DIE GRÜNDUNG DER NATURACHSE IM LICHTE DER TRANSZENDENTALEN LOGIK
In der Lehre von der Abstammung des Menschen aus tierischen
Vorfahren spezifischer Art erreicht die Biologie und Abstammungslehre
ihren dramatischen Höhepunkt. Man darf nicht vergessen,
daß, als sie zum ersten Male unseren Urgroßvätern zu
Ohren kam, diese von ernstem Schrecken befallen wurden, denn sie
sagten sich: wenn das wahr ist, so steht unser Seelenheil in Frage!
Und das ist freilich auch richtig. Seitdem sind hundertfünfzig
Jahre vergangen und von Generation zu Generation gewöhnte man
sich immer mehr an jene demagogisch andrängende Lehre; bis das
heutige Geschlecht schon gar nichts mehr dabei findet, ja stolz
darauf ist, es von tierischen Vorfahren her so weit gebracht zu
haben, und sich auch von dem wahrhaft apokalyptischen Zustande, in
den es dadurch hineingeriet, nicht mahnen läßt. Es
hält diesen vielmehr für einen unverkennbaren Beginn des
Aufstiegs des Menschengeschlechtes aus eigenen Mitteln. Noch unsere
Großväter festigten sich dagegen durch Glauben und
religiöse Überzeugung, die ihnen Schutz boten. Beides ist
zusammengebrochen. Bleibt nur das Wissen, woran - wenn es will - das
kommende Geschlecht sich halten kann. Aber dieses »nur«
müssen wir freilich, kaum ausgesprochen, in seiner eigentlichen
Bedeutung wieder zurücknehmen. Wissenschaft und Philosophie
greifen hier gewaltig ein, um das Menschengeschlecht vor solchen
verhängnisvollen Irrtümern zu bewahren.
Sage ich, mit der Wissenschaft: der Mensch kann nicht vom Affen
abstammen, weil, nach dem Dolloschen Gesetz, sich spezialisierte
Formen nicht zurückbilden, so enthält diese Erkenntnis, so
wertvoll sie an sich ist, immerhin noch einen deutlich spürbaren
Rest von Unsicherheit: denn das Dollosche Gesetz ist empirisch ohne
Notwendigkeit; man könnte sich sehr wohl denken, daß es
anders wäre. Sage ich aber: die Vernunft, das Merkmal des
Menschen steht zum Verstand, dem Merkmal der Tierheit, in keinem
Entwicklungsverhältnis, und weise das nach, so ist das eine
transzendentale Überlegung, und dieser hängt Notwendigkeit
an. Der Mensch kann nicht vom Tiere abstammen. Ehe man aber von einem
Phänomen nicht weiß, warum es notwendig sein muß und
nicht anders, hat das Wissen von ihm noch keine transzendentale Basis
und bleibt daher »doxa«. Und sage ich nun gar: Vernunft
kommt nicht vor, wie die rote Farbe vorkommt, sondern sie gehört
zum transzendentalen Subjekt, so ist damit die Achse der Natur
berührt; denn ich habe deren subjektiven Pol erwähnt. Mit
ihr aber und durch sie weiß ich erst wo alles liegt; nur durch
sie entsteht Topographie und Perspektive. Ich sehe die Dinge richtig
liegen und mit ihnen die Formen und Kräfte, durch die sie
Erfahrung werden.
1. KANTS UNBEWUSSTE ARBEIT AN DER ACHSENGRÜNDUNG
Die Achsengründung war, so behaupte ich, der geheime Antrieb,
der Kant dazu vermochte, eine Kategorienlehre aufzustellen, freilich
eben, ohne diesen Antrieb zu kennen, ja in ständigem
Verstoß dagegen. Seine transzendentale Logik aber bekommt erst
Gesicht, das heißt Perspektive, wenn man die Naturachse
einfügt. Von Aristoteles aber muß man sagen, daß er
nur den Namen gab und nichts von einem solchen dunklen Antrieb in
sich getragen hat; das kann man an seiner Methode erkennen. Sie ist
ein Produkt sammelnder Gelehrsamkeit. In Kant aber steckt eine
bestimmte Dynamik: wie ist es möglich - da es doch wirklich ist
-, daß etwas so den Dingen Fernes, ja das Allerfernste, wie die
Denkgesetze der reinen Logik, zu konstituierenden Prinzipien der
anschaulichen Welt werden, die doch in unmittelbarer
Dingberührung steht? Wie und wo hakt das ein? Wie ist
»Logik der Dinge« möglich? Sollte etwa gar der
scholastische Satz richtig sein: per intellectum fit omnia? Denn wenn
auch die Vernunft im trügerischen Gebrauch des Menschen (also
die »menschliche« Vernunft) in den Jahrtausenden, da wir
ihre Tätigkeit beobachten können, Wahngebilde über
Wahngebilde aus ihrer eignen Natur heraus hervorgezaubert und
Gebäude der Metaphysik und anderer Scheinwissenschaften
aufgeführt hat: manchmal ist doch echte Wissenschaft
vorgekommen, von deren tiefster Giltigkeit in jede Formation der
Dinge hinein wir völlig überzeugt sind. Und diese
Überzeugung von der Giltigkeit der Wissenschaft macht allein
deren Würde aus und ist damit ein Teil der Würde des
Menschengeschlechtes. Wie aber geht das zu an jener entscheidenden
Stelle, an der reine Denkgesetze Kategorien werden und damit die
anschauliche Welt durchgängig bestimmen? Diesen Ort und diesen
Vorgang zu bestimmen, ist Kants tiefste und dämonische
Denkertat. So liegt seine Fragestellung, und sie allein ist dynamisch
und trifft die Wirklichkeit.
Wie man weiß, legte Kant Wert darauf, im Gegensatz zu
Aristoteles seine Kategorientafel nicht »rhapsodisch«, das
heißt auf gut Glück, zusammengesucht zu haben, sondern sie
einem genialen Einfall (aber das sagt er nicht) zu verdanken,
nämlich dem, daß die Kategorien dasselbe in der
anschaulichen Welt seien wie die Urteilsformen in der reinen Logik.
