aber der Stiefel selber
Gebilde des menschlichen Intellektes ist, so wird das nicht als
verhängnisvoll empfunden, zudem seine Vorteile überwiegen.
Da nun die Menschenwelt in ihrer technischen Entfaltung voll ist von
tüchtigen Schustern, so hält sie sich unisono für
gesund und auf dem besten Wege. Anders ist es schon in der Kunst.
Hier schafft der Mensch nicht nach dem Maßstabe seiner eignen
Gebilde, sondern er ahmt den Schöpfungsakt nach. Im Gesichte
jenes japanischen Dichters, der den heiligen Berg Fujijama in Worten
nachzubilden versucht, malen sich deutlich die Spuren der
Verzweiflung und fast der Schuld ab. Die geheime Melancholie der
großen Künstler ob der Mißratenheit ihrer Werke ist
bekannt; sie nimmt mit dem Range zu. In der Ethik aber kommt die
Sünde zur vollen Entfaltung; denn hier ist sie wahrhaft zu
Hause. Unser innerstes Wesen, das, was wir an uns selber sind, wird
plötzlich vom Lichte des Gesetzes angestrahlt, und im selben
Augenblick ist die Sünde da. So ähnlich, wie jene an sich
dunklen Leuchtfarben in phosphoreszierendem Schimmer verharren, wenn
sie erst einmal belichtet sind, so ähnlich entsteht durch den
Licht-Druck des Gesetzes in uns das Grundwissen davon, daß wir
von Natur sündig sind, und leuchtet als Erlebnis auf. »Das
Gesetz ist zu uns gekommen, damit die Sünde vollendet
werde« (Röm. 6. 20), ((ina pleonash to paraptoma))
(wörtlich: »das Danebengefallensein«). Hier kommt in
diesem Worte »paraptoma« das notorisch Singularische der
Sünde klar zum Ausdruck. Man versuche es doch einmal und schenke
in einer Hungersnot, in der man selber steht, einem weinenden Kinde
auf offener Straße ein Stück Brot, und hinterher, wenn man
allein ist, frage man sich, was man denn eigentlich getan hat. Und je
länger und unbarmherziger gegen sich selber man nachdenkt, umso
mehr wird man finden, daß jene Tat aus einer Gruppe von Motiven
zusammengesetzt war, die sich nicht alle sehen lassen können;
keinesfalls war sie so gebaut wie die Lilie auf dem Felde; und wenn
doch - so war es ein andrer, der sie tat. Kann man daher schon
bestenfalls sagen: diese Tat war summa summarum eine gute, so ist es
doch ganz unmöglich zu sagen, daß man selber, ihr
Täter, gut sei. Die Schamröte steigt uns bei diesem
Gedanken ins Gesicht. Aber die Versuchung ist da, so zu denken, und
da wir ihr beinahe erliegen, so reut uns fast unsre immerhin gute
Tat, die uns zu dem Frevel führt, uns selber für gut zu
halten. - Und trotzdem gibt es Handlungen aus Güte; es fragt
sich nur, wie diese Entlassung ((aphesis)) der Erbsünde
möglich ist.
Um diese Gedankengänge kreist Nietzsches
»Immoralismus«. Man muß Nietzsche überhaupt als
homo et philosophus christianus ansprechen. Es ist kein Zufall,
daß das einfache Volk in Genua ihn »il santo« nannte,
noch weniger, daß seine letzte Tat jene Umarmung des
geprügelten Esels auf der offnen Straße von Turin war, ein
Tun aus Güte von rein positivem Charakter. Niemand hat durch
seine ganze Philosophie und durch sein Leben deutlicher gezeigt als
er, daß das eigentlich wesentliche Tun des Menschen erst
jenseits der Moral beginnt, dort, wo das »Du sollst« gerade
eben aufhört, am Rande der Sünde. Es ist im Grunde gar kein
Unterschied zwischen ihm und dem Apostel Paulus. Nietzsche ist
übrigens ein Denker, bei dem in actu demonstrandi fast alles
falsch ist, in statu nascendi aber alles auf dem rechten Fleck sitzt.
Darum nützt es gar nichts, ihn zu »widerlegen«. Die
Sache Nietzsche steht im Schutz der genialen Zeugung, und der Grund
seines Erfolges liegt in dem gewaltigen Arbeiten christlicher
Kräfte im Kosmos.
Im christlichen Altertum hat Markion aus Sinope die paulinischen
Gedankengänge einseitig auf die Spitze getrieben. Er unternahm
einen heftigen Angriff auf das Alte Testament. Markion ging nun
soweit zu sagen, daß sehr wohl Nero und Caligula sowie alle
sonstigen Unholde und Sünder der heidnischen Welt die
Möglichkeit hätten, in den Himmel zu kommen, nicht aber die
Gestalten des Alten Testamentes, Mose und die Propheten. Jene
großen Sünder, so argumentierte er, könnten eben
wegen ihrer Sünden leicht durch die Buße hindurch in den
eigentlichen Kern, die Erbsünde, vorstoßen und von da aus
sich der Gnade öffnen. Wer sich aber für gerechtfertigt
hält durch seine guten Werke, der schließt sich damit eben
von jenem kritischen Vorgang aus und ist verloren. Der Fehler in der
sonst fruchtbaren Überspitzung Markions liegt nur darin,
daß die Gestalten des Alten Testamentes ja eben nicht
Vorläufer des Pharisäerordens sind, sondern christliches
Archaicum, was ihnen freilich nur hin und wieder, so bei Jesaia, zum
Bewußtsein kommt. Aber darin behält Markion für immer
recht: mit den Tugendhaften und Gerechten ist gar nichts anzufangen.
Sie verstehen nicht einmal, worum es hier geht.
Der Ausdruck des APOSTELS PAULUS ((xoris tou nomou)) »getrennt
vom Gesetze« (LUTHER: »ohne des Gesetzes Werke«)
trifft ganz genau; aber es ist zu beachten, daß eingefleischte
Pauliner - stets Protestanten - leicht in eine falsche
Animosität gegen das Gesetz geraten und damit die neuentstandene
Situation zuschanden machen. Aus diesem Grunde hat auch die
katholische Kirche mit ihrer überlegnen Menschenkenntnis stets
noch den Standpunkt des Jakobusbriefes unterstrichen, und man kann
wohl sagen: sie liebt es nicht, wenn allzuviel vom Apostel Paulus
geredet wird. »Getrennt vom Gesetze« aber ist völlig
richtig; nur heiß das ja nicht, daß man sich vom Gesetze
trennen könne und dieses der Vergangenheit angehöre. Es
heißt nur, daß der entscheidende Vorgang sich
außerhalb seiner abspielt, es aber doch zur Voraussetzung hat.
Darum muß das Gesetz stets mitgenommen werden: nur freilich wie
ein Ballast, der zum Abwerfen da ist. Denn ohne das Gesetz gibt es
keine Sünde, ohne Sünde aber, die unvermeidlich ist, keine
Erkenntnis des großen harmatologischen Singulars, ohne ihn
keine Krankheit zu Tode, ohne sie aber keine Genesung. Und hier, wo
die Genesung einsetzt, liegt auch der Mutterboden für jene
Taten, die es erst seit dem Tode Christi gibt. Dieser humus aber ist
zugleich Verwesung und fruchtbares Erdreich, aber auch lebendiges
Erleiden. Jener Frauenschänder der die Hand der Mutter
küßt und geht, muß am Rande der Sünde gestanden
haben, muß Frauenschänder der Gesinnung und der Tat nach
gewesen sein, sonst ist jener Kuß sinnlos, ja er käme gar
nicht zustande. Der Kuß eines Tugendhaften und Gerechten aber
ist gar nichts wert. Und es kommen doch noch ganz andere Dinge auf
solchem Wege zustande. Die Religion aber wird durch diese und keine
andere Deutung des Gesetzes wieder in ihre alte Funktion eingesetzt,
nämlich, Hilfe zu sein und nichts anderes. Eine bloße
Gesetzesreligion, wie das Judentum, entfernt sich von deren Wesen
genau so, wie es eine Erkenntnisreligion nach Art des Buddhismus oder
die Aufklärung auf ihre Weise tun. Hier aber wird ein zum Bluten
gekommenes Menschenherz geheilt. Mag sein, daß das bei unserem
Beispiel nicht allzu tief ging; aber das Herz des Orestes blutete ja
gewaltiger und so, daß es mit den Mitteln des Altertums nicht
zu stillen war. Eine geringe Seligkeit aber muß doch ins Herz
jenes Russen eingebrochen sein, und in der Ethik ist es gleich, ob es
um Nüsse geht oder um Königskronen. Diese Seligkeit aber
heißt im Neuen Testament »ewiges Leben«; so, in
diesem Zustande der Genesung von der Sünde möchte man immer
sein und würde sogar dabei den Tod nicht schmecken: es sei denn
selber als Seligkeit. Und da, nach einer Bemerkung des Apostels im
Römerbrief »alle Kreatur mit uns stöhnet und Schmerzen
trägt« (Röm. 8. 22), so bezieht sich jene Genesung
auch auf die übrige Natur, in der sie, ungehemmt durch den
menschlichen Gedanken, sich von selber vollzieht. Es ist der gleiche
Vorgang. - Das alles aber geht nur, wenn das Gesetz in voller Kraft
und Giltigkeit bleibt ohne jeden Abzug von seinem Wesen. Dieses Wesen
aber hat seit dem Apostel Paulus einen anderen Sinn.
Man könnte den Versuch anstellen und, vor den Spiegel tretend
ernsthaft und in voller Verantwortung behaupten, daß der
Mensch, der mir entgegentritt, gut sei; nicht aber nur ein guter
Vater oder Gatte, ein guter Patriot oder ein guter Kerl
überhaupt, das alles nicht, sondern eben gut schlechthin, ohne
jede Beziehung worauf. Und diese Behauptung möge mit dem Ernst
aufgeführt werden, daß man sich dafür hängen
ließe - im Dunkeln, versteht sich. Man wird bei diesem
Experiment finden, daß es nicht geht. Die Behauptung wird, je
ernsthafter sie gestellt ist, um so mehr als völlig absurd,
aufreibend und zunichtemachend empfunden werden, und meine wahrhaft
transzendentale Eigentumslosigkeit an dieser aus einer anderen
Dimension kommenden Güte tritt mit aller Schärfe hervor.
Ich kann mich auch ohne Schaden gutmütig nennen, aber
»gut« - hier tritt ein Tabu auf, das unüberschreitbar
ist. Wert und Gehalt dieses Wortes sind geschützt. Kein Grieche
des Altertums würde je auf den Gedanken kommen, solch ein
Experiment zu machen, außer etwa Platon, in dessen Werken es im
Ansatze vorkommt; aber es scheitert auch schon in ihm.
7. DIE STELLE IM ERSTEN KORINTHERBRIEF
Im Briefe an die Römer hat der Apostel Paulus in dialektischer
Methode die Funktion des Gesetzes klargelegt; diese Sache ist so
schwer zu verstehen und liegt in solcher Höhenschicht, daß
man erst die Jahresringe von gut fünf Jahrzehnten angesetzt
haben muß, um diesem Thema zu genügen; auch die Kritik der
reinen Vernunft beansprucht dies Altersgrenze. Im dreizehnten Kapitel
des ersten Korintherbriefes dagegen schlägt das Thema in die
Form der Verkündigung um, und es fallen die berühmten rein
evangelischen Worte: »Wenn ich mit Menschen- und mit
Engelszungen redete, und hätte der Liebe nicht ... und wenn ich
weissagen könnte und hätte der Liebe nicht ... und wenn ich
alle meine Habe den Armen gäbe, und hätte der Liebe nicht
...«. Dieses berühmte Kapitel hat die Welt erschüttert
und geht - scheint es - unmittelbar auf dem Wege der anschaulichen
Welt (nicht der optischen, sondern der akustischen) in die Herzen und
in die Erkenntnis ein. Die religiöse Urteilskraft genannt
Glaube, scheint hier ihre volle Befriedigung zu finden. Es fragt sich
nur, was das ist, was hier mit »Liebe« (agapesiehe
Barmherzigkeit) angeredet wird und was seitdem für den Kern des
Christentumes gilt. Es fragt sich auch, ob das, was der Apostel hier
schreibt, »aus seinem Eignen« stammt, also aus subjektiver
Begeisterung, die in Verkündigung ausbricht, oder, ob es
schlechthin giltig ist, »im Objekte verbunden« - kurz, ob
es Entdeckung ist.
Von der Beantwortung dieser Frage hängt in der Tat alles ab; sie
kann aber nicht durch die Theologie geschehen, die hier in eigner
Sache spräche. Sind die Worte des Apostels nur subjektive
Verkündigung, ist also der Stil Inhalt geworden, so können
sie keine andre als bloß subjektive Bedeutung haben etwa nach
Art der vielfachen Verkündigungen des Anbruches
Tausendjähriger Reiche, die bisher noch allemal falsch gewesen
sind. Hüllt aber die Verkündigung eine Entdeckung ein, so
kann sie nicht falsch sein und enthält objektive Geltung. Mit
andern Worten ausgedrückt: liegt hier ein reines Ereignis der
Natur vor oder nicht? Ist das aber so, dann kann man nicht mehr
sagen: das Christentum, dessen Kern hier angeredet wird, sei eine
Religion unter vielen, und andere hätten »in ihrer
Art« gleiche Berechtigung. Sondern dann stehen alle andern
Religionen zum Christentum wie mißlungene Experimente zum
treffenden Wurf. Es »soll« dann keine andre geben, sondern
es kann keine andre geben. Die Philosophie vermag das Wissen zu
sichern, daß Christentum und Religion identisch sind; aber
freilich, den Glauben kann sie so wenig schaffen, wie die
sthetik einen Dichter. Man kann also haarscharf wissen, was
Christentum ist und was nicht, aber, ob man selber Christ sei, das
liegt in einer andern Hand, und das sollte auch ja niemand unbesehen
von sich behaupten.
Es wird immer wieder vergessen, daß das Wort Evangelium
»frohe Botschaft« heißt, also eine Mitteilung ist und
keine Aufforderung. Es wird mitgeteilt, daß im Kosmos etwas
vorgegangen, ein reines Ereignis der Natur eingetreten ist,
wofür die Geburt Christi und sein Leben die irdischen
Kennzeichen und Merkmale sind. Diese sind also mit dem reinen
Naturereignis realiter verbunden. Das hier nun erscheinende
Christentum, das sich nicht etwa aus einer andern Lehre entwickelt
hat, sondern buchstäblich vom Himmel herabgefallen ist, kann
seinem ganzen Wesen nach keinen Imperativ enthalten, sowenig, wie ein
Heilkraut, das nur dazu da ist, die ihm zugehörige Krankheit
nach dem Simile-Gesetz »in sanfter Weise von uns zu nehmen«
(HAHNEMANN). Die dem Evangelium zugehörige Krankheit aber ist
die Erbsünde, oder die »Krankheit zum Tode«, an der
laut der Entdeckung des Paulus die ganze Menschheit leidet. Demnach
kann auch die Liebe, von der der Apostel im Korintherbrief redet,
nicht etwa die Nächstenliebe sein; denn diese ist eine contre
coeur gebotene; sie ist niemals real, sondern immer gesollt. Und da
dieses Gebot nie erfüllt wird, weil es ja in seinem Vollzuge
selber unter der Sünde steht, so stünde damit das
Evangelium auf tönernen Füßen. Es bleibt demnach
durchaus nur und unweigerlich die Liebe übrig, die niemals unter
dem Gebote steht, daß aber heißt die natürliche
Liebe, der Eros, die vom Hohenliede Salomonis besungen wird. Die
Bibel reicht uns selber den Text. Aber sie allein macht es auch
nicht; denn das wäre nichts Neues, keine zweite Geburt, die doch
eben das Evangelium ausmacht. Das durchaus Neue vielmehr, das nur
einmal und für immer geschehen ist, besteht darin, daß die
Liebe, deren Wesen es ja ist, Organ für die Person zu sein, zum
zweiten Male Organ wird, und zwar für die Güte. Diese aber,
nämlich die Güte, kommt damit außerhalb der
Menschennatur zu liegen; sie ist nicht Eigentum, sondern »Kraft
der Natur« (Wilutzky), die aber erst durch die Liebe, als deren
Organ im Subjekt, sich zu ereignen vermag. Genau so, wie beim Akte
des Sehens die therwellen außer dem Auge liegen, aber
erst durch das Auge sich als Licht ereignen, so wird die Güte
durch die Liebe Ereignis, und zwar in der Ethik. Der Unterschied
liegt nur darin, daß die therwellen dem Vordergrunde der
Natur angehören (man kann sie messen), die Güte dagegen aus
ihrer Tiefe stammt und keiner Bemessung zugänglich ist. Die
Ethik bleibt damit immer metaphysisch. - Es geht aber freilich aus
den bloßen Worten des Paulus nicht hervor, daß jene
Liebe, von der er redet, in sich selber zwei Richtungen enthält.
Genau so, wie der Blitz nichts Einfaches ist, das wie ein Meteor vom
Himmel fällt, sondern der Kraftausgleich zwischen einer positiv
elektrisch geladenen Wolke und der negativ geladenen Erde unter ihr:
so besteht auch die Liebe, die durch das Christentum in die Welt kam,
aus einem Ausgleich zwischen der Güte im Objekt und der bisher
sogenannten Liebe im Subjekt, beide aus deren letzter Tiefe
aufbrechend. Jede andere Deutung der christlichen Liebe ist
irreführend und zieht dem eben begründeten Christentum den
Boden unter den Füßen weg.
Die Philosophie hat in der Tat an dieser Stelle zum ersten Mal in
ihrer nachchristlichen Geschichte die Mittel in der Hand, um jeden,
der über das Christentum spricht, sei es als dessen Priester,
sei es als Laie, zu stellen und ihn zu zwingen, Farbe zu bekennen.
Entweder - spricht die Philosophie - ist der Kern des Christentums,
also die Liebe, ein Abkömmling der gebotenen Nächstenliebe
und hängt mit ihr, und nur mit ihr, genuin zusammen: dann tritt
die unentrinnbare und zerstörende Konsequenz ein, daß es
auf etwas beruht, das, nach eigner Lehre, in seinem Vollzuge der
Sünde unterliegt; und dann wird eines Tages niemand mehr daran
glauben. Oder: sein Kern ist die Liebe des Hohenliedes Salomonis,
also die natürliche: dann gibt es nichts, was es jemals
stürzen kann, und alle andern Religionen verschwinden eines
Tages wie wesenloses Schatten. Denn dann steht das Christentum allein
da als einziger Träger der von der Natur unaufhörlich
gestützten Religion. Der Zeitpunkt ist da, an welchem die
Philosophie zum ersten Mal in ihrer Geschichte aus Freiheit dem
Christentum - das unglaubwürdig geworden ist - Hilfe
leistet.
Die Liebe also, aus transzendentalem Altertum heraus gewohnt, Organ
zu sein und nur in dieser Bahn laufend, löst sich eines Tages
(»und den Menschen ein Wohlgefallen«) von der Person los
und öffnet sich für die Güte, die aus dem Tiefenraume
der Natur auf sie zukommt. Sie tut also dasselbe, was das Auge tut,
wenn es, gewohnt, empirische Dinge der Außenwelt zu sehen, auf
einmal der Schönheit begegnet, die auch nicht von dieser Welt
ist, aber in ihr ankommt. In beiden Fällen bleibt die
ursprüngliche Organbeziehung voll erhalten. Der Baum in der
Landschaft wird weiter gesehen nach den gewöhnlichen optischen
Gesetzen, und die Person wird weiter geliebt wie im Hohenlied
Salomonis. Wäre der, dem die Auslösung jenes Ereignisses
bei der Liebe aufgetragen war, von einem Charakter gewesen wie der
Prometheus des Mythos: wer weiß, wie die Liebe dann ausgesehen
hätte, als der Titan am Kaukasus verschmachtete. So aber
trägt sie den Stempel dieses Charakters. Es ist, wie wenn ein
Blutstropfen von Golgatha in sie hineingeträufelt wäre.
