MOTTO / DIE GRÖNLÄNDER WOHNEN AM NORDPOL DER ERDACHSE,
OHNE ES ZU WISSEN. DAS MENSCHENGESCHLECHT WOHNT AM SUBJEKTIVEN POL DER NATURACHSE,
OHNE ES ZU WISSEN. NIMMT EIN POLARFORSCHER EINEN ESKIMO MIT UND KLÄRT IHN
AUF, WAS SEINE REISE ZU BEDEUTEN HABE, SO WEISS DIESER AUF EINMAL, DASS DIE
ERDE EINE ACHSE HAT UND SICH DREHT. ER KEHRT ALS PFIFFIKUS ZU SEINEM STAMME
HEIM. ALSO KLÄRT DIE PHILOSOPHIE EINZELNE AUS DEM MENSCHENSTAMME AUF ÜBER
DIE TRANSZENDENTALE LAGE DES MENSCHLICHEN GESCHLECHTES UND DIE ACHSE DER NATUR.
WER VON DIESEM GEISTE ANGEWEHT WIRD, SETZT HÖHERES MENSCHTUM AN.
DER PLATONISCHE UMSCHWUNG IN DER PHILOSOPHIE
1. DER ANSPRUCH DER PHILOSOPHIE
Würde jemand, der die Musik nicht kennt, von den Kräften
seines Gemütes gehoben, einen andern fragen, was das sei, so
hätte der Gefragte leichtes Spiel: er brauchte nur wenige Takte
einer Melodie zu pfeifen, und im Augenblick wüßte der
Frager, woran er mit der Musik ist. Er wüßte es mit der
deutlichen und klaren Einsicht, die alles unmittelbar Aufgenommene an
sich hat. Die Musik höbe sich für ihn von nun an
unverkennbar gegen alle bloßen Geräusche ab, und
möchten sie noch so verführerisch klingen. Wanderte er
einsam nachts, und es erklänge plötzlich vom nächsten
Dorf heraus das Abendlied singender Leute, so könnte er ohne
Zweifel sagen: Das ist Musik! Hörte er nun im Walde dahinter den
Schlag einer Nachtigall, so würde er, damit kann man sicher
rechnen, einen Augenblick schwankend werden und schließlich
meinen: das sei auch Musik. »Das Wachs seiner Seele ist
getrübt«, so würde SOKRATES sagen; und der Andere
könnte ihn wohl am nächsten Tage belehren: Nein, das ist
nicht Musik! Der Schlag der Nachtigall gehört zum Jaulen des
brünstigen Rüden und zum Röhren der Hirsche; das sind
Naturlaute, die aufhören, wenn die Brunst vorbei ist. In ihnen
herrscht keine Freiheit, sie sind an den Gang der Natur gebunden; es
steckt nichts dahinter außer den wohlbekannten Kräften des
Gattungstriebes. In jedem Lied aber, das durch eine menschliche Kehle
geht, drückt sich von Grund auf anderes aus, das sich klar und
deutlich von allen Naturlauten abhebt.
Musik ist von Grund auf Kunst und arbeitet mit Instrumenten; sie hat
mit dem Nachtigallenschlag nur eben den Schall gemein. Denn es ist
doch so: spanne ich eine Saite aus Schafsdarm von bestimmter
Länge und Dicke und bringe sie zum Schwingen, so gibt es einen
Ton und zwar einen musikalischen; verkürze ich sie stufenweise
nach dem Schwingungsverhältnis, so klingen die Töne exakt
musikalisch höher, und ich vernehme unter Beifall des
Gemütes, das sich hier merkwürdig angesprochen fühlt,
den Aufstieg der Tonleiter. Lasse ich je eine Stufe aus, so entsteht
durch den Zusammenhang zweier Töne ein Akkord, bei dem sich mein
ästhetisches Wohlgefallen steigert. Das ist das Alphabet der
Musik, das zu buchstabieren noch keines Musikers bedarf. Im Moment
aber, da eine Melodie erklingt, hat jemand in die Substanz der Musik
eingegriffen und etwas von ihren Schätzen freigelegt. Mag es
sich nun um ein Kinderlied handeln oder um das Thema einer Sonate
samt seinem Gegenspiel: jedes Intervall ist durch ein
Zahlenverhältnis bestimmt, das so und nicht anders ist; die
Mathematik hält ihr Wort, wo immer Musik erklingt. - Und dennoch
hat der Meister, der die Melodie erfand, aus Freiheit gehandelt.
Diese kann ihm durch das Gesetz der Zahl nicht genommen werden, ja,
sie ist sogar nur mit diesem Gesetze da. Das ist die Entdeckung der
Pythagoräer. Wir verstehen aber hier unter Freiheit dasselbe,
was in der Ethik damit gemeint ist, nur daß sie hier ein
anderes Thema hat. Die Freiheit hebt im Gemüte des Musikers in
dem Augenblicke an, da dieser eine Melodie erfindet; das aber
bedeutet für ihn seine größte Seligkeit. Aber schon
beim ersten Summen, da sie kaum geboren ist, befolgt er das
Zahlengesetz, das verwickelt wird, wenn die Melodie sich mit den
Sätzen der Harmonie umkleidet. Der Musiker überträgt
seine Phantasie auf Instrumente teils, indem er sie anschlägt,
teils, indem er singt, denn auch die menschliche Kehle ist
während des Gesanges Instrument und nicht Trieborgan wie die
Vogelkehle. So kommt zugleich mit dem geheimen Zahlengesetz die
Freiheit über die Singenden und über jeden, der
zuhört; denn die Musik ist unwiderstehlich. »O
göttliche Musik! Nun ist seine Seele entzückt! - Ist es
nicht seltsam, daß Schafdärme die Seele aus eines Menschen
Leibe ziehen können ...?«, so läßt SHAKESPEARE
in »Viel Lärm um Nichts« den sonst einfältigen
Benedikt von Padua in einen wahrhaft erleuchteten Augenblick geraten.
Der hatte eben gespürt, daß mit der Musik am Weltgeheimnis
gerührt wird und daß hier die Macht liegt, die sie
über die Menschen ausübt. Und es ist ein wahres Glück,
daß hier keine Antwort gegeben, vielmehr eine ständige
Frage gestellt wird. Im Hintergrunde dieser Szene aber taucht die
Philosophie auf.
Ist hiermit dem Wunsche unseres Neugierigen Genüge getan, der
wissen will, was Musik sei? Wir erinnern uns: er bekam zuerst als
Antwort eine Melodie ins Ohr; wir würden, wenn es sich um das
Auge handelte, sagen: eine anschauliche Erkenntnis, die ganz
unmittelbar einleuchtend und fraglos schien wie alle Anschauung.
Dann, als er die Nachtigall hörte, wurde er verwirrt, erlag
einer Ohrentäuschung und hielt es für Musik. Das tut er
hoffentlich jetzt nicht mehr, nachdem schließlich Shakespeare
zu Worte kam. Indessen: er weiß ja bis jetzt nur mit
Sicherheit, was Musik nicht ist, nicht aber, was sie ist. Sollte hier
nicht jene andere Erkenntnisart Dienste leisten, die abstrakte, die
aus der Vernunft? Das heißt also, eine Definition? Wem fiele
hier nicht die gelungenste von ihnen ein, die wahres Aufsehen
erregte, weil sie Funken sprüht: »Musica est exercitium
animae mathematicum nescientis se numerare«. Hier spürt man
doch, bei diesem Satz des LEIBNIZ, die Vernunft förmlich in die
Höhe schießen und sich im eignen Glanze sonnen! Denn diese
Definition ist in der Tat vollkommen richtig und von
aufwühlender Klarheit: »..die zählende Seele, die
nicht weiß, daß sie zählt...« und dabei
offenkundig Musik treibt. Aber hat man schon einmal den Humor
herausgehört, der in diesen Worten steckt, ja fast den Betrug?
Denn es wird ja hier nur von der subjektiven Seite gesprochen, die
Substanz der Musik selber aber, von der ja eigentlich die Rede sein
sollte, verschweigt sich dabei von selbst. Im Wörtchen
»est« der Definition steckt der Kobold, der aus ihr
herausschaut.
Wenn aber auch dreist der Weg über die Definition nicht recht
zum Objekt kommt und wenn auf der anderen Seite das anschauliche
Beispiel nicht frei ist von möglicher Sinnestäuschung:
immerhin, man weiß ziemlich genau, was Musik ist, man kennt
sie, denn sie meldet sich täglich und rührt ans
Weltgeheimnis, zu dem jedermann eine so oder so mißratene
Beziehung hat. Und, um sich überhaupt als Musik erkenntlich zu
machen, dazu bedarf sie nur des Pfeifens einer Melodie. Fragte nun
aber jemand - und darauf kommt es uns an -, was Philosophie sei und
drängt auf Antwort: da pfeif einmal einer! Es gelingt hier gar
nicht, durch einen anschaulichen Akt die Sache so hinzustellen,
daß ein jeder gleich und dann für immer sagen kann: Ha,
das also ist Philosophie! Man könnte daher an ihrer
Einheitlichkeit und Bestimmtheit zweifeln. Das Altertum, in welches
noch dazu ihr bisher tiefster Gründungsakt fiel, tat das sogar,
denn »philosophein« hieß nichts anderes als
»Wissenschaft treiben«. PERIKLES rühmt in seiner Rede
auf die Gefallenen von Athen: »Wir treiben Wissenschaft ohne
Verweichlichung, und wir lieben das Schöne mit Maß«.
Und was man in unserer Zeit unter einer »Philosophischen
Fakultät« alles begreift, darüber schweige man lieber.
Die Ontologen gehören genau so zu ihr, wie die Etymologen und
die Entomologen; man sieht, wie das im Gestrüpp verendet.
Dennoch besteht ein Anspruch, daß die Philosophie sich deutlich
und unverkennbar abhebe wie die Musik von den Geräuschen und
auch von den lieblichsten Lauten der Natur. Daß es also nicht
so etwas gäbe wie
»philosophisch-naturwissenschaftlich«,
»philosophisch-religiös« und dergleichen zitternde
Zwischengebilde, sondern eben die Philosophie ganz und klar,
ständig sie selbst und unverwechselbar, so daß jeder, der
diese ihre bestimmte Sprache redet und diese ihre Denkart (nicht
»Denkungsart«) hat, damit Herrschaft und Gewalt antritt
über die Wurzeln aller Wissenschaften, ja über die Wurzeln
des menschlichen Lebens.
Wie ein Kirchenlied dazu da ist, Frömmigkeit zu erwecken - und
die wenigen guten es wirklich tun -, so ist die Philosophie dazu da,
Weltüberlegenheit zu schaffen, doch nicht »nescientis se
cogitare«. Aber ein Kirchenlied klingt - und kann gewaltig
klingen -, und Philosophie klingt nicht. Oder will man das einen
Klang nennen, wenn generationenlang über das »Problem der
Erkenntnis«, wie man es nennt, in einer Sprache geredet wird,
als handele es sich um physikalische Dinge oder um Fragen der
vergleichenden Anatomie oder um Atomtheorie, obschon doch die
Erkenntnis zur Würde des Menschen gehört, die andern Dinge
aber nicht? Hier ist ein Instrument falsch gestimmt. Wie, als ob
Erkenntnis eine Sache für Stubenhocker sei, denen man alles
bieten kann. Aber dasselbe Thema glühte förmlich auf und
bewegte die Gemüter, als Sokrates mit Theätet, dem Sohne
des Euphronios aus Sunion, noch dampfend vom Öle der
Palästra, darüber sprach. Technik, Naturwissenschaft und
Handarbeit sind banausisch; »wer aber über dergleichen
Dinge weise ist, der ist ein dämonischer Mann«, so dachte
der Kreis um Sokrates über die Philosophie und ihr Thema.
»Und ihr habt ja alle teilgenommen am Wahnsinn und am
bacchischen Rausche des Philosophen« - so redete Alkibiades im
Gastmahl des Sokrates. Damals also, im periklÇischen Athen,
hatte Philosophie einen Klang; man unterschied sie deutlich, fast mit
dem Ohr, von allem andern, was man lehren und lernen konnte. Es war
eine ihrer Gründungsstunden, und nur, wenn man dieses versteht,
hat man die Hoffnung zu erfahren, was sie selber ist.
Gleichwie wenn mitten im Gewirr abenteuerlicher Raufboldereien, die
dieser oder jener als Singsang vorträgt, HOMER in die Saiten
greift und von der Heimkehr des Odysseus singt - alles schweigt
atemlos, und es entsteht heimlich ein Volk -, so stimmte Sokrates im
periklëischen Athen ein neues Lied der Philosophie an. Zu
gleicher Zeit war die menschliche Sprache auf einer Höhe, die
sie seitdem nie wieder erreicht hat. Da kann es denn durchaus
geschehen sein, daß, während das Marktgewühl um und
um ging und überall Geschrei in den Ohren war, Sokrates, auf dem
Brunnenrande sitzend - Plebejer unter Eupatridensöhnen - sich
unterhielt, und jemand zum andern sagte: »Still...... dort vom
Brunnen her klingt Philosophie! « In der Tat: es ist das selbe
Ohr, das Geräusche vernimmt und Musik; aber es ist bei ihr
sofort im Zwange mathematischer Gesetze besonderer Art, und »die
Seele wird aus dem Leibe gerissen«. So ist es auch das selbe
Denken, das sich mit allerhand Wissenschaften abgibt und das
Philosophie treibt: hier aber gerät es unvermerkt in den Bann
bestimmter Gesetze und einer andern Sprache, die man durch das
Gewühl hindurch hören konnte - damals in Athen. Und darum
ließ es sich auch jener Antisthenes nicht verdrießen, den
beschwerlichen Weg von Megara nach Athen zu Fuß zu gehen, nur
um Sokrates reden zu hören.
Diese Sprache ist untergegangen, und wir stehen, wenn wir die
platonischen Dialoge lesen, bestenfalls vor Tempelruinen. Man kann
auch sagen, die Texte verhalten sich zu dem, was damals umging, wie
das Libretto einer Oper zu der Musik, deren Unterlage es ist. Nur das
»Symposion« ragt als eines der Meisterwerke der
Weltlitteratur in die Gedankensphäre hinein, in welche die
Philosophie damals durchbrach. Aber es ist in der Tat so: die Sprache
der Philosophie verhält sich, um ihres Gegenstandes willen, zur
Sprache der bloßen Wissenschaften, wie Musik zu den
Geräuschen und auch zum Nachtigallenschlag. Nur hat sie es
freilich schwerer als die Musik. Johann, der lustige Seifensieder,
kann pfeifen, wie er will; mag es gut oder schlecht, ordinär
oder erhaben, melancholisch oder vergnügt sein: immer ist es
Musik, und er behält recht. Musikanten sind immer
glücklich, Philosophen haben es ständig mit der Sorge zu
tun. Die Seele zählt bei jenen, ohne es zu wissen, und wenn sie
es wissen würde, so hörte es auf, Musik zu sein. In der
Philosophie geht das nicht an; hier kann man nicht unbekümmert
ausschweifen; denn im Nu steigen unabdingbare Gesetze des Denkens und
der Dinge auf, die man seit Kant die transzendentalen nennt, und
diese erzwingen sich das Bewußtsein. Hier gibt es kein
»nescientis se cogitare«.