Der Gedanke ist in der Tat auf den ersten Blick überzeugend in
seiner Einfachheit; es fragt sich nur, ob er dem zweiten
standhält. Das ändert nichts an seiner Leuchtkraft in statu
nascendi, ja an seiner Unvermeidlichkeit; nur scheint mir eben der
actus demonstrandi nicht geglückt. Ich vermag es zum Beispiel
nicht einzusehen, wie das hypothetische Urteil die Entsprechung
für die Kategorie der Kausalität sein soll, nachdem Kant
doch in so lichtvoller Weise bei der Unterscheidung von bloßen
Wahrnehmungsurteilen und Erfahrungsurteilen gezeigt hat, wie durch
den Hinzutritt der Kausalität eben gerade diese Vorwandlung in
ein Erfahrungsurteil zustande kommt. Sage ich, meint KANT: »Wenn
die Sonne scheint, wird der Stein warm«, so habe ich damit nur
eine Wahrnehmung ausgesprochen in der Form des hypothetischen
Urteiles; ich kann den Satz auch umkehren und sagen: »Wenn der
Stein warm wird, scheint manchmal die Sonne«. Alle rein
logischen Urteile kann ich auch umkehren, ich muß nur das
Gesetz der Umkehrung universaler Urteile befolgen, die allemal
dadurch partikular werden; daher in unserem Falle das
»manchmal«. Sage ich dagegen. »Die Sonne erwärmt
den Stein«, so habe ich die Sonne zur Ursache und die
Erwärmung zur Wirkung gemacht, das Band der Notwendigkeit
hergestellt und dadurch ein Erfahrungsurteil gewonnen, das seine
tiefere Begründung nun in der Wissenschaft finden kann. Diesen
Satz kann ich nicht umkehren, weil die Dinge selbst diese Reihenfolge
bestimmen und keine andere. Also gerade anstelle des bloß
hypothetischen Urteiles tritt das Gesetz der Kausalität; sie ist
ihm gegenüber etwas Neues. Die wirkliche Entsprechung aber liegt
zwischen dem Satz vom zureichenden Grunde des Erkennens (ratio
cognoscendi), der ein Denkgesetz ist und überall in der reinen
Logik gilt, und der Kausalität (causa fiendi), welche die
zugehörige Kategorie ist. Die innere Verhakung aber der beiden
ist das eigentliche Thema der Kategorienlehre. Hier hilft, um es
anschaulich zu machen, wieder das Bild der arabischen »8«,
bei der sich der obere logische Teil in den unteren realen am
Kreuzungspunkte verhakt. An ihm wird das Denkgesetz des Satzes vom
Grunde transzendental.
Ich möchte nun durchaus der Versuchung widerstehen, im einzelnen
abzuhandeln, wie und wo Kant sich hier vergriff; denn wir
stießen damit in ein wahres Wespennest der Kantscholastik.
Kants großes Verdienst bleibt, als erster und auch heute fast
noch als einziger das Problem überhaupt erst gesehen zu haben.
Wenn er in der Darstellung scheiterte, so spricht das nicht gegen ihn
und niemand, der im einzelnen gegen ihn recht haben möge, hat es
damit im ganzen; denn Philosophie strömt nicht von Buch zu Buch,
sondern wird inkarniert. Man hätte natürlich erwartet,
daß er, seiner sonstigen Genauigkeit gemäß, gerade
hier im einzelnen durchgeführt hätte, wie jede der
zwölf Urteilsformen sich in eine Kategorie verwandelt. Indessen,
wir werden hier von ihm im Stich gelassen und starren ratlos auf die
beiden großen Tafeln. »Wieso denn eigentlich?« fragen
wir.
Nur zwei Kategorien habe es vermocht, ihre bevorrechtigten
Forderungen bei ihm durchzusetzen : die Kausalität und die der
Substanz. Die Kausalität ist die große Kategorie der
Wissenschaft, aber auch der Ethik. Hinter der Substanz steckt noch
anderes; Schopenhauer meint, sie sei »im Grunde« dasselbe
wie die Materie, Kant hält beide nicht genügend
auseinander; es sind zwei völlig verschiedene Begriffe. Substanz
ist ein reiner Verstandesbegriff, und an ihr kann man sehr deutlich
die Entsprechung zur reinen Logik erweisen: sie entspricht
nämlich dem Verhältnis vom grammatischen Subjekt zum
Prädikat in einem assertorischen Urteil. Ich kann nur nicht
finden, daß sie einer der zwölf Urteilsformen selber
entspricht. Wenn ich eine Reihe von Aussagen über einen und
denselben Gegenstand mache, die eine Veränderung an ihm
betreffen, so kann ich das nur, weil ich vorher (a priori) die
Kategorie der Beharrlichkeit, also der Substanz angewandt habe. Ich
sage über einen Baum im Laufe eines Jahres lauter verschiedene
Wahrnehmungsurteile aus, die aber immer den Begriff Baum als Subjekt
haben und zugleich damit die Beharrung des Gegenstandes
gegenüber seinen wechselnden Qualitäten behaupten. Die
Substanz wird niemals Prädikat, sie dauert vielmehr als
ständiges Subjekt gegenüber allen nur möglichen
Prädikaten durch. Ohne sie kann ich von keiner Veränderung
an einem Gegenstande reden. Diese Beharrung hat nun gar nichts mit
der Konstanz der Materie oder der Erhaltung der Energie zu tun; jene
werden gewogen oder gemessen, diese gedacht. Man wir auch sofort
heraushören, daß von etwas ganz anderm die Rede ist, wenn
ich sage »die Substanz des Baumes« oder »die Materie
des Baumes«. Von der Substanz des Baumes kann ich nur gerade
eben solange reden, als das Subjekt als geformter Gegenstand da ist;
solange also wie der Baum noch nicht völlig verfault und in
Humus übergegangen ist, kann ich von ihm, also auch von seiner
Substanz reden. Von dem Augenblicke an, da er seine Form an die
Materie zurückgegeben hat, greift eben sie ein, die keine
Kategorie ist, sondern als »allgemeiner Gegenstand der
Empfindung« das Element der Schwere, der Unzerstörbarkeit
und Undurchdringlichkeit als Prädikabilien enthält.
Jener Schwierigkeit aber, zu deren Behebung sich KANT so
ausschweifende Mühe gegeben hat, nämlich der Frage:
»Wie ist es möglich (da es doch wirklich ist), daß
unser Denken Gesetz für die Erfahrung wird?«, was er also
die »transzendentale Deduktion der Kategorien« nannte,
jener Schwierigkeit kann man auf leichtere Weise begegnen, indem man
sagt: die Natur selber hat den Intellekt in zwei
Aggregatzustände gespalten und durch diese Verflüssigung
des Verstandes im Intellekt den Erkenntnisprozeß ihrer selbst
als Erscheinung eingeleitet. Es ist daher wohl ein unfaßliches
Wunder, daß es so ist; aber es ist kein Rätsel mehr,
daß gewisse Gebiete der reinen Logik jenen Stammbegriffen der
anschaulichen Welt genau entsprechen. Denn sie sind ja aus demselben
Material, dem Intellekt, gemacht, »durch den alles
geschieht«. Wie sollte es da anders sein? - Aber man darf
freilich nicht so verfahren, wie Kant und Schopenhauer - sonst sieht
man es nämlich nicht -, daß man Verstand und Vernunft, der
eine richtig, der andere falsch, bloß begrifflich trennt und
auf dem Papier nebeneinander hinschreibt; sondern man muß
zeigen, welches von den beiden den Dingen näher steht - was
natürlich nur bei der richtigen Trennung Schopenhauers geht -,
welches von beiden voller gesogen ist von der Substanz der Dinge. Nur
so entsteht ein gerichtetes, ja aufgerichtetes Bild der Welt mit
einer Achse der Natur.