Oder, wie wenn in einen Becher edlen Weines ein Tropfen Wermut
fällt; er bekommt dadurch einen amaren Geschmack - aber es ist
derselbe Wein. Fragt man nun, woher das stammt, was seitdem
Barmherzigkeit, misericordia, caritas, agape heißt, und was auf
einmal da war, so lautet die Antwort: nur aus dieser Quelle, niemals
aber aus dem Gebot der Nächstenliebe. Denn gerade das ist ja
eben das Wesentliche am Tatgeheimnis des Christentums, daß es
nicht aus dem Gesetze stammt, sondern getrennt von ihm aus dem Blute
Christi, das in die Liebe eingeträufelt ist in dem Augenblick,
als diese jene Rangerhöhung erfuhr und Organ für die
Güte wurde. Hierbei zerriß der Vorhang des Tempels.
Es handelt sich also um einen kosmischen Vorgang, der entlang der
Achse quer durch die Natur verläuft und nicht etwa um ein
Menschheitsphänomen. Darum ist es auch der ganze unteilbare
Eros, der sich hier als das Organ des Subjektes der Güte
öffnet, und es liegt nicht in der Macht des Menschen, hier etwas
abzuhandeln. Der Eros aber, das hörten wir, ist ein echtes
Amalgam aus Erkenntnis und Willen, getragen von jenem nur ihm eignen
Lustgefühl, das jeder kennt und nie verwechselt. So wie man
nicht wissen kann, an welcher Stelle der Blitz einschlägt, so
kann man auch nicht wissen, wohin die Güte trifft, ob in die
feineren Bezirke oder in die Wollust. Beide sind ja auch bloße
Vorlagerungen, und erst hinter ihnen, tiefer im Subjekt, liegt der
transzendentale Ort, an dem die Organtätigkeit lebendig wird.
Wir sahen ja, daß jener russische Frauenschänder mitten im
wollüstigen Begehren halt machte und, von der Güte
getroffen, abließ, nicht vom Gesetze bewogen. Die Taten, die
das Menschentum in Freiheit erhöhen, gedeihen nur am Rande der
Sünde. Wie wenn jenes Mädchen, nachdem sie sah, wie der
wüste Geselle der Mutter die Hand küßte, von dieser
Tat aus Güte tief im Herzen getroffen, auf einmal für ihn
entbrannt wäre und sich ihm aus Freiheit gegeben hätte ...?
Mit andern Worten: der gesamte Bezirk der Sinnlichkeit im Eros bleibt
voll erhalten und frei zur Verfügung der Güte, und man darf
hier ja nicht von »Vergeistigung« und dergleichen reden.
Das sind krumme Wege der Unredlichen.
8. DIE ASKETISCHE MACHTERGREIFUNG IM CHRISTENTUM
Darum ist auch die mortifizierende Askese eine Fehlrechnung. Es hat
Menschen gegeben, einzelne, Gruppen und ganze Schwärme, die der
Meinung waren: wenn sie die von ihnen sogenannte Fleischeslust
gewaltsam abtöteten, sie dadurch Verdienst erwürben, sei es
- wie im indischen Religionsraum - in Form einer erhöhten
Wiedergeburt, sei es, wie im christlichen, als Lohn im Himmel. Allein
alle bewußte Unterdrückung des Trieblebens, sowie die
unbewußte Verdrängung - zwei sehr verschiedene psychische
Mechanismen - schaffen dessen Energie nicht aus der Welt; sie wandeln
sie nur um und keineswegs in etwas Besseres, sondern meistens in
Angst, die genau so Gewalt über das Gemüt erhält wie
der ursprüngliche Trieb. Was immer also auch auf diesem Wege an
Träumen und Visionen zustande kommt, es bleibt alles subjektiv
und ohne jede Sanktion. Daher verbot schon der letzte Buddha Gotama
in seiner überlegenen Einsicht die mortifizierende Askese; er
hatte ihren Trug an sich selbst und bei anderen durchschaut. Es ist
nichts heilig, was auf diesem Wege zustande kommt, und die
Charaktere, die so erwuchsen, sind unglaubwürdig und
verdächtig. Es ist ein schwerer Verlust, den das Christentum
gleich in den ersten schrecklichen Jahrhunderten seines Bestehens
erlitten hat, daß es in die Hände von Asketen fiel, es
erfuhr dadurch eine Ablenkung von seiner Bahn, in der es sich heute
noch befindet und durch die es sich ungerechterweise in den Ruf einer
weltverneinenden Religion nach Art der indischen gebracht hat. Wenn
es aber so ist -, und es ist unwiderleglich so - daß das
Kernereignis des Christentums die Organverlagerung der
natürlichen Liebe in Richtung auf die Güte ist, so
schließt dieser Vorgang die Askese im mortifizierenden Sinne
aus, verbannt sie sogar als eine seelische Ungezogenheit. Christus
selbst hat sich deutlich von ihr abgewandt, und seine vierzig Tage in
der Wüste haben nicht das geringste mit denen der christlichen
Asketen in der Thebaïs zu tun. Es besteht keine Spur einer
hnlichkeit zwischen ihm und all diesen sonderbaren Heiligen,
deren Hauptwirkung auf den Betrachter doch die der Unappetitlichkeit
ist. Wenn man in einem großen Wiederaufnahmeverfahren die
Heiligenprozesse der katholischen Kirche revidierte, so glaube ich,
würden deren Anzahl weit heruntergedrückt. Einige freilich
blieben übrig. Wo also Erscheinungen und Stimmen nicht
psychische Produkte sind, sondern objektiv und mit Stromrichtung von
dort her, da muß man Halt machen.
Und der Heilige wäre auch eine verlorene Sache - wie ihn der
geizige Protestantismus verlor -, wenn die Askese nicht doch noch
einen andern Boden hätte, dessen Schicht archaisch tief in der
Natur begründet ist. Es hängt dies mit dem aristophanischen
Mythos zusammen. Die Einsicht nämlich, daß hinter jedem
persönlichen Liebesbunde, wie hoch er sich auch hinaufschwingen
möge, das Verfehlen der wahren Hälfte steht, der allein die
geschlechtliche Hingabe gilt, diese Einsicht kann Erlebnis werden -
und wird es nicht bei den Schlechtesten - und eines Tages zwingend
die Entsagung fordern, denn man hat es hier mit einer heiligen Sache
zu tun. Diese Entsagung fällt dann aber leicht, und was
geübt werden muß ((askein)), ist nur die Beseitigung
stehengebliebener Reste der Wollust, die keinen Boden mehr haben und
darum unsinnig sind. Aber es muß eben etwas da sein, was der
Übung unterworfen wird, nämlich die durch freie Einsicht
natürlich gewachsene Keuschheit, der auch der scheele Blick auf
die Wollust anderer fremd ist. Es gibt eine empirische Keuschheit,
eine negative, die im Geheimen auf ihre Beendigung wartet, und eine
positive, rein natürliche, die ihre Enthaltung als höchstes
Gut ansieht. Da aber alles Empirische seine Wurzel im Metaphysischen
hat, so strömt die Kraft, die der Keuschheit ihren Halt gibt,
von diesen entsagenden Heiligen aus und nicht von tugendhaften
Pastorenfrauen. Bei diesen Heiligen aber - man denkt da
unwillkürlich an Frauen, deren Keuschheit mehr Gewicht hat als
die männliche - findet in dem Augenblicke, da die echte
Entsagung durchbricht, jene wunderbare und gar nicht zu
enträtselnde Besitzergreifung durch die Person des Heilandes
statt («mirabili et ineffabili modo ...«, SCOTUS), die
sich, falls das alles reinen Herzens geschieht, unwiderstehlich
aufdrängt. Es ist das keine »Übertragung« im
psychologischen Sinne; auch die schwüle Jesus-Inbrunst der
Pietisten trifft es nicht. Es ist eine Übertragung besonderer
Art auf die Person Christi, die hier merkwürdige Weise
bereitsteht und die das eben kann, weil diese Person »besonderer
Art« ist durchaus in dem Sinne, wie man in der lebendigen Welt
von »Art« spricht. Das aber kann vorläufig noch nicht
geklärt werden.
Aus alledem folgt, daß es erst mit der Erscheinung Christi
wirkliche Heilige geben kann, die frei von mortifizierender Askese
sind und die ihren Schwerpunkt in der Liebe haben. Um aber sicher zu
gehen, wäre es für den Fall der Revision der
Heiligenprozesse angebracht, wenn der advocatus diaboli darauf
achtete - durch strenge Auslese biographischen Materials -, daß
niemals ein giftiger Blick auf die Wollust anderer gefallen ist.
Christus zeichnete Figuren in den Sand, als man ihm damit kam.
9. GESETZ UND EVANGELIUM
Man kann den Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium - jene Frage,
für die so viel Theologenblut geflossen ist - an keinem anderen
Beispiel so gut erläutern wie am Gebot der Nächstenliebe,
jenem Inbegriff des Gesetzes. Dieses Gebot, alttestamentarisch
gelesen, trägt alle Zeichen der Unerfüllbarkeit auf der
Stirn und an ihm sind von jeher die besten Gemüter gescheitert.
Denn es ist offenbar, daß, wenn Liebe irgendeinen realen Sinn
haben soll, sie dann an ihre Organtätigkeit gebunden ist, und
daß sie sich allemal nur auf die besondere Person beziehen
kann, nie aber auf die beliebige, wie es das Gesetz fordert. Denn der
Nächste ist jedermann. Dies Gebot erfüllen wollen,
heißt, eine eingleisige, vom Objekt nicht zurückkommende
Liebe ausstrahlen können, - das aber geht so wenig, wie der
Blitz nicht einschlägt, wenn auf der Erde keine negative Ladung
herrscht. Auch bei der unglücklichen, aber realen Liebe kommt
vom Objekt etwas zurück, wenn auch nicht das, was man sich
wünscht; ja, der Dichter hat gesagt, daß bei ihr mehr
zurückkommt als bei der glücklichen. Nun ist aber das Gebot
»Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst«
trotzdem mit Offenbarungscharakter versehen, das heißt, es
gilt, und die Sache bleibt ein Geheimnis, bis es durch ein objektives
Geschehen im Kosmos gelichtet wird. Solange dies nicht eingetreten
ist, bleibt es offenbar, daß jeder Versuch, es ernsthaft zu
erfüllen, zur Zerstörung des Gemütes führt, das
ihn unternimmt; und daran sind die ernsteren Pharisäer fast
zugrunde gegangen. Um aber das nicht wirklich zu müssen,
rührten sie lieber nicht daran. Es ist darum eigentlich, wenn
man die Natur der Liebe ansieht, gar nicht zu fassen, wie eine
Religion heute den Gedanken vertreten kann, das Gesetz sei dazu da,
um erfüllt zu werden. Während es doch an seiner obersten
Stelle, beim Versuche der Erfüllung, nichts anderes
zurückläßt, als ein verzweifeltes Gemüt.
Dies gilt, solange die Liebe notgedrungen alttestamentarisch,
eingleisig, gelesen werden muß. In dem Augenblicke aber, da
»der Vorhang des Tempels zerriß« und die Liebe Organ
für die Güte wird, liegt die Sache anders. Von da an ist
sie, wie der Blitz, ein Phänomen aus zwei Faktoren: einem
subjektiven, eben das, was man ex homine Liebe nennt, und einem
objektiven, der Güte, die aus der Tiefe der Natur herangesogen
wird. Daher muß man im Neuen Testament, wenn das Wort Liebe
vorkommt, stets - oder doch meistens - an diese zweipolige Gestaltung
denken, und es so lesen. Denn nachdem der Vorgang im Kosmos geschehen
ist, wird es wenigstens möglich, daß jemand, statt seinen
Nächsten zu ermorden, ihn schweigend mit Wohltaten
überhäuft. Dann aber ist das Gebot, das inzwischen seine
imperative Form verloren hat, erfüllt. Man muß das Wort
Erfüllung sogar ganz buchstäblich nehmen und die
Ausfüllung des Hohlraumes darunter verstehen, den das Gesetz im
Menschen hinterlassen hat. Diese Möglichkeit der Erfüllung
aber heißt Evangelium.
Das Christentum ist in Verruf gekommen und hat den Makel der
Lächerlichkeit auf sich nehmen müssen, indem seine falschen
Freunde - voran das säkularisierte Judentum - sein vorgebliches
»Gebot der Feindesliebe« rühmend hervorhoben, als sei
das nun noch ein Fortschritt über die Nächstenliebe hinaus.
Dabei mißlang es ja ständig und trug als Frucht nur
Heuchlertum ein. Es versteht sich von selbst, daß Christus die
Feindesliebe nicht so einfach »geboten« hat, wie das Gesetz
das tut. Er kann gar nicht im Stil des Gesetzes sprechen, das er ja
durchschaut hat. Jenes »Gebot« gehört vielmehr auf die
Seite des Evangeliums. Es ist ja auch zunächst, wenn man seinen
Vordergrund betrachtet, nur im Rahmen jener
Gesetzesverschärfungen zu verstehen, die er in der Bergpredigt
verkündet, um sich gegen den Vorwurf, das Gesetz auflösen
zu wollen, zu verteidigen. Es ist also nur indirekt und hat einen
deutlichen Geschmack von Ironie. In der Sache selbst aber ist etwas
ganz anderes gemeint. So wie das Auge trunken werden kann von
Schönheit, so kann die Liebe trunken werden von Güte: und
dann möchte ich einmal die mißliebige Kreatur sehen, die
es sich herausnimmt, »mein Feind« sein zu wollen! So sieht
das aus. Die großen Märtyrer der Diokletianischen
Verfolgung haben in der Tat so gehandelt, daß sie für ihre
Peiniger beteten, und dieses wahre Wunder der Ethik ist es gewesen,
das ihnen den Sieg über die gewaltige Übermacht des
heidnischen Staates verlieh. Aber das geschah nicht aus einem
»Gebot der Feindesliebe«, sondern weil sie so waren,
daß das bei ihnen geschehen konnte. Aus dem Gesetz heraus
gelingt eine solche Tat gar nicht; sie würde schon im Ansatz an
ihrer inneren Unglaubwürdigkeit scheitern. Das aber ist ja
gerade das christliche Tatgeheimnis, daß genau dort, wo das
Gesetz aufhört und seine Reichweite erschöpft ist, die
eigentliche Fruchtbarkeitszone der Ethik beginnt; sie wird erst hier
genial.
Es ist ein bloßes sprachliches Mißgeschick, daß
sich die imperative Flexionsform einschaltete; die Sprache kommt
nicht mit. Das Christentum hat so wenig einen Imperativ wie die
Medizin, sondern es reicht aus dem von ihm gehobenen Schatze die
zugehörigen Heilkräfte dar. Das ist ja gerade seine
Entdeckung, daß es die Stelle fand, an der die Ethik die
imperative Form abstreift (eigentlich eine contradictio in adjecto),
die Stelle also, an der Schopenhauer auch beinahe war, aber mit
seinem »Mitleid« zu kurz griff. Das Christentum sagt zu
Orestes: »Lies das Evangelium und höre!« Hier allein
ist wenigsten Linderung, wenn nicht Heilung. Seine Tat bleibt
Verbrechen, auch wenn sie ihn zum Helden macht. Aber er bedarf der
Vergebung der Sünde - und das konnte der antike Mensch nicht
begreifen. Erlöst werden aber kann Orestes nur, wenn er ORESTES
wurde, das heißt, wenn er die Tat beging, nicht aber, wenn er
als Tugendhafter und Gerechter, vom Gesetz gewarnt, davon
abließ.
Das Christentum läßt also zunächst einmal den
empirischen Charakter bestehen und rührt nicht an ihm; es setzt
voraus - und hier liegt seine ganze Tiefe -, daß es
unaufhörlich, kraft Schöpfungswillen Gottes, Gestalten wie
Orestes geben wird, die ihre aufgetragenen Verbrechen auch wirklich
begehen. In ihm kommt nie der Gedanke einer Verbesserung des
Menschengeschlechtes auf; vielmehr steht alles, was der Mensch tut,
unter der Sünde, auch seine guten Werke. Und so wie sich in der
Chemie die Verbindung zweier Stoffe nicht in diesen selbst, sondern
am kulminierenden Punkte ihrer Materie abspielt, so alle Taten des
Menschen als empirische facta auf dem Boden der Sünde, von der
er niemals frei kommt. Nur wenn diese von der einstrahlenden Kraft
des Evangeliums beleuchtet wird, nur dann tritt »Vergebung der
Sünden« ein und setzt den Menschen in Freiheit. - Ganz
anders das Gesetz, das - vergebliches Bemühen! - das
Zustandekommen des empirischen Charakters, falls er
»böse« ist, verhindern will. Nach ihm also darf es
Orestes gar nicht geben. Es gibt ihn aber doch, weil es
Schöpfungswille Gottes ist. Auf die Frage aber: »Soll ich
denn Orestes sein?« antwortet das Christentum: »Ich
möchte zwar um keinen Preis sündigen, aber wenn ich
gesündigt habe, so möchte ich um keinen Preis nicht
gesündigt haben.« Ja, ich soll Orestes sein.
10. DIE OBJEKTIVE KONSTITUTION DER KIRCHE
Die antiken Mysterienkulte fanden kein Mittel, um die heilige
Krankheit des Orestes zu heilen; sie konnten dem Druck der Erinnyen
nichts Wirksames entgegensetzen. Der Mythos hatte ihn
heraufgespült, und der Genius des Aischylos brachte ihn zur
Darstellung. Er war ja nicht etwa bloße Erfindung, Produkt des
Subjektes, sondern ihm lag etwas zum Grunde, was den Griechen Angst
und Schrecken einjagte, und dieser Grund lag in der Tiefe der
menschlichen Natur verborgen. Die mißlungene Sühnung in
den Eumeniden war offensichtlich, denn Euripides, in dessen Dramen er
sich reichlich skandalös benimmt, läßt ihn noch immer
mit dem unheilvollen Fluch beladen umherirren. Nirgends ist auch nur
die leiseste Spur einer Rettung zu sehen. Wie aber, wenn er, statt
zum pythischen Apoll und zur taurischen Artemis zur - christlichen
Kirche gestoßen wäre? Die war doch auch Mysterienreligion
durch und durch und verfügte über nachhaltige Kulte und
Weihen; von ihnen eingehüllt zudem über eine Heilslehre,
die überhaupt erst auf den Kern der Sache kam. Wenn man von dem
herausfordernden Anachronismus absieht, der in dieser
Zusammenstellung liegt, so muß man doch zugeben, daß die
Verbindung sonst sinnvoll ist. Denn die Kirche hat sich immer als
Heilsanstalt aufgefaßt und für ihre Tätigkeit
rückwirkende Kraft beansprucht; und es ist auch
glaubwürdig, daß sie heilend wirkt, denn der Beweis wird
tausendfach geboten; nur steht das unter der Voraussetzung, daß
das »Eigentlich Seiende« an ihr, der prägende
Urbestand, auch wirklich ist. Denn nur wirkliche Heilmittel
können helfen, nicht erdachte Lehren; dieses Helfende also
muß vom Objekt her besiegelt sein. Die Kirche selbst
drückt das im Dogma als dritte Person der Trinität aus,
womit sie sehr weit gegangen ist; denn man muß schon sagen: der
Heilige Geist als Person gedacht, bereitet Schwierigkeiten, über
die sich die Kirche im geheimen auch klar ist. Doch sei dem, wie ihm
wolle: die Realität, Objektivität und Unaufhebbarkeit der
Kirche, ihr Zugehören zum Schöpfungsbestande vom
Augenblicke ihrer Stiftung an, das alles muß ihr
eigentümlich sein, wenn sie heilen und helfen will. Da aber
Heilungsakte durch sie ständig vorkommen, so muß sie auch
real sein, genau so wie die Pflanze Belladonna, nur freilich mit
anderem Realitätscharakter.