2. DER DENKSTIL DES SOKRATES
Oder aber: das »Nichtwissen« hat jene Bedeutung, die
SOKRATES in die Philosophie hineingereicht hat und wodurch er sie
aufrichtete. Der berühmt gewordene Ausspruch, der von ihm
überliefert wird: »((oida oti ouk oida))« kann in zwei
verschiedenen Weisen übersetzt werden, und nur die
dürftigere von beiden hat sich bisher durchgesetzt:
»((oti))« heißt zweifellos »daß« und
leitet einen indirekten Aussagesatz ein, und so kommt denn heraus
»ich weiß, daß ich nichts weiß«. Zwei und
ein viertel Jahrtausende haben ihm ob dieser bürgerlichen
Bescheidenheit auf die Schultern geklopft. Aber ((oti)) kann mit
voller grammatischer Sicherheit auch »weil« heißen;
dann wendet sich der Wind, und es kommt heraus: »Ich weiß,
weil ich nichts weiß«. Das ist freilich eine andere
Sache.
Mit diesem doppelsinnigen Ausspruch hat Sokrates das Geheimnis seines
Denkstiles jedenfalls für alle die preisgegeben, die das ebenso
können. Er hat nämlich mit dem Wissen dasselbe gemacht, was
gut drei Jahrhunderte vor ihm LAOTSE mit dem Tun meinte. Der hatte es
aufgespalten in Handeln und Nichthandeln und dabei die Formel
geprägt: »Handeln durch Nichthandeln«, die seitdem die
Basis für die Tao-Lehre wurde; und auf dieser steht ein
bedeutender Teil der alten chinesischen Kultur. Ebenso polarisierte
Sokrates den Erkenntnisvorgang in Wissen und Nichtwissen und
kennzeichnete damit das eigentlich philosophische Wissen vor jedem
andern, das jeder hat. Man darf nun freilich nicht etwa meinen, der
eine, negative Pol, das Nichtwissen, sei bloße Unwissenheit
oder Dummheit - dieses negativum zieht nicht an; auch nicht etwa das
achselzuckende Skeptikertum. Sondern es handelt sich hier sozusagen
um verbürgtes Nichtwissen, dessen Gegenstände einen
bestimmten Rang haben, unter welchem es nicht vorkommt. Ebenso
wäre es ja auch töricht, das Nichthandeln des Laotse
für bloße Faulheit auszugeben. Negativ ist das beides nur
im Sinne der Polarität, fast so, wie wir in der Physik von
negativer Elektrizität sprechen.
Mit diesem seinem eigentümlichen Denkstil geht er an die Fragen
heran, die ihn und seine Zeit bewegen, und wir wundern uns daher
nicht, wenn er immer wieder mit wahrer Schadenfreude sich und seine
Partner in die Ratlosigkeit hineinjagt; wir wundern uns auch nicht
wenn er im Strom eigener Rede Dinge behauptet, die offensichtlich
falsch sind, deren Falschheit er heimlich kennt, und wenn er dann
plötzlich überrannt wird von einem wahren Sturme der
Weisheit, die aber niemand heute noch in Begriffe fassen kann. Man
vermag nur den Ort anzugeben, wo sie soeben war.
Freilich gelang es ihm nicht, das Nichtwissen an die brennenden
Punkte zu führen, an das Dasein der Götter und die
Unsterblichkeit der Seele. Das konnte erst Immanuel Kant, der diesen
Dingen die Würde echten Nichtwissens verlieh. Erst seit ihm sind
wir des Nichtwissens froh. Freilich gebrach es ihm wieder an der
Freude der Ironie, die des Sokrates hellste war; man merkt, wie ihm
die Schweißperlen auf die Stirne treten in Angst darüber,
was er etwa angerichtet habe.
3. DIE PHASEN DER SPRACHE/KRATYLOS
Eines Tages erschien bei Sokrates Hermogenes, des Hipponikos Sohn,
zusammen mit Kratylos, dem Schüler des Heraklit, und sagte:
»Unser Kratylos hier behauptet, es gäbe für jedes Ding
eine richtige, aus der Natur dieses Dinges selbst hervorgegangene
Bezeichnung ((onomatos orthothta einai ekastos ton onton phusei
pephukuian)), und nicht dies sei als sein wahrer Name anzusehen, was
einige nach Übereinkunft als Bezeichnung für das Ding
anwenden, indem sie willkürlich einen Brocken ihres eigenen
Lautvorrates als Ausdruck für die Sache wählen, sondern es
gäbe eine natürliche Richtigkeit der Namen ((orphothta tina
ton onomaton pephukenai)), die für jedermann die gleiche sei,
Hellenen und Barbaren« (Platon, Kratylos, 283). Sokrates
stieß hier also, nein er wurde gestoßen auf das Problem
der Sprache, das ihn, wie er gleich merkte, gewaltig anging. Denn
hier trieb jemand, der es nicht durfte, Metaphysik - Kratylos
nämlich, der Heraklitäer - und hier bestritt sie jemand,
dem die Mittel dazu fehlten, Hermogenes, des Hipponikos Sohn! Das
mußte ja eine wahre Fundgrube für das Nichtwissen werden!
-
Es hat noch kein Mensch gedacht, ohne zu sprechen, sei es, daß
er das Denken in Unterredung mit anderen förderte, sei es im
Gespräch mit sich selber. Welche von den beiden Arten jener
Kunst, die Sokrates die ((dialektikh technh)) nannte, die bessere
sei, das hängt davon ab, wie die Gesellschaft aussieht, in die
man sich hierbei jeweilen begeben muß. Sokrates hat treuherzig
an der Art festgehalten, sich mit andern zu besprechen, und hat sich
nicht einmal eine einsame Todesstunde gegönnt. Er gehört zu
den geselligen Denkern, was kein häufiger Fall ist; indessen
finden wir in seinem Leben auch Spuren echter Einsamkeit, und das ist
zweifellos ein versöhnender Zug. - Wenn es nun so ist, daß
jeder Denkvorgang zugleich ein Vorgang der Sprache ist, beide aber
verschiedenen Gesetzen unterliegen, so erhebt sich eine Frage von
gewaltigem Maß: ist dann überhaupt richtiges Denken
möglich? Denn die Brücken sind ja verschieden, die zu den
Dingen führen: im Denken der Begriff, in der Sprache aber das
Wort - auf welche aber soll man treten? Wer hier einmal stand,
vergißt es nicht wieder.
Man spricht so gern - unsere Väter vor allem taten es - von
»ewigen Wahrheiten«. Wie aber, wenn die Wahrheit,
ausgesprochen oder gar niedergeschrieben, den ständigen
Treubruch der Sprache in sich trüge? Oder wenn das gar schon
während des Denkvorganges selber geschieht? Und was ist das
dagegen: »natürliche Richtigkeit der Worte«?
Können Worte, richtig gebraucht, unmittelbar auf den Kern der
Dinge stoßen? In der Tat lauert hier eine Verlockung und
zugleich eine große Gefahr. Denn das Denken ist schneller als
die Sprache, es eilt ihr voraus, und die Sprache kann aus ihrer
Substanz nicht genügend hergeben, um den Ansprüchen des
Denkens zu genügen. Gäbe es so viele Worte, wie es
Denksituationen gibt, so brauchte gar nicht gedacht, sondern nur
gesprochen werden, und es wäre immer alles richtig. Der Denker
aber ringt mit der Sprache. Bei den Dichtern ist es anders: hier
bleibt die Sprache bei sich selbst und wandelt sich gemäß
dem gelinden Druck, den der Dichter auf sie ausübt,
allmählich im Schutze der Schönheit um. Und ihr, der
Dichter, Berufsgeheimnis ist es ja, die Worte ganz dicht an die Dinge
heranzuführen, so daß sie von deren innerstem Gehalt
durchtränkt werden; die Dichtung lebt geradezu von der
»natürlichen Richtigkeit der Namen«, und
verläßt sich auf sie, so daß auch neue Worte, die
nur von ihr gefunden werden, uns als Brücken zu etwas Wirklichem
vorkommen; zum Beispiel: »Du bist Orplid, mein Land, das ferne
leuchtet..«. Die Philosophie dagegen, die ja auch zu den Dingen
will, besteht förmlich aus hitzigen Vorstößen der
Vernunft in meist unbekannte Gebiete, und hier wird die Sprache auf
einmal geizig und am Ende trügerisch; sie fälscht den
Denkvorgang, der schon reichlich mit sich selber zu tun hat, eifrig
mit. Wo aber führt das hin ...? - so fragte sich Sokrates.
Ein gutes Beispiel dafür, daß die Sprache nicht mitkommt
und eine trügerische Rolle zu spielen beginnt, ist im Deutschen
das Wort »Freiheit«. Mit ihm, und mit ihm allein, steigt
die Philosophie das Dioskurenpaar auf, das den Namen »Metaphysik
und Ethik« trägt. Ihm vorgelagert sind Begriffe wie
Kausalität - Notwendigkeit - Zwang. Sokrates hat dieses Gebiet
nicht zu betreten brauchen, denn im Altertum verstand kein Mensch die
hier eingehüllten Fragwürdigkeiten. Sonst hätte er
sich sagen müssen: »Wenn alles, was geschieht, mit
Notwendigkeit, gar mit Zwang eintritt: wie kann es da Handlungen
geben, die ich selbst ganz allein begehe, durch die ich einen Namen
bekomme, nicht vor den Menschen, sondern vor mir selber; unterlasse
ich diese Handlungen: dann ist es um mich geschehen; verfehle ich sie
((amartia)), so weiß nicht einmal Gott, mit welchem Namen er
mich anrufen soll!« Das sagte er sich wohl auch im Stillen, als
er sich entschloß, freiwillig in den Tod zu gehen und nicht aus
dem Gefängnis zu fliehen. Erst hierbei kam es ja heraus, wer er
wirklich war. Es gibt eben solche Handlungen, und es sind die
einzigen, die wir bewundern. Nur um ihretwillen hat das menschliche
Leben einen Sinn. Wenn es sie nicht gäbe und wenn der Einzelne
nicht haftbar wäre für sie, so wäre nicht einzusehen,
warum man überhaupt vom Menschen redete. Er fiele gar nicht auf.
Jene Entscheidung aber, die bei Sokrates im kostbarsten Augenblick
seines Daseins fiel, rettete ihm das Leben. Er ist nicht etwa
»ein leuchtendes Beispiel für Gesetzestreue«, wie die
xenophontischen Kleinbürger meinen, sondern ein Beispiel
für das Wirken der Freiheit. Er wußte, daß hierdurch
ER Selbst gerettet wurde und jenen Stempel empfing, dessen Spur nicht
mehr erlischt. Platon hat uns im »Phaidon« geschildert, wie
Sokrates sich die Unsterblichkeit der Seele dachte und sie selbst
empfing mit jenem Denken, das Wissen durch Nichtwissen ist. Es ist
undurchdringlich, wieweit sich sogar hier die Ironie mit
eingeschlichen hat. Denn es ist ja so: über das Leben nach dem
Tode hat es bisher drei verschiedene Auffassungen gegeben; die eine
sagt, daß der Mensch im Augenblick des Todes in einen anderen
Mutterleib übergeht, der sich gerade im Empfängnisrausch
befindet, und zwar in den, den er verdient; die andere, daß er
je nach Verdienst in den Himmel oder in die Hölle käme; die
dritte aber, daß seine Seele mit dem Tode genau so
verlösche wie die Flamme, wenn das Holz verbrannt ist. Es gibt
aber weder über Sterblichkeit noch über Unsterblichkeit der
Seele ein Wissen. Es kann das alles durchaus geben, Wiedergeburt und
Unsterblichkeit, nur wissen kann man es nicht; und das hat einen
guten Grund in der Weltordnung. Die Lehre aber vom Sterben durch den
Tod, die irrtümlicherweise meist für beweisbar gehalten
wird - man sehe sich doch bloß das Holz und die Flamme an, und
da habe man es ja -, diese Lehre war schon im Altertum die feste
Überzeugung des Marktpöbels von Athen.
Die Euthanasie aber des Sokrates, die wegen ihrer lichten
Herrlichkeit zeitweise das Gegenteil davon, den Kreuzestod Christi,
in den Schatten zu stellen vermochte - und freilich höchst
fehlgreifendes Urteil -, diese Euthanasie und alles, was an ihr hing,
war ein Geschehen aus Freiheit. Diese aber ist das Medium aller
Taten, die wir bewundern. Seit KANT spricht man offen in der
Philosophie von »Taten aus Freiheit«. Er vergaß aber,
obwohl er es beinahe hätte sagen können, daß Freiheit
ein echtes Substantivum ist, ein Wort, das eine reale Substanz
bezeichnet. Freiheit kommt vor. Und hier stoßen wir schon auf
jenen Geiz der Sprache, die dieses selbe Wort auch als ein
bloßes Relativum gebraucht, nämlich im Sinne von
»frei sein von etwas«, wobei es schließlich auf
Freiheit von der Kausalität hinausläuft - ein
unvollziehbarer Gedanke. Man sollte eigentlich von der Sprache
erwarten, daß sie Substantive nur dort bildet, wo Substanz da
ist, allein, sie geht ihre eigenen Wege und drückt ihren Stempel
irrtümlich auf Dinge, die keine Dinge sind. Erst David Hume
gelang es, auf diesen gefährlichen Sprachgeiz an dieser so
dringenden Stelle als Erster zu verweisen. Um so wichtiger ist es,
daß die Philosophie auf der Hut ist und ständig forscht,
ob ihre Sprache die »natürliche Richtigkeit der Namen«
wahrt, und wenn nicht, ihr das Handwerk legt.
Wir kennen die Sprache in sehr verschiedenen Phasen ihres Auftretens in der Natur. Eine der merkwürdigsten sind jene Petrefakte der Zaubersprüche, deren Sinn es nicht ist, jemanden etwas mitzuteilen, sondern Krankheiten zu heilen. Ich meine etwa so:
Eiris sazun idisi
Sazun hera duodor ...
Wenn hier beim Besprechen die falsche Person antritt, der falsche
Mondstand gewählt wird oder gar sich jemand erdreistet, die
Worte nach eigenem Belieben zu setzen, so tritt die Wirkung nicht ein
- die Wunde schließt sich nicht. Etwas so durchaus Reales ist
hier die Sprache. Hier, bei den Zaubersprüchen, fehlt ihr alles
Relative, alles Mittelbare und Mitteilende, alle
Verständlichmachung, kurz alles Demotische, und es scheint so,
als ob jedes einzelne Wort unmittelbar als richtiger Name von den
Dingen selber stammt und, durch den Mund des Schamanen hindurch,
wieder zu ihnen ginge. In der Philosophie aber glaubt man, so
daherreden zu können, wie es einem beliebt, der gar keine
Anwartschaft auf diese Dinge hat, der einfach im Jargon irgendeiner
der elenden Schulen seine verzwickten Perioden ohne Architektur
erfindet. Und da wundert man sich, daß sich die Wunde nicht
schließt. Und wundert sich, daß man die Philosophen
auslacht, weil sie nicht von den Dingen selber reden können.