2. SCHOPENHAUERS VERDIENST UM DIE LOGIK
Hier treffen wir unmittelbar auf Schopenhauers großes Verdienst
um die Ordnung des Intellektes: seine Trennung von Verstand und
Vernunft. Es ist begreiflich und zu billigen, wenn die akademische
Philosophie der Seminare und Dissertationen Schopenhauers Pessimismus
nicht mitmacht, weil das seine Sache ist, nicht die der Philosophie;
es ist auch zu billigen, wenn sie seine Anwartschaft, Kants
eigentlicher Schüler zu sein ablehnt, einfach deshalb, weil
dieser Anspruch verfehlt ist. Aber es ist unbegreiflich, daß
man dasselbe auch mit jener Trennung tut, hinter der offensichtlich
der Stempel der Natur steht; denn erst nach ihr kann man zupacken und
greift nicht ewig ins Leere. Zudem ist das alles so vorzüglich
geschrieben, daß es schwer fällt, davon zu berichten; denn
man kann es allemal nur schlechter. Die Hauptstellen darüber
befinden sich in der »Vierfachen Wurzel des Satzes vom
zureichenden Grunde«, und zwar in dem Abschnitt »Der
Verstand«; ferner im ersten Kapitel »Das Sehen« in der
Farbenlehre, aber auch sonst allenthalben verstreut in seinen Werken;
denn er kommt immer wieder auf dieses wichtige Grundthema
zurück.
Ein Sinneseindruck, z. B. des Auges - meint Schopenhauer -, ist
zunächst nichts anderes als ein Reizzustand der Retina, der nur
Bezug auf den Willen hat, sofern er angenehm oder unangenehm ist, und
von dem auch noch gar nicht ausgemacht werden kann, ob er endogener
Natur sei oder von außen kommt. Erst dadurch, daß dieser
Reiz als Wirkung aufgefaßt wird, dem ein Gegenstand
außerhalb als Ursache korrespondieren muß, erst dadurch
entsteht die objektive Außenwelt der Wahrnehmung. Das geschieht
aber nicht vermittels des Satzes vom Grunde, indem diskursiv,
abstrakt mit der Vernunft geschlossen wird, sondern unmittelbar ohne
Worte durch den Verstand, der so handelt, als ob er schlösse.
Wir sehen hier ganz handgreiflich das Spiel zwischen Denkgesetz und
Kategorie, wobei die Kategorie sich durchsetzt. Die Kausalität
ist daher ständig am Werke und beginnt schon im bloßen
Akte der Wahrnehmung von etwas außer mir. Als schönes
Beispiel gibt Schopenhauer das Verhalten des menschlichen
Säuglings, der in den ersten Monaten seines Daseins nur
Sinneseindrücke empfängt und die Augen passiv je nach der
Richtung ihres Einfallens spielen läßt. Doch eines Tages
fixiert er: er hat jene sonderbaren Reize als Boten von
äußeren Gegenständen verstanden; sein Verstand (nicht
seine Vernunft) ist erwacht, und er lächelt das erste Mal ob
dieses siegreichen Gelingens. Hier schließen sich nun
Schopenhauers völlig überzeugende Theorien an über das
Aufrechtstellen des umgekehrten Netzhautbildes, das Einfachsehen
trotz doppelten Bildes, das stereoskopische Sehen trotz
planimetrischer Eindrücke, ferner die über die
Sinnestäuschungen, vor allem die scheinbare
Vergrößerung des Mondes am Horizont, welches alles
durchweg als Aktion des Verstandes erklärt wird unter
Ausschluß aller physiologischen Begründungen. »Die
reine Intellektualität der Sache, mit Ausschließung aller
anderweitigen, namentlich physiologischen Erklärungsgründe,
läßt sich auch noch dadurch bestätigen, daß,
wen man den Kopf zwischen die Beine steckt oder am Abhange, den Kopf
nach unten, liegt, man dennoch die Dinge nicht verkehrt, sondern ganz
richtig erblickt, obwohl den Teil der Retina, welchen gewöhnlich
das Untere der Dinge traf, jetzt das Obere trifft, und alles
umgekehrt ist, nur der Verstand nicht« (Sperrung von mir). Man
kann wohl sagen: SCHOPENHAUER hat all diese Fragen einfach
gelöst; sie stehen aber noch heute als »Frage« und
»Rätsel« in allen Lehrbüchern der Physiologie der
Sinnesorgane.
Besonders schön kommt die Aufspaltung von Verstand und Vernunft
bei Gleichheit ihres intellektuellen Wesens dort zutage, wo er sagt:
Die Vernunft, die eine Sinnestäuschung klar als solche erkennt,
überzeugt doch den Verstand nicht, der hartnäckig bei
seinem einmal gefaßten Urteil bleibt und den Mond über dem
Horizont weiterhin zu groß erscheinen läßt. Vernunft
kann nur Vernunft überzeugen; der Verstand bleibt beharrlich in
seiner Position. Er macht Fehlschlüsse, die man
»Schein« nennt; die Fehlschlüsse der Vernunft aber
heißen »Irrtum«.
Das ist bei Schopenhauer alles mit solcher Klarheit gefaßt,
daß im wesentlichen nichts hinzugefügt werden kann und es
das volle Entzücken jedes erregt, der es liest. Freilich
drängt sich immer wieder zwischendurch die Tendenz hervor, die
Außenwelt zu bagatellisieren, ihr den unverbrüchlichen
Objektcharakter zu nehmen und sie als ein »Produkt« des
Verstandes darzustellen; Worte wie »Gehirnphänomen«
dürften eigentlich nicht fallen, auch »Werk des
Verstandes« ist nicht treffend; denn allemal fällt dem
Verstande nur eine deutende, nie aber eine schaffende Rolle zu, und
immer kommt das Objekt selber vollgiltig von außen. Hier wird
nicht projiziert, sondern verstanden. Besonders aber ist es eine
Überschätzung der Funktion des reinen Verstandesbegriffes,
wenn SCHOPENHAUER ihm zutraut, daß er »nach erlangter
Übung die Gestalt (Sperrung von mir), Größe,
Entfernung und Beschaffenheit der Körper konstruiert und
sogleich anschaulich darstellt« (S. 54 der zweiten Auflage).