Es gibt noch heute durch Aufklärung abergläubisch gewordene
Menschen, die allen Ernstes meinen, daß, wenn sie »aus der
Kirche austreten«, diese dadurch um den Betrag ihrer Person
gemindert werde, so daß, wenn dies alle täten, die Kirche
eines Tages aufhörte, zu existieren. Genau ebenso dachte auch im
Jahre 1789 jener Jakobiner, der in einer Sitzung des Klubs
feierlichst seinen »Austritt aus dem Staate« erklärte
und der baß erstaunt war, als er auf dem Heimwege von
königlichen Garden verhaftet wurde; drei Jahre später
hätten es die Schergen der Jakobiner selber getan. In der Tat:
es gibt sowenig Kirchenaustritte wie es Staatsaustritte gibt, wenn
man dem Worte Çgebenë hier irgendeine ernsthafte
Bedeutung zubilligen will; denn jene bloß empirischen
Fälle von Austritt haben eben kein eigentliches Sein und treffen
die Substanz nicht. Daher stoßen sie auch ins Leere und
ändern nichts am Bestande von Kirche und Staat, die sich beide
leidenschaftlich ergänzen würden, wenn jene Austritte eine
bedrohliche Zahl erreichten. Beide eben sind in der Natur verwurzelt,
und keiner ist vom Menschen durch Willensentschluß gemacht:
»Ein tief Geheimnis, welches kein Bericht
Noch je enthüllt, wohnt in des Staates Seele,
Des Wirksamkeit so göttlicher Natur,
Daß Sprache nicht noch Feder sie benennt«
(SHAKESPEARE, Troilus und Kressida III,
3).
Dabei hat der Staat nur Vordergrundbedeutung, vermag aber sein
reales Dasein und seine Unaufhebbarkeit kräftiger
auszudrücken, ist robuster in seinen
Willensäußerungen, bezahlt aber diese Aufdringlichkeit mit
einem jeweils kürzeren Leben. Die Kirche dagegen wirkt aus der
Tiefe her; ihr Dasein steht mit jener Organverwandlung der Liebe in
festem Zusammenhang, ist demnach transzendental (wobei wir alles
Transzendente hier füglich beiseite lassen). Kein Wunder also,
daß sie die Zeiten der Staaten überdauert und während
derer Lebenskämpfe kaum mit der Wimper zuckt. Beide aber, Kirche
und Staat, unterliegen dem von Aristoteles gefundenen Satz, daß
der Mensch ein zoon politikon sei. Das heißt hier soviel als:
wie der Staat die Ethik bindet, so bindet die Kirche die Religion;
beide bis zu einer bestimmten Grenze. Jenseits dieser aber gibt es in
beiden freibleibende Gebiete.
Alle Zweckverbände haben genau soviel Kraft wie die Summe ihrer
Mitglieder; sie werden von Menschen gemacht, und man kann aus ihnen
effektiv austreten. Alle Bünde dagegen wurzeln in der Natur,
beziehen daher den wesentlichen Teil ihrer Kraft, und die Mitglieder
sind ihre wirklichen Glieder. Zweckverbände unterliegen dem
Gesetze der bewegenden Kraft, wie eine Maschine, Bünde dem der
bildenden, wie ein Organismus. Von diesen kann man daher im voraus
niemals sagen, was alles in ihnen enthalten ist, so wenig, wie man
das von der Natur überhaupt kann. Von jenen aber weiß man
es ganz genau; denn man hat sie ja selber gemacht.
Als die große Diokletianische Verfolgung über die Kirche
hereinbrach, glaubte man zu wissen, wie das Ende sein
müßte. Denn hier rüstete sich der gewaltigste aller
antiken Staaten mit allen Machtmitteln, mit allen ausgebildeten
Methoden der Geheimpolizei, mit allen Grausamkeiten, die ein
römisches Gehirn ersinnen konnte, zum Vernichtungskampf gegen
eine waffenlose, durch unkriegerische Ethik gebundene,
lebensuntüchtige Gemeinschaft: was sollte man da anders denken
können, als daß diese dem Untergange verfallen sei? Aber
da geschahen auf einmal bei den Verfolgten Taten, die für jedes
antike Vorstellungsvermögen unmöglich und absurd waren: ein
freudiges Erdulden, ein herausforderndes Aufsichnehmen, ein
glühendes Bejahen der Leiden furchtbarster Art, und -
unfaßlich - ein Flehen um Vergebung der Sünde für die
Quäler. Und dies alles nicht hie und da, von diesem einmal und
dann von jenem, sondern unisono von der Gemeinschaft, die hier auf
einmal ihren Charakter als organisches Gebilde bezeugte: und die
christliche Kirche siegte über den heidnischen Staat! Es trat
also das Umgekehrte ein von dem, was man erwarten mußte; denn
die Kirche war eben kein Zweckverband, bestehend aus ihren
Mitgliedern, sondern war »Leib Christi« selbst, wie sie
sich nannte, und das war eine andere Sache. Und es gibt keinen
Augenblick in der Geschichte ihres Bestehens, in dem nicht, bis auf
den heutigen Tag, sich dasselbe erweisen würde. Die Zahl der
Abtrünnigen spielt dabei keine Rolle; sie ist in diesem
Zeitalter groß, in jenem gering. Niemals aber bewirkt sie die
Auflösung des Ganzen, das mehr ist als die Summe seiner Teile.
Es bleibt immer das Wesentliche übrig, nämlich sie selbst,
die Kirche Christi.
JACOB BURCKHARDT, der zu den bedeutendsten Verfügern über
das deutsche Sprachgut gehört, schildert am Beginn seiner
»Griechischen Kulturgeschichte« das Entstehen der Polis in
höchst eindrucksvoller Weise und nennt sie ein
»höheres Naturprodukt«. »Wir erkennen an«,
meint er, »daß wir vor einem Urformen bildenden Mysterium
stehen. Ein feuriger Verschmelzungsprozeß, für uns
unvorstellbar, bringt ein Volkstum zustande, welches dann in seinen
Einzelstaaten sich fast regelmäßig in seiner Urform
ausspricht« (Seite 58, Kröner). Genau nach demselben Muster
- denn die Natur arbeitet stets mit den gleichen Mitteln -,
völlig unaufhaltsam, leidenschaftlich und mit der Sicherheit
organischer Bildungsvorgänge ist auch die Kirche, aus noch
größerer Tiefe her, entstanden. Die Apostel kamen in die
Marktflecken und Städte des Mittelmeerraumes, verkündeten
das Evangelium und, gehorsam den Reizworten, die hier fielen,
bildeten sich spontan die Gemeinden: sie wußten kaum, wie es
über sie kam. Hierbei darf man als Basis die Mysterienkulte
annehmen, die der christlichen Verkündigung entgegenkamen. Es
ist jedenfalls auffallend zu sehen, wie sich unabhängig
voneinander, ganz schnell und sicher das gemeinsame
Glaubensbekenntnis als Erzeugnis dieser Gemeinden bildete, die
sogenannte regula fidei, die dann später die Grundlage für
das erste dogmatische Gebäude auf dem Konzil von Nicaea (325)
wurde. Es lag also ein geheimer consensus omnium zu Grunde, latent,
wie ein Wachstumsvorgang, der sich später auf dem Konzil
manifestierte.
Die Kirche trägt demnach alle Merkmale eines »höheren
Naturprozesses« an sich und keines einer Menschensatzung. Sie
ist, wie die Sprache, ((phusei)) und nicht ((thesei)). Damit wurzelt
sie wie jedes lebendige Wesen in der Natur und hat teil an ihrer
Tiefendimension. Wie aber nun die empirische Lebenslänge der
hellenischen Polis - sie ist untergegangen - an das Leben des
hellenischen Ingeniums gebunden war, so ist das Leben der Kirche an
das Leben ihres Herrn gebunden, dessen Untergangsmöglichkeit zu
untersuchen wäre. Ist dieses Leben Christi selber bloß ein
empirischer Vorgang, der mit dem Tode am Kreuz und einem gewissen
Nachhall, den man zubilligen muß, abschließt, so ist das
Leben der Kirche besiegelt; man könnte ihre Jahre fast an den
Fingern abzählen. Ist aber dieses Leben in seinem innersten Kern
reines Ereignis der Natur, dann kann die Kirche mit derselben
Lebensdauer rechnen wie die Erkenntnis, die Schönheit und alles
andere, was im Bereiche ihrer Achse liegt. Da es sich aber noch dazu
hier um die Religion handelt, so kann sie freilich noch
größere Ansprüche stellen.
Aber ihr Verhältnis zur Person Christi und seiner Lehre - wenn
man davon reden kann - ist ein anderes, als das der Synagoge zu Mose,
ein anderes auch als das der buddhistischen Kirche zum Buddha. Man
hat bisher noch nicht darauf geachtet, weil man den Bau der Natur
nicht kannte. Die Synagoge legt aus und deutet, was Mose und die
Propheten gelehrt haben; hierbei ergeben sich Varianten, die aber
geringfügig sind. Ebenso steht es beim Buddha oder im
Vedanta-System. Das Leben Mose aber bleibt dabei rein anekdotisch; es
hat mit Inhalt und Erfolg der Lehre nichts zu tun, und wenn man von
ihm keine biographischen Notizen hätte, wie das bei den
Gründern des Vedanta-Systemes der Fall ist, so bliebe die Lehre
selbst davon unberührt. Das Leben Christi dagegen ist nicht
anekdotisch, sondern der Kern der Religion selber, um den sich die
Lehre legt; wäre er ein anderer, so fiele alles dahin. Die
Kirche steht überhaupt in keinem wesentlich lehrhaften
Verhältnis zu Christus, sondern in einem naturhaften, was eine
ganz andere Sache ist. Sie ist ein autonomes Gebilde, wie der Staat,
mit dem Zweck, religiöse Kräfte, die plötzlich frei
geworden sind, zu binden, damit sie nicht sprengen. Denn zum Sprengen
haben sie alle Gewalt. Dieses Binden ist aber kein Fesseln, sondern
entspricht der Art, wie das Wasser in allen Gebilden der Natur
gebunden vorkommt und sie, einschließlich der Gesteine, erst
lebensfähig macht.
Die Lehre Jesu von Nazareth ist, wenn man sein eignes kurz
geprägtes Wort dafür verwenden will, das »Mysterium
vom Himmelreich«, ((to musthrion ths basileiaw ton ouranon)).
Wenn das etwas Reales sein soll, so muß es den Stempel der
Natur tragen, sonst würde diese keinen Raum in ihm haben. Nun
geht aber die Natur auf der Bahn ihres naiven
Vorwärtsstürmens durch die Mysterien hindurch. Jeder
Naturliebhaber des neunzehnten Jahrhunderts, dem allerhand von ihr zu
erforschen gelungen ist, muß doch zugeben, daß etwa der
Befruchtungsvorgang eine unerforschliche Tatsache, also mindestens
der Rohbau eines Mysteriums ist - wie wenig er auch befugt sein
möge, dieses Wort auszusprechen. Denn es hat bei ihm einen
negativen Klang, und im Geheimen denkt er: wenn der Menschengeist nur
erst soweit sein wird, dann werden wir diesem vorgeblichen Mysterium
schon auf seine Schliche kommen! Allein, die Zeugung ist ein
positives Mysterium, unauflösbar und dem Menschen als Mahnung
gesetzt. In ihrer Rückläufigkeit aber, also in der
Religion, da soll sie kein Mysterium haben, diese soll »frei von
Aberglauben« bleiben, so verlangt es die bürgerliche
Aufklärung. Das aber ist ein unbilliges Verlangen und zudem
unmöglich. Die Religion muß vielmehr durch ein Mysterium
gehen, wenn anders sie überhaupt Zusammenhang mit der Natur
haben will. Das Christentum aber hat stets die ganze Natur in seine
Lehre eingeschlossen, nicht etwa bloß ihre wundeste Stelle, das
menschliche Innere (vgl. hierzu Röm. 8, 21ó23). War man
aber einmal erlebnishaft zu der Einsicht gekommen, daß die
Natur auf ihrem vorwärtsstrebenden Aste unweigerlich in den
Schiffbruch trieb, so war die Erlösererwartung, die sich
schließlich durch die gesamte Welt des Altertums unter
Führung der Mysterien zog, die natürliche Reaktion. Es war
der Schrei nach dem Heilmittel. Dieses aber konnte nur auf dem Boden
eines Mysterium wachsen, ähnlich dem der natürlichen
Zeugung. Es gehört also mit zur Natur, sowohl auf ihrem Hinwege,
wie auf dem zurück.
Auf einmal war dieses Heilmittel da. Und zwar - so hieß es - in
der Person jenes Jesus von Nazareth, der gekreuzigt wurde und nach
drei Tagen von den Toten auferstanden ist. Diese Botschaft war es,
die die Apostel in den Mittelmeerländern verkündeten; und
das war es, woran man entweder glaubte, oder nicht. Das heißt
aber: die gläubigen Christen kamen zu der Überzeugung,
daß der Tod jenes Jesus von Nazareth am Kreuz die einzige
Opferhandlung war, die wirklich gelungen ist. Alle vor ihr waren
zweifelhafte Experimente, bezogen sich zudem auf Teilgebiete des
menschlichen Lebens; alle nach ihm unterlagen - wie das Beispiel des
Julianus Apostata bewies - dem Fluche der Lächerlichkeit. Die
Opferhandlung an diesem Menschen also war das Mysterium der
Rückläufigkeit der Natur, das dem der Zeugung die Waage
hält und es überbietet. Wie Ei- und Samenzelle durch eine
unio mystica die Basis für ein neues Lebewesen gleicher Art
bilden, so der Opfertod Christi die Basis zu einer neuen Zeugung
höherer Art ((nea ktisis)). Man kann hier nie naturhaft genug
denken; und die alten Christen dachten so. Nur muß man
beachten, daß dieses Mysterium eine Dimension tiefer in die
Schöpfung hineinragt und über die Zeugung hinweg
Anschluß an die Schöpfung findet.
Nun war aber in dem Leben Jesu ein großes rgernis
enthalten, über das man nicht hinwegkommen konnte: die dringende
Prophezeiung, das, worum sein ganzes Leben kreiste, war nicht
eingetroffen! Er hatte seinen Jüngern den Hereinbruch des
Reiches für kürzeste Zeit geweissagt; er sandte sie aus, um
noch schnell, ehe es zu spät sei, die Menschen Israels zur
Buße zu rufen, und er rechnete nicht mit ihrer Wiederkehr.
»Wahrlich ich sage euch: Ihr werdet mit den Städten Israels
nicht zu Ende kommen, bis des Menschen Sohn komme!« (Matth. 10.
23). Aber die Jünger kamen wieder, und nichts änderte sich
am Weltlauf. Er verlängerte den Termin »Einige sind unter
euch, die werden den Tod nicht schmecken« - also wenigstens noch
vor dem Aussterben dieser, der letzten Menschengeneration: aber alles
blieb dasselbe. Die fieberhafte Erwartung aber blieb erhalten, und
die Apostel hatten in ihren Briefen alle Mühe und Not, sie zu
dämpfen und das Ausbleiben der Parusie aus dem Ratschlusse
Gottes zu erklären. Aber es hilft nun einmal nicht: man
muß zugeben, daß Jesus sich im Hauptteil seiner
Verkündigung geirrt hat, und bekanntlich ist das noch bis auf
den heutigen Tag der Haupteinwand der Synagoge gegen seine
Messianität. Und es ist, kann sie mit Fug und Recht sagen, seit
fast zweitausend Jahren nicht das leiseste Anzeichen davon zu
bemerken gewesen, daß Jesu Prophezeiung je eintreten
könnte. - Was macht man mit solch einem Propheten?
Ein zweites rgernis liegt in der Asozialität der Lehre
Jesu. Man kann die Verkehrtheit im Urteil nicht weiter treiben, als
wenn man in Jesus den »ersten Sozialisten« sehen will. Von
dieser Gesinnung fehlt in seinem Leben so ungefähr alles, was
man von ihr verlangt, von seiner Lehre ganz zu schweigen. Wenn er zum
reichen Jüngling sagt: »Geh hin und verkaufe alles, was du
hast und gib es den Armen« , so sagt er das nicht um der Armen,
sondern um des reichen Jünglings willen; ebenso gut hätte
er sagen können: »Wirf alle deine Schätze ins
Meer!« Wenn er gegen den Einspruch des »Sozialisten«
Judas jenem Weibe gestattet, seinen Körper mit den
köstlichen Ölen zu salben (»Arme habt ihr immer, mich
aber habt ihr nicht immer« ) - ich möchte wissen, wie man
der innersten Gesinnung nach unsozialer sein kann, und wie man besser
das aristokratische Prinzip der Natur vertritt. Vor der
Himmelreich-Lehre aber steht wie der Cherub mit flammendem Schwerte
das grausame Gesetz von Verschwendung und Auswahl. Denn diese seine
Lehre gehört selber zur Natur und ist Natur. Wir treffen sie
daher ganz unmittelbar in fast jeder seiner ußerungen, am
deutlichsten in jenem Gleichnis vom Säemann, das immer so arglos
hingenommen wird. Hier sieht man deutlich, daß das Himmelreich
den Naturvorgängen angeschlossen ist. Der meiste Same wird
verschwendet; er fällt auf den Weg oder auf steinichten Grund
oder unter die Dornen; dort hat er sogar Gelegenheit, leben zu
bleiben, seine Gestalt als Same zu erhalten. Einiges aber fällt
auf guten Boden und trägt hundertfältige Frucht - aber
dafür muß er auch sterben und auferstehn. Es ist der
glückliche Wurf, der die Voraussetzung dazu schafft. Dieser ist
hier immerhin gelenkt durch die Hand des Säemanns, während
in der freien Natur das Gesetz von Verschwendung und Auswahl rigoros
waltet. Es nützt also nicht, bloß guter Boden zu sein:
denn wenn kein Same auf ihn fällt, so wächst auch nichts
auf ihm; und der Same wiederum bedarf des guten Bodens, um - sterben
zu können. Hier steckt Jesus tief in alter Mysterienweisheit,
und er kommt auch einmal darauf zurück, als Griechen ihn vor
Jerusalem sprechen wollen: da redet er im Stil der Eleusinien zu
ihnen vom Weizenkorn, das er selber ist (Joh. 12, 20ó25). Es
ist also der glückliche Wurf, der nicht nur die Entstehung des
neuen Lebewesens ermöglicht, sondern der auch den
Erlösungsvorgang einleitet. Denn die Natur bricht niemals ihr
Gesetz.
Dieses Gleichnis vom Säemann*, das wegen seiner scheinbaren
Harmlosigkeit den Kindern in der Schule zuerst vorgeführt wird,
um den lieben Herrn Jesus kennen zu lernen, enthält in Wahrheit
das ganze Christentum und das Leben Jesu; es ist voller Rätsel
und bedeutete, als es ausgesprochen wurde, eine Herausforderung an
die ganze Welt. »Wer Ohren hat zu hören, der
höre!« , schließt es ab, und damit ist gesagt,
daß hier ein Mysterium verborgen liegt. Die Jünger fragen
ihn, warum er zum Volke in Gleichnissen rede, und er antwortet:
»Euch ist gegeben, daß ihr das Geheimnis des Himmelreiches
vernehmet, jenen aber ist es nicht gegeben!« Man fragt sich
unwillkürlich: woher diese Bevorzugung? Welche
Charakterzüge an ihnen können den Anspruch erheben, mehr zu
wissen als das Volk, unter dem doch gewiß manch klüger und
nachdenklicher Kopf lebt? Man kann nur sagen: keine. Oder findet man,
daß jene zwölf Jünger je etwas anderes tun als immer
das Falsche? Sie sind es doch, die »den Kindlein wehren«.
Sie stellen die törichtesten Fragen danach, wie es im
Himmelreiche sein werde, und welchen Platz ein jeglicher einnehmen
werden; sie schlafen ein, wo sie wachen sollten. Sie, gerade nur eben
als fliegende Boten zu gebrauchen, ahnen gar nicht, was sie
verkündigen sollen und freuen sich, daß sie wiederkehren,
während der Herr darüber in Melancholie versinkt. Sie
tragen den Namen ((mathtai)), aber sie wissen noch vor dem Kreuze
nicht, was sich hier eigentlich abspielt. - Es ist in Wirklichkeit
nur die sakrale Zahl zwölf, durch die sie bedeutsam sind und die
auch von jedem anderen hätte ausgefüllt werden können.
Man muß sich damit begnügen, festzustellen, daß der
Herr sie nun einmal ausgewählt hat und daß das seine Sache
war, nicht unsre; wenn die Kirche sie zu Heiligen erhebt, so ist das
ihr gutes Recht, denn ihre Tradition fordert es; die Philosophie hat
ihr da nicht dreinzureden; aber es darf ihr auch nicht versagt
werden, wie immer, so auch hier, einen skeptischen Blick auf diese
sonderbaren Gestalten zu werfen, die uns so überflüssig
vorkommen. Es scheint aber auch so, daß die furchtbar
drückende Nähe des Herrn sie niedergehalten hat; denn
»wer mir nah ist, der ist dem Feuer nahe, wer mir fern ist, der
ist ferne dem Reich«. In der Apostelgeschichte, nachdem der
Druck von ihnen genommen, leben sie sichtlich auf. Das ist besonders
bei Johannes zu bemerken, dem Verfasser des Evangeliums und der
Apokalypse, der als »Jünger, den der Herr lieb hatte«
sich nicht anders benimmt als die andern auch, nach der Auferstehung
des Herrn aber in steiler Kurve nach oben schießt. Auch Petrus
erholt sich von seinem Charakter.