So ist es denn dazu gekommen, daß die Philosophie, kaum der
babylonischen Gefangenschaft entronnen, in der sie ein Jahrtausend
lang von der Kirche gehalten wurde, sich in die viel schlimmere des
Bildungsphilisters begab, für den sie eine Beschäftigung
des vernünftelnden Intellektes wurde - den man für Geist
hielt -, statt zur Erregerin vorzüglicher Leidenschaften, wie
sie es im Altertum vor Aristoteles war. Die Philosophie versteht
nicht sich auszudrücken, weil sie glaubt, sie könne reden
wie die Gelehrsamkeit oder wie ein Advokat. Daher die Unlesbarkeit
der allermeisten philosophischen Schriften in deutscher Sprache. -
Hier ist als warnendes Beispiel Immanuel Kant zu nennen, das
große Sprach-Unglück der Philosophie; jener Mann, der
wahrhaftig die höchste Anwartschaft besaß (GOETHE:
»unser herrlicher Kant!«), dessen Sprache in fragmentis
sogar bedeutend ist, und der doch glaubte, die Philosophie sei
für ihre eignen Schulen da. So entstand die geistige Inzucht der
Kant-Scholastik, von der das deutsche Land über ein Jahrhundert
lang überflutet wurde und die ihm die Philosophie verdarb.
Es scheint in der Natur der Sprache zu liegen, aus einem
unwillkürlichen und darum auch unaufhaltsamen Drange hier
verschwenderisch zu sein und dort geizig. Im Russischen etwa gibt es,
so wird mir berichtet, für den Betriff »Wahrheit« zwei
vollständig verschiedene, aus getrennten Stämmen
tönende Worte, je nachdem es sich um eine empirische Wahrheit
handelt oder um eine höheren Ranges. »Dort brennt die
Mühle, das ist wahr« - hier heißt es Wahrheit:
»prawda«. »Man soll die Verwundeten pflegen und die
Gefangenen nicht mißhandeln, das ist wahr« - hier
heißt das Wahre: »istina«. Was für ein
glücklicher Griff! Es besagt natürlich etwas, wenn in der
Sprache schon der deutliche Unterschied festgelegt wird; man wird im
Denken sicherer sein und sich nicht um Worte streiten. Im Deutschen
muß im Falle des Ethischen dieses selbst als ein bloßes
Adjektivum »anwerfen«, wodurch allemal eine Minderung
eintritt; und es klingt dann so, als ob die Ethik nur eine Wahrheit
zweiter Klasse wäre, der kein gewachsenes, aus eignem Stamme
klingende Wort entspricht. Es liegt keine Bürgschaft dafür
vor, daß ihr Inhalt kein bloßes Vernunftprodukt sei,
sondern vielmehr ein wirklich wahrheitsfähiges Sein
enthält, das die Natur selber gebildet hat. Denn ein Wort, das
aus alten Tagen kommt oder, wie SOKRATES sagt, »Vom ersten
Namengeber«, ein solches Wort besagt eben, daß es von den
Dingen selber stammt und von ihnen, wenn auch verworren, Kunde gibt.
- Dieser Gedanke war es ja eben, der den Sokrates so hat aufhorchen
lassen, daß er ein langes und tiefsinniges Gespräch
über die Richtigkeit der Namen geführt hat.
Wäre die Sprache zu Zwecken der Verständigung unter
Menschen gemacht, also durch Satzung ((thesei)) da, so wäre
sowohl die Wirkung der Poesie wie die der Zauberworte, die durchweg
unmittelbar und ohne Anschluß an die abstrakte Vernunft
zustande kommen, unerklärlich. Hinzu kommt noch das ganze Heer
verruchter Worte, wie die obszönen , und der heiligen, wie der
Name Christi, die gleichfalls unmittelbar wirken. Diese alle
müssen, und mit ihnen die Sprache überhaupt, auf eine im
übrigen rätselhafte Weise, von den Dingen selber stammen,
um auf Dinge wirken zu können.
4. DAS SCHAMANENTUM ALS NATÜRLICHE QUELLE DER IDEENLEHRE
Die unmittelbare Wirkung der Worte, das heißt die, welche nicht
durch die Vernunft geht, ist das eigentliche Merkmal des
Zauberwortes. Sein Gebrauch entzieht sich dem gewöhnlichen
Menschen, denn man kann es nicht einfach nachsprechen, und nur der
Schamane versteht es, meist auf lange erbliche Tradition
gestützt, damit umzugehen. Wir finden es hier stets noch
verdunkelt durch musikalische und rhythmische Motive, wie als
hätte es sich noch nicht freigemacht von sehr alten, sehr tiefen
und zurückliegenden Verwachsungen, eben solchen mit den Dingen
selber, von denen die Sprache stammt.
Um das Wirken des Schamanen deutlich zu machen, diene hier eine kurze
Schilderung, die Friedrich Sieburg in einer kleinen Schrift
»Frankreichs rote Kinder« gegeben hat. Wir werden darin in
die Zeit der französischen Kolonisation Kanadas
zurückversetzt und erleben einen Zusammenstoß der
hochentwickelten französischen Kultur des Ancien régime
mit den Kulten der Indianer - ein Sache, in der das Kultische
über das Kulturelle den Sieg davon trägt. SIEBURG
schreibt:
»Der Marquis von Frontenac, der 1671 Gouverneur von Kanada
wurde, hatte einen starken Bedarf an moderner Litteratur, Pomaden,
Perücken und Spitzen. Er schleppte den holden Ballast seiner
Verwöhntheit und guten Manieren mit Anstand durch die Wildnis
und wußte genau die Grenze zu bestimmen, an welcher der
Grandseigneur aufhören und der Indianervater beginnen muß.
Wir sehen ihn vor uns im gelben Schoßrock aus geschorenem Samt,
im blauen Ordensband mit silbernen Spitzen, mit Kreuzen und
Ordenssternen behängt, den goldbordierten Hut auf der langen
dicken Allongeperücke, die ringgeschmückte feine Hand auf
den emaillierten Degenkorb gestützt. Er spricht zu seinen roten
Kindern, er hat sie am großen Rastfeuer aufgesucht, schwer
glühende Herbststerne hängen zwischen den riesigen Wipfeln
der vergilbenden Ulmen und Kornelkirschenbäume, schwarz stehen
die Zelte der Wyandots gegen das unruhige Walddunkel, die große
Flamme des Lagerfeuers legt ihren roten Schein auf hundert ernst
lauschende Gesichter. Frontenac spricht mit Leichtigkeit den
Algonkin-Dialekt, er bedient sich der pomphaften und doch einfachen
Ausdrucksweise der Indianer und nimmt das kurze Murmeln des Beifalls,
das den Schluß seiner Rede begrüßt, mit einem
leichten Lüften seines Hutes entgegen. Dann heben dumpf wie ein
ferner, sehr ferner Donner die Trommelhäute an zu vibrieren. Der
Schamane des Stammes, dessen ledernes Gewand von Igelstacheln und
Bärenklauen rasselt, tritt vor und beginnt mit finsterem, nach
innen gekehrtem Gesicht den heiligen Büffeltanz. Gespannt schaut
der Marquis ihm zu, tritt ihm dann plötzlich gegenüber und
ahmt seine Bewegungen nach. Und wie nun das schwere Dröhnen der
Trommel in ihn fährt, fühlt er sich selbst Zauberer und
Schamane dieser Wälder, fühlt er sich im leisen
Herbstschauer des nächtlichen Waldes selbst Büffelgeist,
Waldgeist, Naturgeist, fühlt die geheimnisvolle Kraft in sich,
heute Mensch und morgen Tier zu sein und wünscht, das
Dröhnen der Trommel, das seine Glieder bewegt, möge nie
enden. Aus den hin- und herfliegenden Zipfeln der Perücke
stäubt der Puder, die Orden klingeln leise, der
goldgeschmückte Hut ist zu Boden gefallen und ruht nun im
Schoße eines braunen Indianermädchens. Wie ein Mensch, dem
die Trunkenheit der Sinne zu rauben beginnt, ruft der Marquis noch
einmal alle heitere Skepsis von Paris auf und denkt flüchtig an
Sommernächte bei Fackelschein im Forste von St. Germain - aber
dann fühlt er nur noch Glück, fühlt sein Jahrhundert
wie eine Krankheit von sich abfallen und freut sich, den bitteren
Geruch des schwelenden Holzes in sich einsaugend, daß
Frankreich so groß ist. Frontenac hat diese Hingabe an die
Festsitte seiner roten Kinder gewiß niemals als Maskerade
aufgefaßt...,Niemals lachte ein Franzose über die
seltsamen Worte und Bräuche der Ottawasë, berichtet ein
zeitgenössischer Schriftsteller.«
In dieser Darstellung, die wegen ihrer großen Eindringlichkeit
gewählt wurde, ist freilich das sprachliche Element nicht
besonders erwähnt, aber wir wissen aus zahlreichen anderen
Berichten, daß der Schamane beim Tanz auch singt, murmelt, also
spricht, und zwar in undeutlichen altertümlichen Worten, die man
nicht eigentlich verstehen kann. Was geht hier vor? Offenbar dies:
der Schamane verfügt über eine Stelle in sich, ein Organ,
das andere nicht haben und zu dem er sich »mit finsterem, nach
innen gewandtem Gesicht« gewissermaßen durchwindet. Hat er
es sicher in der Hand, so beginnt der »heilige
Büffeltanz«; warum »heilig«? Weil durch ihn nicht
etwa die Bewegungen oder der Schrei des einzelnen Büffels
nachgeahmt wird (dann wäre der Schamane ein Clown und erregte
Gelächter), sondern das Bewegungsmotiv des Tanzes stammt aus dem
Büffel, »der in allen Büffeln ist« (ERNST
JÜNGER). Der Schamane brüllt auch nicht den Brunstschrei
nach, so wie er jeden Herbst durch die Wälder dröhnt,
sondern die Laute, die er ausstößt, stammen vom
Urbüffel und reden davon, wie er wirklich heißt. Sie
wurzeln im »Büffelgeist«, das heißt in der
formenden Kraft, die jedem einzelnen Büffel sein Dasein als
Büffel für immer sichert. Und diese archetypische Kraft ist
übertragbar auf die Hörer und Mittänzer des heiligen
Büffeltanzes; durch sie wird der Büffelorden
gegründet, dem auch, wie wir erfahren, der Marquis de Frontenac
angehören kann. Tiergeist wird hier auf den Menschen
übertragen, und die Wirkungen solcher Weihen können, wie
wir aus anderen Berichten wissen, erstaunlich sein.
Wir können diesen Schamanen nicht eher von uns lassen, als bis
er uns alles hergegeben hat, was wir von ihm für die Philosophie
brauchen. Denn wir stehen hier mit einem Sprunge mitten in der
»Ideenlehre«, ob manís glauben will oder nicht. Die
Philosophie aber bedarf, um leben zu können, der
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; sie muß sich aus den
Netzen der überschätzten Vernunft befreien, in die sie sich
verfangen hat. Der Schamane unterscheidet sich von seinen
indianischen Stammesgenossen ja dadurch, daß diese, wie alle
gewöhnlichen Leute, nur eine empirische Beziehung zu den
einzelnen Büffeln haben, die sie jagen, er aber, das sagten wir
schon, zu dem »Büffel, der in allen Büffeln ist«.
Wir nennen das den Archetypus des Büffels und meinen damit genau
das, was Platon die »Idee« nannte. Diese Veränderung
im sprachlichen Ausdruck ist nötig und geschieht nicht aus
Willkür, sondern weil das Wort »Idee« einem
Mißbrauch erlegen ist, der schwere Schäden in der
Philosophie angerichtet hat. Hieran ist freilich schon Platon selber
schuld, der, von seinem eignen Entdeckungsakt verwirrt, nicht
wußte, wo er sich befand. Er hatte die Orientierung verloren
und verwechselte Ideen und Begriffe; er war unsicher, ob sie im
Subjekt oder im Objekt liegen, denn er sah die Achse der Natur nicht,
die durch beide hindurchläuft und sie fest verbindet. So
gerieten die Ideen in die Vernunft und richteten Unheil an. Diesen
Mißbrauch abzustellen aber ist Vorbedingung für eine
Restitution der Philosophie. Man sollte daher das Wort Idee langsam
absterben lassen samt seinem häßlichen, ja
widerwärtigen Abkömmling, dem »Idealismus«. Wer
nicht ohne dieses Wort Philosophie treiben kann, der zeigt damit,
daß er ein Schwächling ist; und wer es dauernd gebraucht,
könnte wahrlich noch etwas Schlimmeres sein. Die Rechtfertigung
des Wortes Archetypus aber in gründlicher erkenntistheoretischer
Art wird an späterer Stelle folgen.
Der Schamane aber irrt sich nicht. Er steht mit einem bestimmten Zuge
seines Wesens zum Archetypus des Büffels in Beziehung, und zwar
so, daß ein Teil der formenden Kraft, die sonst draußen
in der Natur die Büffel am Leben hält, sich auf ihn wirft.
Es ist dieselbe Kraft, welche den Büffel Büffel sein
läßt auf die Millionen Jahre hin und die sich hier an den
Schamanen wendet und ihm die murmelnden Zauberworte und den heiligen
Tanz aufdrängt. Es kreist das alles um die »natürliche
Richtigkeit der Namen«.
Man kann bezweifeln, daß dem allem so sei, und die moderne
Psychiatrie nebst ihren psychologischen Abkömmlingen wird das
tun; sie wird nämlich sagen: es handelt sich hier
»einfach« um einen Psychopathen, und zwar um einen Maniker.
Solche Leute verstünden es eben, ihre eigenen psychischen
Komplexe, die ja manchmal recht interessant sein mögen, auf
andere zu übertragen, und so entstünden dann solche auf dem
Boden des Massenwahnes wachsenden merkwürdigen Volkssitten. Es
wird also hier, wie bei jeder psychologischen Betrachtungsweise,
alles ins Subjekt verlegt, wo es denn rumort und Unheil stiftet -
freilich nicht nur beim Kranken, sondern auch in den Köpfen der
Psychologen, denen die Orientierung fehlt. So recht einen Gegenbeweis
liefern kann man nicht; das liegt aber daran, daß man das auf
der objektiven Seite liegende, nämlich den Archetypus, nicht
messen kann wie einen psychischen Komplex. Wohl aber gibt es einen
Gegenbeweis ex iuvantibus, auf den wir bald stoßen werden. Dann
einen indirekten, der aber den Nachteil hat, übelgenommen zu
werden. Menschen nämlich, die so etwas behaupten, tragen die
Merkmale des bürgerlich-aufklärerischen Zeitalters an sich,
einer wenig rühmlichen Epoche der Menschheit, die alles begriff,
was bei ihr vorkommen kann und alles andere für Aberglauben
hielt. Der Marquis de Frontenac hat jedenfalls anders entschieden.