Wiederholt behauptet er, dieser sein Verstand, dessen alleinige
Funktion das Gesetz der Kausalität sei, »konstruiere die
Gestalt« eines Gegenstandes. »Aus dem Geruch können
wir nie die Rose konstruieren«, meint er Seite 53, wohl aber an
Hand des Gesichtes durch den Verstand - Es ist nahezu unbegreiflich,
daß solch ein klarer Augenmensch wie Schopenhauer, der einen
präzisen Sinn für das Ursprüngliche der Gestalt hat,
der das Dritte Buch der »Welt als Wille und Vorstellung«
über die platonische Idee geschrieben hat, wie solch ein Mensch
behaupten kann: aus optischen Eindrücken könne das
bloße Gesetz der Kausalität, also der Verstand, eine Rose,
das heißt also eine spezifische Naturgestalt
»konstruieren«! Das ist eine unvollziehbare Vorstellung
ähnlich der Entstehung eines Organismus aus Urgallerte und
äußerer Einwirkung. Wir stecken hier tief in den
Absurditäten des »deutschen Idealismus«, der
Intellekt-Funktionen für Ideen hielt, und es wird höchste
Zeit, dem echten, dem platonischen, wieder das Wort zu geben. Denn
Schopenhauer mit seinem gestaltenschaffenden Verstande hat falsche
Stromrichtung.
3. DIE ENTDECKUNG DES EMPIRISCHEN BEGRIFFES DURCH SOKRATES
Das Gespräch zwischen Sokrates und Theätet war an der
Stelle ins Stocken geraten, an der es sich um die Möglichkeit
»falscher« Vorstellungen« handelte, die doch
unmöglich wären, wenn Erkenntnis nichts anderes sei als
Empfindung ((aisthsis)). Nun sind diese falschen Vorstellungen aber
wirklich, das bezweifle niemand, und also könne jene These nicht
stimmen. SOKRATES will dem ratlos gewordenen Theätet auf die
Sprünge helfen und ihm klarmachen, daß eine falsche
Vorstellung nur durch ein begriffliches Element möglich sei, das
selber niemals bloße Empfindung sein könne, gerade deshalb
aber Maßstab. Und er kommt ihm mit dem weltberühmten
Gleichnis von der »wächsernen Tafel« ((khrinon
ekmageion)) zu Hilfe, die man später auch die tabula rasa
genannt hat, indem er sagt:
»Denke dir denn der Untersuchung wegen, es sei in unserer Seele
eine wächserne Tafel, bei dem einen größer, bei dem
andern kleiner, bei dem einen von reinerem, bei dem andern von
schmutzigerem, bei manchen von härterem, bei manchen von
weicherem Wachs, bei manchen aber auch im Mittelmaß. Sie sei
also, wollen wir sagen, ein Geschenk der Mutter der Musen, der
Mnemosyne, und auf ihr präge sich ab ((apotupousthai)), was wir
in unserem Gedächtnis behalten wollen von Dingen, die wir
gesehen, gehört oder selbst gedacht haben, indem wir sie der
Einwirkung der Empfindungen und Gedanken hingeben, gerade wie wenn
man mit Siegelringen Siegel irgendwo einprägt ((osper daktulion
shmeia eshmainomenous)). Und was sich da ausgeprägt hat, dessen
erinnerten wir uns und wüßten es, solange das Abbild davon
da wäre ((to eidolon auton)). Was aber verwischt wird oder nicht
imstande ist sich auszuprägen, das komme in Vergessenheit, und
wir wissen es nicht.« (PLATON, Theätet, Steph. 191.)
Diese »Abdrücke« nun haben in dem folgenden die
charakteristischen Bezeichnungen: ((shmeia, mnhmeia, tupos)), und
Sokrates will natürlich hier auf jenes begriffliche Element
hinaus, das erst einmal da sein muß, um überhaupt die
Möglichkeit einer »falschen Vorstellung« und einer
»Verwechselung« zu geben. Das eben leistet nur der
empirische Begriff, der exakt ist, daß man von richtig und
falsch reden kann. Hier liegt das Anliegen des SOKRATES und zugleich
seine Entdeckung. »Nicht wahr, indem ich den Theodoros kenne und
seines ußeren in meinem Innern mich erinnere, und
ebenfalls den Theaitetos, sehe ich sie doch bisweilen, bisweilen auch
nicht, betaste sie manchmal, manchmal auch nicht, höre sie oder
mache irgend eine andere Wahrnehmung von ihnen, manchmal aber habe
ich gar keine Wahrnehmung von euch, erinnere mich jedoch eurer
nichtsdestoweniger und bin mir dessen in mir bewußt?«
Dieses Sicherinnernkönnen ist das begriffliche Element im
Erkenntnisprozeß, das nicht aus den Sinnen stammt und durch
dessen Dasein »falsche Vorstellungen« überhaupt erst
möglich werden, aber auch, und das ist seine Funktion, jede
Verwechslung ausgeschlossen werden kann.
Es fragt sich nun, welcher Herkunft ist dieses begriffliche Element,
das wir die exakte Signatur der Dinge nannten? Es fehlt ja im
platonischen Denken noch der Begriff des Transzendentalen, und die
Sache sieht so aus, als kämen jene Eindrücke, genannt
»typoi«, von den empirischen Dingen, und die wächserne
Tafel hätte die Funktion einer photographischen Platte. Aber so
ist es nicht gemeint; denn eine Reihe von Abdrücken
hintereinander würde immer nur hnlichkeit - approximativ -
ergeben, nie aber exakte Signatur, nie Begriff. Das, was KANT das
»Verbundensein im Objekt« nennt, die
»Giltigkeit«, das käme nie heraus. Die wächserne
Tafel erweckt noch den Anschein der Passivität, während in
Wirklichkeit von ihr aus, wenn man das transzendentale Subjekt hinter
ihr lauernd sich vorstellt, ein aktiver Zugriff erfolgt, der die
Allgiltigkeit der typoi zur Wirkung hat und sie der Logik
einverleibt; das wäre KANTs »Produktivität des
Verstandes«. Der Typus muß also aus der Tiefe des
Archetypus stammen, dann hat er transzendentale Befugnis, dann
wurzelt er im Objekt, dann ist er gesichert. Und so hat es Sokrates
zweifellos auch gemeint; denn nur das ist empirischer Begriff, was
die Idee zum Hintergrunde und Achsenpartner hat; und nur deshalb gibt
es Wahrheit, weil der Begriff aus diesem Reiche stammt. An diese
Stelle kommt unser wichtiger Satz zu stehen, den ich wiederhole: Die
platonische Idee hat die doppelte Funktion: sie sichert den Bestand
und das wirkliche Dasein der empirischen Dinge; durch sie allein wird
der Kiefer ihre Existenz als Kiefer verbürgt für alle Zeit;
zugleich aber schafft sie allein den empirischen Begriff im Intellekt
am andern Achsenpol.