Nun lädt Jesus auf die Schultern dieser unbedeutenden Leute, die
nicht wissen, wie ihnen geschieht, die folgenschweren Worte:
»Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, daß er die
Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch noch genommen, was
er hat«, um, auf ihre Frage antwortend, ihnen zu erklären,
daß diese Gleichnisse nicht dazu da seien, jenem Volke, das da
vor ihnen lagert, etwas klar zu machen, damit sie es verstehen (denn
dazu sind doch Gleichnisse eigentlich da), sondern umgekehrt, damit
sie es nicht verstehen »auf daß sie sich nicht dermaleinst
bekehren und ihre Sünden ihnen vergeben werden!« (Mk. 4.
12). Man traut seinen Augen kaum, wenn man das liest. Wer kann diese
Haltung, die der Herr ständig einnimmt, mit irgend etwas
vergleichen, was man Menschenliebe nennt? Es geht einfach nicht.
Nun aber fährt er fort: »Aber selig sind eure Augen,
daß sie sehen und eure Ohren, daß sie hören.
Wahrlich ich sage euch: viel Propheten und Gerechte haben begehrt zu
sehen, was ihr sehet, und haben es nicht gesehen, und zu hören,
was ihr höret, und haben es nicht gehört!« Also wieder
die Bevorzugung! Was sie da aber sehen mit ihren seligen Augen, das
ist seine eigne Person, die selber das Samenkorn ist; von diesem aber
gilt sein Ausspruch zu den Griechen vor Jerusalem (bei Johannes),
daß nur, wenn es stirbt, es Frucht trägt. Es ist der
Opfergedanke, der das Geheimnis seines Lebens ist und den die
Jünger nicht begreifen wollen. Das Samenkorn muß seine
ganze Natur hergeben, damit die Auferstehung in einem neuen Leben
möglich werde. Es handelt sich also nicht nur um die Kreuzigung
seines Leibes, sondern um die seines ganzen Lebensplanes. Beim
heidnischen Menschenopfer war es gleichgiltig, was der Mensch dachte,
dessen Blut vom Altare floß: hier aber wird der Lebensgedanke
mitgeopfert. Nach einem unwirschen Vorwurf an die törichten
Jünger »Verstehet ihr dies Gleichnis nicht? Wie wollt ihr
denn die andern alle verstehen...?« (bei Markus);
»erklärt« er nun gerade das an ihm, was jedermann,
auch der Einfältigste, sofort versteht und wozu ein Gleichnis
nicht nötig gewesen wäre: nämlich, was für Leute
das sind, die er da mit dem »steinigen Boden«, mit dem
»am Wege« und »unter den Dornen« meint - das
eigentliche Geheimnis, das von Verschwendung und Auswahl, sowie das
seiner Person, umgeht er bei dieser »Erklärung«. Wenn
man das alles liest, kommt einen eine tiefe Unzufriedenheit an, das
Gefühl, umgangen zu werden -, es sei denn, daß man den
wahren Kern seines ganzen Verhaltens erkannt hat.
Diese zwei großen rgernisse im Leben Jesu liegen also
vor: Das Nichteintreffen der Prophezeiung, für die er gelebt
hat, und die Asozialität seiner Lehre von den Auserwählten.
Wäre er nun ein »falscher Prophet« gewesen, so
hätte sich nach Analogie der zahllosen anderen dieses Genres
zwar sicher eine feste Gemeinde um ihn gebildet, diese aber
hätte sich auch bald nach seinem Tode verlaufen, und es
wäre nichts von ihm übrig geblieben, als hie und da eine
anekdotische Bemerkung bei einem alten Chronisten und bestenfalls
eine Biographie. So erging es ja seinem Altersgenossen und
Doppelgänger, dem damals hochberühmten Apollonios von
Tyana, dessen Gestalt viel menschlicher und anheimelnder ist als die
des furchtbar-erhabenen Menschensohnes. Die Natur als ein Ganzes in
ihrer Lückenlosigkeit reagiert nicht auf falsche Propheten. Der
Kern des Lebens Jesu aber lag im Bereich ihrer Achse, und sein Leben
selbst ist die empirische Kundgebung eines reinen Ereignisses der
Natur.
Der Herr hat gelehrt, daß die Natur (nicht bloß die
Menschenseele) in kurzer Zeit zum Stillstande kommen und dem
Himmelreiche weichen werde. Voran geht als Abschluß der
geschichtlichen Phase der peirasmow oder die Drangsal. Das war die
Prophezeiung, die nicht eintraf, obwohl man im apostolischen
Zeitalter inbrünstig auf sie wartete. Man nennt das in der
Sprache der Theologie die Parusie und ihre Verzögerung. Die
Natur lief unbeirrt weiter; aber sie beschritt dabei einen durchaus
charakteristischen Weg. Sie war von jeher so verfahren, daß sie
beim Menschengeschlechte eine deutliche Abtrennung vornahm zwischen
Volk, das in Masse auftritt, und betonten Personen besonderer Art,
die immer nur als einzelne erscheinen. Beide aber haben das
Evangelium gehört und auf beide traf es zu. Über dieses
einmal eingeschlagene Verfahren gelangt die Natur nicht hinaus, und
daher kommt es auch, daß wir in der Apostelgeschichte sowohl
die Massenbekehrung wie die von Einzelnen berichtet finden. Die
Massenbekehrungen haben ganz und gar den Geschmack der
öffentlichen Suggestion an sich, und man könnte
fürchten, daß sie jeden Augenblick in offnen
Dämonismus umschlagen. Man erinnere sich der Szene bei der
Pfingstausgießung des heiligen Geistes im Anschluß an das
öffentliche Zungenreden (Apg. 2. 1ó41) ein Vorfall, den
Petrus gerade eben noch zu bändigen vermag. Demgegenüber
stehen die Bekehrungen von Einzelpersonen, von denen die
hervorragendste Dionysios Areopagita ist, dem Paulus bei seiner Rede
in Athen begegnet. Dann noch die Beinahe-Bekehrung des Königs
Agrippa und der Berenike, vor denen Paulus als Gefangener in Fesseln
stand; er hatte ihn so mit seiner Rede getroffen, daß der
König schließlich sagte: »Es fehlet nicht viel, du
überredest mich, daß ich ein Christ würde!«
(Apg. 26, 28). Was dann daraus geworden ist, weiß man nicht.
Man hat bei diesen Einzelbekehrungen das Gefühl, daß das
Christentum hier jedenfalls besser aufgehoben ist. Auch könnte
es sein, daß es erst jenseits dieser eigentlich beginnt. Was
jene Beinahe-Bekehrten wahrscheinlich ausdrücken wollten, ist
dies, daß sie den Akt der Bindung, der schon bei Paulus anhebt,
nicht mitmachen wollen, sondern die Freiheit vorziehen. Man
weiß auch nicht, wieviele von den Oberen es sonst noch gegeben
hat, die heimlich übertraten, ohne davon ein Aufhebens zu
machen; und das passiert auch heute noch, obwohl es keine Apostel
mehr gibt. Eines aber haben sie und das niedere Volk gemeinsam: sie
sind beide Natur (natura naturata) und haben beide dasselbe
Erlösungsbedürfnis, das sich damit als ein allgemeines
Kennzeichen der Natur überhaupt erweist. Die ganze Natur schiebt
sich gewissermaßen ihre wundeste Stelle als locus minoris
resistentiae der heilenden Kraft entgegen. Dionysios Areopagita nun
hat sich in den Dienst der Kirche gestellt, weil er Verantwortung
für das niedere Volk in sich fühlte. Andere haben das nicht
getan, und von ihnen schweigt die Überlieferung. Das sagt aber
nicht, daß sie keine Christen sind.
Aus jenen halbwilden Massensuggestionen, die darum nicht weniger
Naturprozesse sind, und dem Eingriff der Verantwortung, getragen von
den Oberen, entsteht die Kirche Christi als höheres
Naturprodukt, unaufhaltsam, unwiderstehlich wachsend und ausladend,
weil sie eine echte Reaktion auf das ebenso echte reine Ereignis ist,
das hinter dem Kreuzestode steht. Beide gehören zusammen; nur
geht die Kirche vom Sozialen aus, Jesus aber vom Prinzip der Auswahl.
Denn die Natur, zu der beide gehören, die Auserwählten und
die Verworfenen, tut einen einzigen Schrei nach Erlösung und
fragt nicht danach, wer auserwählt ist. Von ihrem Standpunkte
aus, der immer ein sozialer ist, müssen alle Menschen selig
werden.
Was aber der Gekreuzigte auf alle Fälle als Vermächtnis
hinterlassen hat, das ist die Buße ((metanoia)). Schon der
Täufer hatte als Vorbedingung für das Himmelreich gepredigt
»Tuet Buße!«, und das wiederholte Jesus von Nazareth
wörtlich. Buße ist ein dem heidnischen Altertum wie der
heutigen Zeit ganz fremdartiges Element im Seelenleben. Es ist das
erlebnishaft auftretende Bewußtsein von der Nichtigkeit und
Sündhaftigkeit des menschlichen Tuns, wenn man es allein
läßt. Sie ist also ein innerer Akt, kein tun; Sack und
Asche bedeuten dabei nichts, sondern nur jene Umkehr des Willens und
der Erkenntnis, durch welche die natürliche Gradlinigkeit ihres
Fortschreitens gebrochen wird. Da nun der Wille im Menschen
tatsächlich gebrochen ist (was die Antike nicht einsehen
wollte), so bedurfte es eines Erkenntnisvorganges, um dies
hervorzuholen. Daher »metanoeite«, das heißt, ein
gedanklicher Einspruch gegenüber dem natürlichen Tun. Der
Spiegel aber, der dem Menschen hier vorgehalten wird, damit er
deutlicher sähe als es im heidnischen Altertum möglich war,
ist das Gesetz des Alten Testamentes.
Manche Philosophen der neueren Zeit sind der Ansicht, daß
die Menschheit durch den Eingriff des Alten Testamentes erst
künstlich krank gemacht worden sei und daß das besser
hätte unterbleiben sollen. Das wäre zu erörtern, wenn
Orestes nicht auch ohne jenen Eingriff wahnsinnig geworden wäre,
bloß weil er der Meinung war, daß man sich sein Gewissen
selber mache. Zudem hält jener »verhängnisvolle
Eingriff« in unverminderter Stärke bis auf den heutigen Tag
an. Er ist also nicht historisch, sondern metaphysisch. Bußetun
aber ist nichts, was man auslassen kann; man kann es versäumen
oder falsch machen. Daß aber beides nicht geschähe,
dafür Sorge zu tragen, ist Amt der Kirche, der es auch stets
gelingt, vorausgesetzt, daß sie selber ständig Buße
tut und niemals »siegt«. Und da die Buße à
tout prix nötig ist, unabhängig von dem Satz »denn das
Himmelreich ist nahe herbeigekommen«, so bleibt ihr Amt
erhalten, auch wenn die Prophezeiung im zeitlichen Sinne falsch war.
Denn die Basis der Buße wurzelt im Gesamtmenschlichen,
gehört seinem genus an und damit der Natur. Wie es nun
erlebnishaft das Gefühl des Glückens menschlicher
Handlungen gibt, so gibt es auch als dessen dunklen Widerpart das
Erlebnis der Mißratenheit; sobald es sich um das Ethische
handelt, lautet es Sündhaftigkeit und ist mit dem Gefühle
der Schuld verbunden. Wer das nicht hat, verbleibt unterhalb des
Standes, von dem an das menschliche Tun Bedeutung hat. Die
Porträts aller derer, die sich gern Wohltäter der
Menschheit nennen lassen, ja sogar glauben, daß sie es sind:
diese Porträts verraten eindeutig, besonders im Auge, die
Unberührbarkeit von jedem Gedanken an Buße und Sünde.
Es ist der seit einem Jahrhundert herrschende Menschenschlag, der den
Untergang des Abendlandes betrieben hat. Aber wie lange wird die
betrogene Menschheit diese nichtigen Gesichter noch in der Erinnerung
behalten...? Dagegen stehen die andern, die, mögen sie sonst
heiter und kräftig sein, den heimlichen Zug der Melancholie
nicht zu verbergen vermögen, wodurch überhaupt erst die
Tiefe des Angesichtes entsteht. Sie haben das Erlebnis der
Sündhaftigkeit aufgegriffen und tragen es mit sich herum; damit
haben sie das Thema der Buße bei sich angeschlagen. Es scheint
mir die Stelle zu sein, an der König Agrippa kurz vorher
abgeschwenkt und ins heidnische Altertum zurückgekehrt ist.
Was nun bei den Oberen sich in der Form der Melancholie zeigt, das
macht sich in den unteren Menschenschichten durch plötzliches,
schreckhaftes Bußverlangen bemerkbar, das leicht in Massenwahn
umschlägt und dann in Geißlerscharen durch die
Straßen schwärmt: wehe dem, der nicht mitmacht! Andre
wieder entmannen sich oder verhungern bei lebendigem Leibe. All
diesen Erscheinungen aber liegt als Gemeinsames das Erlebnis der
unbekannten Schuld zum Grunde, von der das menschliche Gemüt
natürlicherweise bedrängt wird. Und das wird so bleiben,
solange man nicht weiß, ob auch das größte aller
Werke, das ein Mensch vollzog, es aufwiegen kann, daß dieser
selbe Mensch ein hungerndes Kind an der Straßenecke stehen
ließ.
In alledem Ordnung zu schaffen, die wilden Bußerscheinungen zu
bändigen, die zu leicht genommenen zu vertiefen, das ist das
erste Amt der Kirche, das in ständiger eigner Buße
vollzogen werden muß; denn sie sagt sich mit Recht: geht das so
weiter mit den Erfolgreichen, den Tugendhaften und Gerechten, den
Glücklichen und den Wohltätern der Menschheit, wird diese
Art der herrschende Typus so fällt die Menschheit über kurz
oder lang in die furchtbarsten Hände, in die sie überhaupt
nur fallen kann: in die des Menschen: Wo aber Bußbereitschaft
im Ansatze da ist, da ist auch die Möglichkeit, daß das
Himmelreich durchbricht; ob es das tut, das ist freilich nicht in
unsere Hand gelegt.
Das zweite Amt der Kirche ist die Begründung des Dogmas. Wenn
man den Kern alles dessen, was im Laufe von zwei Jahrtausenden bei
allen Konfessionen des Christentums am Gebäude dieser
Sonder-Wissenschaft erarbeitet worden ist, aufdecken will, so kommt
man darauf, daß er in der Beantwortung der einen Frage zu
suchen ist: »Wer war das...?« Jener Hauptmann, der am
Kreuze den fürchterlichen Todesschrei des Menschensohnes
hört und ausruft »Wahrlich, das ist Gottes Sohn
gewesen!«, stellt die erste dogmatische Behauptung über die
Person Jesu von Nazareth auf, und zwar gleich auf den ersten Hieb die
richtige. Denn in der Tat liegen die Dinge ja so, daß das ganze
christliche Dogma auf diesem einen ruht. Man streiche es fort, und
das Christentum hat seinen Sinn verloren. Denn wenn jemand anderes
dort am Kreuze verschieden war, so war das kein Opfertod objektiver
Art, sondern ein bloßes Martyrium für eine private - noch
dazu nicht eingetroffne - Prophetie. Wer also behauptet, es
könne so etwas geben wie »dogmenfreies Christentum«,
der hat schon im Ansatz falsch zugegriffen. Jedes Wort, das der Herr
spricht, ruht auf dogmatischem Grunde, jeder von den vier Titeln, die
er trägt, ist ein dogmatischer Titel; und es ist kein
Gefängnis, aus dessen Gitterstäben heraus er spricht,
sondern der Knochenbau der ganzen Sache, um die es geht. Wenn man
undogmatisch reden will und glaubt, damit höher zu stehen, so
kann man vom letzten Buddha, von Laotse, von Sokrates oder von Goethe
reden und anderen Blüten der Menschheit - der Auswahl ist genug
-, wenn man aber überhaupt von Jesus Christus spricht, der
Weizenkorn, also Same, ist, so kann man es gar nicht anders als
dogmatisch.
Es hat sich im vergangenen Jahrhundert unter der Vorherrschaft des
protestantischen Bildungsphilisters ein vorwitziger Ton
eingewöhnt, der etwa ging auf Goethe »und« Christus
oder »schon« Christus hat gesagt; dem Völkchen, das so
etwas tut, geschieht nichts weiter, denn sie wissen nicht, was sie
tun. Wenn aber Hölderlin sagt: Bacchos, Herakles »und«
Christus, so trifft ihn der Wahnsinn. Ihm, dem Genius, durfte das
nicht begegnen. Von einer bestimmten Höhe an aufwärts darf
man ex cathedra nichts wesentlich Falsches mehr sagen, sonst sind die
Erinnyen da, die freilich bei Hölderlin zu einer recht
domestizierten Abart gehören. Es war ein dogmatischer Irrtum:
Dieses »und« gibt es nicht.
Wenn die Kirche in ihrer Sprache Jesus Christus als Gottes Sohn
bezeichnet, so meint sie damit nicht etwa eine Analogie zu Herakles,
dem Sohne des Zeus; sie meint es auch nicht so, daß man dazu
die Frage stellen könnte: »wie kann Gott einen Sohn
haben?«, sondern ganz anders und dabei völlig original.
Stoße ich bei irgend einem Mitmenschen über seine
bloße Individualität hinaus in seine Person vor, so treffe
ich schließlich auf seinen Schöpfungsgrund, über den
hinaus es nichts mehr gibt; meine Vernunft aber sagt mir, daß
dieser Akt unzählige Male von unzähligen Menschen
wiederholt werden kann. Und wer nicht weiter kann, der hat
natürlich auch bei jenem Rabbi Jesus von Nazareth nichts anderes
ergründen können. Wer aber weiter kann, der stieß auf
die ungeheuerliche Tatsache, daß jener Schöpfungsgrund bei
ihm durchlässig und daß die Person Jesu identisch war mit
der Person des Weltschöpfers. Das ist der Glaubensgrund der
ersten Christen, der bei jenem Hauptmann durch den Todesschrei am
Kreuz als Ursache ausgelöst wurde. Wenn es überhaupt wahr
ist, daß der Schöpfer der Welt persönlich ist und
identisch mit dem Offenbarer des Gesetzes, so war diese irdische
Person des Jesus von Nazareth die Erscheinung Gottes im Fleisch. Man
könnte auch von einer zwiefachen Unendlichkeit der Person reden.
Das aber heißt »Gottes Sohn«. Daß es erlebt
wurde und nicht erdacht, das geschah durch das Medium des Glaubens,
der, wie der Apostel Pauls tiefsinnig fand, eine Modifikation der
Liebe ist. Natürlich ist das hier Vorgetragene ein Mysterium und
für das Gedankliche im Grunde inkommensurabel; in dessen, wenn
es das nicht wäre, dann käme auch an dieser Stelle keine
Religion zustande.