Der Geschmack des höheren Menschentums stellt sich gegen die
psychologische Erklärung. Das bleiben aber zunächst
Präjustizien, bis es gelungen sein wird, den Verlauf und die
Lage der Naturachse zu bestimmen. Dann aber gibt es kein Entrinnen
mehr.
5. DIE BEIDEN BEGRIFFE VON »MANIA« IM ALTERTUM /
DIE PRIESTERIN DER ASTAROTH
Auch SOKRATES fällte eine andere Entscheidung. Er sagt in dem
Gespräche mit Phaidros: »Von der Manie aber gibt es zwei
Arten; die eine, die aus menschlichen Krankheiten stammt, ((upo
noshmaton anthropinon)), die andere aber kommt von einer
Veränderung der gewohnten Lebensart durch göttlichen
Eingriff her, ((upo theias exallaghs ton eiothoton nomimon
gignomenh))« (Platon, Phaidros, Steph. 265). Die »aus
menschlichen Krankheiten« stammende Manie beachtet er gar nicht.
Das heißt, er geht an dem gesamten Inhalt der heutigen
Psychiatrie und Psychopathologie achtlos vorüber, denn, sagt er
sich, das ist bestenfalls eine bloße Wissenschaft, die jeder
erlernen kann, wenn sie nur einmal entdeckt ist; sie hat aber nichts
zu der Frage beizutragen, welchen Ordnungscharakter die Natur
trägt. Das aber allein ist die Frage der Philosophie.
Und nun hebt er an und teilt ein: »Unter vier Göttern
verteilt ist die göttliche Mania; der Anhauch der Weissagung
steht unter Apollon, die Einweihung in die Mysterien hat Dionysos
unter sich, die Musen die Dichtkunst, Aphrodite aber und Eros die
Liebe.« (Frei übersetzt. H. B.) Das ist Aufklärung
großen Stils, das heißt Belehrung durch einen
erleuchteten Geist. - Schon die Einteilung der Manie in solche aus
»menschlichen Erkrankungen« und in die durch
»göttlichen Eingriff« ist ein Beweis ungeheurer
Urteilskraft, und gar die vier Untergruppen der göttlichen Manie
sind von unübertrefflicher Richtigkeit. Hörte das aber ein
Vertreter der modernen Psychiatrie, er würde den Kopf
schütteln, ohne freilich zu wissen, was er damit schüttelt.
Und würde diese einfache sokratische Einteilung in die
Wissenschaft und die Praxis eingeführt werden: die
Irrenhäuser würden sich allmählich lichten, aber auch
die Lehrstühle. Nur hat es damit freilich eine besondere
Bewandtnis; denn wenn es hart auf hart geht, dieses Wissen
anzuwenden, das heißt also, Kranke zu heilen, so gehört
dazu die Substanz der Philosophie, die man haben muß oder die
man nicht hat. Und da dieser zweite Fall der bei weitem
überwiegende ist, so wird es dabei bleiben, daß die
»Wissenschaft« weiterhin das Heil der menschlichen Seele in
der Hand hält.
Jene wichtige Unterscheidung des Sokrates zwischen Manie aus
menschlicher Krankheit und der aus göttlichem Eingriff ist
natürlich eine begriffliche und darum exakt; das hindert nicht,
ja es kann nicht anders sein, als daß sich im empirischen
Einzelfalle diese beiden Ursprünge mischen. Der Seher, der
Eingeweihte, der Dichter und der Liebende - um diese vier Gestalten
anzunehmen - erleiden durch den objektiven Ansturm der Mächte
Störungen im Subjekt; das heißt, sie erkranken, ja sie
stehen je nach der Natur des Verfallenen oft hart an der Grenze des
Wahnsinns; wer aber durchhält, der ist in hohem Grade gerettet.
Auf der andern Seite muß man aber auch, bei der grenzenlosen
Zahl der Psychopathen, daran denken, daß irgendwann einmal ein
noch so unbedeutender Strahl vom Objekt her sie getroffen hat. Es
findet hier ein Ausleseproeß statt, bei dem die Überzahl
der »Manie aus menschlicher Erkrankung« ausgeliefert
bleibt. Diese aber hat der Wissenschaft der Psychiatrie das Material
geliefert, und es ist daher kein Wunder, was daraus geworden ist.
Wir sagten oben, ein Beweis dafür, daß allen diesen
psychischen Phänomenen objektive Mächte zugrunde liegen,
die im Subjekte gar keinen Platz haben, sei nur ex iuvantibus zu
erbringen; das heißt: nimmt man diese objektivistische
Anschauung nicht an, so mißlingen die Heilungen. Um diesen Satz
zu erhärten, diene uns das Beispiel eines Krankheitsverlaufes,
den ich selbst miterlebt habe. Wenn man einen Fall auf das Genaueste
kennt, so kann man damit, falls er nur charakteristisch ist, eine
ganze Wissenschaft aus den Angeln heben.
Die Kranke, von der hier die Rede ist, stammte aus einer guten
bürgerlichen Familie alter Herkunft. Bis zu ihrem
fünfundzwanzigsten Jahre machte sich an ihr nichts Sonderliches
bemerkbar; da aber auf einmal sprengte sie den Rahmen. Sie
fühlte sich von Gestalten bedroht, die fordernd auftraten und
von ihr nichts weniger verlangten, als sich ganz ihnen zu weihen und
alles übrige Leben abzutun. Dies führte zu einer fast
vollständigen Unfähigkeit, sich mit dem Leben der Umwelt
auseinanderzusetzen, irgend etwas zu tun, einen Beruf zu ergreifen;
wochenlang traten sogar Lähmungen ein. Da aber das
äußere Leben drängte und sie zwingen wollte, kam sie
nicht weniger als viermal in die Lage, ihrem Leben ein Ende zu
machen. Die Versuche aber mißlangen.
Das Verhalten ihren Mitmenschen gegenüber wurde immer
absonderlicher; sie brach nachts in die Wälder aus, verschwand
auf Tage, ging betteln und machte gelegentlich, aber durchaus nicht
immer, den Eindruck einer Irren. Das frühchristliche Altertum
hätte sie eine Dämonische genannt. Die moderne Psychiatrie
bezeichnete ihre Krankheit teils als Zwangsneurose, teils war man
bereit, sie für beginnende Schizophrenie zu halten; dies um so
mehr, als eine jüngere Schwester von ihr schizophren war und
starb. Jedenfalls blieb sie zwölf volle Jahre in eindringlicher,
völlig vergeblicher Behandlung. So unterschieden nämlich
auch die Doktrinen der einzelnen Schulen in der Psychiatrie waren,
die ihre Behandlung übernahmen: in einem Punkte waren sie sich
alle einig, nämlich darin, daß jene Gestalten und
Gesichte, jene Stimmen und Bilder, von denen sie sprach,
natürlich das Produkt ihres eben erkrankten psychischen Systems
seien und selbstverständlich »wegmüßten«;
erst dann würde sie, so sagte man ihr, gesund werden. Die
moderne Psychotherapie kennt eben nur Manien »aus menschlicher
Erkrankung«, also gerade das, was Sokrates achtlos beiseite
gelassen hatte. Die Kranke wurde »analysiert«.
Dies alles so lange, bis sie völlig verzweifelt, verarmt und
ohne jeden Glauben an Heilung in die Hände eines Arztes
gelangte, der der Philosophie mächtig war. Von diesem, sowie
später von der Kranken selbst habe ich meine Kenntnis dieses
bedeutenden Falles.
»Ich hatte«, so sagte mir Dr. Immanuel, »gleich am
ersten Tage, als die Kranke zu mir kam, den Eindruck, daß durch
die schwere Psychoneurose, von der sie befallen war, etwas
hindurchschimmerte, was jedenfalls aus der Welt die von den
Gedankengängen der Psychologie bestimmt wird, nicht stammen
konnte. Hierfür war mir zunächst Zeuge die große,
fast dichterische Schönheit ihrer Sprache. Während die
sonstigen Krankengeschichten, die man so zu lesen bekommt, sozusagen
in Zeitungsdeutsch geschrieben sind, klang die Sprache dieses
Mädchens gelegentlich hymnisch, jedoch ohne Pathos und in einer
Art überzeugender Leidenschaft. Beim Sprechen verkrampften sich
meist ihre Finger, und man sah daran die erhebliche
Gefühlserregung, unter der sie stand. Sie erzählte von
ihrer Welt und ihrem Leben, wie sie es nannte, und hierin spielten
besonders zwei Gestalten eine dominierende Rolle, eine weibliche und
eine männliche. Beide trugen seltsame, aber schön klingende
Namen, deren sprachliche Herkunft man etwa ins alte gypten
verlegen konnte. Von diesen Namen sagte sie aber ausdrücklich,
daß sie sie nicht etwa erfunden habe, sondern daß ihre
Träger wirklich so hießen. Sie habe überhaupt, meinte
sie, keinerlei Phantasie. Da ich nicht befugt bin, diese Namen
preiszugeben, so will ich einmal die weibliche Gestalt, die
gegenüber der männlichen einen entschiedenen Vorzug bei ihr
hat, mit Astaroth bezeichnen. Zu dieser stand sie in einem
ausgesprochen kultischen Verhältnis; sie war ihre Dienerin und
gehorchte ihrem Wort. Ihr ganzes Leben war bestimmt von Astaroth.
ÇDenn ich sah ihr Bild, das nicht ist, und erkannte ihre
Gestalt, die nicht gestaltet ist.ë
ÇIch will sein, wo Du bist, Astaroth, Du bist lebendiger als
die Menschen, die mich allein lassen. Selbst in Deiner Angst ist noch
mehr Sonne, als in den Freuden der Menschen.ë
ÇSie führt ein weißes Pferd am Zügel, ihr
Kleid ist grau; es hat einen roten Saum mit Dreiecken. Sie sagt:
Vergiß deine Träume nicht.ë
ÇWen die Götter verwirren - wer wird ihn
lieben?
Sie selbst.
So schrieb der Fremdling in das alte Buch.
Hoch unterm Dach.
Ich aber stützte das Haupt in meine Hände.
Und sann.ë
Aus alle dem sehen Sie« - fuhr Dr. Immanuel fort -,
»daß dieses Mädchen in einer Weise von ihrer
sogenannten Krankheit sprach, die sich ganz wesentlich von dem Jargon
der gewöhnlichen Neurotiker unterscheidet. Es leuchtete hier
Schönheit auf, und eben das brachte mich auf den Gedanken,
daß alles, was sie sagte, wahr sei. Unter Wahrheit verstehe ich
hier ausdrücklich das Gegenteil von Çbloß
psychologischë oder anders ausgedrückt: Çvom
Subjektiven stammend.ë
Die Kranke fragte mich nun in einer der ersten Stunden
ängstlich, ob ich ihr denn gestatte, in dieser Welt zu leben,
oder ob das alles Çfortmüsseë, wie die Psychologen
sagten. Ich antwortete ihr mit aller Bestimmtheit: in welcher Welt
sie denn sonst leben wolle? Natürlich müsse das alles bei
ihr bleiben, denn eben dies sei ja ihre Wirklichkeit. - Sie sah mich
erleichtert an, aber sie blieb noch lange mißtrauisch; sie
vermutete wohl, daß ich bloß so tat, als glaubte ich auch
an die Wirklichkeit ihrer Götterwelt, wie man das in
Irrenanstalten zu tun pflegt, um sich das Vertrauen der
Geisteskranken zu erschleichen. Und es hat recht lange Zeit gedauert,
bis sie mir ernsthaft glaubte, daß ich ihre Welt wirklich
für real nahm. Und es blieb mir auch in der Tat nichts anderes
übrig, als dies zu tun; ich hatte meine zwingenden Gründe
dafür. Denn wo sollte man diese ihre Götterwelt
unterbringen? Der Zwangsneurotiker, der von seinen Angstvorstellungen
gequält wird, will diese durchaus los sein und empfindet sie als
sinnlos: dabei weiß er, daß sie sich nur in seinem
Subjekt befinden und außerhalb keine Existenz haben. So aber
war es bei meiner Patientin nicht. Der eigentlich Geisteskranke
wiederum hält seine Vorstellungen für empirische
Realität; er glaubt, daß er der Kaiser von China sei, und
nimmt es übel, wenn man daran den leisesten Zweifel hegt. Aber
auch das traf hier nicht zu. Die Patientin fand sich in der
Außenwelt durchaus gut zurecht und meinte nicht etwa, daß
ihr eines Tages Astaroth auf der Straße begegnen könnte.
Sie war eben nicht geisteskrank. Wenn ich es per analogiam
ausdrücken darf, wie sie im Grunde zu den Gestalten ihrer Welt
stand, so möchte ich sagen: wie Odysseus zu Pallas Athene. Das
ist aber nicht ÇDichtungë, sondern so standen in der Tat
alle Griechen zu ihren Göttern. Daß sie nun an diesem
Realitätscharakter ihrer Welt gelegentlich irre werde konnte,
also in Unglauben verfiel, das, und das allein war der Kern ihrer
Krankheit. Unglauben ist überhaupt der Kern aller Krankheit.
ÇIch bin doch ein Tempelkind, dafür kann ich nichts,
daß ich drum verwelke und verkümmere, wenn ich meine
Heimat verleugneë. - ÇAlles in mir verwirrte sich, weil
ich der Psychologie, der, die falsch ist, in die Hände
fiel.ë
Es lebte also etwas in ihr, das ihr sagte, daß Untreue und
Unglauben gegenüber ihrer Welt sie in Krankheit und Verzweiflung
stürzte, und sie meinte auch, daß diese ansteckend seien
und die Menschen mit hineinzögen, die mit ihr umgingen.
Hierfür gab sie mir mehrere Beispiele, die immerhin zu denken
geben.
Ein recht sonderbarer Zug ihres Wesens war es auch, daß sie
nach ihrem Namen suchte; sie war davon überzeugt, daß der
bürgerliche Name, den sie trug, nur ein Pseudonym sei und
daß von dem Finden des Çwahren Namensë alles
abhänge. ÇIch kann höchstens dann arbeiten, zum
Geldverdienen, wenn ich meinen Namen begreife, vorher nicht; ich
suche ihn ja auch darum, seit ich lebe; das Suchen nach ihm und mir
ist der Befehl meines Lebens, von sich aus, nicht von mir aus. Wer
Ihn, der mir befiehlt, nicht Gott nennen will, der muß einen
anderen Namen erfinden.ë - Hier wird, wie Sie wissen«,
meinte Dr. Immanuel, »von einem ganz naiven Wesen, das nie
Philosophie getrieben hat, jenes Problem der ÇRichtigkeit der
Namenë angerührt, oder anders ausgedrückt, ob die
Worte von den Dingen selber stammen oder von Menschen gesetzt sind,
so wie man eine Etikette auf eine Medizinflasche klebt - jenes
Problem der Sprache überhaupt, das Platon im
ÇKratylosë zum ersten Mal aufwarf. Die Frage ist heute
genau so frisch und lebendig wie vor zweitausendfünfhundert
Jahren und rührt sich nicht von der Stelle.