Schopenhauers »Rose« aber wird keineswegs durch
Sinneseindrücke des Auges und kausalen Verstand
»konstruiert«, sondern durch jenen Abdruck, der gleich als
ein Ganzes von der platonischen Idee der Rose her im Intellekt
auftritt und ihm aufgenötigt wird. Alles, was Gestalt ist, wird,
über das Bild hinweg, dem Verstande schlechterdings gegeben;
hier steckt auch nicht der leiseste Schluß darin. Ein Maler,
der das liest, wird mir ohne weiteres recht geben; die Denker aber
müssen vorher erst kuriert werden, damit sie endlich lernen die
Augen aufzutun.
So aber muß man aus einzelnen Fragmenten die platonische
Ideenlehre wiederherstellen, um genau zu wissen, was Platon damit hat
meinen müssen, wenn er auch anders und verworren darüber
spricht. In dieser Theätet-Stelle tritt sie am klarsten zutage,
und von ihr kann er nicht mehr zurück. »Typos«
heißt »Aufschlag« - wir fragen: Aufschlag von was
...? Und müssen antworten: nicht von den empirischen Dingen -
denn das gäbe nur hnlichkeit -, sondern durch sie hindurch
schlägt aus der Tiefe der Natur her der »Archetypus«
an, der das »eigentliche Sein« des Dinges ist, und dadurch
allein bekommt der Aufschlag in der wächsernen Tafel
transzendentalen Rang: er ist der Begriff ((eidos, orismos)) des
Dinges und hat die Art einer exakten Signatur; richtig gebraucht aber
hat er die Fähigkeit, etwas vom Wesen selber her auszusagen
((idea, ousia)), eben, weil er davon stammt. Die Idee selbst aber ist
metaphysisch, und von ihr kann man nichts aussagen, außer
daß sie mit Notwendigkeit existiert.
Schopenhauers sonst richtig gefundenem Begriff vom Verstande aber
muß, damit er vollständig werden und nicht hinke, eben
noch die Funktion hinzugefügt werden, den aus dem archetypischen
Arsenal der Natur heraufkommenden Ideenkräften begriffliche
Festigung zu geben, so daß sie nunmehr als empirische Begriffe
konkret in der anschaulichen Welt auftreten können und gleich
darauf abstrakt in der begrifflichen. Die spezifische Gestalt der
Rose aber trägt autonomen Charakter und läßt sich
nicht aus der Sinnesempfindung und der Kategorie der Kausalität
ableiten. Erst hier kann man eigentlich in der Erkenntnistheorie von
»Idealismus« reden; denn hier tritt eine wirkliche
archetypische Idee auf. Der ganze Verstand aber ist , wie wir schon
früher erfuhren, stets sprungbereit für die Abstraktion,
das heißt für die Vorstellung in Vernunft durch
bloßen Übertritt in den zweiten Aggregatzustand des
Intellektes. Da wird denn aus dem konkreten - mit der anschaulichen
Welt »zusammengewachsenen« - Begriff der Rose, der an ihr
Bild gebunden ist und den man nicht bemerkt, der abstrakte
(«abgezogene«), mit dem man denkt; und aus der Kategorie
der Kausalität, die gleichfalls unbewußt ist , wird das
Denkgesetz des Satzes vom Grunde, der es niemals ist. Und so erhalten
wir auf eine einfache Weise die Deduktion der Kategorien, wenn man
den Weg nicht, wie Kant das tut, von der Vernunft zum Verstande,
sondern umgekehrt vom Verstande zur Vernunft begeht.
4. DAS PHNOMEN DER »AGNOSIE«
UND SEINE ERKENNTNISTHEORETISCHE BEDEUTUNG
SCHOPENHAUER schreibt Seite 57 des »Satzes vom Grunde«
(zweite Auflage): »Denn, was beim Sehen die Empfindung liefert,
ist nichts weiter als eine mannigfaltige Affektion der Retina, ganz
ähnlich dem Anblick einer Palette, mit vielerlei bunten
Farbenklexen: und nicht mehr als dies ist es, was im Bewußtsein
übrig bleiben würde, wenn man dem, der vor einer
ausgebreiteten reichen Aussicht steht, etwa durch Lähmung des
Gehirns plötzlich den Verstand ganz entziehen, jedoch die
Empfindung übriglassen könnte: denn dies war der rohe
Stoff, aus welchem vorhin sein Verstand jene Anschauung
schuf.«
Dieses gedankliche Experiment ist hundert Jahre später durch
praktische Fälle bestätigt worden, die in der Medizin den
Namen »Agnosie« tragen; sie entstehen durch
Schußverletzung und stets zufällig. - Ein mir befreundeter
Arzt erzählte mir, daß er vor kurzem einem alten
Kriegskameraden begegnet sei, der ihn auf den ersten Anhieb nicht
recht habe erkennen wollen. Er fragte ihn daher erstaunt:
»Kennst du mich denn nicht mehr ... ?« »Ja, jetzt
doch«, erwiderte jener, »aber du mußt wissen: ich bin
blind.« Da indessen die Augen ganz ungetrübt aussahen und
jenen hilflosen Blick der Blinden vermissen ließen, so fragte
mein Bekannter weiter und bekam die Auskunft: ein Schuß quer
durch die Unterseite des Gehirnes habe auf beiden Seiten gewisse
Zentren am Ende des nervus opticus zerstört, so daß er
zwar die Licht- und Farbeindrücke habe, sie aber nicht verstehe;
so erkenne er von ihm, seinem Freunde, rein gar nichts, sondern habe
nur vage Empfindungen von hellen und dunklen Flecken. Daß er
Dr. B. sei, das schlösse er aus der Stimme.« - Das ist also
ganz genau der von Schopenhauer theoretisch beschriebene Fall: dem
Verwundeten ist der Verstand des Auges fortgeschossen worden; die
Vernunft blieb voll erhalten. Und zwar erfahren wir hier durch das
Experiment, daß offenbar jedes Sinnesorgan seinen eignen
Verstand hat; denn mit dem Ohr hört er ja artikulierte Laute,
die er als Worte versteht. Genau so also wie bei dem früher
erwähnten Tierexperiment von Flourens durch Exstirpation
gewisser Hirnlappen die besondere Lokalisierung der Sinnesempfindung
gegenüber dem Intellekt bewiesen wurde, so hier noch einmal die
Trennung des Intellektes in Verstand und Vernunft durch besondere
Zentren. - Wenn daher so die Natur mit ihren kräftigsten Mitteln
darlegt, wie sie es zu halten wünscht, und wenn sie es so
deutlich sagt, daß Sinnesempfindung, Verstand und Vernunft drei
völlig klar geschiedene Dinge sind: so darf die Philosophie
nicht so tun, als wisse sie es besser und könne ex cathedra
erklären: »Verstand ist das Vermögen der Regeln«
(KANT), »Vernunft ist das Vermögen der Ideen« (KANT)
usw. Schopenhauers bedeutender Blick aber hat hier den Sieg davon
getragen, und das bleibt sein unsterbliches Verdienst.