Mag man es leugnen - aber man wird damit nicht weit kommen;
jedenfalls hat durch die Erscheinung Christi und die Vorgänge
auf Golgatha eine tiefgreifende Umprägung derer stattgefunden,
die in seiner Nähe waren. Die Christen sind durch einen
Umwandlungsprozeß physisch entstanden, und dieser besorgte
einen eigentümlichen, man könnte etwa sagen telepathisch
wirkenden consensus, der mit großer Instinktsicherheit auf jene
Grundfrage des Dogmas zu antworten vermochte: Wer war das...? Bald
stieß man allenthalben auf die sich fertig ausbildende Formel
»Jesus Christus Gottes Sohn Retter.« Man wird an die
Samenumwandlung bei Abraham erinnert, nur handelt es sich hier nicht
um eine Mutation, denn sie ist nicht erblich; vielmehr muß die
Erhaltung des christlichen Menschenschlages ständig durch Pflege
des Dogmas gesichert werden. Dessen Grundkräfte aber, eben jener
consensus, bleiben ohne Unterbrechung, auch noch heutigen Tages, am
Werke. Das Dogma ist demnach ein eigentümliches geistiges
Gebilde, das nur hier vorkommt und an jeder anderen Stelle unsinnig
ist (so etwa, wenn Schopenhauer seine Lehre vom Willen als Ding an
sich ein »Dogma« nennt). Es hat nur Sinn verbunden mit dem
Element des Glaubens. Der aber ist keine Entscheidung des
Intellektes, sondern stammt »von den Dingen« selber, hier
also von Jesus, ist Kraft und nicht Urteil, wird geschenkt und nicht
erworben. Das Dogma also lebt vom Glauben, den es auf der anderen
Seite wiederum stärken, halten und mehren soll. Man sieht: das
ist eine verfängliche Lage, die die Keime der Entartung in sich
trägt. Denn fast unwiderstehlich ist die Verführung, die
Lehrsätze des Dogmas unabhängig vom Glauben auch als an
sich wahrzunehmen. Es entsteht dann der eigentliche Dogmatismus, dem
Kant ein Ende bereitet hat. Zu behaupten, am Anfang habe ein
göttliches Wesen die Welt geschaffen, und das sei unwiderleglich
wahr, ist nichts als leeres Stroh. Die Anfangsworte des Buches
Genesis aber, in gläubiger Versenkung, so wie sie da stehen,
ausgesprochen, bezeichnen die Spur eines religiösen
Vorganges.
So wenig durch eine richtige religiöse Überzeugung
Frömmigkeit, Glaube und Religion entstehen, so sehr kann eine
falsche das Wachstum dieser Güter stören. Daher muß
der intellektuelle Teil des Glaubens - den er ja immerhin auch haben
muß - in Ordnung sein. Das Dogma sorgt für diese Ordnung.
In der Kirchengeschichte tritt es immer defensiv auf, das heißt
als autoritative Antwort der Kirche auf herumschwirrende und
gefährlich werdende Irrlehren, die alle miteinander stets die
eine Tendenz haben, die Frage: »Wer war das...?« falsch zu
beantworten. So erregte die Lehre des Bischofs Arius von der
»Gottähnlichkeit« Jesu nachgerade rgernis und
gefährdete den Glaubensbestand. Diesen Jesus von Nazareth als
eine Art Halbgott wie das Altertum zu denken, hieß, den
welterlösenden Opfertod in Frage stellen. Daher wurde durch
Konzilbeschluß von Nicaea im Jahre 325 diese Irrlehre zugunsten
der richtig sehenden des Athanasius verdammt. Das hier entstandene
Apostolische Glaubensbekenntnis ist noch bis auf den heutigen Tag das
einzige Dogma, das von allen christlichen Kirchen bekannt wird und
sozusagen das Minimum, an dem man erkennen kann, ob jemand Christ ist
oder nicht. Die Philosophie, die das alles von außen her
betrachtet, kann sich oft den geheimen Wunsch nicht versagen,
daß es bei diesem ersten Konzil hätte bleiben mögen.
Allein die Kirche geht ihre eignen Wege, und das ist ihr gutes
Recht.
Im Gegensatz zu den Entdeckungstaten der Erkenntnis und den
Schöpfungen der Kunst geht die Bildung des Dogmas nicht
über das Genie, sondern über den consensus, der sich in
Konzilbeschlüssen ausdrückt. Die ständige
Wiederherstellung der Rechtgläubigkeit ist daher seine
eigentliche Aufgabe. Das liberale Zeitalter hatte deren Wichtigkeit
verkannt, und man galt in ihm für gebildet und frei, wenn man
nicht »orthodox« war. Eines Tages aber dürfte man sich
um Rechtgläubigkeit wie um das kostbarste Gut bemühen,
verächtlich herabsehend auf jene Wohltäter der Menschheit,
die ihr vortäuschten, es ließe sich auch ohne sie
leben.
Es gehört zu den rührendsten und großartigsten Szenen
der Rechtgläubigkeit, was uns MERESCHKOWKSY in seinem
»Lionardo da Vinci« von Papst Alexander VI. Borgia
überliefert hat. Sie lautet: »ÇSollte man
vielleicht, außer gegen die bedruckten Bücherë,
schlug Arborea vor, Çauch gegen handschriftlich
vervielfältigte Werke, wie den anonymen Brief an Paolo Savelli,
Maßregeln ergreifen?ë. ÇIch kenne den Brief;ë
unterbrach ihn der Papst, ÇIllerda zeigte ihn mirë. -
ÇWenn Ew. Heiligkeit ihn schon kennen ...ë - Der Papst
sah ihm gerade in die Augen. Der Kardinal stutzte. ÇDu
wolltest wohl fragen, warum ich keine Untersuchung gegen den
Schuldigen eingeleitet habe? Mein Sohn, warum sollte ich meinen
Ankläger verfolgen, da er doch nichts als die reine Wahrheit
gesprochen hat?ë ÇHeiliger Vater!ë rief Arborea
entsetzt aus. - ÇJawohlë, fuhr Alexander VI. mit
feierlicher und eindringlicher Stimme fort, Çmein
Ankläger hat recht! Ich bin der Letzte der Sünder, ein
Dieb, ein Wucherer, ein Ehebrecher, ein Mörder! Ich zittre und
weiß nicht, wohin ich mein Gesicht vor dem Gerichte der
Menschen verbergen soll; was werde ich erst vor dem schrecklichen
Gericht Christi, da auch der Gerechte kaum der Strafe entrinnen wird,
anfangen...? Doch der Herr lebt, und meine Seele lebt! Auch für
mich Verdammten ist mein Heiland mit Dornen gekrönt, verspottet
und gekreuzigt worden, auch für mich ist er am Kreuze gestorben!
Ein Tropfen von seinem Blut genügt, um auch einen solchen
Sünder, wie ich es bin, reiner als Schnee zu waschen. Wer von
euch, meine Brüder und Ankläger, hat die Tiefe der
göttlichen Barmherzigkeit erforscht, um mir sagen zu
können: Du bist verdammt? Die Gerechten mögen sich vor dem
Gerichte rechtfertigen; uns Sündern steht nur der Weg der Umkehr
und Reue offen, denn wir wissen, daß es ohne Sünde keine
Reue, ohne Reue keine Rettung gibt. Ich werde sündigen und
Buße tun, und wieder sündigen und wieder über meine
Sünden weinen, wie der Zöllner und wie die Buhlerin. O
Herr, ich bekenne Deinen Namen, wie der Schächer am Kreuze! Und
wenn mich nicht nur die Menschen, die vielleicht ebenso sündig
sind wie ich, sondern auch die Engel und alle himmlischen Kräfte
und Mächte verurteilen und sich von mir abwenden, so werde ich
doch nicht schweigen, sondern immer meine Fürsprecherin, die
heilige Jungfrau, anrufen; denn ich weiß, daß sie mich
begnadigen wird!...ë - Sein dicker Leib wurde von dumpfem
Schluchzen erschüttert, und er streckte seine Hände zu dem
von Pinturicchio über die Türe gemalten Muttergottesbilde
aus. Viele glaubten, daß der Künstler, dem Wunsche des
Papstes entsprechend, dieser Madonna die Züge der schönen
Römerin Julia Farnese, der Geliebten Seiner Heiligkeit, der
Mutter Cesares und Lucretias, verliehen hätte. - Giovanni sah
und hörte und konnte unmöglich begreifen: war es Theater
oder Glauben? Oder vielleicht beides zugleich? - ÇEines will
ich euch, meine Freunde, noch sagenë, fuhr der Papst fort,
Çdoch nicht zu meiner Rechtfertigung, sondern zum Ruhme des
Herrn. Der Verfasser des Briefes an Paolo Savelli nennt mich auch
einen Ketzer. Der lebendige Gott sein mein Zeuge, daß ich darin
unschuldig bin! (Sperrung von mir): Ihr selbst...doch ihr werdet mir
ja nie die reine Wahrheit sagen, - aber du, Illerda, ich weiß,
daß du mich liebst und mein Herz siehst, auch bist du kein
Schmeichler, - also sage du mir, Francesco, ganz aufrichtig, bin ich
der Ketzerei schuldig?ë - ÇHeiliger Vaterë,
erwiderte der Kardinal mit tiefer Rührung, Çkann ich denn
dein Richter sein? Selbst deine ärgsten Feinde, wenn sie nur das
Werk Alexander VI. »Der Schild der heiligen römischen
Kirche« gelesen haben, werden zugeben müssen, daß du
der Ketzerei nicht schuldig bist.ë - ÇHört
ihr?ë, rief der Papst aus, auf Illerda weisend und wie ein Kind
triumphierend. ÇWenn er mich freispricht, so wird auch Gott
mich freisprechen: Von andern Sünden spreche ich nicht, aber der
Freigeisterei, der aufrührerischen Weisheit dieser Zeit und der
Ketzerei bin ich nicht schuldig. Ich habe meine Seele mit keinem
gottlosen Gedanken oder Zweifel verunreinigt. Unser Glaube ist rein
und unerschütterlichë«. -
Eine solche Szene wäre gar nicht möglich, wenn das Dogma
dem Glauben so innewohnte wie die Kategorie - ehemalige Denkgesetze -
der Erfahrung; wenn also das Verhältnis ein transzendentales
wäre. Das glaubte ja die Kirche, als sie der Philosophie den
Auftrag erteilte, dies zu beweisen, und als die Philosophie ihn
annahm. Erst Kant hat den Auftrag gekündigt und den Weg für
den Glauben frei gemacht. Denn es ist doch nun einmal so: die
Kategorien bleiben als freie Denkgesetze giltig, wenn die Vernunft
den Akt der Abstraktion begeht und die anschauliche Welt
verläßt. Tut aber das Dogma dasselbe, so ist alles nichts
als leeres Stroh. Die Ablösung von der anschaulichen Welt
gelingt in der Religion nicht. Die Welt der Religion aber ist
gehörte Welt; sie steht unter dem Primat des inneren Ohres, so
wie die empirische unter dem des Auges. Der Charakter des Dogmas
dagegen ist asymptotisch. Wenn ich eine Hyperbel konstruiere, so ist
damit jene seltsame Linie mitgesetzt, die in der anschaulichen Welt
keineswegs zwar eine Parallele ist - denn sonst müßte sie
auch Hyperbel sein -, deren Gleichung uns aber sagt, daß sie
sich niemals mit der Hyperbel schneiden kann. Bekanntlich ist dieser
Sonderfall der Asymptote, der Aufsehen erregte, der Anlaß, wenn
nicht gar der Grund für die gedankliche Erschütterung des
Parallelenaxiomes und damit für die nichteuklidische Geometrie.
Dieses mathematische Gleichnis - das vielleicht mehr ist - sagt viel
Verheißungsvolles über Glauben und Dogma aus; und das
Dogma kommt dabei oberhalb der Wissenschaft zu stehen.
Wenn nun schon der Glaube dasjenige ist, was in der Religion den
Ausschlag gibt: wie soll man da etwas anderes wünschen
können, als rechtgläubig zu sein...? Wenn jemand Maler
werden will: wird es da nicht sein innerstes Bestreben sein, richtig
zu malen, das heißt, die Gesetze der Farben, der Perspektive
und die der sthetik kennenzulernen, und nicht etwa liberal zu
malen nach eignem Gutdünken? Auch der Genius muß so
denken. Es bleibe hierbei noch dahingestellt, ob jene Szene mit
Alexander VI. im historischen Sinne war ist oder nicht: innerlich ist
sie es auf jeden Fall.
Ein wahrhaft beschämendes Gegenstück hierzu, das die tiefe
Gesunkenheit des Christentums im gebildeten Deutschland des
neunzehnten Jahrhunderts kennzeichnet, ist das sonderbare Bekenntnis
eines Mannes wie Karl Hillebrand, den man wohl mit Fug und Recht als
den gebildetsten Deutschen seiner Zeit verstehen kann. Hillebrand
gehört zu den ersten, die auf den jungen Nietzsche aufmerksam
machten, seine bedeutenden Essays hatten europäische Geltung, er
selbst war Deutscher ohne jede muffige Enge, kannte Frankreich wie
sein eignes Land und lebte geistig in jeder Art auf großem
Fuße. Seine Essays, in welcher Litteraturgattung er Meister
war, sind in zwölf Bänden nach seinem frühen Tode
erschienen; hat man sie alle gelesen, so kann man von sich sagen,
daß man ein gebildeter Mensch sei. Im zweiten Buche seiner
Werke nun schreibt HILLEBRAND in der Besprechung von Nietzsches
»Unzeitgemäßer Betrachtung« gegen David
Friedrich Strauß zum Thema »Sind wir noch Christen?«
das Folgende:
«Nein, der gebildete Deutsche glaubt nicht mehr an die
Menschwerdung Gottes in Christo zur Erlösung von den Folgen des
Sündenfalles - und das ist das ganze Christentum. Dies soll
jedoch keineswegs sagen, daß wir der Religion unserer
Väter, unserer schlichteren Landsleute, ebenso
gegenüberstehen, wie etwa dem Mohammedismus oder Buddhismus...50
Geschlechter unseres Fleisches und Beines, denen wir unsere
Zivilisation verdanken, haben ihr ganzes höheres Leben nur in
jenem Ideal gelebt; Millionen von Thränen, Hoffnungen, die
Tröstungen des besten Teiles der Menschheit, hängen am
Kreuz, das den Gott getragen: wie sollten wir nicht mit Ehrfurcht
aufblicken zu diesem Glauben unserer Eltern? ja, mehr als das, wie
sollten wir nicht wünschen, daß unsere Söhne durch
das Symbol der Taufe in die Gemeinschaft und Nachfolge unserer Nation
aufgenommen, daß sie durch die Lektüre und den Unterricht
geweiht werden in die geschichtliche Grundlage des Christentums, ohne
welche die Geschichte der Menschheit ein unverständliches Buch
für sie bleiben würde...? Deshalb aber werden wir immer
noch keine Christen sein«.
Man glaubt, seinen Augen nicht zu trauen, wenn man das liest. Also:
ohne das Christentum ist die Geschichte der Menschheit ein
unverständliches Buch. Die Geschichte der deutschen Nation ist
seit zwölfhundert Jahren ein Ringen um das Christentum, »50
Geschlechter unseres Fleisches und Beines haben ihr ganzes
höheres Leben nur in jenem Ideale gelebt« - aber das alles
beruht auf einer bloßen Halluzination, der keine Realität
entspricht! Und zu einem solchen Ammenmärchen soll man »mit
Ehrfurcht aufblicken«! Nein! Ich weigere diese Ehrfurcht, und
lasse meine Kinder nicht taufen, wenn es so ist, wie Hillebrand sagt.
Ehrfurcht ist gar nicht möglich vor bloßen Hirngespinsten;
nur die Realität kann sie gebieten. Entweder: der Kreuzestod
Christi ist objektives Ereignis, nicht bloß historisches, dann
gilt auch der Satz, daß die Geschichte ohne das Christentum ein
unverständliches Buch sei; oder: er ist eine Marotte, dann gibt
es weder Geschichte, noch ist das Übrigbleibende
»verständlich«. Aber ein drittes gibt es nicht.
Wäre an jener ideologischen Auffassung auch nur eine Faser wahr,
so könnte man jenes zwölfhundertjährige Ringen des
deutschen Volkes und auch Europas, das wir mit Recht seine Geschichte
nennen, nur als ein Riesen-Jahrmarktstreiben ansehn, das gar keine
Möglichkeit einer ehrfurchtsvollen Betrachtung bietet. Die Frage
von Subjekt und Objekt und der Achse der Natur, die quer
hindurchläuft, ist hier, wie so oft, wieder einmal heimlich
gestellt. Es wäre aber wahrlich besser gewesen, wenn Karl
Hillebrand, ehe er solche Sätze schrieb, bei Papst Alexander VI.
in die Schule gegangen wäre, der alles ruhig sein wollte, Dieb,
Mörder, Ehebrecher, Meineidiger, ein Ketzer aber um keinen
Preis.
Der Fall Hillebrand ist ja aber der Fall des deutschen Gebildeten
überhaupt, und wir haben ihn nur an einem seiner Gipfel
erfaßt. Ein Gebildeter des hohen Mittelalters hätte sich
lieber die Zunge abgebissen, als solche Meinungen über das
Christentum zu verbreiten. Denn wenn er es auch nicht wußte, so
handelte er doch so, daß der Primat der Religion über die
Kultur stets gewahrt blieb. Dieser Primat aber besteht
tatsächlich und ist nicht etwa Zeitgeschmack; er hängt auch
nicht vom Willen der Menschen ab, sondern ist durch die Ordnung der
Natur bestimmt. Religion ist die Rückläufigkeit der Natur
im Heilungsprozeß bis hinab zu den Gesteinen. Natur und
Religion sind also zwei gleich große Kreise; Kultur aber ist
das Produkt der genialen Zone, ein kleinerer Kreis von anderer
Abkunft und anderem Sinn. Natur und Religion sind durch das Band der
Notwendigkeit miteinander verknüpft genau in dem Verstande,
daß die Not der Kreatur in der Religion gewendet wird. Religion
und Kultur dagegen haben keine notwendige Verbindung; sie kann sein,
aber auch nicht sein. Trat sie ein, so war die Brücke das
christliche Dogma, dessen Tiefsinnigkeit niemand leugnete und das mit
dem freien Denken zu segensreichen Spannungen kam. So gehörte es
noch im achtzehnten, ja bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein zu den
Selbstverständlichkeiten, daß die gebildeten Stände
der Kirche angehörten, und zwar nicht mit der Gesinnung, wie sie
Hillebrand vertritt. Da aber geschah etwas, was nie hätte
geschehen dürfen: die evangelische Kirche, saturiert und
hochmütig, unterließ es, vom Dogma her ein Gleichgewicht
gegenüber den aufstrebenden Kulturmächten, besonders der
Wissenschaft und Philosophie herzustellen, durch das der Primat der
Religion gesichert worden wäre. Sie paßte nicht auf. Und
erst, als es zu spät war, ging sie gerade den falschen Weg,
indem sie das Dogma dem Zeitgeschmack anpaßte und liberale
Tendenzen duldete. Nun war alles verraten und verkauft. Die
gebildeten Stände, die sich von ihr verlassen fühlten,
zogen sich aus ihr zurück und überließen das Terrain
den alten Weibern als letzten Kirchgängern. Man traf immer mehr
»Mühselige und Beladene« in ihr an, die Kirche
mußte sich bescheiden, Trostspenderin für alles Geknickte
zu sein, als ob das Christentum für sie allein da sei - und als
ob nicht gerade bei den höheren Menschen das Mühselig- und
Beladensein überhaupt erst beginne! Die Kirchen füllten
sich mit Kümmergut.
Auf der andern Seite - von der Kultur her - fand eine Gleichsetzung
von Kultur und Religion statt, ja, die Religion wurde zu einem Fall
von Kultur. Der Vorrang der heilenden Kräfte gegenüber den
bildenden war in Frage gestellt; und heute liegt ein
Trümmerhaufen da! Das alles betraf die evangelische Kirche, die
schon vor hundert Jahren in den Briefen Jacob Burckhardts als eine
verlorene Sache gemeldet wird. Aber auch die katholische, die bisher
noch nie hat Spuren der Verachtung über sich ergehen lassen
müssen - wohl aber des Hasses - muß etwas versäumt
haben. So schreibt der benediktinische Christ Prinz KARL ANTON ROHAN
in seinem Buch »Schicksalsstunde Europas«: »Es kann
wohl nicht anders sein, als daß das Christentum zur Aufnahme
des an Rationalismus und Materialismus gescheiterten Menschen
ungenügend gerüstet ist« (Sperrung von mir). Wo aber
in einem Volke der Primat der Religion gegenüber der Kultur
nicht durch die sicher leitende Hand der Kirche verbürgt wird,
da werden die Widerstandskräfte in großen Schicksalszeiten
gelähmt. Das aber ist Schuld der Kirche.*
Das Dogma entwickelt glaubensgefährdende Kräfte, wenn es
den Boden der anschaulichen Welt verläßt und syllogistisch
oder gar polemisch wird. Es stammt ja schließlich von einem
Schrei und, im Widerhall, von einem Ausruf. »Wahrlich, das ist
Gottes Sohn gewesen!«; und was das sei, »Gottes Sohn«,
das ist sein eigentliches Thema. Das apostolische Glaubensbekenntnis
von Nicaea ist noch anschauliche Welt, geboren aus dem
Glaubensvorgang des christlichen consensus; darauf muß sich
jede Dogmatik schnell wieder zurückführen lassen und dabei
das Gefühl erzeugen: wenn du das nicht glaubst, so bist du kein
Christ. Wenn ich aber sage: Die Jungfrau Maria ist die Mutter Jesu
von Nazareth (was nicht angetastet werden soll); dieser aber ist
Gottes Sohn; als Sohn aber ist er mit Gott wesensgleich: also ist die
Jungfrau Maria die Mutter Gottes - wenn ich das sage, so hat das
Dogma, das sich hierauf gründen will, als Basis nicht die
anschauliche Welt, sondern einen Syllogismus, und der
Naturzusammenhang ist unterbrochen.** Es ist daher kein Wunder,
daß dieses Dogma und alle andern gleicher Herkunft nicht die
Widerstandskraft gegen den Zweifel haben wie das Apostolikum. Auf
noch fragwürdigerem Boden stehen die polemischen Dogmen, die aus
einer bestimmten Kampflage der ecclesia militans entstanden sind, wie
etwa das der Unfehlbarkeit des Papstes. Der eigentliche Dogmatismus
aber beginnt erst dort, wo dem Intellekt freie Hand gelassen wird,
wie etwa bei den vorgeblichen Beweisen für das Dasein Gottes.