Um aber noch einmal auf die durchaus persönliche Macht
zurückzukommen, welche die Gestalt der Astaroth auf meine
Patientin ausübte, so will ich Ihnen den Lauf ihres Liebeslebens
kurz erzählen. Ich sage ausdrücklich Liebesleben und nicht
Sexualleben, denn das hatte sie nicht, Çdas haben einem ja nur
die Psychologen aufgeschwatzt; so etwas gibt es überhaupt
nichtë. Sie ist also durchaus der Meinung des Sokrates, der die
Mania des Eros nicht für eine aus Çmenschlicher
Erkrankungë hielt, sondern als Eingriff der Götterwelt. -
Sie ist einmal verlobt gewesen mit einem Manne, den sie wirklich
geliebt hat und von dem sie annahm, daß er in ihrer Welt
würde leben können; aber eben gerade hierin täuschte
sie sich. Er entpuppte sich langsam, aber doch zusehends als eine
bürgerliche Natur, die es bald dazu trieb, die
außergewöhnlichen Erlebnisse ihres Daseins als krankhafte
Abirrungen von der Norm zu deuten. Da sie dergleichen nicht duldete,
so entfernte er sich langsam von ihr, und eines Tages verlobte er
sich mit einer Bürgerlichen. Als er heiraten sollte,
erschoß er sich. Diese erste Liebe war zugleich die Wunde
für ihr ganzes Leben; denn sie konnte von dem Gedanken nicht
freikommen, daß eben jeder Mann schließlich Verrat
üben würde, weil niemand imstande wäre, in ihrer Welt
zu leben. Und damit hatte sie recht. Ihr weiteres Leben spielte sich
in Abenteuern ab, immer auf der Suche nach dem Manne, der ihr als
Ebenbürtiger zugewiesen wäre; darüber vergingen Jahre.
Mitten in ihnen aber erlebte sie eine Zeit, die sie selbst als
Çden Sumpfë bezeichnete. Es war ein tolles und
ausschweifendes Liebesleben, fast, wie es schien, ohne jede Hemmung.
Ich habe selbst einmal einen Nachzügler dieser Sumpfzeit erlebt.
Da hatte sie kein Geld, fürchtete, es zu sagen, weil sie sehr
bescheiden war, und beschloß - es war Februar -, in den Wald zu
gehen, um schlafend zu erfrieren. Aber die Natur trieb sie wieder
heraus; sie bettelte in der Stadt nächtlicherweise einen Mann
an, weil sie Hunger hatte; der nahm sie mit, gab ihr zu essen, und
sie schenkte sich ihm. Das alles aber ließ sie unberührt.
Sie stammte aus einer Familie, die seit Jahrhunderten Pastoren zu
ihren Vätern hatte, die Atmosphäre, in der sie aufgewachsen
war, troff von Bigotterie - denken Sie etwa an ÇFranckesche
Stiftungenë; ihre Schwester, ein kluger und überlegener
Mensch, war Diakonissin - sie selbst sah so aus und hielt sich so,
daß man nirgend in ihrer Familie an ihrer Jungfräulichkeit
zweifelte.
Als nun eines Tages der Mann zu ihr stieß, der sie mit einem
Blich übersah und ihre Welt kannte als seine eigne, da war die
Freude groß; als sie aber zur Liebesnacht rüsteten - da
trat Astaroth dazwischen und verbot es ihr.
Es kam für sie gar nicht in Betracht, diesem Verbote zu trotzen;
sie ahnte wohl auch, daß es irgend etwas bedeutete, wenn sie
sich minderen Männern bedenkenlos hingeben konnte, nicht aber
dem Manne, der mit ihr in gleicher Augenhöhe stand. Auf ihr
lastete ein sozusagen vestalisches Eheverbot, das gegen die Hingabe
ihrer selbst Einspruch erhob; auf dieses Çsie selbstë
hatte Astaroth ein Pfandrecht, so schien es.
Um einiges weniger drückend, aber doch hart genug, war ein
Schweigegebot, von dessen Existenz sie aber zunächst nichts zu
wissen schien; indessen drängt es sie in einen Konflikt hinein.
Denn Sie wissen ja, daß bei uns rzten eine der
Hauptregeln lautet: alles zu sagen und mit nichts
zurückzuhalten. Darauf mußte ich bestehen. Und da sie mir
vertraute, kam sie in ein reichliches Plaudern hinein; sie sprach mit
leuchtenden Augen von wunderlichen Dingen mythologischer Art. Die
Buntheit ihrer Welt entfaltete sich in vollem Ausmaß, und es
tat ihr sichtlich wohl, dies alles sagen zu können, ohne
belächelt zu werden. Und es waren Tempeldinge, die ich zu
hören bekam. Die Atmosphäre war etwa die des späten
Isis-Kultes, vermischt mit leicht christlichen Anklängen. Dabei
betonte sei, daß ihr alles Christliche durchaus zuwider sei;
indessen konnte sie es nicht hindern, daß in ihren Phantasien,
Träumen und Zeichnungen immer wieder Çder
Gekreuzigteë erschien - ja, Christus schon, aber nicht der
christliche Christusë. Ich glaubte, etwa Stimmen der antiken
Gnosis des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts zu hören, wie,
als stünde sie mitten in den Kämpfen, die das alte
Heidentum mit der aufkommenden Kirche zu bestehen hatte. Eines Tages
gab ich ihr - ich weiß jetzt nicht mehr, warum - Goethes
Iphigenie zu lesen. Der Erfolg der Lektüre war für mich
niederschmetternd. Sie kam mit irren Augen, völlig
aufgelöst in die Sprechstunde und sagte immer: ÇSie
kommen...! Sie holen mich...!ë Ich hatte so etwas von Angst noch
nie gesehen. So muß der antike Orestes in den Choëphoren
des Aischylos aufgetreten sein, der von den Erinnyen verfolgt wird,
weil er etwas durchaus Richtiges getan, nämlich den Vater
gerächt, und eben dadurch etwas durchaus Falsches, nämlich
die Mutter ermordet hat. So hatte auch meine Patientin etwas durchaus
Richtiges getan, nämlich mir offen alles gesagt, aber zugleich
etwas durchaus Falsches: nämlich ihr Tempelgeheimnis verraten.
Dieses Verrates bezichtigte sie sich, und darum rief sie immer
wieder: ÇSie kommen...! Sie holen mich...!ë - Wie ich sie
wieder beruhigt habe, weiß ich heute nicht mehr. Jedenfalls
frage ich sie eines Tages: ob sie vielleicht einmal schlecht
gestorben sei? Sie sah mich groß an: ÇWas meinen Sie
damit?ë - Nun, sagte ich, ich meine, wenn jemand schlecht
geschlafen hat nach einem bösen Tage, so wirken die Ereignisse
ungeschwächt und ungemindert durch einen tiefen Schlaf auf den
folgenden Tag fort und nehmen ihm die Ruhe. Der Tod nun, meine ich,
ist ein sehr viel tieferer Eingriff in unser Leben; er wischt wie mit
einem Strich die Schrift unserer Erlebnisse fort, so daß wir
später nicht das Geringste mehr davon wissen. Wir leben in der
Illusion, als seien wir bei unserem Geburtstage sozusagen neu aus dem
Nichts entstanden. Dennoch ragen aber in unseren Charakter Motive
hinein, die wir aus dem uns bekannten Leben nicht abzuleiten
vermögen. Ich stoße oft bei Patienten auf Träume, die
alle Vierteljahre wiederkehren und die Landschaften, Gebäude,
Räume enthalten, die der Kranke in diesem Leben niemals gesehen
haben kann, auch wenn noch so genau analysiert wird. Das sind
indessen wirklich spärliche Reste. Ist nun aber jemand
Çschlecht gestorbenë, so rücken diese Reste aus
früheren Leben mit großer Gewalt in das jetzige ein und
drohen es zu zerstören - wenn man hier nicht sehr aufpaßt.
Es geht nichts über die Wohltat eines guten Todes. - Ich
bemerkte ein unwilliges Zucken in den Mienen meiner Patientin.
ÇSind Sie Anthroposoph...?ë fragte sie befremdet. Nein,
eben gerade das bin ich nicht; denn ich spreche ganz arglos von
diesen Dingen. Zudem versichere ich Sie, daß ich es heute ex
officio zu ersten Mal tue, nur, weil Sie mich dazu zwingen. Wäre
ich Anthroposoph, so Çwüßteë ich durch
ÇGeistesschulungë über meine und Ihre
Rëinkarnationen Bescheid wie über den Fahrplan der
nächsten Eisenbahn. Ich zählte Ihnen dann Çmeine
früheren Lebenë auf, wie als ob das so gar nichts
wäre. Außerdem belästigte ich andere Leute in
schlechtem Deutsch damit, die mit gutem Grunde gar nichts davon
wissen wollen. Und das tue ich auch nicht. Ich hätte auch gar
nicht das Recht, mich einen Schüler Kants zu nennen -
Philosophie ist, wie Sie wissen, mein Steckenpferd -, wenn ich mir
erlaubte, Wissen über Dinge an sich in dogmatischer Form zu
verbreiten. Denn wie ich hier vor Ihnen sitze mit allem, was ich
denke, fühle, tue und leide, bin ich durch und durch
Erscheinung. Aber freilich Erscheinung in etwas, das dem zugrunde
liegt. Daß ich also existiere, daran ist kein Zweifel. Aber es
gibt kein Wissen darüber, was aus diesem Dinge an sich, das ich
bin, abgesehen von seiner Erscheinung, wird, wenn mein Leib
zerfällt. Es gibt demnach auch freilich - und das wird gern
übersehen - kein Wissen über meine Sterblichkeit. Wenn mir
nun jemand sagt, es sei doch klar, daß ich einfach von meinen
Eltern erzeugt worden bin, so antworte ich: das ist gar nicht klar!
Es ist zwar sicher, daß ich als Erscheinung nicht auf dieser
Welt wäre, wenn jener Hochzeitsakt nicht stattgefunden
hätte; aber daß dieser Akt, in den die Vereinigung der
Keimzellen eingeschlossen ist, mich erzeugt, das ist eine völlig
willkürliche Behauptung und purer Aberglaube. Es kann sich
niemand vorstellen, wie aus Ei und Samenzelle Ich werden soll. Fast
genau so willkürlich - ich sage Çfastë - ist es zu
behaupten, daß durch den elterlichen Hochzeitsakt jemand
herbeigerufen wird, der in diesem Augenblicke gerade stirbt und der
hier genau bei diesen Eltern seinen angemessenen Mutterleib findet.
Dieser sterbende Jemand aber wäre Ich. Da nun beide Annahmen
unbeweisbar sind, irgend etwas doch aber richtig sein muß, so
habe ich mich, nicht aus Gründen der Erkenntnis - denn das geht
nicht -, sondern aus Gründen der Ethik entschlossen, im geheimen
dieser zweiten Version zuzustimmen. Wenn man nämlich älter
wird und sein Leben, wie es gelaufen ist, ernsthaft überdenkt,
so findet man, daß man es verdient. Wäre ich bloß so
Çerzeugtë, so könnte ich immer sagen - und das tun
die meisten -: warum haben mich meine Eltern in die Welt gesetzt,
daß mir so etwas passieren kann! Daß das aber eine
ausgemachte Rüpelei ist, das werden Sie mir zugeben müssen.
Mein Leben ist meine Schuld, mea maxima culpa. Letzten Endes aber
bekenne ich mich dazu, daß ich nicht gezeugt, sondern
geschaffen bin; was freilich eine Sache des Bekenntnisses, nicht aber
des Wissens ist.
ÇSo mag alles angehen mit der Wiedergeburt und dem schlechten
Gestorbenseinë - sagte sie - Çich mag es nur nicht, wenn
man daraus ein System machtë.
Ich auch nicht, wenigstens nicht hier in Europa. Aber in Tibet und
auf Ceylon, wo das alles gewachsen ist, da hat es seine Bedeutung und
ist in einer bestimmten Weise richtig. Metaphysik aus bloßen
Begriffen gibt es nicht, das ist alles Irrtum. Aber es gibt ja das
Metaphysische, und dieses drückt sich aus in solchen Systemen,
die wiederum als bloße Lehre falsch sind. In Europa, wo nichts
dergleichen ernsthaft wuchs, muß man sich damit begnügen,
von Fall zu Fall aufzumerken; und wenn ich auf ein solches Leben
stoße wie das Ihrige, so denke ich an diese Vorgänge und
versuche, davon zu sprechen. Hier, wo es angewachsen ist, kann es
wohl auch Wahrheit sein. Metaphysik als ein Passieren hat Kant nicht
widerlegt. Über die Seele überhaupt etwas zu sagen, ist
ÇMetaphysik, die als Wissenschaft auftreten willë -, und
das gibt es nicht. Nein, wenn überhaupt, so können nur
empirische Dinge, nur Vorfälle, Ereignisse, Begebenheiten,
typische Anlagen einen Hinweis auf frühere Leben liefern. Diese
Metaphysik muß a posteriori getrieben werden - was ihr
überhaupt gut tun würde.«
»Was die typischen Anlagen betrifft«, fügte er hinzu,
»so ist mir immer die verblüffende hnlichkeit Samuel
Hahnemanns, der die Homöopathie entdeckte, mit Paracelsus
aufgefallen, der das Thema anschlug. Wie als ob Hahnemann früher
Paracelsus gewesen wäre. Es ist mir auch unverständlich,
wie Heinrich Schliemann Troja hat finden und ausgraben können
mit jenem eigentümlich sicheren Instinkt, der quer durch alle
Unwahrscheinlichkeiten hindurchläuft, wenn ich nicht annehme,
daß er es von früher her kannte, er den sogenannten
ÇSchatz der Priamosë fand, von dessen Vorhandensein der
alte Priamos selber nichts ahnte, weil er ja nicht, wie Schliemann
glaubte, ihm gehörte, sondern unter der Ecke eines Palastes aus
der früheren Epoche von Troja vergraben lag! - Oder aber: eine
Patientin von mir hat heftige Angst vor Feuer. Sie kann kein
Streichholz anstecken, ohne in heftigste Erregung zu geraten, ebenso
bei großen offenen Feuern, im Krematorium und in der letzten
Szene von Shaws ÇHeiliger Johannaë, bei der sie von
unsagbarem Grauen befallen wurde. Die Sache mit den
Streichhölzern ließ sich bald beheben; es war ein rein
psychologischer Vorgang: Furcht vor Entfachung der inneren
Leidenschaft, die sie sich als junges Mädchen nicht zugeben
wollte, die sie verdrängte und die in Angst umschlug*. Aber beim
großen Feuer: hier kam ihr der Gedanke, daß sie
früher einmal als Hexe verbrannt worden sei. Ihr Mann, ein ganz
bürgerlicher Typus, der mit ihr nicht fertig wurde, nannte sie
eine Hexe**. Ich habe diesen ihren Gedanken gutgeheißen, und es
trat darauf eine deutliche Beruhigung ein. Sie hat zwar immer noch
etwas mehr Angst vor Feuer als andere Leute, aber nun doch
beherrschbar. Sehen Sie, diese Frau ist Çgut gestorbenë,
weil hier nicht die reale Erinnerung an einen besonderen Vorgang wach
wird, sondern nur das allgemeine Grauen vor dem Feuer. - Mir
fällt auch dazu noch ein, daß Hölderlin in der Zeit
seiner geistigen Umnachtung, wenn er Besucher empfing, die ihn um ein
Autogramm baten, dies in der unverfälschten sauberen Handschrift
seiner wachen Jahre tat, das Datum aber schweifte in ferne
Jahrhunderte zurück, und er unterzeichnete mit
»Scardanelli« - einem Namen, den noch niemand hat deuten
können. Übrigens kann ich mir von der Art von Leidenschaft,
wie sie Hölderlin für Hellas gehabt hat, durchaus nicht
vorstellen, daß er sie in der Schule gelernt hat.