5. KANTS LEHRE VOM »SCHEMA« DER DINGE
Indessen, auch Kants begrifflich getrübte Einsicht hat hier ein
Wort mitzureden, das aber freilich haarscharf an einer sich eben
meldenden Achsengründung vorbeigeht. Ich meine das seltsame
Kapitel über die »transzendentale Urteilskraft« und
den »Schematismus« der reinen Verstandesbegriffe in der
»Kritik der reinen Vernunft«. Es ist ein schnell wieder von
ihm verlassenes Thema, wie als ob ihm dabei unheimlich zumute
geworden wäre. Man muß diese Seiten, wie so oft bei ihm,
mehr mit einer Art Gedankenlesekunst in sich aufnehmen als in
achtsamem Verfolg von Satz zu Satz, wie es die notorischen
Kant-Scholastiker tun. Ich komme dabei zu folgender Auffassung:
alles, was vor und nach diesem Kapitel in der K.R.V. steht,
beschäftigt sich mit Formen des Intellektes und der
Sinnlichkeit, über die ein jeder ohne weiteres verfügt ohne
daß er es zu wissen braucht. Auf einmal aber stoßen wir
auf diese »Urteilskraft«, von der Kant ausdrücklich
sagt, daß sie nicht jedermann habe, daß sie eine Art
»Mutterwitz« sei, über den der eine verfüge und
der andere nicht. Was soll das in der »Kritik der reinen
Vernunft«? Wie kommt auf einmal dieses: »Hic Rhodus, hic
salta!« hinein? Für einen kurzen Moment befinden wir uns in
einem Kraftbereich der Erkenntnis, und es ist aus mit den reinen
Formen. Welcher verständige Leser hat je diese Seiten
überflogen, ohne nicht zu sagen: »Uff!«? Ich glaube,
alle, denn sonst hätte sich schon früher jenes erstaunte
Gefühl der Beklommenheit geltend gemacht, das uns hier ergreift.
Für uns erhebt sich gleich die Frage: Woher stammt diese
»Kraft«, die sich in dem Worte »Urteilskraft«
meldet? Sie ist nämlich hier kein bloßes Wort wie etwa in
Einbildungskraft«, die mit sich selber spielt, ohne wirklich
Kraft zu sein. Die Urteilskraft dagegen ist eine wirkliche Kraft;
denn sie hat die gar nicht leichte Aufgabe, den Akt der Subsumtion zu
vollziehen, an dem im kritischen Falle, oft alles hängt. Ich
will es vorwegnehmen und sagen, was ich darüber denke: diese
echte Kraft muß von den Objekten stammen und zum Subjekte
hinführen und hat in diesem ganzen Gebäude von reinen
Formen des Intellektes und der Sinnlichkeit nichts zu suchen. Sie
springt heraus, aber sie springt in Richtung der Achse der Natur.
Und, um diesem Gedanken auszuweichen, hat Kant schnell wieder die
Akten über sie geschlossen. Er hat einen wahren horror vor einem
echten Weltbild, das Perspektive hat. Dann aber läßt es
ihm keine Ruhe, und er schreibt ein neues Buch, das der
ästhetischen und teleologischen Urteilskraft gewidmet ist:
spezialisierten Formen der ursprünglich transzendentalen; auch
eine moralische gibt es noch, wie wir früher sahen.
Das alles also ist Kraft und nicht Intellekt, kommt vom Objekte und
stößt in Richtung auf das Subjekt zu - nicht umgekehrt -,
trifft einzelne und nicht alle. Hier hat das kantische Weltbild einen
Sprung; aber man bekommt durch ihn einen Blick nach außen, dem
Objekte zu.
Es geht nun weiter: Subsumtionen gibt es zweierlei, die eine von
einem empirischen Begriff unter einen andern; die zweite von einem
empirischen unter einen reinen Verstandesbegriff. Da bei dieser
zweiten nun die beiden Faktoren keinerlei hnlichkeit
miteinander haben, so muß, damit die Subsumtion vollziehbar
wird, es etwas Drittes geben, über das hinweg sie sich
vollziehen kann. »Nun ist es klar, daß es ein Drittes
geben müsse, was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit
der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß und die Anwendung
der ersteren auf die letze möglich macht. Diese vermittelnde
Vorstellung muß rein (ohne alles Empirische) und doch
einerseits intellektuell, andererseits sinnlich seyn. Eine solche ist
das transzendentale Schema« (K.R.V., S. 177, 2. Aufl.).
Es ist der »sinnliche Begriff eines Gegenstandes« - also
eigentlich ein Widerspruch in sich selbst - und ein rätselvolles
Gebilde: Durch das Schema wird das platonische Wort »eidos«
noch einmal kurz bestrahlt, das ja auch halb Bild, also sinnlich,
halb Begriff, also intellektuell ist, und man merkt hier, daß
Kant für einen Augenblick den Erkenntnisprozeß gesehen
hat, nämlich das Sich-Abheben des Begriffes vom empirischen
Gegenstande. Das Schema liegt gerade genau an der Stelle, die den Ort
der Entstehung des Begriffes bezeichnet; hier schiebt es sich ein,
wie als ob die Natur für einen Augenblick ihren Gang von der
Idee zum Begriff- wohl ein schmerzlicher - hemmen wollte, um schnell,
ehe der Weg zur Abstraktion mit Riesenschritten begangen wird, den
paradiesischen Vorrang der anschaulichen Welt noch einmal zu
sichern.