Jahrhunderte haben an deren Möglichkeit geglaubt: das
heißt, man wollte sich in Sicherheit wiegen, den Glauben billig
erwerben zu können und vor der Wirklichkeit
zurückschrecken, daß er sogar nur geschenkt wird. Aber,
könnte man sagen: Gott als Gegenstand des Wissens, das ist
Atheismus. »Soll doch einmal die Welt beweisen, daß sie da
ist...!« - ich sehe noch immer die flammenden Rabbiner-Augen vor
mir, als MARTIN BUBER mir das einmal sagte und damit den Nagel auf
den Kopf traf. -
Religiöser Massenwahn ist noch nicht Kirche, obwohl er auch aus
Heilungskräften stammt, sondern er führt bestenfalls zur
Sekte, wenn er nicht - was meistens wünschbar ist - an Ort und
Stele verpufft. Kirche entsteht in dem Augenblick, da jemand aufsteht
und die Verantwortung übernimmt. Das aber ist schon in den
ersten Zeiten der christlichen Bewegung geschehen, wie wir das in der
Apostelgeschichte lesen. Der Spruch dieser Verantwortung im Geiste
aber ist das Dogma. Es besteht aus Sprüchen, die dem Zauberwort
verwandter sind als dem Lehrsatz, aber doch keines von beiden
ist.
11. DAS PROBLEM DER GESCHICHTE. KONSTANTIN DER GROSSE
Es gibt Philosophien und ganze Religionssysteme, die das Dasein der
Geschichte leugnen. Das heißt für sie ist alles
öffentliche Handeln nur durch die gewöhnlichen und
allbekannten Motive bestimmt, von denen die Raublust an oberster
Stelle steht. Geschichtliche Ereignisse seien nur menschliche
Daseinsmotive en gros. So denken die beiden indischen Systeme des
Vedanta und des Buddhismus, und so denkt Schopenhauer. Die Griechen
begannen unter Thucydides das Problem von ferne zu sehen, kamen aber
nicht dazu, es voll aufzugreifen. Gegenüber dieser
Geschichtsfeindlichkeit gibt es ein sehr deutliches und sich immer
wieder aufdrängendes Gefühl dafür, daß dem, was
wir Geschichte nennen, etwas Objektives entspricht, das die Grenze
zum bloßen Passiertsein markiert; es ist hier eine Art
historischer Urteilskraft am Werke, die sich, wie alle andern
Urteilskräfte auch, nicht weiter begründen läßt,
sondern die man haben muß. Wir unterscheiden
gefühlsmäßig deutlich den bloßen Raubeinbruch
in ein fremdes Land von der Eroberung Galliens durch Julius
Cäsar. Auch wenn dieser nichts anderes gewollt hat, als seine
Schulden an Crassus zu decken, im übrigen seinen Ruhm und
Reichtum suchte, so war doch diese Eroberung außerdem noch
etwas, das über diese Interessen hinausging: eben ein
geschichtlicher Vorgang. Davon braucht er nichts gewußt zu
haben, ja man kann vermuten, daß die Naivität fast eine
conditio sine qua non für geschichtliche Größe ist.
Wer sich hinstellt und zu Volksversammlungen von seiner historischen
Sendung spricht, der hat schon im Ansatz verloren. Wir sind auch
nicht geneigt, noch so große geschäftliche Transaktionen
unserer lieben Wohltäter der Menschheit, selbst wenn sie
Erdball-Dimensionen und Erdball-Wirkungen haben, als geschichtlich zu
betrachten. Sondern hierzu gehört noch ein spezifisches Aroma,
das man auf der Zunge haben muß, um es schmecken zu
können.
Der Glanz, der sich um die Gestalten historischer Personen legt, ist
ein ganz besonderer, der niemals, weder von urtümlichen noch von
zivilisierten Räubern erreicht wird: er stammt »aus
mythischem Grunde«, hat man gesagt, und das trifft schon
weitgehend zu. Es wird aber doch nie voll gelingen, eine
erschöpfende Definition für das Geschichtliche zu erlangen,
so wenig wie für die Kunst, aber die Sache wird wenigstens
angeschnitten und eine deutliche Absonderung von anderem erreicht.
Man kommt der Frage näher, wenn man sie so stellt: alle Gebilde
der Natur vom Mineralreich über die Pflanzenwelt hinweg bis zu
den tierischen Lebewesen bedürfen zur Erklärung ihres
Daseins sowohl wie zu der ihrer Erkennbarkeit des archetypischen
Untergrundes, der platonischen Idee. Dieses Wort darf nur dort
angewendet werden, wo es sich um das Verhältnis von Stempel und
Abdruck handelt; jede andere Verwendung ist mißbräuchlich,
auch wenn sie - was geschah - von Platon selber begangen wurde. Bei
dieser Betrachtung erscheint das empirische Einzelgebilde als die
getrübte Darstellung eines reinen Urbildes. Gibt es nun - und
hier spitzt sich die Frage zu - nicht nur von jenen Einzelgebilden,
sondern auch von Vorgängen Ideen...? Wer das Geschichtliche
bejaht, der muß zu der Überzeugung kommen, daß es
das eben gibt und daß es dies ist, was heimlich mitgespielt
hat, wenn ein bankrotter Patriziersohn nach Gallien ging, um - Gaius
Julius Cäsar zu werden.. Wieweit sich die geschichtliche Idee im
Intellekt verfängt, also in der Vernunft, das ist freilich eine
andere Frage, und man kann hier nur sagen: je weniger, umso
wirksamer. Ich erinnere mich lebhaft einer Bemerkung, die Oswald
Spengler, etwa in den frühen zwanziger Jahren, einmal machte.
Wir saßen im kleinen Kreise zusammen und unterhielten uns, wie
das damals üblich war, über die landläufigen
politischen Fragen. Dabei schwirrte es in den Köpfen nur so von
allerhand »Ideen«, von der »Idee« des
Nationalismus, des Sozialismus, der Humanität, und wie sie alle
hießen. SPENGLER saß lange Zeit schweigend im
Hintergrunde. Da auf einmal griff er ein, machte mit seinen dicken,
fleischigen Fingern eine negierende Zitterbewegung und sagte:
»Halt, meine Herrn...! Das, was Sie da sagen und wovon Sie da
reden, das sind alles keine Ideen. Ideen kann man nicht
aussprechen!« Er hatte damit genau ins Herz des Gespräches
getroffen, das demnach auch nicht weiterging. Aber das Wort blieb
übrig und befindet sich nun hier aufgezeichnet.*
Wenn es also überhaupt Geschichte gibt, so kann es sie nur geben
vermöge der Verankerung ihrer empirischen Vorgänge in der
Wirkungsebene der reinen Geschichte, deren getrübte Darstellung
sie sind. Sie muß demnach auch einen Sinn haben, dessen
Enträtselung freilich nicht minder schwierig ist als die der
Naturdinge. Ich bedarf des Begriffes der reinen Geschichte nicht,
wenn ich den Raubüberfall eines Volksstammes auf einen andern,
oder wenn ich die geschäftliche Transaktion einer Großbank
erklären will: denn beides folgt aus dem natürlichen
Raubinstinkt des Menschen ohnehin; den aber kenne ich zu Genüge.
Um aber den besonderen Sinn der Eroberung Galliens - im übrigen
auch »nur« ein Raubüberfall - zu begreifen und damit
die Gestalt Cäsars, dazu muß ich die Existenz der reinen
Geschichte voraussetzen, sonst ist all mein Überlegen umsonst.
Aus der Tatsache allein aber, daß über Cäsar
Litteraturwerke geschrieben worden sind, folgt, daß ihre
Autoren aus dem Gehalte der reinen Geschichte heraus dachten, auch
wenn sie selbst diesen Begriff nicht kannten. Transaktionen und
Raubüberfälle kann jeder beliebige machen. Wir haben hier
also dasselbe vor uns, wie bei der Einordnung der Tierarten in ein
zoologisches System: nicht nur die Existenz der Tiere, sondern auch
ihre Erkennbarkeit ist gebunden an die Existenz ihrer Archetypen,
auch wenn der Autor sie leugnet.
Die indischen Lehrgebäude und Schopenhauer leugnen das Dasein
der Geschichte als einer durch besondere Prägung hervorgerufenen
Art öffentlichen Handelns. Das konnten sie deshalb, ja sie
mußten es, weil sie die Auflösung des gesamten Weltdaseins
erstrebten. Daher konnten sie jener Zwischenlandung unmöglich
einen Sinn abgewinnen. Wenn alles Dasein eo ipso eigentlich nicht
sein soll, so bedarf die vorgebliche Geschichte keiner besonderen
Berücksichtigung. Anders das Christentum, das nicht
Auflösung, sondern Erlösung will, zwei Dinge, die nicht auf
demselben Baugrunde stehen. Es erkennt das Bestehen der Geschichte
an, schon deshalb, weil die Person Christi historisch ist und nicht
repetierbar wie die zahllosen Buddhas. Freilich ist das Aufhören
der Geschichte gegenüber den Endereignissen eine besonders
wichtige Feststellung, und dem Christentum der ersten Generation war
das historische Bewußtsein geschwunden, weil es das Eintreffen
des jüngsten Tages erwartete. Das Christentum holte dann, bei
länger andauernder Parusieverzögerung, das Versäumte
nach und begann, das Historische richtig einzuschätzen. Es hat
eben seinen Sinn, so denkt es, daß es einigen Völkern
gelingt, in den Machtkreis der Geschichte einzurücken, den
meisten aber nicht. Man wird es nicht leugnen können, daß
es etwas anderes ist, wenn man von römischer Geschichte spricht
oder von lydischer, thrakischer und sonst eines beliebigen
Volksstammes: dieser hat eben keine Geschichte. Denn Geschichte ist
kein allgemeines Merkmal menschlicher Gruppen und Volksstämme,
sondern ein besonderes einzelner; sie gehorcht dem Auswahlprinzip. Wo
die reine Geschichte einschlägt, dort ist die empirische da,
sonst nirgends; so wenig wie ein Tier da sein kann, das keinen
Archetypus hat.
Jedes Volk bringt, wie Dichter und Maler aus seinem Schoße
wachsen, so auch stets einige Geschichtsschreiber hervor, die, wenn
das Volk erst unterhalb jenes limes liegt, der den Beginn der
Geschichtsfähigkeit anzeigt, nur Chronisten bleiben; reicht es
aber dort hinein, so findet man, daß die Auffassungen über
das wahrhaft Geschichtliche an einem Volke sehr verschieden sein
können. Es ist ebenso schwer aufzuzeigen, wie die reine
Geschichte ihr Thema beim Volke anschlägt, wie es schwer ist zu
zeigen, in welcher Lage und woher gesehen ein Gegenstand der Natur
seine höchste Sättigung an Schönheit entfaltet. So
kann man etwa die neuere deutsche Geschichte ebensogut habsburgisch
wie hohenzollerisch deuten; aber jeder der beiden Standpunkte
muß bei sich selbst voraussetzen, daß er mit seiner
Deutung den wahren Sinn, das heißt die Befugnis aus der reinen
Geschichte, trifft; sonst hat es keinen Zweck, die Feder in die Hand
zu nehmen. Von Preußen aus gesehen war die Erwerbung der
Königskrone durch Kurfürst Friedrich - was gewiß
vorwiegend aus Eitelkeit geschah - ein großartiger politischer
Schachzug von historischer Bedeutung; aber man erinnert sich an das
Urteil des Prinzen Eugen, daß die Räte, die dem Kaiser die
Zustimmung zu diesem Handel empfohlen hatten, verdienten, gehenkt zu
werden: denn aus der Zulassung eines protestantischen freien
Königreiches im Norden könne nur Bruderkrieg und
schließlich Untergang der Gesamtnation folgen.
Nun hat der Standpunkt des Prinzen Eugen gesiegt; aber es kann ja
trotzdem nicht geleugnet werden, daß Preußen eine
historische Macht war, keineswegs ein bloß soziologisches
Phänomen. Das Shakespearewort vom »tiefen Geheimnis, das in
des Staates Seele wohnt« ist zweifellos gerade auf Preußen
eminent anwendbar. Geschichte ist ja immer an den Staat gebunden, der
allein - im Gegensatz zur bloßen Gesellschaft - die Macht hat,
freie Ethik zu binden. Wollte also jemand es unternehmen, die erste
Geschichte Preußens zu schreiben - denn der Untergang
gehört ja mit zur Geschichte -, so könnte er sich nicht
damit begnügen, auf das zu sehen, was de facto passiert ist,
denn dann käme nichts als Rechthaberei heraus, sondern er
müßte sich in die prägende und richtende Kraft der
reinen Geschichte versenken, bei der er dann entdecken würde,
daß sie eng mit ethischen und metaphysischen Dingen verbunden
ist, und er würde auch - was wir noch später ergründen
-, auf eine mythische Ebene stoßen, die sich quer hindurch
lagert. In jedem andern Falle wäre seine »Geschichte«
entweder ein alberner Panegyrikus oder, dem Geschmack der heutigen
Zeit entsprechend, eine Thersiteia. Angeschlossen aber an die
großen Motive der reinen Geschichte bekommen Begriffe wie
Schuld und Sühne, aber auch Opfertod, ihren gefügten Sinn.
Und es würde das sichere Zeichen für die Gelungenheit eines
solchen Werkes - sub specie peccati - sein, wenn der Nachweis
gelänge, daß die preußischen Könige, meist ohne
es zu wissen, nach solchen Motiven gehandelt oder dagegen
verstoßen haben. Man denke hier etwa an die meisterhafte
Monographie über König Friedrich Wilhelm I. von Jochen
Klepper, sowie an Werner Bergengruens Roman »Im Himmel und auf
Erden«, der die Gestalt Joachims I. von Hohenzollern zum
Gegenstande hat.
Da Geschichte immer Geschichte von Staaten ist, diese aber begrenzte
Machträume sind, sie sich am Nachbarstaate erweisen, so folgt
daraus, daß alle Geschichte relativ ist. Sie muß sich
immer auf Feind und Freund beziehen. Hieraus ergibt sich, daß
der Begriff der »Weltgeschichte« in diesem Sinne unhaltbar
ist; es sei denn, daß ein Autor die Historien aller bekannten
Völker und Institutionen in einer Reihe von Bänden
aufführt, wobei aber das einzige wirkliche Band von Buchbinder
hergestellt wird. Denn da es nur eine Welt gibt, so hat diese nichts,
worauf sie sich - historisch - beziehen könnte; also kann es
keine Weltgeschichte geben in dem Sinne, wie wir bisher von
Geschichte sprachen.
ó ó Oder doch..? Das Wort ist da, nur der Begriff ist
unklar. Gibt es dafür ein zuständiges Objekt, und wo liegt
es? Gibt es also ein Koordinatensystem, durch das jeder
geschichtliche Vorgang seine objektive Lage verrät? Die Welt
müßte freilich selbst darunter fallen, und es
müßte aus den Kräften bestehen, die auf dem Wege der
Rückläufigkeit der Natur zutage treten. Das Christentum
meint, daß es diese Kräfte in den Händen halte,
daß die Religion einen bestimmten Weg gehe und nicht dem
Belieben menschlicher Einsichten ausgeliefert sei. Es gibt freilich
zu, im Verlaufe der Jahrhunderte, in denen es als Kirche wirksam war,
vielfach die Gelegenheit versäumt zu haben, hierfür den
bündigen Beweis anzutreten; statt dessen hat es flüchtige
Notbauten aufgerichtet, die sich als syllogistische Dogmen
Ewigkeitswert zuschrieben. Aber es hat ihm immer, wenn es sie
brauchte, die Philosophie gefehlt, die in Freiheit neben ihm stand.
Ja, wenn Dionysios Areopagita heute noch lebte, oder wenn Menschen
wie König Agrippa und Königin Berenike nicht doch noch
davongelaufen wären! Indessen das läßt sich
nachholen; denn das Christentum ist jung. Wäre das Buch des
Lebens in solider Buchstabenschrift verfaßt, so könnte
jedermann schnell auf seinen Grund kommen; aber es steht in
Hieroglyphen da. - Man konnte es jenem windigen Bankrotteur, als er
nach Gallien ging, nicht ansehen, daß er Julius Cäsar war;
denn der Glanz des Geschichtlichen, der auf ihm ruhte, verbarg sich
unter dem empirischen Gewande. Das Mitspielen der reinen Geschichte
und der Dämonen, die sie beim Einbruch in die empirische zu
begleiten pflegen, vollzog sich incognito. Und so konnte man es dem
Gekreuzigten auf Golgatha, gegen den alles sprach, vor allem er
selber, nicht ansehen, daß sich an ihm, und nirgend sonst in
der Welt, die Religion als reines Ereignis der Natur vollzog. Aber
die Kirche, so sagt sie mit Recht, hat es ihm angesehen, und das ist
ihr Verdienst. Das besagt in die Sprache der Philosophie
übersetzt: so wie jener Cäsar die Verkörperung der
geschichtlichen Idee des römischen Reiches war, schon als er,
noch unerkannt, als Hasardeur nach Gallien ging, so ist jener Jesus
von Nazareth die Verkörperung des reinen Ereignisses der Natur,
in dem die Religion ihre Mitte gefunden hat. Er vertritt also
gegenüber der Historie, die auf der reinen Geschichte ruht, den
höheren Rang; denn tiefer, als die Geschichte, liegt die Natur
selbst. Und beides kreuzt sich in dieser einen Person so, daß
die Geschichte dadurch ihr Koordinatensystem erhält. Erst von
hier an ist es daher möglich, von Weltgeschichte zu reden. Das
Gesetz aber, unter dem die Welt steht, verläuft im Dreiklang von
Schöpfung, Sünde, Erlösung. Dieser gilt für alle
Kreatur vom Menschen bis herab zum Gestein. So etwa dachte der
Kirchenvater Augustin, der das zum ersten Mal aufgebracht hat.
So wenig es also Weltgeschichte geben kann, wenn man sie auf dem
bloß empirischen Wege suchen will - weil dann das wesentliche
Merkmal der Bezüglichkeit plötzlich versagt -, umso mehr
muß es sie geben, wenn man den andern beschreitet: dann steht
sie auf einmal vor uns. Ja es wird dann klar, daß es
überhaupt keinen Sinn hätte, Geschichte zu schreiben, wenn
diese nicht im letzten Grunde auf das Ganze der Welt hin verwiese.
Natur und Geschichte müssen aufeinander gemünzt sein. Was
hätte es etwa sonst für einen Sinn, ein Verhältnis zu
bewundern wie das zwischen dem Kardinal Richelieu und Ludwig XIII.?