»Ich bin es Ihnen nun schuldig« - fuhr Dr. Immanuel fort -,
»genau zu bestimmen, wodurch eigentlich die Heilung der
Patientin zustande kam. Da kann ich nur sagen: durch einen einzigen
Griff und durch nichts sonst. Ich konnte irgendwelche
wissenschaftliche Psychologie gar nicht gebrauchen; Sie kennen das
ja. Die Erklärung der sogenannten Neurosen erfolgt im
allgemeinen nach drei verschiedenen Theorien, denen auch drei - sich
natürlich bis aufs Blut bekämpfende - Schulen entsprechen.
Nach Freud Çistë die Neurose das Resultat
verdrängter Sexualität. Das kam gar nicht in Frage. Nach
Adler entsteht sie durch ÇÜberkompensation eines
körperlichen Minderwertigkeitsgefühlsë, beruhend auf
Organschwäche. Davon habe ich nichts gemerkt. Am nächsten
schien mir schon die Deutung C. G. Jungs mit seinen Çautonomen
Komplexenë und dem Çkollektiven Unbewußtenë;
aber auch das half mir nicht weiter, denn Astaroth und ihre Welt
waren kein Komplex, sondern eine Person; und das ist ganz etwas
anderes. Auch die Jungsche Wissenschaft bleibt noch Psychologie, und
es macht nichts aus, daß es nicht das individuelle
Unbewußte ist, das hier die entscheidende Rolle spielt, sondern
das gesamtmenschliche, dessen Entdeckung das große Verdienst
Jungs ist. Es fehlt eben auch hier, wie in jeder Psychologie die
Trennung von Subjekt und Objekt. Und diese vollzog ich bei meiner
Patientin; das war der einzige Griff. Und der war eben nicht
psychologisch.
Es gab aber noch eine Szene. Denn als ich ihr sagte: ÇSie
müssen sich von Astaroth trennenë, fiel sie mir
leidenschaftlich und mit feurigen Augen - ich habe so etwas bei einer
Frau noch nie gesehen - ins Wort: ÇIch mich von Astaroth
trennen? Nein! Nie! Nie! Nie! Nie! (Sie sagte es viermal.) Da bleibe
ich lieber krank!ë Ich beruhigte sie und sagte ihr, sie habe
mich mißverstanden. Sie solle sich durchaus nicht von Astaroth
trennen, im Gegenteil, sie solle nur sagen: Ç Ich bin Ich,
Maria L.ë und ÇDu bist Astarothë. Also Subjekt und
Objekt, genau wie in jeder empirischen Betrachtung. Sie fing an zu
verstehen. ÇAberë, meinte sie, ÇAstaroth ist doch
in mir, und ich bin in Astaroth!ë - Gut! Aber genau so, wie die
gläubigen Christen sagen: ÇGott ist in mirë - damit
ist doch nicht etwa gesagt, daß Gott ein Stück von ihnen
ist, sondern Gott ist zu ihnen gekommen, von außen, und daher
nun in ihnen. Sie sollen lernen, daß Astaroth eine Göttin
ist und außer Ihnen ist; nur dadurch erreichen Sie doch eben
das, was Sie schon in der ersten Stunde sagten, daß Ihre Welt
wirklich ist. Zur Wirklichkeit gehört aber allemal Subjekt und
Objekt, und das müssen Sie trennen, sonst
geraten Sie in Verwirrung. Die Psychologen behaupten ja immer, das
alles sei nur Çpsychologischë, also subjektiv, also
unwirklich. Und eben das hat Sie ja krank gemacht. Die Götter
ertragen es nicht, für Geschöpfe der sogenannten
menschlichen Seele gehalten zu werden, und sie haben die Macht,
diesen Frevel zu rächen. Aber noch eines: verwechseln Sie diese
wirkliche Trennung von Subjekt und Objekt ja nicht mit einer
sogenannten ÇProjektion nach außenë oder einer
ÇObjektivierungë. So nicht. Denn dabei bleibt das
vorgebliche Objekt ja eine Illusion, wie ein Filmbild; nein, ich
meine eine wirkliche Trennung von wirklichem Objekt und wirklichem
Subjekt, wobei noch dazu die stärkeren Kräfte vom Objekt
ausgehen, genau wie in der gewöhnlichen Außenwelt.
Nun war sie beruhigt, und man sah, wie sie genas. Daß ich an
ihr immerhin einen ganzen Sommer hindurch gearbeitet habe, das lag
daran, daß ich ja erst den ganzen Schutt, den die Psychologie
in ihr angehäuft hatte, aufräumen mußte. Zwölf
Jahre Çpsychologische Behandlungë - das verträgt das
stärkste Gemüt nicht. Eigentlich aber beschränkte sich
meine ganze Therapie auf diesen einen Griff; das Objektive
auszusondern und es dorthin zu stellen, wohin es gehört.
Hierdurch entstand Realität. Von welcher Art nun dieser
Realitätscharakter selber sei, das ließ ich zunächst
dahingestellt, das ist auch nicht so einfach, und da kommt man auch
mit der kantischen Philosophie nicht aus. Indessen diese
erkenntniskritische Frage war für die Behandlung belanglos. Nur
das Astaroth, wie die Götter alle, zum Objekt gehöre, das
war wichtig. Sie sehen daraus wieder einmal, daß man nur mit
der Philosophie heilen kann, denn die Lehre von Subjekt und Objekt,
also die Lehre von der Wirklichkeit, ist Philosophie und nicht
Psychologie.
Unter der Heilung, dies möchte ich noch bemerken, verstehe ich
aber nicht, wie es die Psychologen meinen, die Çgelungene
Anpassung an die Umweltsforderungenë, sondern die Anpassung an
sich selbst. Daß meine Patientin mit der Umwelt
schließlich schlecht und recht fertig wurde, lag daran,
daß sozusagen das Koordinatensystem in ihr sich verlagert hatte
und eben so, wie es der Wirklichkeit entsprach. Sie blieb - und ich
habe sie jahrelang noch beobachtet - eine in dieser Welt
gefährdete Person, aber doch eine, vor der man den
größten Respekt hatte. Man witterte an ihr, womit sie
umging; Astaroth war eben da. Es war schwer, einen Beruf für sie
zu finden. ÇEigentlichë, meinte ich zu ihr beim Abschied,
Çist der einzig wahre Beruf für Sie die
Tempelprostitution.ë ÇJa, jaë, sagte sie mit feinem
Lächeln, Çdas wäre gut; aber das kann man ja nicht
in dieser dummen, dummen Welt!ë -
»Wenn ich nun jetzt«, so beendete Dr. Immanuel seinen
Krankenbericht, »nachdem sie so lange von mir entfernt ist,
darüber nachdenke, was mir in diesem merkwürdigen Menschen
eigentlich begegnet ist, so komme ich immer wieder zu dem Resultat,
daß hier uralte priesterliche Substanz wachgeworden war. Denn
die Beziehung, in der sie zu Astaroth stand, war eine durchaus
religiös-verbindliche. Dem Vergleich, den ich oben machte,
Çwie Odysseus zu Pallas Atheneë, ist noch
hinzuzufügen, daß hinter ihrem Astarothkult ja ein
Weltbild stand, welcher Zug den homerischen Göttern fehlt. Sie
nannte sich selbst eine Çgläubige Heidinë und sah
mit gänzlicher Verachtung auf alles herab, was da heute
Heidentum sein will und doch bloße intellektuelle
Ungläubigkeit ist. Sie schöpfte aus anderen Quellen. Ich
fand aber auch, wie ich schon sagte, eine Verwachsungsstelle mit dem
Christentum. Dieses war ihr durch ihre Herkunft aus einem Pfarrhause
gründlich verleidet - das kann man verstehen -, sie hatte aber
auch einen unüberwindlichen Abscheu vor dem Kreuzigungsvorgang,
und der schien mir aus einer tieferen Schicht zu kommen. Erinnern Sie
sich daran, welche Schwierigkeiten das christliche Altertum mit jenem
Çrgernis des Kreuzesë hatte? Die Urkirche suchte ja
Anschluß an die Mysterienkulte, in denen es auch frommes
Heidentum gab. Die Geisteskämpfe, die hier stattfanden, sind
bekannt. Da nun meine Patientin ganz unwillkürlich in ihren
Bildern, die sie malte, aber auch in ihren Phantasien und Gedichten
deutlich christliche Motive verwandte, so kann ich mich des Gedankens
nie ganz erwehren, als ob sie damals mit dabeigewesen wäre, als
das Christentum in die Mysterienkulte einbrach.
Und wenn ich so darüber nachdenke, was eigentlich heute los ist
in der Welt, und mir die paar dürftigen Fetzen von Christentum
ansehe, die es möglicherweise hie und da noch gibt, so komme ich
zu dem Ergebnis: nur durch solche Menschen, die mit ihrem ganzen
Wesen tief im alten Heidentum wurzeln und gerade eben zögernd
die Hand nach dem Gekreuzigten ausstrecken, kann eine Wiedergeburt
des Christentums kommen. Aus der alttestamentlichen Ecke weht kein
guter Wind; das ist vorbei. Ich habe beobachtet, wie sich bei meiner
Patientin, nachdem sie geheilt war, die christlichen Züge
deutlich verstärkten; dieses Mädchen in seiner bitteren
Armut schenkte doch, wo es konnte; ihr fehlte jeder Sinn für
Besitz. Dabei hatte sie, wenn sie Unrecht erlitt, zwar ein heftiges
Urteil, aber doch eben Güte und Verzeihung; für ihre
pietistische Umgebung, in die sie zurückkehrte und in der sie
sich dauernd gegen aufdringliche Frömmigkeit wehren mußte,
hatte sie Verständnis. ÇSie können eben nicht
andersë. Alles, was sie tat, kam aus einer tiefen inneren
Überlegenheit in Leid und Güte. Dabei leistete dieses zum
Umblasen zarte Wesen Unglaubliches beim Bergen von Verschütteten
und Toten in den Bombennächten des Krieges. Und, um auf die
christliche Liebe zu kommen, es ist doch so: die heidnische gleicht
einem Glase funkelnden Weines, aus dem getrunken wird dem Gotte Eros
zum Feste ; - in diesen Wein aber fällt - wie von Golgatha her -
ein Tropfen bittres Blut, und auf einmal heißt es agape oder
caritas. Es ist aber der selbe Wein. Und in wessen Glas eben dieser
Tropfen gefallen ist, der trinkt seitdem in einer andern Art. Aber er
trinkt. Sie sind beide aus demselben Stoff. Denn das ist ja
schließlich der Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium: wer
unter dem Gesetz steht, der Çliebt seinen Nächstenë
(contre cúur), weil es heißt: ÇDu sollst deinen
Nächsten lieben als dich selbstë. Wer aber von jenem Weine
mit dem amaren Tropfen getrunken hat, der wird seinen Nächsten
schon lieben, darauf kann man sich verlassen. Man kann sich
überhaupt nur auf solche Leute verlassen.«
Wir haben den Nervenarzt Dr. Immanuel ruhig ausreden lassen, nicht
weil wir gedenken, Philosophie im Plauderton zu treiben, sondern weil
dieses Berliner Original Lebenserfahrung besitzt. Seine Einfälle
sind oft undurchdacht, aber oft auch nicht, und langweilig ist er
nie. Die Philosophie freilich muß immer durchdacht sein und
darf keine Lücke lassen. Aber sie muß auch - das
gehört zur Hinterlassenschaft Schopenhauers - sich stets am
einzelnen Gegenstände der anschaulichen Welt erweisen lassen.
Daher sind die Zügel immer wieder straff zu ziehen, und bald
wird sich der Leser in einem philosophischen Seminar zu einem
exercitium logicum transcendentale bequemen müssen. Logik und
Erkenntnistheorie, Metaphysik und Ethik, ja sogar die Lehre vom
Schönen sind weitgehend echte Wissenschaften, auch wenn sie im
Falle der Metaphysik einen negativen Verlauf nimmt, und sie bilden
das Knochengerüst der Philosophie; sie sind von hervorragenden
Geistern im Laufe von Jahrtausenden geschaffen und können, wenn
sie irgendwo schwache Stellen aufweisen, nur mit den Mitteln
aufgegriffen werden, durch die sie entstanden sind. Die Tonne des
Diogenes, also Philosophie aus dem Stegreif, ist ein
unzulängliches Mittel; man muß etwas gelernt haben.
Was die Philosophie an der Erzählung des Dr. Immanuel
zutiefst angeht, das ist jener entscheidende Heilungsgriff, durch den
die Kranke über Subjekt und Objekt belehrt und wodurch sie
wieder zur Priesterin der Astarte wurde; nur eben, daß die
Tempel nicht mehr stehen. Daß das, was sie bedrängte, zu
Objekt gehört, das war der allein entscheidende Griff. Wir
werden diesen Akt der Rückschaltung vom Subjekt aufs Objekt, den
wir von jenem Arzte gelernt haben, in diesem Buche immer wieder
begehen; er ist die eigentliche »Metaphysik a posteriori«,
durch welche die Philosophie wieder auf platonischen Boden zu stehen
kommt. Durch ihn wird ein falscher Idealismus zertrümmert, aber
auch die falschen Ansprüche der Naturwissenschaft und der
Psychologie abgewiesen.
Jene Tempel- und Götterwelt wurde also nicht von ihr, der
Kranken, nach außen projiziert, sondern sie von ihr affiziert;
dieses Wort sei verstanden, wie Kant es meint, wenn er sagt, unsere
Sinnlichkeit würde »affiziert« durch Dinge, die, wie
sie an sich beschaffen sein mögen, uns gänzlich unbekannt
bleiben. Es geht also nicht eine Bewegung vom Subjekt in Richtung
nach außen - wobei das Objekt nur phantasiert wird -, sondern
umgekehrt vom Objekt aus auf das Subjekt zu, dessen empirischer
Träger dabei in Gefahr gerät, zertrümmert zu werden.
Diese Gefahr aber wächst dadurch, daß an die
Objektbegründung des Vorganges nicht geglaubt wird, obwohl sie
da ist. Da das Subjekt zu klein ist, um das Objektive zu bergen, so
entsteht in ihm aus Gründen der Enge Angst; Enge und Angst haben
sprachlich dieselbe Wurzel. Und alles, was auch im Christentum Angst
heißt, entsteht allemal dadurch, daß das Subjekt sich
zuschließt, verengt und kein Vertrauen (pistis) zu dem hat, was
einströmen will. Glauben ist ein Vorgang, kein Urteil. Religion
»innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« ist eine
falsche Fragestellung. Der Akt aber, der ins Subjekt verlegt, was dem
Objekt angehört heißt Sünde. Die Kranke wurde gesund,
als sie diesen Glauben mit Hilfe der Philosophie in sich festigen
konnte. Denn die Philosophie war es, die sie lehrte; hie Subjekt! -
hie Objekt! - nicht die Psychologie, der hierzu alle Mittel
fehlen.