Ich glaube nun, um das Ergebnis vorwegzunehmen, nicht, daß es
Schemata von reinen Verstandesbegriffen gibt, sondern nur von
empirischen Dingen. Diese aber muß man zu den großen
Entdeckungen Kants rechnen; denn niemand vor ihm hat sie gesehen. Es
gibt ja auch keine Ideen von Kategorien., sondern nur von
Naturgeschöpfen, und zwar aus dem gleichen Grund. Ich vermag
nicht einzusehen, wozu sich ein solches Schema beim Akte der
gewöhnlichen Subsumtion dazwischenschalten sollte: es ist gar
kein Patz da. Wenn es regnet, so ist hier in der anschaulichen Welt
der empirische Vorgang ohne weiteres von der Natur - die sich in
einem ständigen Erkenntnisprozeß befindet - unter das
Gesetz der Kausalität und der Substanz sowie der anderen
Kategorien gestellt, sonst verstünde ich den Vorgang nicht. Die
Natur subsumiert von allein. Sage ich nun in einem Urteil: »Die
Regentropfen fallen wegen ihrer Schwere zur Erde« und subsumiere
damit die Tropfen gedanklich unter die Kausalität, so geschieht
das gleichfalls ohne Zwischenglied, nur habe ich anstelle des
konkreten Begriffes Tropfen den abstrakten benutzt und den -
gleichfalls abstrakten - Wissenschaftsbegriff der Schwere
hinzugefügt. Auch hier ist kein Raum für ein Schema. Und
wenn man sich KANTs »Schemata der reinen
Verstandesbegriffe« bei Licht besieht, so, finde ich, sind das
nichts weiter als deren Definitionen, erzielt durch analytische
Urteile, z. B. »Das Schema der Substanz ist die Beharrlichkeit
des Realen in der Zeit« usw.
Aber: als ISAAK NEWTON zum ersten Male sagte: »Die Tropfen
fallen durch ihre Schwere zur Erde« und dabei mitdachte,
daß der Mond dieser selben Schwere unterliegt, aber nicht
fällt, da war das Schema der Schwere mit im Spiel. Indessen,
diese Subsumtion war keine von einem empirischen Gegenstande unter
eine Kategorie, sondern es war eine paradoxe zwischen zwei
empirischen mit genialem Inhalt. Ich meine die gewöhnliche
irdische Schwere und die Gravitation, die auch empirisch ist, aber
zugleich transzendental.
KANT hatte also durchaus die rechte Witterung, nur bezog er sie
falsch; und sie kommt durch seine späteren Worte klar und
schön zum Ausdruck, wenn er schreibt: »Dieser Schematismus
unseres Vertandes, in Ansehung der Erscheinungen und ihrer
bloßen Form, ist eine verborgene Kunst in den Tiefen der
menschlichen Seele (Sperrung von mir), deren wahre Handgriffe wir der
Natur schwerlich jemals abrathen, und sie unverdeckt vor Augen legen
werden. So viel können wir nur sagen: das Bild ist ein Produkt
des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft, das
Schema sinnlicher Begriffe (als der Figuren im Raume) ein Produkt und
gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori ..«
(K.V.R. S. 181, 2. Aufl.). Es müßte natürlich
heißen: »Monogramm der Natur in der reinen
Einbildungskraft a priori« entsprechend den »wahren
Handgriffen der Natur«. Aber davor scheut sich Kant; denn er
will »subjektivisch« bleiben und das Gitter nicht
durchbrechen, das sein Charakter ihm auferlegt. Indessen, er hat sich
bereits verraten; denn, wenn er hier von »Natur« spricht,
so meint er ganz etwas anderes als sonst, nämlich nicht das
»Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt
ist«, sondern die richtige Natur, so wie wir sie hier auch
meinen, die natura naturans. Wer spürte sie nicht wirklich an
dem ihr aufgenötigten Erkenntnisprozeß arbeiten, wenn man
solche Worte, wie die vom »Monogramm« und den »wahren
Handgriffen« liest ...! Sie hat es mit ihrer Achse zu tun, die
ihr Schicksal ist.
Das Dasein der Schemata empirischer Dinge kann man durch empirisches
Experiment beweisen, das von reinen Verstandesbegriffen nicht. Man
könnte, als eine Art Wettbewerb, siebzig Zeichnern - um die
gewohnte Zahl zu wahren - den Auftrag geben, mit so wenig Strichen
wie möglich das Charakteristische eines Tieres wiederzugeben,
das jedermann als einen Hund ansprechen müßte, und zwar
möglichst so, daß man nicht die besondere Rasse, noch gar
ein einzelnes Individuum, sondern nur den Hund überhaupt
wiedererkenne. Jeder dieser Zeichner wird unbedingt anerkennen,
daß so etwas zu machen gehe und daß es nur auf die
Begabung ankommt, wer von ihnen sich der Forderung am meisten
nähert. Alle werden irgend etwas davon erfüllen, einer
sicher wird den Preis davontragen. Und wenn man sie fragt, ob das,
was da auf dem Papier steht, erfunden ist, so wie man eine
Fabrikmarke erfindet, oder ob die Natur des Hundes hier Modell
gestanden und mitgearbeitet hat, so werden sie alle miteinander
dieses zweite sagen; denn sie sind ja Künstler. Diese Schemata
des Hundes kommen vom Hunde selbst und lagern sich in der
Urteilskraft, die hier auf einmal zugleich ästhetische und
teleologische wird, ab. Das Schema eines Dinges ist sein
charakteristisches Imaginationsminimum: ein Strich zu wenig, und man
sieht nicht mehr, daß es ein Hund ist; ein Strich zu viel, und
es ist schon Bild geworden. Wer unter den Siebzig genau diese Grenze
getroffen hat, dem gebührt der Preis. Um aber das Wort richtig
zu verstehen, muß man eigentlich Griechisch können; denn
als deutsches Fremdwort ist es verballhornt. Im Griechischen
heißt es soviel wie »die typische Art, sich zu
halten« (?xv-sxhsv), lateinisch genau wörtlich
»habitus«. Auf dem Schema beruht, ästhetisch genommen,
die Kunst der Karikatur. Jedermann kennt jene humoristische Studie,
die Wilhelm Busch, der seine ganze Kunst aus dem Schema bezog, von
Schopenhauer gemacht hat: man sieht da den alten Herrn von hinten mit
seinem großen Schlapphut in der Hand und seinem Pudel Atman
spazierengehen, und es ist an dieser Skizze so wenig wie möglich
an Strichen verschwendet. Während die übrige Malerei auf
dem vollen Bilde beruht, hat die Karikatur ihre Basis auf dem Schema;
das ist ihr Reiz und ihr Geheimnis. - Aber ich finde auch sonst in