Warum gründet man solche Königreiche? Was liegt an
Frankreich, wenn sich in seiner geschichtlichen Idee nicht die reale
Anknüpfung seines Königtums an die ebenso reale des
Weltcharakters selber bemerkbar machte? Kein Mensch könnte sich
doch, wenn das alles auf fixen Ideen beruhte, dafür mehr
interessieren als für die Chronik eines Dorfes. Woher stammt die
Bewunderung, die man für jenes gleichlaufende Verhältnis
empfindet, das zwischen Bismarck und König Wilhelm bestand? Den
Rang des Historischen bekommt eine preußische Privatsache erst
durch das heimlich Weltgeschichtliche, das in ihr liegt und ohne das
die handelnden Personen gar nicht zum Handeln gekommen wären.
Das brauchten sie freilich nicht zu wissen, und sie nannten das ja
einfach »Religion«. Hätten sie gewußt, aus
welchem Grunde heraus sie handelten, hätten sie der Welt auf
Volksversammlungen erklärt, daß sie geschichtliche
Personen seien und aus diesen und jenen Gründen die Welt
umzugestalten gedächten: so wäre es ihnen ergangen wie
jenem Narren von 1933, der dies eben tat. Ideen kann man nicht
aussprechen.
Die christliche Kirche geht mit dem Regierungsantritt Konstantins
des Großen die Verbindung mit dem Staat ein und wird damit
objektiv-geschichtlich. Dieser Wendepunkt fiel keine zwanzig Jahre
nach der blutigsten aller Verfolgungen (303) unter Diokletian. Der
Aufstieg ist ganz steil und plötzlich; das Konzil zu Nicäa,
das den einzigen widerstandsfähigen Dogmenbau der
Kirchengeschichte hervorbrachte, tagte im Jahre 325 unter
persönlichem Vorsitz des Kaisers. Die staunenerregende
Zielsicherheit, mit der das alles geschah, und die Haltbarkeit, die
wir erst heute feststellen können, bewog von jeher die
Betrachter der Kirchengeschichte nach einer Erklärung zu
suchen.
Hier nun stehen sich die theologische und die skeptische Befangenheit
gegenüber. Die erste, beginnend mit Eusebius von Cäsarea,
nicht aufhörend auch in heutiger Zeit, erklärt die
Ereignisse einfach aus dem Willen Gottes, so, als ob man darüber
auch nur das geringste wüßte. Daß Konstantin auf die
blutgewohnten Gemüter der damaligen Christen, noch dazu bei
seiner persönlichen Schönheit, wie ein Engel Gottes wirkte,
ist verständlich; aber Gott selbst wie einen deus ex machina zur
Erklärung geschichtlicher Vorgänge zu benutzen, das
gehört eher zu den Blasphemien, ganz abgesehen davon, daß
dadurch nichts wahrhaft verständlich gemacht wird.
Ganz anders fördernd ist da schon die skeptische Beurteilung,
deren bedeutendster Ausdruck Jacob Burckhardts Werk »Die Zeit
Konstantins des Großen« ist. Bei ihm ist die Erhebung der
christlichen Kirche aus dem Martyrium über die Toleranz zur
Staatsreligion ein rein politischer Akt, an dem der Kaiser selber
innerlich unbeteiligt war, und der nur, wie jeder andere Schachzug
auch, im Dienste der Festigung des römischen Reiches stand.
Diese Auffassung Burckhardts hat weithin Schule gemacht; auch Harnack
dachte so, und es ist immer gut, die Skepsis so weit zu treiben, wie
nur irgend möglich. Allein es bleibt hierbei doch ein
Gefühl des Unzulänglichen übrig, so als ob die
Substanz der Ereignisse nicht richtig getroffen sei. Sowohl die
aufdringliche Gläubigkeit der theologischen Erklärung wie
der Unglaube der skeptischen läuft auf dem Geleise der
Einmotivigkeit. Das Schicksalsjahr der europäischen Menschheit,
das 325 in Nicäa schlug, enthält aber zwei Motive, und nur
dadurch kam es zu seinem Rang. Das eine stammt aus der reinen
Geschichte, das andere aus einem reinen Ereignis der Natur: aus deren
Zusammentreffen aber erst ergibt sich die Festigkeit und die
Sicherheit, mit der alles geschah, von der Folgenschwere ganz zu
schweigen. Aus der reinen Geschichte wurde jener Konstantin
heraufgereicht, der, eben weil auf ihm - wie auf Cäsar - deren
Stempeldruck ruhte, so war, daß er diesen und keinen andern
Griff tat. Was er aber ergriff, das stammte nicht aus der Geschichte.
Die Kirche war noch urgeschichtlich, hatte nur Chronik, war
dafür aber Ausdruck jenes reinen Naturverlaufes, der durch die
Kreuzigung Christi sein Stigma erhalten hatte. Da also die Natur
selber mit ihrem Schicksal dahinterstand, so war auch das, was hier
gegründet wurde, von jenem Stempel getroffen, der noch um eine
Dimension tiefer liegt als die reine Geschichte.
Die Kirche aber trat mit diesem Augenblick in die empirische
Geschichte ein; denn sie traf ja auf den Staat und nicht bloß
auf die Gesellschaft. Man kann diese Begebenheit wohl als eine
einmalige im Schicksal der Menschheit ansehen; und Konstantin den
Großen zu nennen, liegt noch mehr Grund vor, als Burckhardt -
der sich diesen Titel förmlich abringt - zugestehen will.
»Es ist gar nicht abzusehen, was aus der damaligen Welt geworden
wäre, wenn es keine christliche Kirche gegeben hätte«,
sagt ADOLF HARNACK einmal. (»Mission des Christentums in den
ersten drei Jahrhunderten«): es wäre auch für diese
Zeit, in der zu leben wir das Unglück haben, gar nicht
abzusehen, trotz allem nicht. Konstantin hatte das erkannt. Es kommt
nicht darauf an, daß die Kirche herrscht - das soll sie nicht
-, aber es kommt darauf an, daß sie da ist.
Nichts ist demnach verfehlter, als in Zeiten der Desperation die
geschichtliche Kirche auf das Stadium der Urkirche
zurückzuführen zu wollen. Der Schritt in die Geschichte ist
getan worden, und da er solche Hintergründe hat, so kann er
nicht zurückgegangen werden. Als G. Julius Cäsar in
Gehorsamsverweigerung gegenüber dem Senat den Rubikon
überschritt und das Heer gegen Rom führte, war die Republik
zu Ende und die große Periode des römischen Kaisertums
begann. Das war für die eingefleischten Republikaner, wie Cicero
und Cato, die bloß »res publica libera« denken
konnten, nicht aber »imperium«, ein unvollziehbarer
Gedanke; sie nannten das den Untergang der Freiheit. Aber es vollzog
sich doch, weil die reine Geschichte prägend dahinter stand und
vom Genius in die empirische gezwungen wurde. Da gab es kein
Zurück hinter den Rubikon. So auch gibt es für die
christliche Kirche kein Zurück aus der Geschichte und dem Staat
in das seelsorgerische Idyll der »Urkirche«.
Durch die Bezweiflungen, die Konstantin der Große von Seiten
der skeptischen Schule erfuhr, wurde er reif für die
Ehrenrettung. Man hielt die Ansicht, daß er doch
persönlich ein gläubiger Christ, mindestens aber ein
ernster Verehrer der christlichen Religion gewesen sei, für
seiner würdiger. Es ist schade, daß ein so begabter Autor
wie Frank Thieß - der in seinem »Tschusima« den
Beweis für prunklose Geschichtsschreibung angetreten hat - sich
in dem Buch, das den Titel »Das Reich der Dämonen«
trägt, journalistischer Mittel bediente, um jenes Zeitalter
darzustellen, in dem die Entscheidung fiel. Journalismus ist es, wenn
ein Autor einen ständig fühlen läßt, was
für ein geistvoller Mensch er doch sei; schließlich
hört man nur noch diese Stimme und vergißt das Thema.
Thieß quält sich ab, bei jeder Gelegenheit sein stupendes
Wissen und seinen Geistreichtum, auch Witz, spielen zu lassen. Jacob
Burckhardt aber schreibt ruhig und unbekümmert »Die Zeit
Konstantins des Großen«. Darum sinkt der Wert von
Thießens Buch, auch wenn man ihm statt Burckhardt recht geben
muß. Die eigentümliche Glitschigkeit des journalistischen
Stils verhindert es, klar herauszustellen, wo nun eigentlich
diejenigen Kräfte gelagert waren, die imstande gewesen sind, der
maßlosen Brutalität des diokletianischen Staates Einhalt
zu gebieten und diesen selbst auf die Knie zu zwingen. Bei der
Darstellung des ersten Auftretens der christlichen Kirche versucht
Thieß herauszuarbeiten, was das eigentlich Charakteristische an
ihr gewesen sei, und was also den Ausschlag gegeben haben muß.
Und da kommt er, scheintís, ganz richtig, auf die Liebe zu
sprechen. Man gerät bei der Lektüre seines Buches gerade an
diesen Stellen auf den Gedanken, als lese man die »Arestie des
Jesus von Nazareth«. Denn er scheint deren Sprache hier reden zu
wollen. Aber er redet doch die des Bedarfsschriftstellers, der nie
den Bruch mit dem Publikum wagt, und darum kommt es nie klar heraus,
was er eigentlich meint und sagen will. Es klingt nämlich so,
als ob die bloße Predigt von der Liebe es vermocht hätte,
die damalige Welt umzugestalten. Das aber ist eine unvollziehbare
Vorstellung. Denn die Welt des römischen Imperiums
diokletianischer Färbung kannte Gefühle des Erbarmens und
die ihr verwandten nicht, stand vielmehr in voller Gewalt ihres
Gegenteils; aus dem sicheren Fehlen jener Eigenschafen bezog sie ihre
Kraft. Und nun soll dadurch, daß einige wirre Haufen eifernder
Sektierer die »christliche Menschenliebe« gepredigt haben,
dies Weltreich umgewandelt worden sein! Ein unvollziehbarer Gedanke.
Nicht, weil die Liebe gepredigt wurde, sondern weil der Liebe etwas
zugestoßen war, das kosmisches Ausmaß hatte, nur deshalb
war die Predigt überhaupt möglich und nur deshalb hatte sie
verwandelnde Gewalt. Das römische Reich stand also einer
kosmischen Macht gegenüber und keinem guten Zureden wehleidiger
Prediger. Einer solchen aber ist schwer standzuhalten, besonders wenn
man in den letzten Jahrzehnten Verbrechen auf Verbrechen begangen
hatte und, was schlimmer ist als Verbrechen: Fehler.
Um die Sache ins Gleichgewicht zu bringen, so daß sich wirklich
reale historische Mächte gegenüberstehen, bleibt nichts
anderes übrig, als sich der öffentlichen Meinung des
christlichen Altertums anzuschließen, daß es sich bei der
Kirche um ein wirkliches »drittes Geschlecht« ((triton
genos)) handelt, das in sich als »tief Geheimnis« den Staat
trägt. Anschließen an eine Stelle des ersten Petrusbriefes
(12, 9), in der es heißt: »Ihr seid das auserwählte
Geschlecht...«, teilte man die damalige Menschheit in Juden,
Griechen und Christen, und das war schließlich, da es ja nicht
gemacht, sondern aus Gnaden der Natur geschehen war, eine durchaus
physische Sache. Die Christen sahen anders aus als die übrigen
Völker und tun es auch heute noch. Sie haben eine besondere
Physiognomie. Daraus, daß man diesen Satz nur stutzend lesen
wird, kann man erkennen, von was für einer Seltenheit hier die
Rede ist. Aber eine Parallele aus früherer Zeit wird es
klären. Unter den Völkerschaften Italiens, den Etruskern,
Volskern, Albanern, Samniten hoben sich eines Tages die Römer
unverkennbar ab. In den patrizischen Geschlechtern wenigstens dieses
Volksstammes hatte sich ein Motiv der reinen Geschichte verfangen,
das den anderen versagt blieb: Staat und Recht; und damit der
Anspruch auf die Weltherrschaft. Jeder Römer dachte ganz naiv,
daß die Welt ihm gehöre, und seine Sprache nannte daher
eine Eroberung nicht mit dem rechten Namen, sondern sagte »in
die Botmäßigkeit der Römer zurückbringen«*,
so als läge hier ein geschichtliches Apriori vor; und diese
Meinung war richtig. Seitdem gibt es eine römische Physiognomie,
die unverkennbar ist. Das Charisma von Staat und Recht war ihnen von
der reinen Geschichte anvertraut; dadurch allein wurden sie
historisches Volk. Ebenso entstand das Volk der Christen; diese aber
hatten das Charisma von Schöpfung, Sünde und Erlösung
in der Hand. Das Koordinatensystem für die Weltgeschichte lag
bei ihnen. Hierbei ist freilich zu bemerken, daß die Stelle im
ersten Petrusbrief sich nicht auf die historische Kirche bezieht, von
der weder der Nazarener noch die Apostel auch nur das geringste
vermuteten, sondern auf die Ausgewählten, die in das -
ausgebliebene - Reich Gottes aufgenommen werden sollten, jene immer
geringer werdende Zahl, die vorgeblich »die Verwesung nicht
schmecken« sollte. Aber das ließ sich ja übertragen.
Was aber nun das Merkwürdige bei diesem neu entstandenen
»dritten Geschlechte« war: auch in ihm meldete sich, von
der reinen Geschichte geprägt, Staat und Recht, mit ihnen der
Anspruch auf Weltherrschaft. Nur, daß es bei den Römern
tellurische Kräfte waren, die sie vorwärtstrieben, bei der
Kirche aber uranische. Darauf stieß das diokletianische Reich,
ohne es zu bemerken. Auch die alten Italiker hatten ja nicht bemerkt,
mit wem sie es in den verachteten Römern zu tun hatten. Die
Kirche samt ihrem geheimen Staat war aber immerhin auch schon fast
dreihundert Jahre alt. Wenn nun die Kräfte des Erdgeistes, schon
reichlich mißhandelt, versagten, die uranischen aber, die sich
noch in statu nascendi befanden, zunahmen, so wird der unvermeidliche
Umschwung an einem bestimmten Tage verständlich. Die gepredigte
Menschenliebe aber ist geschichtlich unwirksam gewesen, wie sie das
heute genau so ist.
Was indes Konstantin anbelangt, so kann er nicht gut die Erhebung zur
Staatsreligion als bloßes politisches Mittel, wie jedes andere,
gebraucht haben; dazu kostete es zu viel. Er muß schon
übergetreten sein, wenn auch zögernd, wie jeder große
Mann, der nicht dem Massenwahn unterliegt. Denn die Kirche forderte
eine grundlegende, umfassende nderung: die Sklaven sollten zwar
weiterhin im antiken Sinne Eigentum ihrer Herrn bleiben und für
sie arbeiten: aber ihre Seele gehörte unumschränkt der
Kirche genau so wie die des Kaisers. Diesen unerhörten Eingriff
- ein Sieg des principium personalitatis - aber kann man nicht
billigen, ohne aufzuhören, heidnischer Kaiser zu sein. Der
Übertritt Konstantins muß echt gewesen sein.
12. DIE ERKENNTNISLAGE DER THEOLOGIE
Die Erkenntnis Gottes währt nur solange als der Psalm
ertönt.
Die Wahrheit dieses Satzes wurde von jeher dadurch verdunkelt,
daß man eine begriffliche Erkenntnis für echtes Eigentum
hielt, statt bestenfalls für Besitz; aber ich besitze eine Sache
ja auch dann, wenn ich sie gestohlen habe. Man glaubt daher, an Gott
zu glauben, wenn man die Überzeugung gewonnen hat, daß es
ihn gibt. Allein, hier liegen Selbsttäuschungen vor, die darauf
beruhen, daß die Denkmöglichkeiten unendlich groß
sind, die Zahl der Worte aber, die dem Menschen zur Verfügung
stehen, nur endlich, so daß der Rock immer zu kurz ist. Der
Sprachgeiz ist ungeheuer. Wäre die Sprache, wie das Fritz
Mauthner meint, nichts weiter als Verständigungsmittel von
Mensch zu Mensch, so wäre der Reiz sowohl der Dichtung als gar
der Verkündigung unerklärlich. Da aber die Sprache zwei
Stämme hat, den sakralen und den demotischen, beide ineinander
aufs innigste verwoben, so liegt es anders: sie ist beteiligt, und
zwar positiv beteiligt an den Vorgängen der Dichtung und der
Verkündigung; sie stammt - als Zauberwort - »von den
Dingen«.
Höre ich die Worte der Psalmen oder der Propheten Israels, so
trete ich, unter Erregung des Glaubenszustandes, für die Dauer
des Erklingens Gott als Erkennender gegenüber. Sind sie aber
verklungen, so folgt noch eine kurze Gnadenfrist, gleich einem
Nachbilde: dann aber ist es aus; die Erkenntnis Gottes hat
aufgehört. Trete ich nun, um zu retten, was zu retten ist, ins
begriffliche Denken über und sage mir: es müsse doch aus
diesen und jenen schwerwiegenden Gründen einen Gott geben, so
verfange ich mich sofort in den »dialektischen Widerstreit der
Vernunft« und dresche leeres Stroh. Mit andern Worten: Gott
gehört als Gegenstand der Erkenntnis nur der anschaulichen Welt
an, nicht dagegen der begrifflichen. Träger aber dieser
anschaulichen Welt, in der das Wort Gottes die erste Stimme hat, ist
das Ohr. Da das im Bewußtsein geschieht, und ich weiß,
daß ich erkenne, so folgt daraus, daß Gott sehr wohl
Gegenstand des Verstandes ist, nicht aber der Vernunft. Denn ich
verstehe ja, was der Prophet zu mir redet, und der erregte Glaube
zeigt mir die Kostbarkeit des Vernommenen an. Nichts aber wird dabei
an seiner Unbegreiflichkeit geändert.
In der bisher üblichen Ausdrucksweise nennt man die Tat der
Propheten Offenbarung. Aber es ist notwendig, hier einzugreifen und
ergänzend sie als Entdeckung zu bezeichnen. Das ist keine
Willkür, sondern wird von der Sache gefordert. Offenbarung
bezeichnet die Richtung vom Objekt her auf das Subjekt zu; Entdeckung
die vom Subjekt nach dem Objekt. Und nur, wo beides da ist, vollzieht
sich der geniale Prozeß. Darum muß man auch auf dem
Gebiete der Wissenschaft, wo man üblicherweise von Entdeckung
spricht, stets Offenbarung hinzudenken: Newton hätte das
Gravitationsgesetz nicht entdeckt, wenn sich nicht im kritischen
Augenblicke die Schwere selber ihm offenbart hätte. Und nur
dadurch, daß wir das stillschweigend anerkennen, kommen wir zu
dem sicheren Gefühl der Giltigkeit, ohne die Wissenschaft ein
leeres Spiel von Menschengedanken wäre. Das aber soll sie ja
eben gerade nicht sein. Die Propheten nun hörten mit dem inneren
Ohr; was sie aber hörten, war nicht ein einzelnes Naturgesetz,
sondern die Selbstoffenbarung Dessen, durch Den die Natur
Schöpfung ist. Dieses innere Ohr spielt bei ihnen die gleiche
Rolle wie bei den Künstlern das innere Auge. Auch sie sehen
zunächst die empirische Außenwelt der Dinge mit dem
gewöhnlichen äußeren Auge; dahinter aber, nach innen
zu im transzendentalen Subjekt eingebettet, liegt das innere Auge,
das die tiefer im Objekt liegende Schönheit sieht; dieses aber
ist wirklich.
Im Werke der Dichter und bildenden Künstler aber vollzieht sich
die symbolische Darstellung der Vision durch den actus demonstrandi,
und es steht noch dahin, ob die Wahrheit von den Dingen der Natur
besser vom Dichter dargestellt wird als vom Forscher; jedenfalls
gehört sie immer der anschaulichen Welt an, und das macht ihren
Vorzug aus. Nähme ich auch nur einen Augenblick an, daß
der künstlerische Prozeß nur durch Offenbarung oder nur
durch Entdeckung geschieht, so gäbe es keine Möglichkeit,
an seine Objektivität zu glauben, und die Schönheit
wäre dann ein vages Spiel der Phantasie, das besser unterbliebe.