Bei dieser eingreifenden Trennung bleibe es zunächst
dahingestellt, welchem Realitätstypus die Götterwelt
angehört, von der hier die Rede ist; es war schon bedacht
werden, daß ihr das Merkmal der Materie fehlt. Damit ist nichts
gegen die Realität selbst gesagt, noch weniger aber gegen ihre
Macht und Stärke. Daß der Beweis hier »ex
iuvantibus« geführt wird, also indirekt, schwächt die
Beweiskraft nicht ab. Die Kranke hatte übrigens, wie ich aus
ihrem eignen Munde später erfuhr, die Gewohnheit, ihre Welt, wie
sie es nannte, als die »eigentlich seiende« zu bezeichnen,
mit einem Ausdruck also, den Platon für die Ideen gebrauchte. -
Wir aber gewinnen hier sofort eine zuverlässige Definition des
Wirklichen, indem wir formulieren: »Wirklich ist alles, was
Stromrichtung vom Objekt zum Subjekt hat und nicht umgekehrt.«
Hiervon ist die gewöhnliche materielle Wirklichkeit nur ein
Sonderfall. Denn auch die Materie drückt vom Objekt her auf die
Sinnesorgane, nicht umgekehrt. - Zugleich aber ist zu bemerken,
daß der begabte Nervenarzt, ohne es zu wissen - denn er kannte
die Stelle im Phaidros nicht -, die Einteilung des Sokrates in Manie
»aus menschlicher Erkrankung« und solche »infolge
göttlichen Eingriffes« durch seinen Heilungsgriff
bestätigt hat. Die Kranke wurde gesund, als sie einsah,
daß das Schwergewicht ihres Zustandes in dem zweiten und nicht
im ersten lag.
Wir haben das Objektive zunächst nur von der negativen Seite
her bestimmt, per exclusionem, insofern, als es nicht ins Subjekt
hineingehören kann, und man darf das, was wir darunter
verstehen, keineswegs mit den Objekten der empirischen
Außenwelt verwechseln, die immer Plural sind, wie es in der
kantischen Philosophie gemeint ist, noch etwa gar mit dem, was die
Naturwissenschaft unter Objekt versteht. Weder der kritische
Realismus Kants, noch der naive des common sense sind hier am Platze.
Am richtigsten ist es, dem Antriebe der Sprache zu folgen, das Wort
zu übersetzen und dabei zu finden, daß
»objectum« heißt: »das
Entgegengeworfne.«
Um hier weiterzukommen, müssen wir auf jenen Schauplatz der
Philosophie zurück, den wir zugunsten der Astarte-Priesterin
verlassen hatten: zum heiligen Büffeltanz; denn die
philosophische Ausgiebigkeit dieser Szene ist noch nicht
erschöpft; wir befinden uns noch im Tagebau. Früher oder
später aber - das sei im voraus gesagt - führt uns von hier
der Weg in Platons Akademie und in Kants Studierstube. Denn diese
Dinge sind ohne Zeit und haben, den Göttern Dank, keine
Entwicklung. - Faßt man den heiligen Büffeltanz nicht als
hysterisches Phänomen und nicht als Massensuggestion auf,
sondern objektiv, das heißt, zerlegt ihn in Subjekt und Objekt,
so wird die Deutung fruchtbar und lehrreich. Denn dann befinden wir
uns auf dem Schauplatz einer echten, das will sagen, einer realen
Transzendenz. Es »tritt etwas über« - aber nicht so,
wie es die Vernunft »aus einem natürlichen
Bedürfnis« (KANT) tut, wenn sie, über die Erfahrung
hinaus, Urteile über Dinge an sich selbst abgeben will und dabei
mit sich in einen unauflösbaren Widerstreit gerät, sondern:
der reale Büffelgeist tritt in das Subjekt über. Die
transzendierende Vernunft muß dialektisch werden; diese
Metaphysik aus bloßen Begriffen gerät in die
Fußangeln der Antinomien und Paralogismen und löst sich
sozusagen selber auf. Der durch den Schamanen zum Übertritt
gezwungene Büffelgeist aber - tritt einfach über; das ist
ein Vorgang, zu dem die Vernunft sagen kann, was sie will, aber sie
wird immer danebenstehen. Wir bemerken hier wieder die Umkehrung der
Richtung. Die transzendierende Vernunft will vom Subjekt zum Objekt,
ohne es zu erreichen; der Büffelgeist aber kommt vom Objekt zum
Subjekt und erreicht es. Damit aber erfüllt er die Definition
des Realen.
Den Ausdruck »Büffelgeist« haben wir vom Verfasser der
Szene übernommen, ohne ihn uns ganz zu eigen zu machen; denn es
handelt sich hier nicht um eine Transzendenz von Geistigem in
Richtung auf das Subjekt - was es freilich auch gibt -, sondern um
Kraft. Und diese richtet sich an das »Subjekt des Wollens«,
so wie es SCHOPENHAUER meint, und nicht an den Intellekt. Um hier gar
nicht fehl zu gehen, müssen wir das klären. - Der
Büffel, der, als Rind gezähmt, vor den Pflug gespannt wird,
überträgt seine physische Kraft, die meßbar ist, auf
den Pflug zu Diensten des Menschen, der dadurch die seinige um genau
eben diesen Betrag vermehrt. Das ist der empirische Fall. Alle
Büffel dieser Erde, vor alle Pflüge gespannt, würden
nur dasselbe Resultat ergeben, nie aber auch nur andeutungsweise die
Kraft in Wirkung treten zu lassen, die beim Büffeltanz frei
wird. Denn was sich hier überträgt, ist archetypische
Kraft.
Daß ein bestimmter Betrag an Materie in der Welt sich seit
Jahrmillionen ständig und regelmäßig in einer
Tiergestalt verfängt, die wir Büffel nennen, und,
unbeschadet des nie unterbrochenen Stoffwechsels, an dieser Gestalt
festhält, dies setzt das reale Dasein einer Urgestalt voraus,
die - sowohl, was die Form angeht, als auch, was die Kraft betrifft,
diese Form einzuhalten - vor den irdischen Büffeln mit ihren
meßbaren Kräften da war. Gäbe es keinen Archetypus
des Büffels, so suchte sich die Materie andere Wege, nicht aber
diesen. Man hat, besonders in der neueren Zeit, viel auf diese
platonische Grundvorstellung - denn es handelt sich in der Tat um die
Ideenlehre - zurückgegriffen, weil man, besonders in der
Selektionstheorie, nicht mehr ein und aus wußte. Die
Übersetzung »Urgestalt« für Idee, die man dort
häufig findet, ist gut; nur drückt sie, genau so wie das
Wort Idee selbst, nur das Formhafte aus; es fehlt ihr der Hinweis auf
die Kraft, die in ihr enthalten sein muß, um die Materie zu
bändigen. Darum bevorzugen wir den griechischen Ausdruck
Archetypus, nicht nur wegen seines Wohlklanges und der leichten
Flektierbarkeit, sondern, weil im Stamme »typ« die
schlagende Tätigkeit ausgedrückt wird, also das
Energetische. Es kommt darauf an zu bemerken, daß Ideen eben
nicht bloß Urbilder (paradeigmata), sondern auch Urkräfte
sind und daß dies die gefährlichere Seite der Sache ist,
die Faust zu verspüren bekam, als er zu den
»Müttern« wollte. Die Verdünnbarkeit aber des
Begriffes »Idee« bis zum blauen Dunst der Vernunft hat man
ja in der Geschichte des wenig rühmlichen »Idealismus«
gründlich erlebt. Vor diesem allen schützt der sonoren
Klang und der Gehalt des Wortes Archetypus.
6. DAS TRÜMMERFELD DER IDEENLEHRE IN PLATONS SCHRIFTEN
Man müßte es fast ein litterarisches Kuriosum nennen,
daß die Lehre, die Platons Namen berühmt gemacht hat, sich
expressis verbis in seinen Schriften nicht findet und sich sozusagen
in ihnen nur ein Stelldichein unter der Maske gegeben hat. Denn es
ist doch so: Fragt man mich, »Wo finde ich klare Auskunft
über Kants transzendentale Logik?«, so kann ich antworten:
»In der Kritik der reinen Vernunft« und nenne die Stelle;
oder fragt man mich nach dem kategorischen Imperativ, so kann ich
antworten: »Lesen Sie dieÇ Grundlegung zur Metaphysik der
Sittenë oder dieÇ Kritik der praktischen Vernunftë -
dort finden Sie es sicher und deutlich.« Fragt man mich aber:
»Wo steht das bei Platon über die Ideenlehre, von der so
viel Aufhebens gemacht wird?« - so kann ich das nicht; denn es
gibt keinen Dialog Platons, in dem sie sich rein und klar zu erkennen
gibt. Sie findet sich höchstens verstreut hie und da, aber, wenn
man auf sie stößt, so kann man nie wissen, ob sie es auch
wirklich ist. Denn er hat sie selbst entweder versteckt und dem Leser
halb entzogen, indem er ihm einen Bissen davon reichte, oder: er hat
sie selber nicht verstanden. Das kommt durchaus vor. Kolumbus hat
auch nicht gewußt, daß er Amerika entdeckt hatte, und
glaubte, in Indien gelandet zu sein. Oder was soll man dazu sagen,
daß Platon dort, wo er die Ideenlehre zu behandeln scheint, es
mit trügerischen Worten tut, denen die innere Orientierung, der
Kompaß, fehlt? Daß er - war es Ironie oder Verzweiflung?
- den Sokrates einen Feldzug gegen die Buchstabenschrift führen
läßt, das heiß also: für die Unaussprechbarkeit
der Lehre (Phaidr. Kap. 89), und daß er gar dem Dionysios von
Syrakus schreibt: »Darum habe ich selbst noch nie etwas
über diese Dinge niedergeschrieben, und es gibt keine Schrift
des Platon und wird auch keine geben. Was aber die jetzt mir
beigelegten Schriften anlangt, so sind sie nichts anderes als Werke
des Sokrates, des verfeinerten und verjüngten nämlich«
(Brief 2 Steph. 214). Kurzum: Platon verleugnet seine Werke! Aber es
kommt noch schlimmer: wie soll man es verstehen, daß er in den
ersten acht Kapiteln des Dialoges »Parmenides« jenen
»jüngeren Sokrates« in ein Gespräch mit dem
ergrauten Eleaten verwickelt, in welchem er die Ideenlehre
vorträgt und - und mit einer furchtbaren Niederlage heimkommt!
Was ist das für ein Denker, und was hat sich hier abgespielt...?
Und dabei ist die Ideenlehre, und schon allein das Wort
»idea«, geradezu die Initialzündung für die
gesamte Philosophie des Abendlandes ohne Einbuße bis auf den
heutigen Tag. Es handelt sich hier nicht um Ruinen, sondern um eine
Trümmerstätte.
Hierbei verteilt sich das Verhängnis noch auf zwei Gruppen:
für die Leser, die Griechisch können, und für jene
erdrückende Mehrheit, die es nicht kann. Wer Griechisch kann,
der bemerkt leicht, daß es für »Idee« zwei
Ausdrücke gibt, die sich aber gegenseitig ausschließen,
nämlich ((idea)) und ((eidos)) und das Platon »idea«
sowohl dort gebraucht, wo es am Platze ist, dann aber auch und
häufiger »eidos« schreibt, wo allein »idea«
hingehört, und umgekehrt. Die Plato-Mikrologen mögen das im
Einzelnen Stelle um Stelle ermitteln; wir haben keine Zeit dazu. Es
ist jedenfalls so, daß Platon dem von ihm gefundenen Worte
»idea« bei jeder möglichen Gelegenheit untreu wird und
es geradezu verrät an seinen Widerpart »eidos«, was
immer »Begriff« heißt. Es ist daraus einfach nicht
klug zu werden, es sei denn, man habe den Schlüssel in der Hand.
Aber die zahllosen Generationen schwärmender Professoren, die
ihre verdorrte Seele am Quell Platons aufzufrischen versuchten,
gerieten nur in immer tieferes Dickicht, je umfangreicher die
Bücher wurden, die sie darüber in schlechtem Deutsch
verfaßten. Sie glaubten offenbar, daß ihre Verwirrung
soviel wert wäre wie die Platons. Aber man kann das Rätsel
gut auf einigen wohlüberlegten Seiten lösen.
Noch schlimmer aber sind die Leser daran, die kein Griechisch
können. Denn sie sind der Willkür des jeweiligen
Übersetzers ausgeliefert, der, darauf kann man sich verlassen,
sich selber nicht zurechtfand. Es ist daher ganz unmöglich, ohne
Schlüssel und ohne Griechisch Platon zu verstehen, jedenfalls,
was seine Kernlehre anbelangt; wohl aber kann man, sogar ohne
Griechisch, die Atmosphäre der Philosophie erleben, wie sie
damals herrschte und die zu ihrem Schaden verloren ging.
»Idea« ist ein von Platon selbst gefundenes Wort; auch wenn
ein Philologe nachwiese, daß es vor ihm da war, so ändert
das nichts an Platons geistigem Eigentum. Das Wort
»Übermensch« etwa stammt, wie man weiß von
GOETHE; der aber hat es liegen lassen, und es gehört FRIEDRICH
NIETZSCHE: So ist das mit dem Eigentum. Platon aber meinte mit
»idea« die Urform für die von der Natur geschaffenen
Gebilde; sie gehört also dem Wirklichen an. Ihr Gegenpart
»eidos« aber, der so oft und so verfänglich für
»idea« steht, heißt »Begriff« und
gehört dem Subjekt an. Beide Worte tragen in sich den Stamm
»id«, lateinisch »vid(ere)« und haben also etwas
mit Auge und Bild zu tun. Die Übersetzung »Denkbild«
wäre für eidos die angemessene, aber es zeigt sich hier
auch gleich die eigentümliche Schwäche: denn es gehört
zum Wesen des Begriffes, keinerlei bildhafte Elemente zu enthalten.
Der empirische Begriff aber - und um den allein handelt es sich -
stammt aus dem Geschehen. FRIEDRICH HEBBEL schreibt hierzu: »Im
Fieber lösen sich alle Gedanken des Menschen wieder in Bilder
auf, daher sein Phantasieren. Nichts beweist aber mehr den Ursprung
der Gedanken aus Bildern. Sie sind am Ende nur eine Art reduzierter
Hieroglyphen« (Tagebuch No. 4524). Das hat jener poeta
philosophus gut gesehen, und hier liegt auch die
Verführungsstelle, die dazu geneigt macht, Begriffe mit Urform
zu verwechseln. Um daher das eigentlich Begriffliche in Szene zu
setzen, dienen besser Worte wie ((orismos)), »das Grenzen
Setzende«, ferner das Allerweltswort ((logos)), die beide bei
Platon vorkommen und denen die charybdishafte Eigenschaft fehlt, das
Denken in den Strudel des Seienden hineinzuziehen. Großes
Glück aber hat die deutsche Sprache gehabt, indem sie mit ihrem
Worte »Begriff« jene zugreifende Aktion des Intellektes
trifft, die hart an den Sinnendingen vorbei auf die echte
archetypische Idee eindringt. Durch dieses Eindringen aber erwirbt
der Begriff seines Giltigkeit.