der bildenden Kunst Verwendungen dieser Art, schematisch-schemenhaft
zu sehen. So besitze ich von dem verstorbenen Maler WALT LAURENT
einen Zyklus Schwarzweißzeichnungen mit dem Titel »Von
Mann und Weib«, worin das Aufeinanderwirken der beiden
Substanzen (nicht der »Materien«) in der Natur in eben
dieser schemenhaften Manier, aber doch schon stark nach dem Bilde zu,
meisterhaft dargestellt ist. Man bekommt dabei das Gefühl: man
kann es nicht kürzer und klarer sagen. Das so verwendete Schema
ist der Aphorismus in der bildenden Kunst. Aber natürlich: alle
diese Skizzen sind nicht etwa das Schema selber, so wie Kant es
meint, sondern dessen Niederschlag im actus demonstrandi durch die
Kunst. Derselbe Niederschlag kann durch die Wissenschaft erfolgen,
und in diesem Falle bleibt es selber ungezeichnet und nur im genialen
Vorgang der subsumierenden Urteilskraft tätig. Davon ein
Beispiel: »In der Mitte des vorigen Jahrhunderts lebte in
Darmstadt ein Chemiker, der FRIEDRICH KEKULÉ VON STRADOWITZ
hieß. Er gilt heute als ein Bahnbrecher der modernen Chemie;
denn ihm gelang es, eine Theorie von dem chemischen Bau des Benzols
aufzustellen, auf der heute das Riesengebäude der organischen
Chemie ruht. Den Grundgedanken für diese Theorie empfing er
durch eine regelrechte ÇEingebungë, über die er uns
selbst berichtet hat. Er fuhr in London auf dem Dach eines Omnibusses
und war damit beschäftigt, über seine wissenschaftlichen
Probleme nachzugrübeln. Plötzlich tauchte vor seinem
Bewußtsein ein Bild auf: ÇDa gaukelten vor meinen Augen
die Atome. Ich hatte sie immer in Bewegung gesehen, jene kleinen
Wesen; aber es war mir nie gelungen, die Art ihrer Bewegung zu
erlauschen. Heute sah ich, wie vielfach zwei kleinere sich zu
Pärchen zusammenfügten, wie größere drei und
selbst vier der kleineren festhielten und wie sich alles in
wirbelnden Ringen drehte. Ich sah, wie größere eine Reihe
bildeten und nur an dem Ende der Kette noch kleinere mitschleppten.
Ich verbrachte einen Teil der Nacht, um wenigstens Skizzen dieser
Traumgebilde zu Papier zu bringenë« (Aus dem Aufsatz
»Der Funke der Erleuchtung« von H. Graupner vom 19. Sept.
1944).
In einer Freudschen Zeitschrift glaube ich vor etwa einem
Vierteljahrhundert einmal gelesen zu haben, daß Kekulé
zu seiner Entdeckung des Benzolringes »durch« Phantasien
über Spermatozoenbewegung gekommen sei. Ich bin davon
überzeugt, daß er solche Phantasien gehabt hat, einfach
weil sie jeder hat; nur sind sie nicht der Grund, sondern bloß
die Ursache für seine Entdeckung gewesen. Denn daß sie zum
Schema wurden, das ist eben nur ihm und niemand anderm begegnet, und
dieses Schema ist der Grund, der aus dem Objekt stammt, und nicht aus
dem psychischen System. Die Kraft aber, die da wirft, ist eine
wirkliche, gesonderte, spezifische und kommt im Subjekt als
»transzendentale Urteilskraft« an. Davor aber bebte Kant
zurück.
Das geistvollste und tiefste, dabei kürzeste Gespräch, das
in dieser Sache geführt worden ist, war zweifellos das zwischen
Goethe und Schiller bei deren ersten Begegnung im Jahre 1794. Es ist
in letzter Zeit, seit der Sieg der Goetheschen Naturauffassung gegen
Darwin auf der ganzen Linie sichtbar geworden ist, schon häufig
zitiert worden, und es verlohnt sich immer, die ganze Partie in
GOETHEs Tagebuch nachzulesen; ich zitiere hier nur die unser Thema
berührende Stelle, wobei die Sperrungen von mir stammen:
»Wir gelangten zu seinem Hause, das Gespräch lockte mich
hinein; da trug ich die Metamorphose der Pflanzen lebhaft vor und
ließ, mit manchen charakteristischen Federstrichen, eine
symbolische Pflanze vor seinen Augen entstehen. Er vernahm und
schaute das mit sehr großer Theilnahme, mit entschiedener
Fassungskraft; als ich aber geendet, schüttelte er den Kopf und
sagte: Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee. Ich stutze,
verdrießlich einigermaßen; denn der Punkt, der uns
trennte, war dadurch aufs strengste gezeichnet.« (Es ist die
fehlerhafte Verwendung von »Idee« durch Kant und die
richtige, platonische, durch Goethe.) »Die Behauptung aus Anmut
und Würde fiel mir wieder ein, der alte Groll wollte sich regen,
ich nahm mich aber zusammen und versetzte: Das kann mir sehr lieb
sein, daß ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit
Augen sehe .... Wenn er das für eine Idee hielt, was ich als
Erfahrung aussprach, so mußte doch zwischen beiden irgend etwas
Vermittelndes, Bezügliches obwalten.« («Goethe«
von A. v. Gleichen-Rußwurm, Deutsche Bibliothek Berlin, Seite
265.)
Dieses Vermittelnde aber ist eben das Schema, jene »symbolische
Pflanze«, die er, genau wie wir es eben bei dem fingieren
Wettbewerb der siebzig angenommen hatten, vor seinen Augen durch
»charakteristische Federstriche« hatte erstehen lassen. Das
entspricht auch dem, was Kant im Grunde unter dem Schema verstanden
hat. Freilich mit der schwerwiegenden Berichtigung, daß es das
nur von Naturgebilden gibt und sich nur beim Entdeckungsakte meldet.
Goethes Entdeckung aber lautete: alles an der Pflanze ist Blatt; also
eine paradoxe Subsumtion.
Was in diesen langen und abwegereichen Kapiteln über die
Ordnung des Intellektes und die transzendentale Logik vorgetragen
wurde und dem Leser hart ans Gehirn ging, diente im Grunde der
Einlösung eines alten Versprechens. In irgendeiner meiner
früheren Schriften vor fast einem Vierteljahrhundert kommt die
kurze, in apodiktischer Form ausgesprochene Bemerkung vor:
»Erkenntnis ist ein Vorgang der Natur.« Da es nicht erlaubt
ist, so folgenschwere Sätze in genialischer Unbekümmertheit
hybride hinzuschreiben, ohne sich am Geiste der Philosophie zu
vergehen, so habe ich nunmehr, an der Schwelle des Alters,
nachgetragen und begründet was ich, in jünglingshafter
Laune, damals glaubte der Öffentlichkeit anbieten zu
dürfen.
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