Nur, wo beides da ist, da ist auch Wirklichkeit. Und nur, wenn die
Propheten zugleich Empfänger von Offenbarung und Entdecker sind,
zeugen sie von ihr. - Oder soll auf einmal hier, gerade hier, es
anders zugehen? Wer schützt sie vor dem Verdacht, daß sie
nur Eignes daherreden und daß ihre vorgeblichen
Verkündigungen nur die Fragmente zerstörter Seelenleben
sind? Das haben doch nicht nur moderne Psychiater von ihnen gesagt,
sondern auch Zeitgenossen. Nur die volle Einordnung in das Schema des
genialen Prozesses sichert ihre Verkündigung. Daß sie
daneben auch zertrümmert werden konnten von der Gewalt des
Offenbarungseindruckes - wenn nämlich die subjektive
Entdeckungsgebärde nicht stark genug war - zum Teufel ja, wer
mag sich darüber beschweren bei dem, was sie da entdeckten! Es
ist ein wahres Wunder, daß sie noch halbwegs heil geblieben
sind.
Man steht aber hier vor einem unausweichlichen Entweder-Oder.
Entweder: Wissenschaft und Kunst reden vom Wirklichen; dann ist das,
wovon die Propheten reden, erst recht wirklich; denn der
Prozeß, durch den es in die Erscheinung tritt, ist genau der
gleiche. Oder: Wissenschaft und Kunst sind Brillen, die sich die
Menschheit hie und da zu ihrem Zeitvertreib aufsetzt, und ihnen
entspricht nichts Wirkliches: dann muß auch die
Verkündigung der Propheten ein Wahngebilde sein. Aber das erste
für wahr und das zweite für eingebildet zu halten, das geht
nicht an. Die Begründung der Prophetie geschieht also auf der
Basis der beiden Sätze:
1. Wirklich ist, was Stromrichtung vom Objekt zum Subjekt hat und von
diesem akzeptiert wird. Die Wirklichkeit der Materie ist nur ein Fall
davon.
2. Wissenschaft und Kunst, sowie auch die Religion in actu
demonstrandi beruhen auf der Wirksamkeit des genialen Prozesses, der
in allen dreien genau der gleiche ist.
So wie das, was sich, vom Objekt her, dem Künstler offenbart,
Schönheit heißt, das, was dem Forscher, Gesetz, so
heißt das, was sich den Propheten zeigte, das Wort Gottes. Wie
der Künstler unzufrieden durch die Reihen seiner Gebilde geht,
weil er weiß, da sie ihm mißlungen sind, so sind auch die
Propheten unzufrieden mit dem, was ihr Mund schließlich
aussprach. Glück gibt es hier nirgends. Denn am Ende, man mag
sich drehen und wenden wie man will, kommt das, was sich dem inneren
Ohre kundtat, nicht ebenso rein durch den prophetischen Mund heraus,
der immerhin ein Menschenmund ist. Der actus demonstrandi unterliegt
gegenüber dem status nascendi dem Gesetz der Erbsünde. Das
wissen wir aus den eigenen Bekenntnissen der Betroffenen, wenn wir es
nicht ohnehin wüßten. Es gibt keine Verbalinspiration, und
die Schriften der Propheten sind keine Diktate. Das wären sie,
wenn der prophetische Akt nur einseitig Offenbarung wäre, die
fix und fertig in die auserwählten Organe gedrungen ist, so wie
wenn Goethe seine Gedichte diktiert. Wäre es so, dann fehlte den
Propheten das Merkmal eigner Größe; die aber billigen wir
ihnen zu. Wäre es so, dann gäbe es nur Bibel-Philologie,
die nur die richtigen Texte herzustellen hätte; ein Wort der
Bibel hätte dann gleiches Gewicht wie jedes andre. Das alles
aber ist nicht der Fall: es gibt Schriftauslegung, Hermeneutik,
schließlich Theologie, und vieles steht in Frage. Ja, man
muß sagen, daß die Mißlungenheit des Niederschlages
in litteris weit größer ist als bei den profanen Werken
der Weltlitteratur. Das aber liegt an der bedrückenden
Größe des Gegenstandes. Im Homer ist jeder Vers ein
Kunstwerk, weil hier das Thema und der Sänger sich die Waage
halten. In der Bibel aber zerbrechen fast vor unseren Augen die
Autoren unter der Wucht des Wortes; die es traf, kämpfen mit dem
letzten Einsatz. Es ist ein wahres Wunder, daß besonders im
Alten Testament, es Partien gibt, die das Größte in der
Weltlitteratur erreichen.
Was die Schriftauslegung angeht, so gibt es darüber zwei
Standpunkte. Der katholische sagt: Das ist Sache derer, die etwas
davon verstehen, der Väter, der Konzilien und der bestallten
Theologen. Diese vermitteln die Wahrheit, deren Anname verbindlich
für den Glauben ist. Im Zweifelsfalle tritt der Grundsatz der
Probabilität auf den Plan oder ein ex cathedra unfehlbarer
Spruch des Papstes. Hier liegt also eine juristische Methode vor, bei
der ja auch das Recht gemäß den Entscheidungen der
obersten Landesgerichte gefunden wird. Der protestantische dagegen
sagt: Schriftauslegung ist jedermanns Recht; hieran schließt
sich die Lehre vom allgemeinen Priestertum. - Es ist nicht Sache der
Philosophie, sich Sympathien zu erwerben; die Gegensätzlichkeit
der beiden Anschauungen ist zu allgemein im Menschenleben
begründet, als daß sie besonderes Aufsehen erregen
könnte. Der Streit zwischen Fachgelehrsamkeit und Laienforschung
wird nie zu Gunsten je einer Partei entschieden werden können. -
Aber, was meinte eigentlich LUTHER damit, wenn er sagte : »Papst
und Konzilien können sich irren; nur die Bibel selbst ist Quelle
der Heilserkenntnis«! Geistesverwandt ist diese plötzlich
einsetzende Haltung mit jener Parole, die sein älterer
Zeitgenosse Lionardo da Vinci in bezug auf die Naturforschung
herausgab: keine scholastische Voreingenommenheit, sondern Befragung
der Natur selber durch das Experiment. Denn die Natur kann nicht
lügen. Aber schließlich ist die Bibel ja nicht Natur,
sondern ein Buch - Luther aber behandelte sie wie die Natur, die
nicht lügen kann. Das ist keine litterarische Entscheidung. Es
ist auch keine dogmatische, knapp ein theologische zu nennen: sondern
es ist der sichere Griff des Genies, das selber Prophet ist. Luther
weiß eben, was hier und bei keinem anderen Buche vorgegangen
ist. Es ist zwar selber nicht Natur, aber es enthält in
Fülle Ausgänge aus ihr, durch die Propheten und das
Evangelium geschaffen, die den Weg zu ihrer Erlösung
öffnen. Oder umgekehrt: es enthält Durchbrüche von
außen in die Natur hinein, die von der Offenbarung erzwungen
worden sind; kurzum, es enthält das Wort Gottes orginaliter.
Insofern gehört die Bibel nun doch zur Natur auf ihrem
Rückwege. Und nun macht Luther es ebenso wie Lionardo da Vinci
und alle folgende Forschung. Freilich liegt die Einschränkung
vor, daß die Natur im gewöhnlichen Verstande
lückenlos ist und auch an der winzigsten Stelle ihr Gesetz nicht
bricht. Die Bibel aber ist ständig unterbrochen, weil an ihr
tausend Jahre lang unzählig viele Autoren gearbeitet haben, die
sich nicht kannten: kontinuierlich an ihr ist nur ein roter Faden,
und der ist die eigentliche Religion. Von dem aber, was dazwischen
liegt, kann man weiß Gott nicht sagen: »Siehe, es steht
geschrieben...« Sind doch, wie vor kurzem an einer Paulusstelle
durch Philologen bewiesen wurde, Randglossen eines fremden Lesenden
mit in den »heiligen« Text hineingeraten. Solches
Glück, wie Luther bei den Einsetzungsworten des Abendmahles
hatte, konnte er nicht an jeder Stelle erwarten. Hier aber
mußte es ja stimmen! - Mit der unbeirrbaren Sicherheit des
Gleichgeordneten wußte er sehr deutlich: was hier geschrieben
steht, ist original, hier fließen die wirklichen Quellen; von
den Kirchenvätern aufwärts aber ist alles aus zweiter Hand
und dem möglichen Irrtum unterworfen. Es sind nicht die
Durchbrüche selber, sondern die Gedanken darüber. Sein
eigner Standpunkt ist der des Genius und des Propheten, und so konnte
man sich auf seine Gabe verlassen, bei der Predigt stets so zu
greifen, daß er den roten Faden traf und ihn mit dem
übrigen Menschenleben verband.
Wie aber, wenn man nicht Genie ist...? Wie steht es dann mit der
Lehre vom allgemeinen Priestertum? Dann steht es schlimm, und es
steht ja auch schlimm; hier liegt das große Risiko, das Luther
eingegangen ist: es darauf ankommen zu lassen. Böse Zungen haben
behauptet, mit Luther höre die Reformation auf, denn sie ist auf
das Genie angewiesen. Ganz sicher freilich ist, daß durch ihn
die geniale Phase der deutschen Geistesgeschichte, die von Lessing
über die Weimarer Klassiker, Kant, Schopenhauer, Nietzsche
führt, eingeleitet wurde. Denn ohne ihn ist das alles
unmöglich. Er hat die Basis für den Deutschen Kulturkreis
geschaffen, der einzigartig in der Welt dasteht und seinen Kraftstrom
nach Skandinavien und England schickt. Die katholische Kirche, die
sich bisher als die treueste Hirtin des Christenglückes der
möglichst Vielen erwiesen hat, ist von einem tiefgehenden
Verdacht gegen das Genie durchdrungen. Wo sie auch nur bei ihren
Pfarrern die leiseste Spur von genialer Frömmigkeit wittert, da
verbannt sie sie in die entlegensten Pfarren, um sie vor der Hybris
zu schützen. Kommt hinzu: das Genie versteht sich nicht auf den
Gehorsam.
Das Alte Testament ist wesentlich original, nichts ist
abgeschrieben; ein falscher Antisemitismus hat das nämlich
behauptet. So verwies man auf den Sonnengesang des Echnaton »Die
Welt liegt im Dunkel, als wäre sie tot« und verglich damit
den Wortlaut des 104. Psalms. Hieraus scheint ein Plagiat
hervorzugehen. Leise und leisetreterisch fing das schon mit Friedrich
Delitzschís »Bibel und Babel« an. Der sagte auch, es
lägen hier Entlehnungen vor: so als sei das Alte Testament ohne
die babylonische Kultur »nicht denkbar«. Delitzsch verlor
damals den Kampf gegen die Orthodoxie, ähnlich, wie ihn Haeckel
verlor. Ebenso steht es, so sagte man, mit dem Gesetzbuche des
Hamurabi, in dem alle sittlichen Gebote des Alten Testamentes
vorkommen, nur eines nicht, das erste des Dekaloges; auf das aber
kommt es an. - Man sollte überhaupt erstaunt darüber sein,
daß die Orthodoxie immer siegt: erst vor wenigen Jahren wieder
im Kampfe gegen die »Deutschen Christen«, die den zweiten
Artikel des Apostolikums angriffen, so wie Haeckel seinerzeit den
ersten. Ihnen gefiel wohl der Name Arius, und sie verwechselten ihn
mit den Ariern. Das alles aber kommt daher, daß jeder Vers des
Alten Testamentes die originale Entdeckung (sage: Offenbarung) Gottes
voraussetzt, die sonst nirgends, auch nur andeutungsweise vorkommt.
Echnatons Sonnengesang ist nun einmal an die Sonne als Gott
gerichtet; die Sonne aber ist kein Gott. Der Psalmist dagegen hat die
richtige Entscheidung getroffen, und also ist der Psalm kein Plagiat,
sondern original, auch wenn es bis zu wörtlichen
Übereinstimmungen kommt. Und also ist der Sonnengesang Echnatons
heute Litteratur und gehört in die Geschichte, der Psalm aber
ist Religion und durchbraust noch heute die Herzen in voller Frische.
- Die Theologie braucht sich darum nicht mehr zu kümmern.
Man hat sich oft darüber den Kopf zerbrochen, warum es seit der
Kantischen Kritik überhaupt noch Theologie geben könne. Es
gab doch auch keine Phlogiston-Theorie mehr, nachdem Lavoisier sie
widerlegt hatte, sondern sie erstarb im selben Augenblicke. Kant
hatte bewiesen, daß es keinen Gottesbeweis geben könne,
und MOSES MENDELSSOHN nannte ihn bekanntlich dafür den
»Alleszermalmer«. Das heißt nun freilich, mit Kanonen
nach Spatzen schießen. Denn wenn man die
Gedankenverschlingungen dieser hochmittelalterlichen Scholastiker
durchliest, die sich um die Beweise für das Dasein Gottes
bemühen, so glaubt man, in einem Tollhause zu sein. Sogar Thomas
von Aquin, der doch sonst eine Ader dafür hatte, lehnt sich
gegen den famosen »ontologischen Beweis« des Anselm von
Canterbury auf. Jedes Kind mit klarem Verstande muß einfach
lachen, wenn im so etwas vorgetragen wird. Es handelt sich hier
schlechterdings um Irreligiöse, die nicht hören
können, und dieses schwere Manko durch Vernunftspekulationen
ausgleichen wollen. Es bleibt aber freilich dabei, daß sich die
Theologie als Wissenschaft auf der Annahme eines Objektes aufbaut,
dessen Dasein unbeweisbar ist. Ist das nicht eine windige
Wissenschaft? Aber wir erleben nicht nur ein Weiterbestehen der
Theologie, sondern - in der heutigen Zeit auffallend heftig - ein
deutliches und höchst kräftiges Wachstum, wenigstens auf
protestantischer Seite. Fast könnte man meinen, sie sei die
lebendigste und stärkste aller heute betriebenen Wissenschaften.
Dabei lassen wir noch ihren historisch-kritischen Zweig beiseite, der
sich hundert Jahre lang um die Leben-Jesu-Forschung bemühte;
denn diese wird von der kantischen Kritik nicht betroffen; wir reden
nur vom Dogmatischen. Dabei muß man feststellen, daß die
katholische Seite mit ihrer starken aquinatischen Bindung sich wenig
hervorgetan hat und bis hart an die Grenze der
Vogel-Strauß-Politik ging, während die protestantische die
Sache auf sich nahm. Sie hat Kant in sich einbezogen und damit
starken Auftrieb erfahren; so ist sie um gute Armeslänge voraus,
während die katholische sich noch im Halbschlaf müde die
Augen reibt.
Dieses Weiterlaufen der Theologie erklärt sich daraus, daß
die Religion - wie wir durch Schopenhauer erfuhren - nicht ein
Produkt des Intellektes ist, sondern des Willens. Die Natur selber
ist es, die der Theologie zu Hilfe kommt. Diese Natur aber ist krank;
und nicht nur das Menschenherz, der locus minoris resistentiae,
sondern »alle Kreatur sehnet sich mit uns und ängstigt sich
immerdar« (Röm. 8, 22). Schopenhauererisch zu Ende gedacht
heißt das: bis in die Gesteine hinein; und auch die alten
echten Alchymisten (also nicht die Goldmacher) samt dem großen
Paracelsus dachten so. Wo aber Krankheit ist, da ist das Verlangen
nach dem Heilmittel unwiderstehlich. Der christlichen Theologie also
liegt - unbewußt - das Verlangen nach dem Heilmittel zum
Grunde; das ist ihre Naturbasis, auf die sie sich ganz naiv
verläßt. Andere Religionen behaupten auch, Offenbarungen
zu haben: aber es sind keine Entdeckungen. Hätten wir ein volles
Kompendium aller empirischen Naturgesetze, so daß die Natur als
natura naturata lückenlos darin eingefangen wäre: wir
wüßten damit nicht um einen Deut mehr von ihr selber als
einem Ganzen. Die oben erwähnte Römerbriefstelle aber redet
davon und ebenso die Entdeckung der Erbsünde, sowie die Lehre
vom geschenkhaften Charakter des Guten. Das sind keine privata des
christlichen Glaubens, sondern Entdeckungen, die objektiv-giltig sind
und die jedermann anerkennen muß. Es sind Beiträge des
Christentums zur allgemeinen humanistischen Bildung des
Menschengeschlechtes. Durch die Kirche aber werden diese kultisch
bewertet und gesteigert.
Die christliche Religion kann sich also darauf verlassen, daß
die Natur sie nicht im Stich läßt, ganz gleichgiltig, was
für schweres Geschütz die philosophische Kritik gegen sie
auffahren möge. Freilich wird der Rang jedes theologischen
Werkes u. a. dadurch bestimmt, wie weit sein Autor die Kritik in sich
aufgenommen und verarbeitet hat. So einfach von Gott zu reden, als
sei das die selbstverständlichste Sache von der Welt, das geht
nicht an. Gott ist durchaus nicht selbstverständlich. Bei einer
Wissenschaft aber kommt es nicht auf eine »Sache« an, die
die Grundlage bildet, sondern auf ihr axiomatisches Gefüge. So
ist zum Beispiel die Atom-Physik keineswegs auf der
»Sache«, dem »Dinge« Atom begründet; denn
damit steht es, wie wir erfahren haben, sehr problematisch. Die
Theorie des Dinges Atom hat einen unheilbaren Bruch; und trotzdem
stimmt die Wissenschaft und hat ihrer Erfolge, weil ihre Axiome
stimmen. Ich habe mir von klugen Physikern sagen lassen, daß es
die Sprache sei, deren Geiz verhindere, hier Klarheit zu schaffen.
Denn alle Atomphysiker sind sich darüber einig, daß hier
Antinomien entstanden sind, aber ebenso, daß darunter doch ein
sicheres axiomatisches Fundament liegt. - So also braucht sich auch
die Theologie nicht darum zu kümmern, daß der Gegenstand
»Gott« unbeweisbar ist; wohl aber darum, daß ihre
Axiome stimmen. Das Axiom der Theologie aber liegt darin, daß
Gott erkennbar ist, solange der Psalm ertönt; die Psalmen aber
sind real. Und er ertönt solange, als die betende Kirche ihn
anstimmt. Das aber tut sie immer. Hier liegt ein lebenschaffender
circulus virtuosus vor, zu dem man der Theologie gratulieren kann.
Und mit dem, was durch die Psalmen angerührt wird, nämlich
die theologischen Grundbegriffe von Schöpfung, Sünde und
Erlösung, entsteht eine in sich geschlossene Wissenschaft, die
keineswegs beliebig »aus dem Herzen heraus« fortgesponnen
werden kann, sondern in der es auf Hieb und Stich exakt zugeht - es
sei denn, man wolle leugnen, daß die Natur krank sei und sich
nach der Erlösung sehnt; dann aber steht man außerhalb der
Religion, so wie jemand, der taub ist, außerhalb der Musik
steht.
Habe ich eine Wissenschaft so weit vorgetrieben, daß niemand
sie leugnen kann, ohne an die Wirklichkeit falsche
Maßstäbe zu legen, so befindet sie sich auf ihrer
Höhe und kann mit Fug und Recht sich jeder anderen als
axiomatisch gesichert zur Seite stellen. Wie aus dem Parallelenaxiom
jeder Satz über das Dreieck folgt, wenn ich mir die Mühe
gebe, nach seinen Gesetzen zu forschen, so folgt auch in der
Theologie jeder Satze des Dogmas aus ihrem axiomatischen Grunde. Aber
freilich: asymptotisch ist die Theologie auch; nur sagt das nichts
gegen ihre Wissenschaftlichkeit. Der Unterschied zur Geometrie liegt
nur in dem zwischen einer Wissenschaft a priori, die lauter
synthetische Urteile enthält, und einer Erfahrungswissenschaft,
deren Gegenstand sich immer wieder frisch von der Natur her
darbietet. Daher gibt es auch verschiedene Theologien. Man wird auch
bemerken können, daß der sehr sonderbar gebaute
axiomatische Grund der Theologie - ich meine das »solange der
Psalm ertönt« - die Autoren nötigt, ihren Sprachstil
in einer eigentümlichen Weise sehr ernst ironisch (in des Wortes
ältester Bedeutung) zu halten, was man etwa am Stile von Karl
BarthSiehe Erlösung bewundern kann. Hier wird die Theologie
stets bis an den Rand ihrer Fundierung gedrängt, damit nur ja
nicht Gott für ein Ding gehalten wird, das man sicher nach Hause
tragen kann, wenn man nur den richtigen Begriff davon hat. Die
Theologie muß sich die eilfertigen Gläubigen vom Halse
halten, um des Glaubens willen, den sie zwar nicht erzeugen, wohl
aber erläutern kann.
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