Es gibt nun einen consensus der philosophisch begabten und
instinktsicheren Männer, die unbekümmert um das
Trümmerfeld doch eben wissen, daß Platon im Grunde unter
Idee stets nur den Archetypus der natürlichen Gebilde verstanden
hat, so Schopenhauer, Goethe, Spengler, die Romantiker; und auch
Kant, der große Übeltäter auf diesem Gebiete,
nähert sich Platon in der »Kritik der teleologischen
Urteilskraft«. Und wenn, wie wir bald erfahren werden, die
Ideenlehre in leichter Säkularisierung das heimliche Thema der
Entwicklungslehre und der Paläonologie geworden ist, so bleibt
im Grunde kein Zweifel, was Platon allein gemeint haben kann. Dann
aber gibt es ebensowenig Zweifel darüber, wovon es Ideen gibt
und wovon nicht. Diese Frage ist ja oft genug in der Akademie
behandelt worden. Es gibt keine Ideen von Kategorien und reinen
Denkbegriffen, also keine »Idee der Gleichheit« oder der
Größe; es gibt keine Ideen von Tischen und Stühlen,
denn deren Ursprung ist der menschliche Kopf und nicht die Natur -
wohl aber von dem Holz, aus dem sie bestehen. Platon hält es
auch für eine »lächerliche Sache«, anzunehmen,
daß es Ideen vom Lehm oder vom Schmutz gäbe (Parmenides,
Kap. 4), aber da er dies ja den jüngeren Sokrates sagen
läßt, der die Aufgabe hat, sich eine Niederlage zu holen,
so gönnt er ihm wohl die Begründung nicht, daß
Schmutz und Lehm ihr Dasein keinem unmittelbaren Schöpfungsakt
der Natur verdanken, sondern erst durch sekundäre Akte innerhalb
der geschaffenen Natur entstehen; zudem spricht Platon hier wieder
einmal von eidos statt von idea, wodurch die Verwirrung noch
größer wird; denn Begriffe von Schmutz und von Lehm gibt
es natürlich.
Aber es gibt auch keine »Idee der Unsterblichkeit«
(Phaidros XXV) und keine »Idee des Guten« (Rep. Buch 6 und
7), jedenfalls nicht so, wie es sich Platon vorstellt. Wohl aber gibt
es eine »Idee des Sokrates«, was Platon selbst leugnet;
denn bei ihm sind Begriffe immer klassifiziert und er kennt den
Individualbegriff nicht; außerdem ist Sokrates ein Gebilde der
Natur. Die sozusagen zahlenmäßige Unendlichkeit der Ideen
also ist geringer als die der Begriffe und steht zu ihr in einem
ähnlichen Verhältnis, wie die Unendlichkeit der Punkte
einer Linie zu der einer Fläche. Die Unendlichkeit der
Flächenpunkte ist um eine Dimension höher als die der
Linienpunkte - freilich eine mathematisch-logische contradiction, wie
es deren viele gibt. Aber Begriffe kann der Intellekt eben zahllose
erfinden und hält sie oft großspurig für Ideen. Die
echten archetypischen aber sind die Basis nicht nur der Naturgebilde
selber im Original, sondern auch die der Entdeckungen in der
Erkenntnis; vor allem aber für die Kunst, was Schopenhauer im
dritten Buch der »Welt als Wille und Vorstellung«
unnachahmlich dargestellt hat. Platon aber, der größte
Künstler der attischen Prosa, trägt in der
»Republik« eine geradezu rohe und banausische Lehre des
Schönen vor. Das rührt alles daher, daß er sein
eigenes Werk nicht verstand.
Indessen, in der Wirrnis des platonischen Trümmerhaufens ist mit
einem einzigen Griff Ordnung zu schaffen, und sogleich hat man den
Schlüssel in der Hand. Es sind zwei charakteristische
Entdeckungen, die in den sokratisch-platonischen Denkstil fallen und
die sich überschneiden wie zwei Wellenkreise. Die erste findet
in der anschaulichen Welt statt und führt zu den echten
archetypischen Ideen, die zweite aber in der gedachten Welt der
Vernunft und führt zur Entdeckung des Begriffs. Diese zweite
mutet man im allgemeinen dem Sokrates zu, die ersten dem Platon.
Die anschauliche Welt ist lückenlos beherrscht von den typischen
Formen. Es gibt kein Gebilde der Natur, das nicht in einer ihm allein
eignen Prägung auftritt. Die charakteristische Form der Rose
oder des Sperlings oder der Bakterien, wie auch jedes Moleküls
oder Atoms ist ein unaufhaltsam durchgeführtes Gewebe der Natur,
das sich nirgends durch einen amorphen Raum unterbrechen
läßt. An dieser Tatsache ging Kant achtlos vorüber,
weshalb ihm auch kein Weltbild gelang. Platon aber war von ihr ganz
durchdrungen, und er entdeckte eines Tages - vielleicht im
Anschluß an die sokratische Entdeckung des Begriffes -
erlebnishaft die archetypische Urform, die er »idea« nannte
und die »wie Urbilder ((paradeigmata)) in der Natur stehen«
(Parmenides, Kap. VI). Die charakteristischen und unkonstruierbaren,
die freiwilligen Formen der Natur setzen eine Urform voraus, an der
sie Anteil haben ((metexein)), die notwendigerweise da sein muß
und die ein dynamisches, sowie ein logoshaftes Element enthält.
Ihre Lage ist im Objekt und nur dort.
Die zweite Entdeckung, die unabhängig hiervon geschah, ist die
des Begriffes. Deren Spuren finden sich in einer hochdramatischen
Szene im Dialog »Phaidros«. Dort ist Sokrates in einem
Grade, wie sonst kaum, von jener Mania befallen, die ein
göttlicher Eingriff in das gewohnte Alltagsleben ist, und aus
ihr heraus kommt er dazu, von der Seelenwanderung zu sprechen. Die
Überlieferung davon hat er offenbar von den Pythagoräern;
wir aber können sie aus den buddhistischen Schriften
nachkontrollieren und finden dabei, daß die wesentlichen
Züge immer dieselben bleiben. Der Mensch gerät in den
Mutterleib, den er verdient. Das alles ist zwar nicht im
präzisen Sinne wahr aber doch überzeugend. So kann es dem
Menschen auch passieren, meint Sokrates, daß er nach seinem
Tode in einen Tierleib gerät und aus dem Tier wieder zurück
zum Menschen. In diese Lage aber - nämlich, daß er wieder
zurückkann - kommt niemand, der nicht »die Wahrheit
gesehen« hat. Die Wahrheit gesehen zu haben, ist also nach
Sokrates der sichere Leitfaden, um einer menschlichen Seele, die, zur
Strafe für ein Verbrechen, in einen Tierleib verbannt wurde, den
Weg zum Menschentum zurückzusichern. Dieses »die Wahrheit
gesehen haben« muß natürlich in einem menschlichen
Leben vor der Inkarnation in einen Tierleib eingetreten sein; es ist
demnach das einzig kostbare Gut, das er in sein Tierdasein mitnimmt
und eine Art Faden der Ariadne, der ihm den Rückweg
verbürgt. Man ist nun gespannt, etwas von dieser kostbaren
Wahrheit zu erfahren, die solche Macht hat, und man traut seinen
Augen kaum, wenn man sofort im nächsten Satze liest: »Der
Mensch muß verstehen das dem Begriff gemäß Gesagte,
((kat' eidos legomenon)), das von vielen Einzelwahrnehmungen herkommt
und durch einen Denkvorgang ((logism)) in Eines zusammengefaßt
ist« ((eis en junairoumenon)). (*Phaid. Steph. 249f.) Das also
ist jene kostbare Wahrheit, die dem Menschen den Paß aus dem
Tierleibe zurück zum Menschen ausstellt! Uns Heutige will das
wie eine vollständige Trivialität anmuten; denn dieses
Subsumieren vieler Wahrnehmungen unter einen Artbegriff vollzieht
jedes Kind, wenn es ein Dutzend verschiedener Hunde unter den Begriff
»Hund« zusammenfaßt; und jeder Zögling eines
philosophischen Seminars lernt diese Gedankenoperation als eine der
ersten und einfachsten in der Logik kennen. Woher stammt also diese
unwahrscheinliche Wertschätzung bei Sokrates? Warum geriet er in
Verzückung darüber und konnte kurz darauf nur im
Mysterien-Stil der Eleusinien davon reden? Wozu der Aufwand um ein
simples Kapitel der formalen Logik? Darum, weil er hier von seinem
Entdeckungsakte redet.
Wenn die Kompendien und vorgeblichen »Geschichten« der
Philosophie von Sokrates als dem Entdecker des Begriffes reden, so
klingt das so, als wäre er für ein Kapitel aus der Logik
des Aristoteles der spiritus rector gewesen; kurzum, es klingt so,
als ob das gar nichts wäre. Es ist aber etwas. Der manische
Zustand des Sokrates hat schon seine Berechtigung; denn mit dieser
Entdeckung des Begriffes war an einem Weltknotenpunkt gerührt,
das wußte er wohl. Er hatte - aber das ist noch das mindeste -
den Fluß des Heraklit zum Stillstande gebracht; denn, wenn
»alles fließt«: der Begriff des Flusses selber steht
still, und man kann den Satz »Du steigst nicht zweimal in
denselben Fluß« weder sprechen, noch denken, ohne dessen
Begriff anzuerkennen. Das also war eine gewonnene Schlacht. Aber noch
mehr: der Begriff muß etwas mit dem Bau der Welt zu tun haben;
das von KANT in Angriff genommene Thema der »transzendentalen
Logik« keimt hier auf. Aber zunächst stellt sich eine
Schwierigkeit ein : was bürgt mir dafür, daß in jenen
logischen Akt, durch den ich »viele Wahrnehmungen« unter
»einem Begriff« subsumiere, nicht falsch begehe, so
daß mir unter die vielen Hunde plötzlich ein Wolf oder gar
ein Fuchs unterläuft? Wodurch geschieht es, daß, mit Kants
Worten geredet, der Begriff und sein Gegenstand »im Objekt
verbunden« werden? Da muß man eben, meint Sokrates, in
einem früheren Leben einmal mit den Göttern auf Reisen
gewesen sein und von oben her »übersehen« haben
((uperidein)), was wir jetzt »Sein« nennen, und sich
emporgereckt haben in das »wahrhaft Seiende« ((on ontos)).
Und die Rückerinnerung ((anamnsis)) daran bewirke das. Das aber
sei, so sagt er mit einem ironischen Blick auf die Mysterien, die
»wahrhaft eingeweihte und vollkommene Einweihung«. Wer sich
so herausgehoben habe aus den menschlichen Wichtigtuereien
((spoudasmata)), der werde von der Menge für verrückt
erklärt; denn dieser bleibe es ja verborgen, daß er des
Gottes voll sei ((enthousiazon)).
Man fragt sich wieder: Wozu dieser Aufwand? Das alles nur, um viele
Wahrnehmungen unter einen Begriff richtig subsumieren zu können?
Die Natur selbst leitet diesen Prozeß ja viel einfacher und
ohne große Umstände. Zudem ist die Anamnesis-Theorie
offensichtlich falsch; denn sonst müßte ja jeder Mensch
solche Götterfahrten in einem früheren Leben hinter sich
haben. Rëinkarnation mag es geben, aber zur Erklärung
allgemeiner Erkenntnisprozesse ist sie überflüssig.
Sokrates muß hier - ohne es zu wissen - von etwas reden, das
nicht jedem Menschen zukommt. Diese Phaidrosstelle ist ein
offensichtliches Rätsel, und ich möchte den Mann
kennenlernen, der sie verstanden hat.
Aber wir fassen zusammen und werden gleich den Schlüssel
besitzen, den wir nie wieder aus der Hand geben. Sokrates und Platon
haben jene beiden Entdeckungen gemacht, deren Gegenstände
zunächst etwas gänzlich Verschiedenes sind und sich
eigentlich gar nicht verwechseln lassen: die Idee und den Begriff.
Die Ideen liegen im Objekt und nur dort; die Begriffe im Subjekt und
nur dort. Die Ideen sind Urbilder der Dinge, die Begriffe sind Taten
des Intellektes zur Erkenntnis der Dinge. So also beschrieben und
definiert haben sie nichts miteinander zu schaffen; auf dem Papier
sind sie sich Fremdlinge. Das ändert sich aber, wenn man sie in
Tätigkeit setzt und ihre Lage in der Natur betrachtet. Dann
kommt heraus, daß sie einander genau gegenüber liegen. Sie
sind durch eine Achse verbunden, gleich wie zwei Räder eines
Wagens, der erst dann fahren kann, wenn man ihre Naben fest
miteinander verbindet; oder, wie Nordpol und Südpol der Erde. Um
die Achse aber, die Idee und Begriff miteinander verbindet, dreht
sich alles, es ist die Achse der Natur. Das hat Platon nicht gesehen;
aber er hat es geahnt, und daher der große Aufwand an
Mysterienweisheit und Mythologie um jene scheinbar so
geringfügige Sache. Daher aber auch der Umstand mit der
Rückerinnerung aus einem früheren Leben. In Wirklichkeit
ist es einfacher. Der von Sokrates entdeckte empirische Begriff liegt
der von Platon entdeckten Idee genau gegenüber, und zwar nur
deren logoshaftem Element, während das dynamische anderswohin
gerichtet ist.
Daß aber Idee und Begriff aufeinander gemünzt und
abgestimmt sind und zum Verwechseln ähnlich, geht noch aus
folgendem hervor: In der Idee eines Naturgebildes sind latent alle
Möglichkeiten der Entfaltung enthalten; das wäre etwa
Lamarcks »unendliche Entwicklung«. Der Elefant hat schon
eine unendliche Reihe Formveränderungen hinter sich - aber nur
die von seiner Idee zugelassenen -, ebenso auch vor sich, und wir
können sie nicht erschöpfen; dem entspricht genau im
Begriffe des Elefanten dessen Definition: auch diese ist unendlich,
und niemand kann durch bloße begriffliche Analysis endgiltig
und zwingend sagen, was ein Elefant ist. Kein Wunder also - und doch
ein Wunder -, daß sie aufeinanderstimmen.
Jene manische Erregung aber, in der Platons Werke fast durchweg
geschrieben sind, stammt aus dem Entdeckungsakt, der ständig bei
ihm nachwirkte und, da er den Achsencharakter der Verbindung von
Begriff und Idee nicht sah, ihm die Orientierung nahm. Daher die
ständige Verwechslung beider und das Irrewerden an der Lehre
selbst.
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